Heinrich Stilling
Eine wahre englische Katze
Heinrich Stilling

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Fünftes Kapitel

Ich bin einmal sehr traurig gewesen, da bat ich einen Maler, mir zur Erinnerung an meine Traurigkeit einen Totenkopf zu malen. Den Totenkopf hing ich über meinen Schreibtisch, und unter seinem Einfluß begann ich ein Trauerspiel zu schreiben. Anfangs benahmen sich die Helden und besonders die Heldinnen wirklich sehr traurig, und da zu dieser Zeit das Wetter ausnehmend schlecht war, kam ich ein ganz schönes Stück vorwärts, und ich freute mich schon darauf, dem Theaterpublikum im vierten oder fünften Akt mit einer Katastrophe aufzuwarten, wie sie in der dramatischen Literatur nur in den gangbarsten Stücken zu finden ist. Aber da wurde es auf einmal schön, der Frühling kam und mit ihm mein Freund, der Maler, der für eine Nacht das Sofa in meinem Arbeitszimmer bezog. Mit der Pfeife im linken, herabgezogenen Mundwinkel stand er stirnrunzelnd vor seinem Meisterwerk, dem Totenkopf, und betrachtete die Arbeit aus einer Zeit, wo er noch den Wünschen seiner Freunde entgegenkam. Dann sagte er:

»Wirf das Zeug in den Kehrichteimer! Es ist Kitsch und meiner nicht wert!« 98

»Nicht für alles in der Welt«, antwortete ich, »es ist ein Meisterwerk aus deiner Jugendzeit und regt mich bei meinem neuen Trauerspiel unheimlich an!«

»Ich habe in meiner Jugendzeit noch keine richtigen Meisterwerke gemalt«, meinte er, »und wenn du ein Jugendwerk von mir benutzen willst, um mit seiner Hilfe ein Trauerspiel zu schreiben, dann ist das für mich noch ein weiterer Grund, um den Kitsch von der Wand zu reißen.« Ich ging rasch an den Schreibtisch, wo ein starker Brieföffner einen dicken Stoß Manuskripte in Ordnung hielt, und versuchte ihn den Blicken meines Freundes zu entziehen, und zwar dadurch, daß ich ihn schnell in die Hosentasche stecken wollte. Es gelang mir aber nicht, da er zu groß war. Der Maler sah meine vergeblichen Bemühungen und legte sie ganz falsch aus.

»Bist du schon so weit?« rief er, »um deiner mangelhaften Phantasie in dieser Weise aufzuhelfen! Ich hätte dir an der Stelle des Totenkopfes meine letzte Landschaft geschenkt: ein wundervolles Distelfeld, gemischt mit Erika, Schottland, alles ganz violett. Im Hintergrund, ganz klein, ein paar Esel, mit Fruchtsäcken beladen, die in größter Eile in den Vordergrund streben. Nun, wie du willst, ich werde mich wegen des Totenkopfes nicht von dir umbringen lassen. Aber meinen Namen radiere ich heute nacht aus, darauf kannst du 99 dich verlassen!« – Nun, der Name war, als ich mein Arbeitszimmer am nächsten Abend betrat, nicht ausradiert, dagegen hielt der Totenkopf zwischen den Zähnen eine wundervolle rote Rose, und die Höhle des rechten Auges trug einen Überzug, der einem randlosen Monokel verteufelt ähnlich sah. Nun hätte ich selber gern den Totenkopf in den Kehrichteimer geworfen, aber es war mir unmöglich. Der Tod blinzelte mich mit seinem Monokel so sarkastisch an und wedelte mir mit seiner roten Rose, die herrlich gemalt war, so beziehungsvoll vor der Nase herum, daß ich es nicht wagte.

