Heinrich Stilling
Eine wahre englische Katze
Heinrich Stilling

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Achtes Kapitel

Am nächsten Mittag, punkt zwölf Uhr, verließ Kapitän Leaths Schwadron Felpham, um in einer Reihe von Tagesmärschen nach London zurückzukehren. Kapitän Leath stieß bei der Musterung der Mannschaften auf den Dragoner Schofield, der den Kopf verbunden hatte. »Was zum Teufel ist mit Ihnen los?« sagte der Kapitän und dachte einen Augenblick nach:

»Sie sind von einem Miniaturenmaler namens Blake über den Kopf geschlagen worden? Haben Sie mir nicht das bereits gestern abend gemeldet? Ich entsinne mich nicht mehr, ob er das in der Betrunkenheit getan hat, dann wäre das ein Entschuldigungsgrund für ihn, und wenn Sie ebenfalls betrunken waren, was ich fast als sicher annehme, dann ziehen Sie Ihre Meldung schleunigst zurück, sonst schicke ich Sie in Arrest!«

»Herr Kapitän, ich bin nicht betrunken gewesen, sondern in der Dunkelheit in den Straßengraben gefallen.«

»Lieber Freund, in der ganzen Weltgeschichte ist noch kein Mensch in der Dunkelheit in den Straßengraben gefallen, wenn er nicht gleichzeitig betrunken gewesen ist.« 205

Der Dragoner Schofield machte unter seinem Verband hervor ein so klägliches Gesicht, daß der Kapitän Leath Mitleid bekam.

»In zwei Stunden«, sagte er, »reiten wir durch Chichester, dort wohnt der zuständige Friedensrichter. Ich gebe Ihnen die Erlaubnis, eine Anzeige gegen diesen Blake zu erstatten. Überlegen Sie sich aber genau, ob Sie nicht selbst betrunken gewesen sind und dieser Blake in der Notwehr gezwungen war, Sie über den Kopf zu hauen. Ich habe in der Schwadron schon mehrere ähnliche Fälle gehabt, und ich warne Sie! Nicht wahr, Herr Wachtmeister?«

»Jawohl, Herr Kapitän«, antwortete der Wachtmeister, »wer das Bier erfunden hat, der trägt auch den Dragoner Schofield auf seinem Gewissen.«

In Chichester trennte sich der Dragoner Schofield von seiner Truppe und ritt geradeswegs vor das Haus des Friedensrichters Mister Nathanael Tredcroft.

Der Anblick des kopfverbundenen Soldaten versetzte den Friedensrichter in eine schlechte Laune, denn die Zeit zu seinem Mittagsschläfchen war herangekommen, und selbst wenn er den Soldaten rasch abfertigte, so konnte doch nachher in dem verkürzten Mittagsschlaf der Verband eine Rolle spielen und ihn durch zeitbedingte Träume ärgern.

»Fasse dich kurz«, sagte er sofort, »und gib gleich an, 206 welcher Zivilist dir über den Kopf gehauen hat und unter welchen Umständen es geschehen ist!«

»Es ist mein Hauptmann zwar nicht gewesen, aber er ist die Ursache davon!«

»Mache, daß du hinauskommst«, rief der Friedensrichter, »das ist eine militärische Angelegenheit, die mich aber auch gar nichts angeht.«

»Ist Spionage auch eine militärische Angelegenheit, die Sie nichts angeht?« frug der Dragoner Schofield. –

 

»Zittert vor dem Worte des Herrn!« hatte einst der Begründer einer Sekte seinen Richtern zugerufen, und schon hatte die Sekte ihren Spitznamen: Zitterer oder Quäker.

Nathanael Tredcroft war seit einiger Zeit kein öffentlicher, aber ein geheimer Zitterer, denn noch konnte er sich nicht entschließen, auf die Freuden dieser Welt, welche zum Beispiel sind: Theater, Glücksspiel, Jagd, Tanz, Schmaus und Trinkgelage, auch theoretisch zu verzichten, obwohl er durch häufige und heftige Gichtanfälle in der Praxis schon längst dazu gezwungen war. Daß er ein angenehmes Leben führen konnte, verdankte er seinen engen Beziehungen zu dem Kriegsministerium, das ihm zu sehr anständigen Preisen jede Quantität Tuch abnahm, die er in seinen zwei Fabriken auf das sorgfältigste herstellte. Im übrigen 207 haßte Tredcroft den Krieg wie den Bösen selber und war aus diesem Grunde den Quäkern nahegetreten. Sobald sein Barvermögen hunderttausend Pfund erreichte, war er gewillt, seine beiden Fabriken zu jedem Preis zu verschleudern, seine ihm durch seinen Reichtum mühelos zugefallenen Ehrenämter niederzulegen und den Rest seiner Tage unter den primitivsten Lebensidealen zu verbringen. Der öffentliche Übertritt zum Quäkertum sollte dann seinen Geschäfts- und Privatfreunden zeigen, daß er es, gottlob, nicht mehr nötig hatte, auf ihre Ansichten Rücksicht zu nehmen. In einigen der Tugenden der Quäker übte er sich schon jetzt recht eifrig, wie zum Beispiel in der Wahrheitsliebe und in der christlichen Einfachheit, andere befolgte er sogar wörtlich, wie zum Beispiel die Vorschrift, alle Mitmenschen mit »du« anzureden, und er machte dabei nur mit den wenigen, sozial höherstehenden Personen eine Ausnahme. Als das Wort Spionage fiel, mußte sich Tredcroft alle Mühe geben, daß Schofield nicht bemerkte, daß er ein heimlicher Zitterer war.

»Die Spionage ist etwas Furchtbares«, bemerkte er. »Ein Spion wird sofort aufgehängt. Das Urteil spricht das Militärgericht, und das ist allein zuständig.«

»Gewiß, Herr Friedensrichter«, sagte bescheiden der Dragoner Schofield, »aber angenommen, der Spion 208 oder die Spione sind Zivilisten und Engländer?«

»So etwas gibt es nicht«, antwortete Tredcroft mit großer äußerlicher Zuversicht, »ein Engländer ist vielleicht für England im Ausland als Spion tätig, aber ein Engländer, der im Inland gegen England spioniert, hat sich bis heute noch nicht gefunden.«

»Doch, Herr Friedensrichter, ich habe ihn gefunden und seine Helfer, und zwar in Ihrem Bezirk!«

Auf diese Eröffnung hin mußte der Friedensrichter so laut lachen, daß nicht nur sein stattlicher Bauch, sondern auch seine Beine schwankten, die gebieterisch nach einem Stuhl verlangten.

Als er saß, sah er den Dragoner so ernst an, wie er das bei einem berühmten Lordrichter gesehen hatte, wenn er einem Mörder die Todesstrafe verkündigte, und sprach feierlich:

»Wehe dir, Halunke, wenn du einen ehrlichen Bürger leichtsinnig verdächtigst. Nenne seinen Namen!«

»William Blake, Miniaturenmaler in Felpham.«

»Und seine Helfer?«

»Der Wirt zum Fuchsen, dessen Haushalt und noch eine ganze Anzahl Bewohner von Felpham.«

»Bist du dem Wirt zum Fuchsen Geld schuldig?«

»Ich glaube nicht, Herr Friedensrichter! Das hat auch mit meiner Anzeige gar nichts zu tun.«

»Aha, mein Freund! Der Besitzer von Felpham ist 209 Mister Butts. Ist er unter den Helfern dieses Miniaturenmalers?«

»Wahrscheinlich, Herr Friedensrichter!«

»Wahrscheinlich? Aha, mein Freund! Butts ist Hauptmann im Kriegsministerium in London und Exerziermeister des Reiches. Merke dir seine Adresse!«

»Herr Friedensrichter, ich kenne die Adresse des Miniaturenmalers Blake und bitte Sie, protokollieren zu lassen, daß ich Blake des Hochverrats und der Spionage beschuldige.«

»Gehe hinaus«, sprach Tredcroft, »und komme erst wieder herein, wenn ich mit dieser Glocke drei kurze Zeichen gebe.«

Es dauerte sehr lange, bis der Dragoner Schofield die drei kurzen Zeichen hörte, denn kaum hatte er die Türe geschlossen, als Tredcroft auf ein vor ihm liegendes Blatt Papier eine Bestandesaufnahme von dem machte, was er bisher über diesen Miniaturenmaler Blake gehört hatte. Dabei wollte er Blake um der Unparteilichkeit willen so betrachten, wie er ihn beurteilen würde, wenn er einmal in aller Öffentlichkeit Quäker sein durfte, um ohne Rücksicht Recht und Unrecht als Recht und Unrecht bezeichnen zu können. Was wußte er nun von Blake?

Vor drei Jahren hatte ihm der liebenswürdige Hauptmann Butts einen Besuch gemacht und nach einigen 210 einleitenden Worten mitgeteilt, daß er sein Häuschen in Felpham einem befreundeten Künstler, gleichzeitig Maler und Dichter, zur Verfügung gestellt habe.

