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II.

Am nächsten Morgen sah Michel unzufrieden um sich und ließ den Kerkermeister rufen. Dieser kam sofort.

»Ja, was heißt denn das?« grollte Michel ungeduldig. »Habt ihr euch noch immer nicht modernisiert? Wo ist der Kamm? Die Bürste? Ich bin an andre Ordnung gewöhnt. Ich sage Ihnen, lieber Freund …«

»Na …!« wich Züngel zurück.

»Die Vertraulichkeit beleidigt Sie? Ihr seid noch ganz Provinz! Ein besserer Kerkermeister darf es sich heute mit dem Gefangenen nicht verderben. Er muß um die Freundschaft des Sträflings buhlen. Haben Sie eine Ahnung, was der Sträfling heute für Rechte hat? Was eine Revision bedeutet?«

»Gott sei Dank, wir haben seit Jahren keine gehabt.«

»Das merkt man. Nein, mein lieber Herr Züngel, heute geht's nicht mehr so gemütlich wie sonst. Heut' wird der Sträfling gefragt, ob er zufrieden ist, sich über nichts zu beschweren hat, und er kann nach Belieben sich beschweren oder Wünsche vorbringen. Heute ist er im Gefängnis der Herr. Er genießt die Achtung seiner Vorgesetzten und die Freundschaft seiner Untergebenen.« Helfrich dehnte sich behaglich auf dem Bett. »Die Matratze ist hoffentlich aus Roßhaar? Ich bin an Roßhaar gewöhnt. Und jede Woche frische Wäsche, das sage ich Ihnen, Herr Züngel. Ich halte darauf. Das Badezimmer ist doch in Ordnung? Ich möchte morgen um neun Uhr früh mein Bad nehmen.«

»Na, Helfrich …, Sie sind wohl nicht recht gescheit!« rief Züngel fassungslos.

»Gescheit bin ich wohl, aber etwas verwöhnt. Ich war nämlich vor drei Wochen in dem … Genesungsheim, das Sie sich vorstellen können.«

»Im Gefängnis, wollen Sie sagen.«

»Das Wort ist ein bißchen hart. Was man früher Gefängnis nannte, ist heute in Wirklichkeit ein Sanatorium. Ja, vor vierundzwanzig Jahren, als ich meine Karriere begann,« er sprach gern mit fremden Worten, »da waren die Gefängnisse noch sehr im argen! Aber heute bin ich gewöhnt, Ansprüche zu stellen. Mir ging es in meinem letzten Sanatorium ausgezeichnet!«

»Schad', daß Sie nicht länger dort bleiben konnten!«

»Gewiß …, aber Sie wissen, wenn man seine Buße getan hat, wird man erbarmungslos vor die Tür gesetzt … Na, das ist ein Kapitel für sich. Heute bin ich recht erfreut, wieder bei Ihnen zu sein. Wie geht's dem Herrn Gerichtsrat?« fragte er gnädig.

»Recht gut, er ist noch immer Junggeselle.«

»Das dacht' ich mir, ich bin nämlich ihm und seinen Dackeln begegnet. Wer wird mich denn heute verurteilen? Der Herr Richter Blaschek?«

»Gott bewahre, sein Substitut, Herr Bauer.«

»Ein Deutscher?«

»Ein Tschech', aber ein sehr anständiger, liberaler Herr. Von dem läßt sich wirklich nur Gutes sagen.«

»Herr Züngel, Herr Züngel!« rief es vor der Tür. Die Luke wurde aufgeschoben, und ein Auge blickte durch die kleine Glasrundung.

»Was ist denn?« fragte Züngel unwirsch.

»Sie sollen den gestern abend eingebrachten Häftling auf Nr. 3 führen.«

»Schon gut. Alsdann geh'n mer …«

Helfrich kleidete sich rasch an, bürstete eilends seinen Rock mit den Händen sauber, die rauh waren wie eine Bürste, dann strich er sein goldglänzendes Haar zurecht und schritt voraus aus der Tür. Der Kerkermeister führte ihn mit ernster Würde an den weißgetünchten Wänden des Ganges vorbei ins Gerichtszimmer.

Helfrich musterte mit einem Blick die ungenügende Ordnung umher. Die Malerei war noch die alte. Säulen hoben sich weißgepinselt in den Ecken, spiegelten Renaissancepracht vor und brachen über dem grünen Kachelofen ab. Aber der Fußboden war nicht gereinigt, unter dem Schrank wälzte sich der Staub in federleichten Ballen, die Waschschüssel – du lieber Gott –, ja, da sieht man, daß der Michel seit Jahr und Tag gefehlt hat! Und das Kruzifix – kruzifix, da soll doch der Teufel dreinschlagen! Das ist ganz verstaubt! Warte nur, mein armer Heiland, morgen sollst du anders aussehen! Vielleicht ist der Herrgott hier vor lauter falschen Eiden so schwarz geworden – ach, ja –, der Helfrich kannte die schwörenden Zeugen! Ihn ließ man nie zum Schwur zu, und, weiß Gott, er hätte die Wahrheit geschworen, schon als Anhänglichkeit zum alten, treuen Gott, den man nicht belügen durfte wie einen weltlichen Richter, denn dieser sah einem keine Strafe nach; der göttliche aber, der wog nicht genau, gab es dem einen zu hart und ließ den andern laufen.

