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I.

Tief im Tal liegt das Städtchen Schleppersberg. Ihm entgegen wanderten an einem Aprilabend 1916 zwei Männer den Feldweg hinab, der Gendarm und sein Häftling. Der Gendarm blickte ernst und verdrossen – der Häftling fröhlich und sorglos; sein Gesicht war hager und rosig, von Falten durchrissen. Hoch schwenkte er die Mütze.

Von allen Orten, in denen er im Laufe seines Vagabundenlebens längere Ruhe genossen, war ihm Schleppersberg der liebste. Hier hatte er Freunde, und alle freuten sich, wenn er kam, brachte er ihnen doch wieder einen Hauch der großen Welt mit in ihr enges Heimatsnest.

Der erste, dem er begegnete, war der Herr Landesgerichtsrat Gurek. Er machte eben seinen Abendspaziergang zu den grünenden Saaten, zwei fuchsrote Zwergdackel hinter sich.

»Was Teufel!« rief der Rat, »schon wieder eingeliefert? Ja, Helfrich, was treiben S' denn? Und nur zu uns. Können Sie sich denn kein andres Revier aussuchen?«

»Am liebsten bin ich hier, Herr Gerichtsrat, halten zu Gnaden,« sagte der Häftling und hielt seine Mütze bescheiden in der Hand. Die Dackel erkannten den Wanderer und wedelten ihm munter zu.

»Na ja …, aber das ist ja schrecklich mit Ihnen! Sie sind unverbesserlich!« Der Rat mühte sich, sein offenes, freundliches Gesicht in strenge Falten zu ziehen und dachte: G'rad recht kommt er – der Garten ist schon ganz verwildert –, der Michel muß ihn wieder einmal ordentlich herrichten. Laut und streng wiederholte er: »Unverbesserlich!«

»Schicksal, Herr Gerichtsrat …, Schicksal!« sagte der Landstreicher seufzend.

»Ich hab' ihn auf frischer Tat ertappt,« meldete der Gendarm, der bei aller Strammheit den echt österreichischen Zug leichter Gemütlichkeit hatte.

»Na gut …, gut …, wir werden ja hören! Liefern Sie ihn inzwischen ein.«

Vergnügt ging der Häftling weiter. Sie kamen zur alten steilen Bergstraße, auf der Ziegen weideten. Sie mündete geradewegs in die Stadt, deren graues, schräg abfallendes Dächergewirr vom hohen viereckigen Schloß mit seinem Turm überragt wurde.

Da stand auch schon »der Brunnen vor dem Tore«. Der Eingefangene hätte fast zu singen begonnen, als er der lieben alten Stadt so nahe war. Ein Brücklein führte über den Schmutzwassergraben. Vor dem Hause des Schmiedes lagen eiserne Reifen und allerlei Maschinen zur Reparatur.

»Potztausend!« rief der Schmied Ambros und unterbrach sich im Hufbeschlag eines mageren Fliegenschimmels. »Jetzt ist der Michel wieder da! Grüß Gott!« Er freute sich, denn der Michel legte Hand an wie keiner. Die Schmiedin trat aus der Tür, uralt und rissig und doch entschlossen, ihren Mann zu überleben.

» Pro boha! Vitam vas!« rief sie und schlug die Hände zusammen. »Das ist aber gescheit, daß Ihr da seid – ich hab' schon oft an Euch gedacht!« Daran lag dem Michel nicht viel, aber er grüßte heiter.

»Ist der rote wieder zerbrochen oder der schwarze?« fragte er.

»Keiner von beiden, aber ein grüner. Beim ersten Regen hab' ich ihn aufgespannt, und wie die Teufel sind die Spanner auseinandergefahren, und ritz-ratz haben sie den ganzen Schirm durchstochen.«

»Wer mer schon machen, wer mer schon machen, Frau Meisterin,« nickte der Häftling und ging weiter. Es war, als führte er den Schutzmann, der hinter ihm schritt, wie das Gefolge hinter dem Anführer.