»Herrlich«, sprach Tredcroft und rieb sich die Hände, »ein Maler, der gleichzeitig Dichter ist? Der kommt wie gerufen. Wir hatten früher ein Liebhabertheater hier, und wenn er gleichzeitig etwas singen kann, dann steht seinem Glück nichts im Weg. Meine jüngste Tochter hat selbst eine künstlerische Ader, und ich und meine Frau raten daran herum, woher sie kommt.«

»Mein Freund Blake ist verheiratet und bringt sich seine Frau schon mit, lieber Tredcroft, und wenn er singt, dann singt er zwar sehr laut, aber nicht sehr schön, und dann singt er stets nur seine eigenen Lieder in seinen eigenen Kompositionen.«

»Das muß ja ein sehr bedeutender Mensch sein.«

»Das ist er, mein lieber Friedensrichter, und er hat, wie alle bedeutenden Menschen, seine Eigenarten. Das ist der Grund, warum ich zu Ihnen gekommen bin und Sie bitten will, Ihre schützende Hand über ihn zu halten. Seine Eigenschaften stören die philiströsen Menschen, zu denen wir beide doch nicht gehören, lieber Herr Friedensrichter?«

»Wir und philiströse Menschen«, rief Herr Tredcroft und drückte dem Hauptmann dankbar die Hand, »ich habe die Absicht, in einigen Jahren nach London zu 211 ziehen und in die Gegend, wo die meisten Theater sind. Also, was sind die Eigenarten des Malers und Dichters, die ich von allen Angehörigen der Grafschaft respektiert wissen will?«

»Es sind eine ganze Anzahl! Zuerst: William Blake liebt es, im Sommer möglichst leicht bekleidet herumzulaufen!«

»Das tun wir alle, die an der Küste wohnen, Herr Hauptmann!«

»Ja, aber Blake geht noch einen Schritt weiter. Er behauptet, was Adam im Paradies erlaubt war, könne man ihm, Blake, im Paradies England nicht verbieten.«

Der Friedensrichter wurde im Gesicht um einen Schatten blasser:

»Um Gottes willen, Herr Hauptmann, stellen Sie sich vor, er begegnet in diesem Zustande der Lady Hesketh am Strande. Sie ist imstande, uns Hals über Kopf zu verlassen und später in einer Grafschaft zu sterben, die nicht so wie die unsrige auf die Nachlaßsteuern angewiesen ist!«

»Ich sehe das gewiß ein, Herr Friedensrichter, und werde Blake ersuchen, so nicht spazierenzugehen. Wenn er sich aber im Adamskostüm in der Gartenlaube aufhält – ich nehme an, nur an den heißesten Tagen des Jahres –, dann werden Sie keinen Einspruch erheben und Denunzianten abweisen?« 212

»Gewiß, Herr Hauptmann, an Ihrem Grund und Boden prallen alle moralischen Einwände ab.«

»Ferner: Blake bekommt wenig Besuch von lebenden Menschen, dagegen gehen erlauchte Geister bei ihm ein und aus!«

Der Friedensrichter atmete auf:

»So? Hat er Offenbarungen? Dann steht er zweifellos dem großen George Fox nahe? Ich bin zwar selbst kein Quäker, aber ihre Lehre hat etwas Imponierendes!«

»Manchmal kommen ihm natürlich auch andere Geister dazwischen«, fuhr der Hauptmann Butts fort, »Leute, die sich zu Lebzeiten konstant geweigert haben, Steuern zu zahlen . . .«

»Wie schrecklich, Herr Hauptmann!«

». . . oder der Geist eines Mannes, der die Erde freiwillig verließ, oder sogar der Geist eines Flohs!«

»Ich sehe schon, Herr Hauptmann, die Offenbarungen sind in diesem Falle ganz anders, als wie sie bei den Quäkern üblich sind.«

»Das mag wohl sein, weil sie auch körperlich in Erscheinung treten, aber – ob es sich um eine Marotte handelt oder um eine Tatsache – der Mann ist ein großer Maler und ein ebenso großer Dichter.« Butts machte eine Pause und sagte dann einen Satz, der erst hundert Jahre später nicht nur einmal, sondern oft wiederholt wurde: 213

»Blake ist vielleicht der größte Maler und neben Shakespeare der größte Dichter Englands.«

Von diesen feierlich gesprochenen Worten des Hauptmanns Butts beeindruckt, meinte der Friedensrichter: »In Ihrem Hause, Herr Hauptmann, kann Herr Blake jeden Geist empfangen, meinetwegen sogar den . . . na, Sie wissen ja schon, wen ich meine! Aber er soll sich ja nicht in den Wirtshäusern produzieren, da müßte ich einschreiten.«

»Blake geht in keine Wirtshäuser, eine der vielen Tugenden, die mein Freund hat. Aber eine weitere kleine Untugend ist seine gelegentliche Freude an einer sehr kräftigen Sprache.«

»Dann wird er wohl kaum in unsere hiesige gute Gesellschaft passen. Menschen, die fluchen, und wenn sie sonst die gutherzigsten Leute sind, können in unserer guten Gesellschaft keinen Boden fassen. Darin sind wir die alten geblieben und haben die neue Mode in London nicht mitgemacht . . .«

»So soll es auch bleiben, Herr Friedensrichter, wie es bisher gewesen ist, und Blake hat sicher nicht den Wunsch, sich in Ihre gute Gesellschaft einzudrängen. Außer den genannten Eigenarten hat er nur noch Tugenden, und Sie werden dieselben bald schätzen lernen!«

»Meinen Sie wirklich, Herr Hauptmann?« sagte 214 Friedensrichter Tredcroft, als er den Hauptmann höflich an die Türe geleitete, »ich lerne von den meisten Menschen zuerst so viele Untugenden kennen, daß ich dann für ihre Tugenden gar kein Verständnis mehr aufbringe!«

»Lesen Sie Blakes ›Gedichte der Unschuld‹«, antwortete der Hauptmann und gab ihm ein kleines Buch, »lesen Sie dieselben und Sie werden seine Eigenarten vergessen und nur noch den großen Menschen sehen.«

Tredcroft hatte sich an der Türe von Hauptmann Butts verabschiedet und auf dem Wege bis zu seinem Kassenschrank, worin er das Büchlein einschließen wollte, einen Blick hineingeworfen. Er hatte das Titelblatt gelesen und festgestellt, daß das Büchlein vor fünfzehn Jahren gedruckt worden war und der Titel tatsächlich »Lieder der Unschuld« lautete.

Einen Augenblick frug er sich, ob es tatsächlich notwendig sei, ein Buch mit einem solchen Titel in den Kassenschrank einzuschließen und ob er es nicht einfach seiner jüngsten Tochter zur Kritik übergeben sollte. Aber dann sagte er sich, daß es sehr viele Bücher gab, die sehr anständige Titel trugen und bei denen sich dann herausstellte, daß sie wohl eine geeignete Lektüre für einen Vater bedeuteten, aber keineswegs für seine Tochter. Er legte also die »Lieder der Unschuld« in den Kassenschrank, um an einem 215 Tage, wo ihm die Untugenden seiner Mitbürger eine Atempause gönnten, einen schnellen Blick hineinzuwerfen. Aber dieser Tag war bis heute noch nicht gekommen, und wenn er jetzt in den »Liedern der Unschuld« blättern mußte, so geschah es in seiner amtlichen Eigenschaft und mit dem unangenehmen Gefühl, daß es sich vielleicht um die Lieder eines Schuldigen handeln könnte. –

Beschwerden über William Blake hatte er in diesen Jahren nur einmal erhalten, und zwar von einem nicht mehr ganz jungen Mädchen, das Blake in der Gartenlaube in Felpham sitzen sah, sein Hemd über den Knien und damit beschäftigt, Radieschen für das Mittagsmahl vorzubereiten. Tredcroft fuhr das Mädchen hart an und sagte ihm, daß es heilfroh sein könnte, wenn es je einen so häuslichen Mann zum Gatten bekäme. Soviel er wüßte, sei es nicht verboten, laut zu singen, wenn ihr etwa der Gesang, den Blake bei seiner Arbeit angestimmt hatte, nicht gefallen habe.