Mein Trauerspiel verwandelte sich unter seinem Einfluß und dem fortdauernden schönen Wetter zwar in kein Lustspiel, aber immerhin in ein Schauspiel mit einem happy end für alle Beteiligten. Unglücklicherweise hatte ich aber dann vergessen, das Wort Drama auf der Titelseite zu tilgen, und deswegen hatten viele Kritiker nach der Uraufführung einen triftigen Grund, über mich herzufallen, um so den Unterschied zwischen Drama und Schauspiel an meiner Person dem Publikum augenfällig zu machen. Vor soviel ausgebreitetem Wissen um die schwierigsten Dinge der Kunst wurde ich ganz still und hing nach der zweiten und letzten Vorstellung den bei der ersten Vorstellung empfangenen Lorbeerstrauß mit dem rotweißen Seidenband 100 mit Hilfe eines Nagels an die erwähnte rote Rose. Das Bild vom Totenkopf präsentiert sich jetzt sehr nett, und wenn mein Freund, der Maler, wieder einmal kommt, wird er seine Freude daran haben.

Warum ich diese Geschichte erzähle? Damit die Leser wissen, daß ich wenig schauspielerisches und gar kein dramatisches Talent habe, und daß es mir nicht möglich ist, die dunkeln und dramatischen Stunden im Leben William Blakes zu schildern. Gewiß, er hat sie gehabt, der Mann, den zwei Dutzend seiner Zeitgenossen gekannt haben und den man drei Generationen später als Dichter mit Shakespeare und als Maler mit Michelangelo verglich. Aber ich glaube doch, diese dunkeln und dramatischen Stunden sind im Leben der wirklich großen Menschen viel seltener, als man gemeinhin glaubt. Die großen schöpferischen Menschen haben mit den nur leichtsinnigen gar manche Ähnlichkeit. Alle sind wir aus dem Paradies vertrieben worden, wir gehen sturen Schrittes weiter die Landstraße des Lebens. Der Leichtsinnige wendet sich immer wieder um und blickt nach den umschließenden Mauern des Gartens zurück. Doch er geht weiter. Der große Mensch aber bleibt an der Pforte des Gartens stehen, wendet sich, reißt die erhobenen Schwerter der Engel nieder und kehrt in den Garten Eden zurück. Aber was ist der Garten Eden anderes als das 101 Zauberreich der Kindheit und der ewigen Jugend?

Drei Jahre lang lag der Garten Eden für William Blake in der Grafschaft Sussex, und er durchstreifte ihn nach allen Richtungen. Er benutzte selten die Landstraßen, sondern stieg über die Hecken, und wenn er irgendwo ein schön geschmiedetes Tor sah, dann trat er ohne Umstände ein und besichtigte das im Hintergrund liegende schloßähnliche Gebäude. Er fand sehr oft, daß das Tor verdiente, mit nach Felpham genommen zu werden, aber über das schloßähnliche Gebäude sprach er das Todesurteil und erlaubte den Bewohnern nur widerstrebend, sich durch eine schleunige Flucht vorher in Sicherheit zu bringen. Wenn nun zufällig ein Bedienter des Weges kam und ihn darauf aufmerksam machte, daß das schloßähnliche Gebäude ein Privatbesitz sei, dann sah er sich verwundert um, und der Diener zog sich betreten zurück. Der meldete dann dem Besitzer, es sei ein Mann durch das Schloß gegangen, ein kleiner Mann, aber mit Augen, die keinem Sterblichen angehörten, und um sein Haupt hingen helle Vipern, die sich ihm züngelnd entgegensträubten. Und der Besitzer freute sich dann sehr, daß in seinem Schloß sogar am hellen Tage Gespenster umgingen, was schon damals ein Haus in England leichter verkäuflich machte. Aber daß sein Haus im Garten Eden stand und nur eine höhere Macht und deren 102 Beauftragter William Blake über es verfügen konnte, das blieb ihm zeitlebens unbekannt.

Es war ein glorreicher Frühlingstag (a glorious day), als William Blake den ginsterbewachsenen Hügeln um Felpham entgegenschritt. Er war nach seiner Gewohnheit schon ganz früh am Morgen aufgebrochen und hatte die Gegend um Bognor kreuz und quer durchwandert. Seine Frau Katherine, die an seinen langen Spaziergängen teilzunehmen hatte, war tapfer an seiner Seite marschiert, und als Blake durch ein herrliches Tor, über dem eine schön geschmiedete Krone thronte, in einen wundervollen Park einzog, eilte sie ihm, obwohl sie recht ermüdet war, voraus. Sie wollte ihn dadurch veranlassen, auf dem kiesbestreuten Hauptweg zu bleiben. Aber schon nach wenigen Schritten verließ Blake den Weg, denn er hatte einen herrlichen kleinen See gesehen und fühlte das Bedürfnis, ein Bad im Freien zu nehmen, obwohl es zu jener Zeit gewiß nicht als schicklich galt, im frühen Mai in kaltes Wasser zu steigen. Als Katherine Blake dann an den See eilte, stand William schon im Hemd da und war eben im Begriffe, es über den Kopf zu ziehen. »William«, rief sie flehend, »du wirst dich erkälten, du hast in diesem Jahre noch nicht im Freien gebadet!«