Der Tisch, vor dem der Richter Bauer saß, mußte sofort lackiert werden, das Kaiserbild hing voll Spinnweben. Durch die beiden hohen Fenster sah man die Windmühle. Von ihr schien der Richter die Beweglichkeit seiner Arme gelernt zu haben. Er fuhr jetzt mit ihnen um den Mittelkasten seines Körpers, als ob ein Sturm ihn anfege.

Das ist ein Richter, der keine Haltung hat, sagte sich Helfrich bedauernd. Und wie sah er aus! Sein schwarzer Faltenrock war verstaubt, der veilchenblaue Samt am Halskragen zerwetzt. Und ganz abgerissen war sein Gesetzbuch. Ein gutes Zeichen, dachte Helfrich; dieser Richter nimmt's nicht so genau mit der öffentlichen Ordnung. Ein stattlicher Mann war er, mit breiten Backenknochen und aufstehendem, dunklem Haar, in den Jahren, die den Weibern die liebsten sind, denn wenn sie einen so Gereiften erwischen, wechselt er nicht mehr gern und bleibt schon aus Bequemlichkeit treu.

Jetzt las der Richter den Bericht der Gendarmen, stutzte und begann so herzlich zu lachen, daß es ihn schüttelte. Helfrich sträubte sich das rotblonde Haar. So hatte er sein Lebtag keinen Richter während der Amtshandlung lachen sehen. Auf welcher natürlichen Grundlage wurde hier Recht gesprochen!

Bauer blätterte in den Akten.

»Na, Ihr seid schon gehörig vorbestraft … In Mürau … zwei Jahre …, in Stein zwei Jahre, sechs Monate …, in Karthaus … Diebstahl … Betrug …« murmelte er.

»Warum sind die Menschen so beschränkt, daß sie sich so leicht betrügen lassen?« sagte Helfrich.

»Hört's mir mit dem Philosophieren auf – verstanden?« rief der Richter heftig.

Aha …, das ist ein Neuer, sagte sich Helfrich. Er weiß noch nicht, daß er den Häftling mit ruhiger Würde behandeln soll, nie ausfällig werden darf, sondern stets der Hoheit des Amtes entsprechend mit voller Gelassenheit mit ihm zu verkehren hat. Denn könnt' ich schön hereinfallen lassen …, vielleicht aber kann ich einen wohltuenden Einfluß auf ihn nehmen. Er wäre nicht der erste Richter, der von mir gelernt hat.

»Also, was ist das? Werden Sie mir antworten oder nicht? Wissen Sie, weshalb Sie da sind?«

»Jawohl, Herr Richter, weil man mich erwischt hat. Aber ich habe von den Leuten kein Geld verlangt,« sagte Helfrich mit edler Ruhe. »Da sie es mir gaben, wies ich es nicht zurück. Das ist alles.«

»Die Strafanzeige der Gendarmerie aber lautet anders. Sie haben sich in die Küche der Bahnhofrestauration begeben und vorgegeben, daß Sie sich mit zweihundertdreißig Waisen aus Lemberg auf der Reise in das Flüchtlingslager nach St. Pölten befinden. Da Sie infolge der Müdigkeit der Kinder die Reise unterbrechen mußten, hätten Sie in den Hohlwacken übernachtet. Weinend baten Sie um trockenes Brot für den Hunger der Waisen. Alle Küchen- und Schankmädchen, Hausknecht, sogar Köchin und Pikkolo sammelten Geld für die Waisen. Auch Speisereste bekamen Sie. Darauf gingen Sie in das Nachbargasthaus und bestellten eine Portion Tee und zweimal Rum. Eine solche Rummenge wurde Ihnen nicht gegeben, weil sie verboten ist. Durch Ihre Bestellung fielen Sie auf, der Wachtmeister sprach Sie an, Sie antworteten im echten Polnisch, daß Sie »Transportführer von zweihundertdreißig Waisen« seien, zeigten sich sehr entrüstet und fragten, ob man Sie vielleicht für einen Schwindler halte. Es sei traurig genug, daß durch den Krieg Ihr ganzes Hab und Gut in Galizien verlorengegangen sei, worüber Sie wohl keine Bestätigung zu erlegen brauchen. Der Gendarm begehrte die Vorweisung Ihrer Papiere, worauf Ihr gemeiner Schwindel entdeckt ward. Was haben Sie darauf zu erwidern?«

Durch den Verkehr mit talentlosen Dieben, die Gänse stahlen, Klee oder Kaninchen, durch den Verkehr mit Parteien, die einander beschimpften und verprügelten, mußte dieser sympathische Mensch mit der Zeit ganz stumpfsinnig werden. Diesem Gericht fehlte der große Zug, die lebengebende Aufregung. Der Gerichtsschreiber war bereits verblödet, sein schwarzer Schnurrbart schien schon um den Tisch herum zu wachsen – kein Wunder –, kam man hier doch nicht über die Uebertretungsfälle heraus! Und dazu gab's noch Aerger über die Frechheit der Diebe. Der Kerkermeister hatte erzählt, daß kürzlich ein jugendlicher Verbrecher, der ein Gewehr gestohlen, dem Richter auf seine Frage zur Antwort gegeben: »Mit Ihnen red' ich überhaupt nichts …, ich red' erst mit den Herren im Landesgericht …« Daher stammte wohl die Aufregung des Richters, der stets eine freche Antwort zu befürchten schien …

»Werden Sie jetzt endlich Rede stehen oder nicht?« donnerte der Richter, daß die Fenster zitterten.