»Er hat mir nicht gefallen, Herr Friedensrichter, ich hielt ihn für liederlich!«

»Darüber steht dir gar kein Urteil zu«, antwortete Tredcroft, »wahrscheinlich hat er seine ›Lieder der Unschuldigen‹ gesungen. Wie kommst du übrigens dazu, Blake in der Gartenlaube sitzen zu sehen? Sie ist dicht mit Weinlaub umzogen!« 216

»Herr Friedensrichter . . . ich hörte in Chichester . . . ich dachte, in Felpham . . . da habe ich das Weinlaub auf die Seite gestreift und hineingesehen!«

»So?« antwortete Tredcroft, »dann gehe nach Hause, überlege dir zweimal, ob du deine Anzeige aufrechterhalten willst. Mir soll es recht sein.«

Das geschah nicht, denn nach vierzehn Tagen verlobte sich das ältere junge Mädchen mit einem älteren Landwirt, und der zog ihre Anzeige, ohne um ihre Zustimmung zu bitten, zurück. –

Tredcroft las mit großer Aufmerksamkeit in seiner gegenwärtigen Eigenschaft als Friedensrichter, aber auch im Hinblick auf seine Zukunft als Quäker, die Gedichte Blakes, und er fand die »Lieder der Unschuld« wirklich unschuldig. Leider befanden sich aber in diesem gleichen Bändchen auch die »Lieder der Erfahrung«. Diese gefielen ihm nur zum Teil.

»Hätte der Mensch«, so murmelte er, »nur über die Unschuld gedichtet, ich hätte diesen albernen Soldaten unter ihrem Eindruck, weiß Gott, hinausgesetzt. Weiß der Himmel, warum er nun mit seinen Erfahrungen kommt, die um so schlimmer sind, wenn die Unschuld sehr groß war. Ein Gedicht las er zweimal. Es lautete: 217

Ein göttliches Ebenbild
        Das Menschenherz ist voll Grausamkeit,
Eifersucht trägt ein Menschengesicht,
Und Heimlichkeit ist des Menschen Kleid,
Schrecken das menschliche Gottesgericht.
Menschliches Kleid – gehämmertes Eisen;
Das menschliche Wesen – Schmelze von Erz!
Das Menschengesicht ist versiegelter Schmerz;
Ein hungriger Schlund ist das menschliche Herz.

»Der Mann ist ein Narr«, sagte der Friedensrichter Tredcroft zu sich, »keines seiner Bilder stimmt. Er bildet sich sogar ein, daß das Herz in der Kehle schlägt und nicht in der Brust. Ob er vielleicht doch trinkt?« Nun aber fand er noch handschriftlich einige Reime der Weissagungen wie diese:

        Wird die Lerche verwundet an einer der Schwingen,
Ein Engel im Himmel hört auf zu singen.
Wenn den Hund hungert an des Herrn Tor,
Dann stehet das Ende des Staates bevor.
Jedes Röcheln aus des Wolfes und des Löwen Kehle
Hebet aus der Hölle eine Menschenseele.
218
Jeder Aufschrei des gejagten Hasen
Wird aus deinem Hirn ein Quentlein blasen.
Die Raupe auf dem Blatt
Sagt immer wieder: ich glaube,
Daß deine Mutter Kummer hat.
Tötet ihr Fliegen, mutwillige Knaben,
So sollt ihr die Feindschaft der Spinnen haben.
Hast du ein Vögelchen in Angst getrieben,
Dann dürfen dich die Menschen nicht mehr lieben.
Das Rotwild wandert an uns vorbei,
Macht die menschliche Seele sorgenfrei.
Wer den Ochsen zum Zorn betrübt,
Sei nie mehr von einer Frau geliebt.

»Genug!« sprach der Friedensrichter Mister Tredcroft und wiederholte den letzten Vers:

        Wer den Ochsen zum Zorn betrübt,
Sei nie mehr von einer Frau geliebt.

»Den Vers werde ich meiner Frau aufsagen: so etwas Unsinniges habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gelesen.« 219

Dann läutete er kurz dreimal. Aus dem Hinterzimmer trat der Schreiber, aus dem Vorzimmer kam der Dragoner, der sehr erstaunt war, daß der Friedensrichter seine Angaben mit keinem Wort unterbrach, sondern auch gewagte Behauptungen zu Protokoll nahm.

 

Als der Dragoner befriedigt das Zimmer verlassen hatte, sagte der schmale Schreiber:

»Man wird den armen Mister Blake aufhängen!«

»Aufhängen?« meinte der Friedensrichter Mister Tredcroft, »kein Gedanke daran! Seine Gedichte beweisen, daß er unzurechnungsfähig ist. Man wird ihn für geisteskrank erklären und in eine Irrenanstalt schicken, und dort ist für ihn zeitlebens gesorgt. Das ist für einen solchen Mann sehr wichtig, besonders da die Verpflegung von Jahr zu Jahr besser wird. Und ich werde eventuell aus eigenen Mitteln noch zusteuern, denn einem wahnsinnigen Dichter Gastfreundschaft erwiesen zu haben, das kommt der Grafschaft zugute. Und wenn sich dann noch feststellen läßt, daß er im gesunden Zustand unsterbliche Werke geschrieben hat, dann wird in der oder jener Form die Belohnung nicht ausbleiben. Schon: daß seine Biographen schreiben müssen: ›von Felpham aus brachte man den Unglücklichen an den und den Ort‹, das ist eine Erinnerung, 220 die mit Geld gar nicht zu bezahlen ist. Jawohl, mein Freund!«

». . . In Tyburn ist er gehängt worden. Daß er in Tyburn eines Tages gehängt werde, das habe ich nicht gewußt. Aber der Galgen stieg aus dem Boden empor, und ich sah ganz deutlich, wie die Pflastersteine auf die Seite kollerten, um dem Galgen Platz zu machen. Er hing daran mit gespreizten Beinen, die Arme schlenkerten hin und her, und der Kopf war verdreht. Das Gesicht starrte nach oben.«

»William, du hast mir die grausige Geschichte oft genug erzählt, ich kann sie gar nicht mehr anhören.«

»Ich bin damals ganz blaß geworden, und der Hofkupferstecher, das ist er gewesen, ein sehr einflußreicher Mann und geschickter Künstler, sagte zu meinem Vater: ›Der Bub hat einen guten Kopf, ich glaube, es läßt sich etwas aus ihm machen. Aber nicht ängstlich sein! Ich bin kein Menschenfresser: im Gegenteil, ich bin ein Freund von forschen Buben, die etwas lernen wollen.‹ Mein Vater lachte: ›Mein William und ängstlich? Das hat noch niemand gesagt, der ihn kennt!‹

›So sieht er eigentlich auch gar nicht aus! Komme morgen früh um acht Uhr, ich glaube, wir werden gute Freunde werden!‹ 221

Dann ging er. Und an der Straßenecke drehte er sich noch einmal um und winkte mir mit der Hand freundlich zu. In diesem gleichen Augenblick sagte ich zu meinem Vater:

›Vater, das Gesicht dieses Mannes gefällt mir nicht. Es sieht aus, als warte es darauf, vom Körper abgeschnürt zu werden.‹

›Was soll das heißen, Bub?‹

›Er wird gehängt werden, Vater, ganz sicher, er wird gehängt werden.‹

Katherine, ich war damals gerade vierzehn Jahre alt, als ich das meinem Vater sagte, und fünfundzwanzig Jahre war ich alt, als der Hofkupferstecher, Lehrer einer königlichen Prinzessin und Genießer einer königlichen Pension und – Wechselfälscher, am Galgen in Tyburn hing.« Als Blake diese Geschichte erzählte, hielt er ein Waschseil in der Hand und versuchte einen kunstgerechten Knoten zu machen. Dabei sprach er weiter:

»Gewiß, ein Mensch, der am Galgen hängt, sieht nicht schön aus, aber ich habe gehört, daß der Tod am Galgen nicht der schlimmste ist, vorausgesetzt, daß der Nachrichter geschickt arbeitet. – Einmal hat mich ein Mann besucht, der zu Lebzeiten gesteinigt wurde; ich habe davon nichts bemerkt, im Gegenteil, ein Leuchten ging von ihm aus, wie von den ganz großen Propheten 222 und den Heiligen. Deswegen meine ich: wenn ein ehrlicher Mensch gehängt wird – und es gibt ehrliche Menschen, die gehängt werden –, dann nimmt ihnen Gott gleich den roten Streifen vom Hals . . .«

»William, was ist dir?«

»Gar nichts, Katherine! Ich wollte nur sagen: vor mancher Seele, deren Leib am Galgen baumelt, wird die Pforte zur ewigen Seligkeit von selber aufspringen, und es werden ihr so viele Geister zur Begrüßung entgegeneilen, daß andere Seelen ganz eifersüchtig werden. Es gibt Menschen, die im Diesseits wenig Freunde haben, aber um so mehr in der Ewigkeit.«

Menschen, die in der Ewigkeit viele Freunde haben, aber wenig auf Erden, und unter diesen wenigen hauptsächlich seine eigene Frau, verstehen nicht ihre kleinen Geheimnisse zu bewahren. Am Nachmittage des gleichen Tages fand Frau Katherine in dem Manuskript der »Lieder der Unschuld« ein langes, sehr offizielles Schreiben des Friedensrichters Tredcroft in Felpham.