»Logik!« sagte Blake und warf sein Hemd ins Gras. 103

»William, du badest ohne Erlaubnis in einem Teich, der vor dem Schloß des Herzogs von Richmond liegt, und aus hundert Fenstern sehen dir hundert Bediente zu und vielleicht sogar die Herzogin. Ich schäme mich, William!«

»Bist du eifersüchtig?« sagte Blake und schritt tiefer in das Wasser. Katherine setzte sich in das Gras und kämpfte mit den Tränen. Plötzlich kehrte Blake um, ging wieder an Land, nahm stillschweigend sein Hemd und zog es über den nassen Körper. In wenigen Augenblicken war er angekleidet, dann ergriff er die Hand Katherinens und zog seine Frau in großer Eile aus dem Park hinaus auf die Landstraße. Katherine wagte nicht zu fragen, was sich ereignet hatte, aber Blake sagte es ihr nach einer Weile:

»Ich habe mit meinen plumpen Füßen einen Frosch getötet!«

Dann machte er eine Pause und sprach noch einen Satz: ». . . ich fürchte, Katherine, es war dazu noch ein Frosch, der laichte!«

Lache nicht, Leser! Lache erst über William Blake, wenn du dieses Buch zu Ende gelesen hast, und wenn du dann über William Blake lachen mußt, dann besuche mich eines Tages, damit ich dir meine Unterschrift auf die Titelseite des Buches setzen kann. –

William Blake schritt über die ginsterbewachsenen 104 Höhen um Felpham, und Katherine folgte ihm mühsam in einiger Entfernung, denn die Ginsterbüsche schlugen bei ihr nicht auseinander, wie sie es für William taten, denn sie war ja nur eine ihrem Manne sehr ergebene Frau, die solche Ehre niemals für sich beanspruchte. Blake blieb stehen und nahm einen schön geformten Ginsterzweig in die Hand. Er sah ihn lange an, dann blickte er seiner Frau entgegen, die mühsam aufwärts stieg. Er nickte ihr ermunternd zu, und dann sprach er zu dem Ginsterzweig diese Verse, die wie eine Beschwörung klangen:

        Ich legte mich nieder auf eine Bank,
Wo die Liebe schlief!
Da hörte ich, wie die Binsen entlang
Weinen, Weinen lief.
Da ging ich zur Heide, zum wilden Getier,
Zu den Disteln und Dornen im öden Land,
Und sie klagten mir, wer sie verführ',
Vertrieb und jagt umeinand'.

Alsdann legte er die Hand über die Augen, wie er das bei den Seeleuten gesehen hatte, und betrachtete aufmerksam den Strand. Nun schüttelte er den Kopf und lächelte. Frau Katherine war inzwischen an seine Seite getreten. 105

»Sieh!« sagte er und deutete nach dem kleinen, strohgedeckten Häuschen, das er seit fast drei Jahren bewohnte, »eben öffnet er die Gartenpforte und wird gleich enttäuscht feststellen, daß ich nicht zu Hause bin. Komm, beeilen wir uns, sonst geht er wieder fort. Ihn habe ich ja schon gezeichnet, aber ich sehe, er hat Hesekiel mitgebracht, wie er mir damals versprach.«

»William«, meinte die Frau, »wir können nicht beide zum Essen einladen, ich habe nur mit Jesajas gerechnet, es reicht nicht für vier.«

»Sorge dich nicht«, antwortete William, »der Prophet Hesekiel ist nicht verwöhnt. Die Not hat ihn gezwungen, lange von Lehm und Erde zu leben; verlasse dich darauf: er ist mit wenigem zufrieden!«