»So viel z'sammreden dürfen S' mir aber ni–icht!« sagte der Gendarm, und sein wohlgenährtes Gesicht blickte ernst. »Das ist ein besonderes Entgegenkommen von mir, daß ich die Ohren zumach'.«

»Ich weiß …, ich weiß,« nickte Michel. »Bin kein Neuling mehr … Bin auch kein Ganseldieb und kein Raufbold … Seien Sie froh, daß Sie einmal einen besseren Menschen begleiten …, einen Sträfling darf man heute nicht mehr sagen.«

Nun bogen sie in eine schmale Gasse ein. In manchen Fenstern blühten Hortensien, zwischen ihnen hockten weiße Kätzlein, deren Rücken sich kuglig wölbten wie die Blüten. Die Schneiderin, die blasse Martha, lugte hinter roten Pelargonien vor.

»Gott sei Dank, der Herr Helfrich!« rief sie. »Meine Nähmaschine ist verdorben. Ich bitt' Sie, Herr Helfrich, wenn Sie vielleicht morgen oder übermorgen einen Augenblick Zeit haben, kommen Sie gleich herüber. Ich hab' Sie schon gar nicht mehr erwarten können!« Ihr Zünglein surrte und lief munter wie die Nadel ihrer Nähmaschine.

»Augenblicklich bin ich nicht in der Lage, liebes Fräulein, aber die erste freie Minute gehört Ihnen!« lächelte er.

»Gott sei Dank, Gott sei Dank!« surrte sie. »Aber nicht vergessen, nicht vergessen!« Sie nickte dem großen, hageren Mann vertraulich zu und seufzte leise: »Ach …, daß er ein Sträfling war …«

Helfrich nahm seinen Siegeszug weiter in die Stadt. Nun stand er auf dem Ringplatze, die dunkeln Lauben grüßten sanft herüber. Das alte Rathaus sah aus wie eine breite Kiste, die irgendwie in die Mitte der Stadt geraten war. Vor ihr weideten Gänse. Wenn Schritte über das Pflaster hallten, traten die Kaufleute in die Ladentüren, um zu sehen, wer da käme. An den Fenstern der einstöckigen Häuser wurden neugierige Köpfe sichtbar. Ein durchfahrender Wagen bildete ein Ereignis für den ganzen Tag. Unter den Lauben standen ein paar Holztische mit altbackenen Süßigkeiten belegt, um die kleine Bengel sich drängten, auf die Zuckerplätzchen mit den feuchten Fingern tupfend und sie dann begierig abschleckend.

Michel Helfrich liebte das traute Bild. Nicht in Mürau oder Stein oder Karthaus noch in irgendeinem Gefängnis fühlte er sich so gern daheim wie in Schleppersberg. Er war viel herumgekommen in der Welt. Niemand aus Schleppersberg war so weit gereist wie er und hatte seine Sprachgewandtheit. Während er über die Katzenköpfe des Steinpflasters schritt, kam er sich vor wie ein Prinz aus dem Morgenlande, der in einem Tal bei armen Hirten erscheint, um sie seines Glanzes teilhaftig werden zu lassen. Und sein Gang ward freier, sein Kopf stellte sich steifer in den Nacken, seine blauen Augen blitzten sieghaft über die vertrauten Häuser hin.

Der alte Apotheker Bärmann mit dem glatzköpfigen Birnenschädel stand vor seinem Laden, die Hände auf dem Rücken. »Jessas, der Helfrich!« rief er. »Na, hab' mir eh' schon denkt, daß Ihr wohl bald kommen werdets! Wie steht's denn draußen in der Welt? Haben die verfluchten Katzelmacher noch nicht genug?« Der Michel tat sogleich, als käme er direkt aus den Dolomiten oder vom Hochplateau von Doberdo.

»Grüß Gott!« nickt er gnädig. »Die Unsern schlagen sich kolossal! Eine Pracht! Und wieviel Geschütze wir wieder erbeutet haben! 287!« Er sagte das aufs Geratewohl, in verstärktem Patriotismus. »Jetzt wird der Krieg nimmer lang dauern! So eine Beute!« An der lag ihm immer das meiste.