Frau Blake war keine Frau, die absichtlich in den Geheimnissen ihres Mannes schnüffelte, aber unabsichtlich blieb ihr, rein aus dem Instinkt heraus, kein Geheimnis verborgen und in diesem speziellen Falle schon gar nicht, weil das dicke Schreiben mit den Aussagen des Dragoners Schofield in einem dünnen Buche lag 223 und das dünne Buch auf dem Küchenherd.

Frau Katherine hatte erst als junge Frau lesen gelernt, und sie buchstabierte sich mühselig den Inhalt zusammen. Sie erschrak bis in das tiefste Herz hinein, und sie hätte am liebsten laut geweint, wenn nicht Blake, nahe der Küche, im Gartenhaus gesessen hätte. So holte sie sich eilig Briefpapier und Feder und schrieb schwerfällig und mit sehr viel orthographischen Fehlern an Blakes Freunde, um sie um Rat und Hilfe zu bitten. – Ich würde gerne jeden Brief wörtlich wiedergeben, denn mit allen ihren orthographischen und stilistischen Mängeln sind sie doch so schön, daß die Herzensangst Katherinens auch den flüchtigsten Leser rühren sollte, aber ich weiß nicht, ob mein Verleger dann nicht von dem Druck des Buches Abstand nehmen müßte, weil es zu dick würde. Nur diese wenigen Sätze muß ich schreiben, die am Ende eines der Schreiben stehen und die so lauten: »Herr Fuseli, mein guter Mann ist viel zu gut dazu, um so schreckliche Dinge zu sagen. Das bin ich nämlich gewesen, weil ich böse darüber war, daß er mir wieder einmal eine so schreckliche Unordnung in der Küche gemacht hat, und Sie wissen doch, wenn Frauen böse werden, dann wissen sie vor Ärger nicht mehr, was sie sagen. Wenn ich deswegen gehängt werden muß (wie mein Mann meint), dann soll man mich aufhängen, aber 224 William ist vollkommen unschuldig, das weiß niemand besser als Sie, lieber Herr Fuseli! Wenn sie aber William aufhängen werden, dann werde ich etwas tun, daß sie mich vorher neben ihn hängen.«

 

»Eine kleine Anfrage«, sagte Lord Purple, der Kriegsminister, und hielt Professor Buffers seine brillantenbesetzte Schnupftabakdose hin, »kann ich mit einer kleinen Antwort beantworten, das heißt, daß die kleine Anfrage nach einiger Zeit durch eine neue kleine Anfrage ersetzt wird oder aber, daß der Anfrager die neue Anfrage vergißt. Das kommt häufiger vor, als Sie glauben, meine Herren! Unsere englische Politik ist überhaupt auf unserer und der andern Vergeßlichkeit aufgebaut. Das heißt: in Wirklichkeit vergessen wir gar nichts. Die andern meinen es nur, und das ist sehr gut. Wenn uns jemand auf den Fuß tritt, dann sagen wir nicht sofort »au«, das ist unenglisch. Wenn der andere sich nach zehn Jahren ein Holzbein anschnallen muß, dann ahnt er vielleicht nach weiteren zehn Jahren, daß wir ihm dazu verholfen haben, aber dann ist es gewöhnlich zu spät, um noch einmal darauf zurückzukommen. – Was ich sagen wollte: zwei Anfragen, wie sie jetzt von beiden Parteien des Unterhauses vorliegen, die muß ich so oder so beantworten, mit Ja oder Nein, und auch mit der geschicktesten Mischung komme 225 ich nicht weiter. Also, können Sie mir einen Zeitpunkt angeben, an dem die Ratten im Marine- und Armeewarenhaus ihre Aktualität eingebüßt haben?«

»Wenn meine wissenschaftlichen Untersuchungen zu einem nicht mehr anzweifelbaren Resultat geführt hätten«, antwortete Professor Buffers, »dann hätte ich Ihnen, mein Lord, mit Hilfe der Statistik, Voraussagen machen können, die wahrhaft verblüffend wären. Aber leider muß ich noch immer meine neuen Experimente wiederum durch noch neuere Experimente nachprüfen, und ich komme aus dem Versuchsstadium nicht heraus. Währenddem wartet die Statistik an der Türe meines Laboratoriums . . .«

»Und macht auch mich ungeduldig, mein lieber Professor! Und Sie, lieber Sir Herbert?«

»Ich bin ein Mann der Tat, Mylord, und stehe auf dem Standpunkt, daß eine reine, aber aktive Katze wertvoller ist als eine gemischte Katze mit gemischten Talenten.«

»Das meine ich auch, lieber Sir Herbert, eine schmutzige Katze ist etwas Unerfreuliches, besonders für einen Engländer.«

»Gewiß, aber ich meine es hier nicht äußerlich, sondern rein innerlich. Ich denke, daß eine rein englische Katze vom menschlichen Standpunkt aus wertvoller ist als eine irische und eine irische wertvoller als eine 226 indische. Nachdem ich vorgestern endgültig zu dieser Überzeugung gekommen bin, habe ich gestern einen namhaften Teil der indischen Katzen töten lassen. Die irischen Katzen werde ich auch töten lassen. Aber da es viel weniger sind, erst nach und nach, und weil es doch eben irische Katzen sind und uns näher stehen.«

»Die Katzen haben den Staat ein Vermögen gekostet, Sir Herbert!«

»Das nicht ganz verloren ist, Mylord! Das Katzenfleisch wird in frischem und getrocknetem Zustand den Ratten hingeworfen, die es leidenschaftlich gern fressen und dafür die Lebensmittellager der Firma schonen. Mein Onkel hat dahingehende Experimente gemacht, die, wie er sagt, glänzende Resultate ergaben.«

»Jawohl, Mylord, mein Neffe hat recht: das Ergebnis meiner Experimente in dieser Richtung haben meine Vermutungen glänzend gerechtfertigt!«

»Meine Herren«, rief der Kriegsminister, »ich habe Sie doch gebeten, die Ratten zu vernichten und nicht ausfindig zu machen, welche Nahrungsmittel ihnen am besten bekommen!«

»Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus«, antwortete Professor Buffers, »waren die Versuche nach dieser Richtung hin unbedingt notwendig, und wenn in der nächsten Zeit die Ratten genügend Katzenfleisch bekommen, dann kann ich fast garantieren, daß die Lager 227 des Marine- und Armeewarenhauses unangetastet bleiben. Des weiteren nehme ich an, daß durch die reichliche Fleischzufuhr die Ratten bequem und faul werden, was schon latent eine Eigenschaft der indischen Katzen ist, und dann ist der Moment gekommen!«

»Auf diesen Moment kann ich nicht warten, denn es liegen, wie ich schon sagte, zwei kleine Anfragen im Unterhaus vor! Ich muß eine positive Antwort geben!«

»Mylord, wo mein Onkel anfängt, anzunehmen, dort trennen sich entschieden unsere Wege, denn ich bin ein praktischer Geschäftsmann. Ich habe also von den indischen Katzen einige der schlausten am Leben gelassen und sie meiner Katze Betty, von der ich alles erhoffe, zugeführt. Sie sind außerordentlich froh, daß sie am Leben bleiben durften, und von einem wilden Haß gegen die Ratten erfüllt, durch die sie Europa kennengelernt haben. Betty hat mit ihnen einen Generalstab gebildet, der am Tag und hauptsächlich die ganze Nacht hindurch den Feldzugsplan berät und die Offensive schon in den nächsten Tagen beginnen wird. Ich habe Betty mit hierher gebracht, und wenn Mylord mir erlauben, dann werde ich sie einmal heraufbringen. Sie sitzt unten in meinem Wagen. Jedoch müssen Sie mit ihr allein sprechen, denn wenn mehrere Menschen im Raum sind, dann wird sie schweigsam.«

Der Kriegsminister wollte anfangs nicht so recht auf 228 den Vorschlag Sir Herberts eingehen, aber schließlich, im Hinblick auf die zwei kleinen Anfragen im Unterhaus, empfing er Betty doch, und zwar in einem kleinen Raum, von dem kein Mensch vermuten konnte, daß er gelegentlich als Audienzsaal diente.

Als er nach einer halben Stunde heraustrat, die Katze war über das besonders schöne und breite Dach des Kriegsministeriums gegangen und hatte sich alsdann des Blitzableiters bedient, drückte er dem wartenden Sir Herbert warm die Hand und sagte:

»Ein fabelhaftes Tier, englisch vom Kopf bis zu den Pfötchen.«

Dem Professor Buffers dagegen zeigte er ziemlich brüsk seine Rückseite.

Der Professor sah ihm nach und dachte an die Erzählung von dem Holzbein und an die Tatsache, daß ein General eher zu einem solchen kommt wie ein Statistiker, daß aber ein Statistiker an dem Holzbein eines Generals vielleicht noch ein größeres Interesse hat, als der betroffene General selber.