Eilig schritten die beiden den Hügel abwärts. Das Häuschen glänzte und gleißte in der Mittagssonne, und die Wellen des Meeres neckten sich mit dem gelben Sand des Strandes. Manchmal zog eine Welle ein paar Fingerspitzen mit zurück ins Meer, warf sie der nächsten Welle zu, die sie dann wieder behutsam zur Küste rieseln ließ. – Blake dachte an zwei junge spielende, sich kugelnde Panther, die er einmal irgendwo gesehen hatte, und betrachtete einen Augenblick den gelben Strand und die weißen, leise fauchenden Wellenspitzen und suchte Zusammenhänge. Dann aber fuhr er sich mit der Hand rasch über die mächtige 106 Stirne, straffte seine Gestalt und trat in die Wohnstube, um die beiden Propheten des Alten Testaments zu begrüßen. Frau Katherine eilte durch den Flur in die Küche. Trotz aller Anstrengungen war es ihr bisher noch nicht geglückt, mit Verstorbenen in persönliche Beziehungen zu kommen, und erst seit kurzer Zeit hatte ihr Mann sie mit Hilfe der leergegessenen Teller überzeugen können, daß auch Geister einen guten Appetit entwickeln können. Sie freute sich sehr, als sie sah, daß der ihr freundlich gesinnte John, Hausdiener, Stallknecht und Küchengehilfe der Frau Wirtin zum Fuchsen, in der Hausfrau Abwesenheit sechs große, schöne Eier auf den Herd gelegt hatte.

Bald zog der köstliche Geruch eines Eierkuchens durch die Küche, und gleich darauf erschien William, um die Platte in Empfang zu nehmen. »Wunderschön«, sagte er und betrachtete genießerisch den Eierkuchen, »sie haben beide einen guten Appetit mitgebracht, denn sie sind schon lange unterwegs. Ich glaube, es wird nicht viel übrigbleiben.«

»Es soll auch nichts übrigbleiben«, erwiderte Katherine, »denn mich hat die Zubereitung schon satt gemacht, und dann freut es mich so, daß dich nun auch Hesekiel besucht! Nicht, du hast doch viel Wichtiges mit ihm zu besprechen? Will er sich von dir zeichnen lassen?« 107

»Er will, Katherine, gleich nach dem Essen, und dann wird er mir auch noch beweisen, warum man durch das Essen von Lehm sein Leben um mehr als die Hälfte verlängern kann. Hesekiel gefällt mir unter allen Propheten, die mich bisher besucht haben, am besten. Ich freue mich so, daß er gekommen ist!«

»Du bist ein Glückspilz, William!«

»Das bin ich auch, Katherine.«

 

Der holländische Admiral Boscawen gehörte zu jener Art von Seebären, die an den Landratten kein gutes Haar lassen. Besonders den guten und sehr gelehrten Bischof Stillingfleet und seine außerordentlich gebildete weibliche Umgebung nahm er unter die Lupe und nannte diese Damen nach den schmutzigen Strümpfen des Bischofs etwas wegwerfend: Blaustrümpfe. Eine dieser Blaustrümpfe, unstreitig die belesenste, Mylady Purple, war die Großmutter der Lady Hesketh. Lady Hesketh besaß ein imposantes Schloß mit einer berühmten Aussicht über Bognor und einem halben Dutzend anderer Küstenplätze. Sie hatte von ihrer Großmutter die Liebe zur Literatur geerbt und soll sogar ganz selbständig mehrere Bücher schöngeistiger Natur geschrieben haben. Was sie geschrieben hat, habe ich nicht ausfindig machen können, dagegen einiges, was andere über sie geschrieben haben, zum 108 Beispiel einen niedlichen Vers, den eine befreundete Dame ihr mit aller Gewalt auf das Grab setzen wollte, mit dem sie aber nicht durchgedrungen ist. Er lautet:

        Mylady Hesketh selig, die hier ruht,
Die wußte wohl, was sie hier oben tut!
Sie sprach: ich gebe zu, daß es hier zieht,
Doch ich muß wissen, was um mich geschieht.