»Ich hab's gleich gesagt!« freute sich der Apotheker. »Na, Michel, wenn ihr a bissel Zeit habt's, kommt's amal her auf einen gemütlichen Plausch! Einen Altvater für den Magen hab' ich auch …«

»Danke, danke …, werde so frei sein!« …

Zur Linken stand die Kirche. Ein Längsschiff mit einem seitwärts angebauten Rundbau, der eine Kuppel trug im Stile des Bramante. Einer der früheren erlauchten Besitzer des Schlosses hatte hier um 1730 seine Gruftkapelle erbaut. Zwischen Kirche und Schloß erhob sich ein uralter viereckiger Turm, der die Stadtuhr trug. Ein Glasgang führte aus dem Oratorium gradaus ins Schloß. Hier befanden sich im Erdgeschoß die Gefängnisse, im ersten Stock die Richterzimmer, und im zweiten wohnten die bejahrten Witwen und Waisen der reichsfreiherrlichen Beamten.

Als er an der Kirche vorbeischritt, schlug Helfrich ein Kreuz, denn er war ein frommer Mann. Dann blickte er zu den Schloßfenstern hinauf. Die Witfrauen und Waisen preßten die Stirnen an die Scheiben und lächelten fröhlich hinab. Der Michel kam wieder; »Michel! Michel!« Wie Sehnsucht und Verheißung klang's in den Stimmen, die dem Häftling Willkommgrüße boten. Der Michel nickte hinauf, wohlwollend, väterlich, männlich. Na ja, er kannte die Weiber. Vor zwanzig Jahren war manche von ihnen sauber gewesen und einer Sünde wert. Heute machten sie einem die Tugend leicht.

»Meine Verehrung, meine Damen!« rief er hinauf und schwenkte die Mütze, daß sein rötlichblondes Haar sich im Winde aufstellte wie der Kamm eines Katers.

»Reden Sie nichts …, ich muß sonst einschreiten!« sagte der Gendarm jetzt mit großer Strenge. Der junge Richter stand am Fenster im ersten Stock. Michel beachtete ihn nicht.

Stolz wie ein Fürst, wie der Herr der Stadt, trat er durch das Schloßtor in die Einfahrtshalle. Jetzt war er in seinem Reiche. Er blieb stehen, und der Gendarm hinter ihm stand still. Michel sah ungeduldig um sich.

»Was ist das für eine Wirtschaft?« fragte er ärgerlich. »Wo bleibt der Kerkermeister, um mich in Empfang zu nehmen? Züngel!« rief er, »Herr Züngel!«

Links im kleinen Laubengang schmetterte eine Tür, ein Schlüsselbund klirrte.

»Was wollen Sie?« fragte eine dunkle Stimme. Züngel erschien, ein stämmiger Mann von sechsundfünfzig Jahren mit schwarzblitzenden Augen und einer roten Narbe über der Oberlippe.

»Oeffnen Sie mir ein Zimmer!« gebot Michel mit königlicher Würde und schritt in sein Gemach, das der Gefangenwärter eilfertig und erfreut aufriß, während seine junge, blonde Frau im Hintergrunde jubelte: »Gott sei Dank, der Michel ist wieder da! Sie, Michel, Sie werden mir morgen gleich meine Schuh' flicken …«

»Morgen …, morgen …« murmelte Michel, »bringen Sie mir inzwischen frische Bettwäsche, Frau Züngel!« Darin war er heiklich, er duldete nur seine eigenen Flöhe, aber nie die seiner Vorgänger.

Die Kerkermeisterin kannte schon die Wünsche ihres Stammgastes. Während sie sein Bett mit einem frischen Leintuch überstraffte, erstattete draußen der Gendarm die Meldung, daß er den gefährlichen Einbrecher Michel Helfrich auf frischer Tat ertappt und dem k. k. Bezirksgericht in vorschriftsmäßiger Weise eingeliefert habe, und diktierte aus seinem Notizbuch dem Kerkermeister die nötigen Daten ins Protokoll.


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