 

Wenn in Gegenwart eines Mannes, der mit der Jurisprudenz in Verbindung stand, der Name des Städtchens Chichester erwähnt wurde, dann kam sicherlich die Rede auf Samuel Rose, den berühmten Verteidiger. Der Mann, welcher der Jurisprudenz nahestand, 229 wurde dann für mindestens eine Viertelstunde der Mittelpunkt des Gesprächs, wenn er es vorher nicht schon gewesen war. Das ist bei einem Juristen fast immer der Fall.

»Mindestens zehntausend Pfund im Jahre verdiente er, und wenn ein Mörder wohlhabend genug war, um ihn als Anwalt zu beschäftigen, dann war schließlich nicht nur der Gerichtshof überzeugt, daß er keinen Mörder vor seine Schranken geladen hatte, sondern auch der Mörder selbst, daß er kein Mörder sei.«

Dennoch liebte Rose die Prozesse, welche ihm das große Einkommen verschafften, nicht sonderlich; ihm sagte es zu, die heftigen Broschüren eines Samuel Johnson gegen Gott und die Welt im Manuskript zu lesen, von seiner Seite aus mit noch recht salzigen Bemerkungen zu versehen und dann gespannt zu warten, ob Samuel Johnson deswegen nicht in einen Beleidigungsprozeß verwickelt wurde. Wenn es dann so weit war, trat Rose, der übrigens auch Parlamentsmitglied war, als Anwalt an Johnsons Seite und bekämpfte die Feinde des »Menschenfressers« mit Bravour und solcher Zähigkeit, daß weder die Literatur noch die Politik in Zukunft etwas von ihnen zu vermelden hatten. – Während er für seine Tätigkeit in einem Ehescheidungsprozeß ein Vermögen forderte, hatte ihm seine Arbeit für Johnson nur einige Shillinge 230 eingebracht, die in viele Pfund verwandelt, in sogenannte Darlehen, an seinen, oftmals auch noch undankbaren Klienten zurückgingen. Sein größter Kummer war es, daß er als Engländer niemals in der Lage war, für den Franzosen Voltaire in die Bresche zu springen, dessen Anwälte er samt und sonders für Dummköpfe erklärte und mit grimmigem Spott belegte. Auf der Höhe seines Ruhmes, wenige Wochen nach dem Tode Samuel Johnsons (1784), zog er sich plötzlich nach Chichester zurück, nicht ohne vorher in einer Flugschrift einer Reihe von politischen und literarischen Persönlichkeiten seine Meinung noch einmal gesagt zu haben. Daß diese Persönlichkeiten ihre Meinungen an Gerichtsstelle nicht vertraten und die heftigen Worte Roses nicht als Grund dazu benutzten, tat ihm sehr weh und verbitterten ihm noch zwanzig Jahre seines Lebens. – An einem Nachmittage, an dem Blake durch den Besuch hoher Geister sehr in Anspruch genommen war, ging Frau Katherine zu dem berühmten Juristen.

Wie andere Frauen sehr oft liederlich herumliegende Gelder ihrer Männer für kommende Schwierigkeiten in eine geheime Sparkasse legen, so besaß sie auf dem Dachboden eine Kiste, in die sie allerlei Zeichnungen und Manuskripte ihres Mannes gerettet hatte, um sie einmal sozusagen als Notpfennig gebrauchen zu können. Jetzt hielt sie die Zeit für gekommen, diese letzte 231 Reserve in Anspruch zu nehmen: sie hatte gehört, daß Samuel Rose ein Freund der schönen Künste sei. – Rose war gesundheitlich übel daran, übler als seine resolute Haushälterin ahnte. Wenn sie es geahnt hätte, dann wäre es Frau Katherine wahrscheinlich gar nicht möglich geworden, mit Rose zu sprechen. Aber Rose gehörte zu den Menschen, die im gewöhnlichen Leben ein klein wenig feige sind, aber bei großen Gelegenheiten und gar wenn es sich um Leben und Sterben handelt, den Harnisch der Selbstzucht und der Gelassenheit anlegen.

»Sie hat so eine eigene Art zu weinen, die einem das Herz herausreißt«, sagte die Haushälterin zu Samuel Rose, »Sie müssen sie ein wenig trösten, und das können Sie auch aus dem Lehnstuhl heraus, ohne sich aufzuregen.«

»Was ist der Mann?« frug Rose.

»Irgend etwas Feineres, ein höherer Buchbinder und gleichzeitig ein besserer Maler, der aber nur kleinere Bilder malen kann.«

Als Katherine Blake das Zimmer des kranken Mannes betrat, schritt sie sofort an den großen Tisch in der Mitte und breitete ihren Reservefonds aus.

»Was machen Sie denn da?« frug der kranke Mann.

»Ich will Ihnen nur zeigen, was mein William kann, und wenn es Ihnen gefällt, so behalten Sie es bitte für 232 die Verteidigung. William wird es nicht merken, daß sie fort sind, denn er ist so schlampig in dieser Hinsicht; Geld habe ich nämlich keines!«

»Wie heißt denn Ihr Mann?«

»William Blake. Er ist Maler und Dichter und hat mehr gemalt als alle heutigen Maler zusammen und mehr Theaterstücke geschrieben als Shakespeare. So sagt er und so wird es schon sein, denn er ist unglaublich fleißig.«

Rose lächelte, denn er dachte an Johnson, der auch gelegentlich einen Ruhm für sich in Anspruch nahm, nämlich der faulste Schriftsteller Englands zu sein.

»Gut«, sagte er, »ich werde mir einmal die Arbeiten Ihres Mannes ansehen. Haben Sie Zeit, so lange zu warten?«

»Bis heute abend«, antwortete Frau Katherine, »ich habe extra einen großen Kuchen gebacken, das ahnen die Propheten und werden sicher nicht ausbleiben. Es ist jammerschade, daß sie sich mit gegenwärtigen Dingen so wenig beschäftigen und unserer Zeit so hilflos gegenüberstehen. Alles lastet auf mir, und wenn ich mich vorhin nicht einmal so richtig ausgeweint hätte, dann ginge ich am liebsten auf und davon, bis ich nicht mehr könnte.«

Darauf trat sie in das Nebenzimmer, setzte sich auf den unbequemsten Stuhl, legte ihre verarbeiteten 233 Hände auf die Knie und wartete tatsächlich geduldig bis zum Abend.

Aus dem Arbeitszimmer Samuel Roses drang manchmal Gemurmel, manchmal ein lauter Ausruf an ihr Ohr, so daß sie aufzuckte. Es kann nämlich auch sein, daß sie eingeschlafen war, ich gebe das unumwunden zu, obwohl diese Sache nicht denen gefallen wird, die sich von der ernsten Situation, in der sich William Blake befand, Rechenschaft geben und nicht zu meinen lieben, leichtsinnigen und oberflächlichen Lesern gehören.

Um den ersteren für ihren Ernst Grundlagen zu geben, erzähle ich ihnen, daß zwar nicht in dieser Session, wo Blake abgeurteilt wurde, aber in einer andern Session der berühmte Richter Baron Vaughan zu der großen Jury sagte: daß er froh sei, daß der Verbrechen wenige seien und von verhältnismäßig geringer Natur, und daß trotzdem neun Personen zum Tode und zehn zur Deportation verurteilt wurden. – Samuel Rose hatte mit dem Goldknopf seines Stockes leicht die Schulter Katherinens berührt, und als sie aufsah, beugte sich ein verklärtes Gesicht über sie:

Das war nicht der kranke Samuel Rose, das war Samuel Rose, der auf die Tribüne stieg und wußte, daß keiner ihm ebenbürtig war, wenn er mit leicht hingeworfenen Worten begann, langsam die Sätze 234 formte zu immer größerer Schönheit und schließlich die Dolche seiner Beredsamkeit wirbelnd in die Reihen der Gegner stieß.