»Die Sache war so, und war doch nicht so. Denken Sie sich, Herr Richter, in meine Lage …«

»Was unterstehen Sie sich?«

»Ich bitte, Herr Richter, nichts für ungut. Ich bin vor zwei Monaten aus Olmütz entlassen worden, hab' ein paar kleine Ersparnisse gehabt und hab' mich redlich bemüht, Arbeit zu finden. Bin auch bei einem Mechaniker in Dienst getreten; aber durch einen Zufall hat er erfahren, woher ich kam, und ich mußte weiterwandern. Nun war das Geld bald aufgezehrt. Ich hatte Hunger, und Hunger tut weh. Was tun? Betteln darf man nicht, sonst vergeht man sich gegen den Paragraph zwei des Vagabundengesetzes, also dachte ich, willst es auf andre Art versuchen.«

»Sie haben sich der polnischen Sprache bedient, also einer Ihnen fremden Sprache.«

»Ja, Herr Richter, auch das stimmt,« erwiderte Michel mit edlem Anstand. »Ich habe lange überlegt. Redest du deutsch, sagte ich mir, so kriegst du nichts, redest du tschechisch, so kriegst du auch nichts. Mit Französisch und Ungarisch war nichts zu machen, also entschloß ich mich für Polnisch, denn die Polen sind jetzt bei den Tschechen und bei den Deutschen beliebt. Und um nicht für mich um ein Stück Brot zu betteln, das ich überdies gar nicht gekriegt hätte, hab' ich die Geschichte von dem Transport polnischer Waisen erfunden. Für Kinder geben die Leute alles her. Im Handumdrehen war mir geholfen, und die Leute haben alle eine große Freude gehabt über ihre gute Tat. Leider hat der Herr Gendarm sie ihnen gestört …« Helfrich lächelte.

»Schon gut! Das andre wissen wir.«

»Ich betone nochmals, Herr Richter, daß ich niemand Geld herausgelockt habe; ich nahm nur, was man mir gab. Das ist doch weder eine Uebertretung noch ein Verbrechen.«

Der Richter sah den Sträfling scharf an. Dieser rötlichblonde ältere Mann mit der geraden Nase und den scharfen blauen Augen hatte etwas Imponierendes, und es schien wohl möglich, daß er schwache Naturen in seinen Dienst zwang. Man konnte ihn für einen ehemaligen Bankdirektor halten oder für einen dürren Gutsinspektor. Doch wenn der Mann lachte, kurz und still, glitt etwas wie eine verschmitzte Laune über seine Züge, etwas verteufelt Triumphierendes. Seine Augen wurden klein, sein Kinn hob sich zu kurzem, geringschätzigem Ruck, und seine Lippen troffen von vergnügter Verachtung. In seinem Lachen lag die genießende Freude über die Dummheit der Gefoppten.

Bauer nahm ein Protokoll auf und vertagte die weitere Vernehmung.

»Ich hab' heut' andres zu tun, als mich mit Ihnen zu unterhalten,« sagte er ärgerlich. »Sie bleiben inzwischen in Haft.«

Helfrich schüttelte den Kopf. Das war ein Naturkind. Der hatte es noch weit bis zum Paragraphenreiter.

Michel wollte sich Mühe geben, ihn zu erziehen, denn er war ihm sympathisch. Der Häftling verbeugte sich mit einer Verbeugung erster Klasse. Der Richter sollte wissen, daß er einen weltgewandten Mann vor sich hatte. Dann folgte er dem Kerkermeister. Im Vorhof liefen ein paar Frauen auf Helfrich zu und wollten ihn ausfragen. Er redete mit ihnen in geringschätziger Art, hob die Arme zu breiten Bewegungen, krümmte den Oberkörper und streckte den Kopf vor. Er wußte, wie man mit dem Volke zu sprechen hatte.

Beim weinumrankten Fenster stand eine Frau, hob den Fuß auf ein Bänkchen und bürstete die Erdkruste von den Absätzen. Daß Weiber Stiefel tragen, ärgerte Michel sehr, und besonders, daß sie für seinen Fuß zu klein waren. Die Frau fletschte den Vorübergehenden mit ihren gesunden Zähnen an, die in blutroten Kiefern steckten.

»Wer ist denn das häßliche Weib?« fragte er.

»Die Witwe Katharina Sepp aus Langenweiler. Sie ist gestern wegen Kohlendiebstahls eingeliefert worden.«

»Habts Ihr eine ordinäre Bagage hier!« sagte Helfrich verächtlich und begab sich in seine Zelle.


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