In diesem Augenblick versagte die Beredsamkeit. Er strich fast schüchtern über die Haare Katherinens und sagte nur:

»Frau Blake . . . ach, Ihr Mann . . . ach, Ihr Mann, Frau Blake!«

 

Ein sehr gelehrter Mann, der arg unter dem Pantoffel seiner streitbaren Frau stand, sagte mir einmal:

»Wissen Sie, junger Freund, ich hätte im achtzehnten Jahrhundert leben müssen, das war eine köstliche Zeit für einen stillen Gelehrten!«

»Gewiß«, erwiderte ich, »trotzdem, daß es das Jahrhundert der Aufklärung war, achtete man den Gelehrten sehr hoch und rechnete den Boxer und den Fußballer noch immer zu den fahrenden Leuten. Gab es übrigens schon Fußballer?«

»Soviel ich weiß, nein«, antwortete er, »sie sind aus dem Stand der Jongleure hervorgegangen, die mit ihren zwei Händen sieben Bälle in die Luft schleuderten, kleine Bälle, die sie rechtzeitig wieder auffingen. Im Laufe der Zeit benutzten sie auch ihre Füße dazu und der Einfachheit halber nur noch einen Ball, der so groß war, wie die sieben kleinen. Den in der 235 Luft herumzuwerfen, war natürlich nicht mehr schwer, und so drängte sich die ganze Jugend in diesen vereinfachten Jongleurberuf und achtete nur noch darauf, daß sie große Füße hatte, die schnell nach allen Richtungen treten können. Auf den Tribünen sitzen die jungen Mädchen und jubeln denen zu, die am schnellsten treten können, und alles andere ist ihnen egal. Ein Arzt hat mir einmal gesagt, daß mit jeder neuen Generation die Gehirnmasse um einige Kubikzentimeter kleiner und die Füße um einige Zentimeter länger werden. Selbstverständlich war es kein Sportarzt, sondern ein Gelehrter von internationalem Ruf.« Da ich erst vor kurzem einem internationalen Länderkampf beigewohnt und, von wirklichen Fußballenthusiasten angesteckt, zugunsten unserer Ländermannschaft einen Heidenlärm vollführt hatte, ließ ich den stillen Gelehrten vorläufig ohne meine Zustimmung weiterreden, in der Hoffnung, er würde das Thema wechseln.

»Die Frauen in dem Zeitalter der Aufklärung«, fuhr er fort, »waren wirklich noch Frauen und keine Sportmänaden, die den Mann lediglich nach seinen körperlichen Leistungen beurteilen und seine geistigen mit einem impertinenten Lächeln abtun. Wenn damals ein Gelehrter nach aufreibender Arbeit in den Staatsbibliotheken nach Hause kam, da standen sie schon mit 236 seinen Pantoffeln in der Hand an der Haustüre und ängstigten sich, ob er mit dem Nachtessen zufrieden sein werde. Wollte er dann noch ein wenig in ein Wirtshaus gehen, zogen sie ihm selbst die Schuhe wieder an und schlossen ihm die Haustüre auf, ganz gleich, ob er im Parterre oder im dritten Stock wohnte . . .«

Hier konnte ich nicht mehr anders, als den stillen Gelehrten zu unterbrechen und auch meinerseits einiges zum Lob dieser Frauen hinzuzufügen. –

Ich habe mich dann später viel mit den Frauen des achtzehnten Jahrhunderts beschäftigt und mit einigen Ausnahmen, die aber fast alle französische und russische Damen aus regierenden Familien betrafen, seine gute Meinung und auch die meine bestätigt gefunden. Auch die Frau des bekannten Malers Fuseli gehörte zu jenen Frauen, die ihren Gatten ein Paradies auf Erden bereiten, und zwar in einem solchen Maße, daß sie es manchmal gerne für einige Augenblicke verlassen würden.

»Sophie«, sagte er, »sage nicht zu allem ›ja‹ und friß deinen Ärger nicht in dich hinein. Du weißt gar nicht, wie schön es ist, wenn man einmal so richtig von der Leber weg flucht. Fluche einmal tüchtig, und du bist nachher ein ganz anderer Mensch geworden. Wenn du es durchaus haben willst, dann stopfe ich mir Watte 237 in die Ohren, daß ich nichts höre, und nehme sie erst wieder heraus, wenn du mir ein Zeichen gibst, daß dein Vorrat an Flüchen erschöpft ist!«

»Ich kann nicht fluchen«, antwortete Sophie, »und wenn ich fluchen könnte, so würde ich es ganz sicher nicht in diesem Falle; Blake ist ein so lieber Mensch, und Katherine ist meine beste Freundin!«

»Du sollst auch nicht über Blake und Katherine fluchen, das habe ich selbst schon gründlich besorgt. Es sind da noch ein Dutzend andere Personen, über die du fluchen kannst, mich eingeschlossen.«

»Ich möchte weinen«, sagte Sophie, und schon tat sie es.

»O Gott, diese Frauen«, rief Fuseli und langte grimmig nach seinem Hut, »um zu heulen, ist Zeit genug, wenn Blake am Galgen hängt, und das geschieht in diesen Zeiten rascher, als man denkt. Ich gehe jetzt zu Varley, und wenn ich den verdammten Burschen auch mit roten Augen und einem verquollenen Hirn antreffe, dann begebe ich mich in ein Wirtshaus und komme erst morgen früh betrunken heim.«

Er ging die Treppe hinunter und war schon auf der Straße, als ihm plötzlich einfiel, daß Varleys Haus vor kurzer Zeit abgebrannt war. Da kehrte er wieder um und traf auf der Treppe seine Frau, die ihn an diese Tatsache erinnern wollte.

»Das hättest du mir bei Gott früher sagen können! 238 Wenn sie Blake infolge deiner Vergeßlichkeit aufhängen, dann lasse ich mich auf der Stelle von dir scheiden! Was mache ich jetzt?«

»Ist denn Varley in London?«

»Ja, er hat mir gestern einen Zettel geschrieben und mich dringend um fünfzehn Pfund ersucht. Eine Adresse hat er aber nicht angegeben.«

»Er wird sich geschämt haben!«

»Siehst du, Sophie, du bist doch gescheiter, als du selber glaubst. Natürlich haben sie ihn erwischt und in das Schuldgefängnis gesperrt. Haben wir fünfzehn Pfund im Hause?«

»Nein, nur sieben Pfund und sechs pence und was du in der Tasche hast!«

»Ich habe nie etwas in der Tasche; Varley und Konsorten holen es mir sofort heraus. Hole mir vier Pfund, Varleys Gläubiger sind nicht verwöhnt, sie sind mit jedem Betrag zufrieden. Und für den Rest besorge Trinkbares. Varley auf einem Sofa, in Freiheit und im Angesicht von einer Batterie Flaschen, kommt auf Gedanken, auf die du wegen deiner Heulerei und ich wegen meiner Aufregung niemals kommen werden.«

 

»Hauptmann Butts«, sagte der Kriegsminister Lord Purple, »kleine Leute halten sich von selbst stets kerzengerade! Große Männer wie Sie muß man immer 239 wieder darauf aufmerksam machen, daß sie ihren Kopf nicht zwischen den Schultern verstecken. Sie sind Offizier! Ein Offizier muß sich kerzengerade halten! Sie sind Exerziermeister, und als solcher müssen Sie nicht nur kerzengerade, sondern auch im Paradeschritt daherkommen. Was ist mit Ihnen los? Sie haben die Haltung einer Trauerweide an einem Kriegergrab!«

»Mylord, ich habe Unannehmlichkeiten gehabt und möchte Sie um einen Rat bitten!«

»Also heraus damit, mein lieber Hauptmann, es geht mir wie allen andern Menschen: in Unannehmlichkeiten, die mich selber nichts angehen, gebe ich herzlich gerne Ratschläge.«

»Mylord, ich besitze einen Freund, der einiges Temperament besitzt und in eine Schlägerei verwickelt wurde.«

»Mein Gott, lieber Hauptmann, für Schläge wollen Sie von mir Ratschläge? Wenn man Ihren Freund auf den rechten Backen geschlagen hat, dann soll er den andern auf den linken Backen schlagen. Das ist mein Standpunkt.«

»Mein Freund hat anscheinend einen Soldaten geschlagen!«

»Das ist nun schon eine Unannehmlichkeit, die mich selber angeht, und da muß ich mit meinen Ratschlägen vorsichtiger werden, was mir aufrichtig leid tut. Hat 240 der Soldat auch geschlagen?«

»Ich glaube nein, Mylord. Er ist gar nicht dazu gekommen, wieder zu schlagen.«

»Butts, Butts, Sie scheinen sehr rabiate Freunde zu besitzen!«

»Mein Freund, Mylord, ist Maler und Dichter und ein sehr temperamentvoller Mann. Er hat auch in der Aufregung einige Worte fallen lassen, die besser unterblieben wären.«

»Was für Worte, lieber Butts?«

»Nun, gegen unsern allergnädigsten König und gegen die Armee. So behauptet wenigstens der Soldat. Der Soldat, ein Gardedragoner, hat dann meinen Freund wegen Hochverrats angezeigt, aber das ist eine ganz absurde Behauptung, denn Blake ist zwar ein temperamentvoller Mann, aber die Seele von einem Menschen.«

Der Kriegsminister klappte seine brillantenbesetzte Tabakdose auf und sagte dabei:

»Blake heißt also der Mann und ist Maler und Dichter? Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken!«

»Ja«, sagte er dann, »ich habe eine Cousine, ein entsetzlich geschwätziges Weibsbild, sie kennt die ganze englische Literatur auswendig und jeden, der einmal einen Federspritzer hineingetan hat. Ist dieser Blake nicht ein Geisterseher, und versteht er nicht, was die 241 Affen schimpfen und die Kühe wiederkäuen?«

»Es gibt Leute, die das behaupten, ich selber weiß nur, daß er ein ebenso großer Maler wie Dichter ist. Seine prophetischen Schriften sind Meisterstücke.«

»Also Prophet ist er auch? Wahrscheinlich nur einer von den kleinen Propheten. Ich gehöre zu den großen Propheten und prophezeie, daß Ihr Freund Blake in absehbarer Zeit aufgehängt wird.«

»Mylord? England würde durch ein solches Fehlurteil einen seiner größten Maler und Dichter verlieren.«

»Sprechen Sie nicht so exaltiert, Butts! Es gibt für einen Maler und Dichter keine größere Reklame, als wenn er in Kriegszeiten aufgehängt wird. Butts, Sie wissen ganz genau, daß ein Gardedragoner in Friedenszeit keinen allzu großen Wert repräsentiert, aber im Krieg vervielfacht er sich. Dagegen sind in dieser Zeit Maler und Sänger, wenn sie nicht gerade Hofmaler sind und Sänger von sehr patriotischen Liedern, recht wertlos. Wenn aber Blake wirklich versteht, was die Affen schimpfen und die Kühe wiederkäuen, dann kann ich Ihnen doch vielleicht den gewünschten Ratschlag geben. Sagen Sie diesem Blake, er möchte mich einmal hier auf dem Kriegsministerium besuchen, über die Vordertreppe oder die Hintertreppe, wie er will.«

»Ich danke Ihnen herzlichst, Mylord!« 242

»Nichts zu danken, lieber Hauptmann, meine Prophezeiung erleidet durch dieses Entgegenkommen eine nur sehr geringe Einbuße.«

 

»Denke dir, William, Mister Rose ißt Radieschen genau so gerne wie du!«

»Wer ist dieser Mister Rose, und wie kommst du dazu, ihn zu fragen, was er gerne ißt? Du kannst ihn das fragen, wenn ich am Galgen hänge, aber nicht vorher.«

»William, ich habe diesen Mister Rose in dem Gemüseladen in Chichester kennengelernt. Er hat mich sehr scharf angesehen und dann plötzlich gefragt:

›Sind Sie nicht die Frau des großen Dichters Blake?‹

Da bin ich sehr verlegen geworden und habe ja gesagt und die Gegenfrage an ihn gestellt, ob er auch so gerne Radieschen essen würde wie du.«

»Katherine, Katherine, warum könnt ihr Frauen niemals einfach ja oder nein sagen und den Rest in Gedanken verarbeiten? Verflucht noch einmal, warum müßt ihr auf eine kleine Frage mit einer langen Gegenrede antworten, die niemals in einem Zusammenhang mit der Frage steht? Wenn ein Mann dich fragt: Sind Sie die Frau des großen Dichters Blake?, dann hast du einfach zu antworten: Jawohl, das bin ich, und wenn Sie ihn kennenlernen wollen, dann besuchen Sie ihn 243 nur einmal, er ist sehr liebenswürdig.«

»Das habe ich auch zu Herrn Rose gesagt, und er wird dich heute nachmittag besuchen.«

»Ich bin heute nachmittag nicht zu Hause!«

»Du mußt zu Hause sein! Herr Rose ist ein sehr kranker Mann, und nur der Wunsch, dich kennenzulernen, treibt ihn hierher. Er hat mir selbst gesagt, daß er nicht mehr lange zu leben hat. Es ist doch sehr selten, daß ein Mensch, der nicht mehr lange zu leben hat, noch einen Dichter kennenlernen will.«

»Das hast du ganz richtig gesagt, Katherine, du bist wirklich nicht so dumm, wie du selbst glaubst. Also, ich werde zu Hause sein.«

»Und ich muß heute nachmittag in die Stadt. Zeige dem Herrn Rose auch deine Bilder! Er interessiert sich sicher dafür und kauft dir etwas ab!«

»Dann hättest du ihm sagen müssen, daß ich nicht nur Dichter, sondern auch Maler bin!«

»Das wollte ich dir überlassen! Hätte ich ihm gesagt, daß du Maler und Dichter bist, dann wäre er vielleicht mißtrauisch geworden und vielleicht nicht hierher gekommen.«

»Katherine, ich meine es ganz ernst: du bist wirklich nicht so dumm, wie du glaubst.«

»William, das ist eine Redensart, die ich schon oft von Fuseli gehört habe. Die gute Sophie bekommt das 244 jeden Tag von ihm gesagt.«

»Kann ich nicht auch einmal eine Redensart von Fuseli anwenden, besonders wenn sie ursprünglich von mir stammt? In einer Zeit, wo es mir wahrscheinlich um den Kopf und um den Kragen geht, kann ich keine neuen eigenen Weisheiten von mir geben, es fehlt mir die innere Ruhe. Aber am Tage der Gerichtsverhandlung wird sie da sein, das kann ich dir versichern. Meine Verteidigungsrede wird so ausgezeichnet, daß ich mit ihr den ersten Band meiner gesammelten Werke eröffnen werde.«

»William, du wirst dich doch nicht selbst verteidigen?«

»Natürlich will ich mich selbst verteidigen! Wenn ich schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt komme, dann muß ich auch als anständiger Mensch die Gründe auseinandersetzen, die mich dazu veranlaßt haben. Einen Vertreter damit zu beauftragen und verwundert dabei zu sitzen, wie er mit der Justiz, angeblich in meinem Interesse, einen Handel treibt, das bringe ich nicht fertig. Es ist nicht immer gesagt, daß die Pfarrer Komödianten sind, aber Staatsanwälte oder Rechtsanwälte müssen es sein, sonst gehen sie an ihrem Beruf zugrunde.«

»William, sie werden dich wirklich aufhängen, denn wenn sie noch nicht wissen, daß du in der Zeit der Französischen Revolution bei Fuseli die 245 Jakobinermütze aus der Tasche holtest und als du sie aufgesetzt hattest, mit so lauter Stimme die Marseillaise sangest, daß Sophie und ich sich die Ohren zuhalten mußten, und daß gar Thomas Payne dein guter Freund war, dann wirst du ihnen das alles in deiner Verteidigungsrede erzählen. William, es mag sein, daß für gewöhnlich der Mann etwas weniger spricht als die Frau, wenn aber der Mann bei außergewöhnlichen Gelegenheiten ins Reden kommt, dann spricht er so lange, bis er überhaupt nichts mehr zu sagen hat. Soviel ich weiß, ist der Herr Rose, der dich heute nachmittag besucht, in seiner Jugend auch einmal Rechtsanwalt gewesen! Da er aber ein Mann von unabhängigen Mitteln war, zog er sich früh zurück.«

»Angeekelt von dem Beruf«, ergänzte Blake, »Katherine, der Mann fängt an, mir sympathisch zu werden.«

 

Am Nachmittag kam Samuel Rose. Sein eleganter Wagen mit zwei reich galonierten Bedienten hielt nicht vor dem Hauseingang, sondern am Küchengarten, und der eine Diener führte seinen Herrn vorsichtig durch die Rabatten zum Gartenhäuschen. Blake, der in der Küche saß, war baß erstaunt, daß der anscheinend sehr vornehme Herr auf diese bescheidene Weise seinen Einzug hielt. Aber diese Art gefiel ihm ausnehmend. Er sprang auch sofort hinaus in den 246 Garten, um Mister Rose in die Küche zu holen. Da Blake zwar zu Ehren des Gastes ein sehr reines Hemd angezogen hatte, aber noch nicht seine Hose, so erschrak der reich betreßte Diener so, daß Samuel Rose um ein Haar gestrauchelt wäre, wenn nicht Blake zugegriffen hätte. Als er dann schwer atmend auf einem Schemel saß und sah, daß Blakes Augen wegen der Hose im Raum umherirrten, sagte Samuel Rose: »Lieber Herr Blake, machen Sie wegen mir keine Umstände! Wenn die Ärzte recht haben, dann werde ich bald in das Paradies einziehen, und das Klima dort bedarf keines Hemdes.«

Blake stellte sofort sein Suchen nach der Hose ein. »Auch ich«, sagte er, »werde wahrscheinlich bald eine lange Reise antreten, und zwar in eine Gegend, wo es noch um einige Grad heißer ist als im Himmel. Eine interessante Frage an einen ehemaligen Rechtsanwalt gerichtet: Glauben Sie, daß die Menschen, die vom Staate hingerichtet werden, ohne weiteres in die Hölle kommen?«

»Ich war ein Rechtsanwalt, der sich mit dergleichen Spekulationen nicht abgegeben hat; der Generalstaatsanwalt und der Lordrichter können Ihnen diese Frage besser beantworten. Um ein Haar wäre es mir auch möglich geworden: ich sollte in jungen Jahren einmal Generalstaatsanwalt werden.« 247

Blake stemmte die Hände auf den Tisch:

»Dann sind Sie also der Rose, von dem es nur ein Exemplar gibt? Was meine Frau für ihre Zwecke zusammenlügt, das ist das Tollste, was ich mir denken kann. Und dabei sieht sie aus, als könnte sie nicht bis drei zählen. So ein heimtückisches Frauenzimmer!«

Selbst ein gesunder Rechtsanwalt, der eine große Praxis hat, läßt bei dem ersten Besuch den neuen Klienten sich fast ausreden, damit er sich ein ungefähres Bild von ihm machen kann, sowohl über seine materiellen als auch seine geistigen Grundlagen. Ein kranker Rechtsanwalt, der die Verteidigung, sagen wir, um nicht sentimental zu werden, aus sportlichen Gründen übernimmt, läßt seinen Klienten so lange reden, wie er will, und läßt ihn reden, was er will, und versucht ihm nicht durch Blättern in wildfremden Akten, durch Lesen in Handbüchern und durch das anhaltende Geläute des Tischtelephons das Wort zu entziehen.

Nun, eines dieser Hilfsmittel für den beschäftigten Rechtsanwalt gab es damals sicher noch nicht, und auch die andern kamen für Samuel Rose, wie ich schon sagte, nicht in Betracht.

Er hörte William Blake sehr interessiert zu, was er über Katherine erzählte, und erst als Blake nach einiger Zeit auch anfing, ihre guten Eigenschaften 248 einer Untersuchung zu unterziehen, nickte Rose eifrig mit dem Kopf.

Endlich schwieg Blake, und nun begann Rose eine Lobeshymne auf die große Kunst Blakes.

»Seit wann kennen Sie meine Arbeiten denn?« unterbrach ihn Blake mißtrauisch.

»Eigentlich erst, seitdem Ihre Frau mir eine ganze Mappe voll gebracht hat. Hier gebe ich sie Ihnen zurück!«

Blake griff hastig danach, stöberte sie eilig durch und sank dann förmlich in sich zusammen.

»Es geht mir wie einem Boxer, Herr Rose«, sagte er, »der einen furchtbaren Schlag auf den Kopf bekommen hat und nicht wieder schlagen kann und nun wartet, daß er noch einen oder zwei weitere Schläge bekommt, damit er ohnmächtig wird und für einige Zeit nichts mehr von sich weiß. Daß meine Frau hinter meinem Rücken Gedichte und Zeichnungen stibitzt, die ich seit Jahr und Tag suche, das ist furchtbar; daß sie mir aber mit einer unglaublichen Sicherheit die allerbesten herausgefunden hat, das macht mich sprachlos.«

»Und gibt mir die Gelegenheit, zum Worte zu kommen«, rief Rose, »lieber Herr Blake, Ihre Frau ist eine wunderschöne Frau!«

»Na, na!« 249

»Ich meine nicht ihr Äußeres; ich meine ihr Wesen, ihre Liebe zu Ihnen!«

»Na, na!«

»Welche Frau hat den Mut, zu wildfremden Menschen zu gehen, um die Werke ihres Mannes zu preisen?«

»Anzupreisen, Geld zu machen! Um sich ein neues Kleid zu kaufen!«

»Herr Blake, Sie wissen genau, daß Sie unrecht haben! Ihre Frau ist weltklug genug, um zu wissen, daß Menschen mit leeren Händen wenig Freunde haben. Ich glaube kaum, daß ich um eines gewöhnlichen Herrn Blakes willen einen Finger gerührt hätte. Aber durch Ihre Frau lernte ich den Maler und Dichter Blake kennen, und zu dem bin ich jetzt gekommen, um ihm meine Dienste anzubieten. Ihre Lage ist nämlich viel ernster, als Sie glauben.«

»Erstens, Herr Rose: ich werde mich selbst verteidigen. Wenn ein Mensch nach mir schlägt, dann schlage ich wieder, und wenn der Staat nach mir schlägt, dann schlage ich . . .«

»Nicht wieder, denn das wäre töricht. Ich verteidige mich und nehme einen Mann als Gehilfen, der schon mehr als einmal bewiesen hat, daß er ein guter Handlanger ist.«

»Zweitens, Herr Rose: ich habe kein Geld, um diesen Handlanger zu bezahlen.« 250

»Meine Bezahlung wird in einem kleinen Gedicht bestehen, das ich in Ihrer Sammlung gefunden habe und das ich bezeichnete.«

Blake suchte einen Augenblick, dann fand er es und reichte es Rose hin.

»Hier ist es«, sagte er, »weil Sie sich die Mühe genommen haben und hierher kamen. Aber ich verteidige mich selbst und glaube, daß es für den Herrn Handlanger besser wäre, wenn er zu Bett ginge.«

Mister Samuel Rose steckte umständlich das Blatt in die Tasche und sagte dann:

»Mein Honorar habe ich damit erhalten, und nicht nur die Anzahlung, sondern alles, was ich zu beanspruchen habe. Ich werde morgen um die gleiche Zeit wieder hier sein.«

Dann erhob er sich mit Hilfe des Dieners und kehrte auf demselben Wege, wie er gekommen war, zu seiner Equipage zurück. Blake sah ihm von der Küchentüre aus nach, begleitete ihn aber nicht, da er Dichter war und der Ernst der Stunde über ihn kam.

Welches Gedicht es war, das Samuel Rose als Honorar verlangte, hat der Autor dieses Buches lange nicht gewußt.

Aber eines Tages fiel ihm eine Nummer einer kleinen englischen Provinzzeitung aus dem Jahre 1804 in die Hand, und sie enthielt einen Nachruf auf Samuel Rose, 251 der darin als einer der größten Juristen und wertvollsten Menschen seiner Zeit geschildert wurde. Besonders die Darstellung seines Todes muß den zarten Leserinnen Tränen entlockt haben. Sie lautete:

». . . Noch eine halbe Stunde vorher war Samuel Rose der Mittelpunkt von lauten Ovationen gewesen. Es war ihm gelungen, dem Manne, um dessen Kehle schon die Schnur gelegen hatte, durch seine ciceronische Beredsamkeit vom schimpflichen Tode des Landesverräters zu retten. Der Name des Mannes lautete David Blake, ein Name, der in gewissen Kreisen Londons, die sich mit Kunstdingen beschäftigen, nicht ganz unbekannt sein soll. Rose hatte sich hastig diesen Kundgebungen entzogen und war mit eiligen Schritten hinaus vor die Stadt gegangen, um, wie er sagte, nach den Aufregungen der letzten Stunden allein noch einige Züge frische Luft zu schöpfen und Gott zu danken. Im Laufe der Kundgebungen, die allmählich zu einem Skandal ausarteten, da ein jedem Zeitungsleser durch seinen Körperumfang bekannter Künstler an jeder Straßenecke und fast vor jedem Laternenpfahl mit anzüglichen Reden auf Behörden und Magistrat, den Freigesprochenen in ungebührlicher Weise und mit Hinterlassung von Glasscherben feierte, kam man auch auf den Gedanken, dem großen Juristen zu huldigen. Man fand ihn nicht in seinem Hause, aber 252 einige Stunden später außerhalb der Stadt. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von seinem Tode und versetzte jedermann in Trauer, auch den durch seinen Körperumfang bekannten Künstler, der sofort von einem Extrem in das andere verfiel und dadurch weiteres Unheil anrichtete.«

Dann wird der Verfasser wieder sehr gefühlvoll und schließt nach einiger Zeit seine Arbeit folgendermaßen:

»Über dem scharfgeschnittenen Gesicht des großen Mannes lag der Ausdruck eines heiligen Friedens. Sein Taschentuch lag über seinen Augen so, als ob er kurz vorher sich den Schweiß abgewischt hätte, obwohl es doch ein ziemlich kalter Januartag gewesen war. In seiner linken Hand hielt er ein Blatt. Nur mit leiser Gewalt konnte es ihm entwunden werden. Ein Gedicht stand darauf, und wenn wir die ungewöhnlichen Verse wiedergeben, so soll damit gewiß kein Werturteil verbunden sein, sondern nur die Tatsache, daß es die letzte Seite Gedrucktes war, auf die der Blick des Verstorbenen fiel. Unter diesem Vorbehalt beenden wir mit dem Abdruck des Gedichtes ›Die Fliege‹ unsere Gedächtniszeilen auf einen großen Menschen und großen Juristen. 253

Die Fliege
        Kleine Fliege,
Dein Sommerspiel
Meiner leichten Hand
Zum Opfer fiel.
Eine Fliege
Fühl' ich mich!
Vielleicht bist du
Ein Mensch wie ich.
Auch ich will tanzen,
Singen, springen!
Blinde Hände
Brechen die Schwingen.
Denken ist Leben,
Stärke und Odem.
Gedankenmangel
Häuft Totes zu Totem.
So bin ich
Fliege und glücklich.
Leben oder Tod,
Nimm mich!
254

 


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