Die Freundin der Lady Hesketh behauptete, daß in diesen Versen nicht nur der wißbegierigen Lady, sondern auch allen andern wißbegierigen Frauen ein Denkmal gesetzt sei. Aber der Stadtrat von Bognor war einstimmig der Meinung, der Vers gebe für Mißdeutungen Anlaß, obwohl der Stadtrat sonst für originelle Grabinschriften, wegen des Abdrucks im städtischen Führer von Bognor und Umgebung, Verständnis hatte. Um zu wissen, was in Bognor und Umgebung vor sich ging, wie überhaupt um den geistigen Gedankenaustausch zu pflegen, lud Lady Hesketh monatlich die interessantesten Leute zum Lunch ein. Sie kamen sehr gerne, denn Mylady hatte einen ausgezeichneten Koch. Auch heute saßen an der Tafel die regsamsten Köpfe der Grafschaft, darunter der Graf von Egremont, ein Raritätensammler, Herr Hayley, der berühmte Verleger, Oberstleutnant John Whyte, Rechtsanwalt Rose 109 und als Ehrengast der Londoner Maler John Varley. Frauen lud Lady Hesketh prinzipiell nicht ein, weil sie eine sehr schlechte Meinung von ihnen hatte.

»Frauen«, sagte sie, »verpfuschen jede wertvolle geistige Unterhaltung, weil sie dabei immer die Liebe hineinbringen wollen und ihr Urteil davon abhängig machen. Und wenn ich eine Neuigkeit weitererzähle, die mir zum Beispiel der Graf von Egremont mitgeteilt hat, so wird sie mir viel eher geglaubt, als wenn ich sie von der Gräfin gehört hätte. Sie ist übrigens . . .«

 

Um zu dem zu kommen, was man eine allgemeine Tischunterhaltung nennt, muß der Gastgeber oder die Gastgeberin von dem Wetter oder der Politik sprechen! Wenn man einen Vetter hat, der Kriegsminister ist, beginnt man regelmäßig mit Politik.

»Mein Vetter, der Kriegsminister«, sagte Lady Hesketh, »hat einen Gichtknoten an seinem rechten Zeigefinger. Den letzten Brief an mich diktierte er seinem Geheimschreiber, und seine Unterschrift konnte ich kaum lesen. Die politischen Aufregungen lasten sehr auf ihm.«

»Natürlich«, meinte der Oberstleutnant Whyte, »es ist kein Vergnügen, britischer Kriegsminister zu sein im Zeitalter Napoleons. Und dann die Ratten im Marine- und Armeewarenhaus! Mit Napoleon werden 110 wir auf die Dauer schon fertig, aber mit den Ratten? Meine letzte vom Staat gelieferte Uniform war schon angefressen. Und was man sonst hört . . .«

»Und sieht«, rief der Verleger Hayley, »zwölf Ballen neuer Pamphlete gegen den Korsen haben sie mir in den letzten Wochen aufgefressen, ehe ich sie auf den Kontinent verfrachten konnte. Und wenn man weiß, daß ein Ballen unserer Schriften der heiligen Sache mehr nützt als ein Regiment Soldaten, dann möchte man rein verzweifeln.«

»Übertreiben Sie nicht etwas?« frug scharf der Oberstleutnant und sah unterstützungheischend den Grafen Egremont an, der auch einmal Soldat gewesen war. Aber Egremont war jetzt Raritätensammler und hatte für das Militär nicht mehr viel übrig. Deswegen konnte der Oberstleutnant nicht schärfer werden, wie er es sich mit der Hilfe des Grafen gedacht hatte. So sagte er nur noch:

»Nach meiner Überzeugung wäre der Generalmajor Bulber mit den Ratten fertig geworden; die Wissenschaft hat im Kampfe gegen die Ratten vollständig versagt!«

 

Die schöne Literatur liebte damals die Wissenschaft noch vorbehaltlos, da diese damals noch nicht vor dem Soldatentum kapituliert hatte. Lady Hesketh nahm 111 eindeutig Stellung:

»Lieber Oberstleutnant, hätte mein Vetter, der Kriegsminister, dem Professor Buffers vollständig freie Hand gelassen, dann wären alle Ratten heute tot!«

»Er hätte sie mit seinem Regenschirm erschlagen«, rief erzürnt der Oberstleutnant.

Diese Worte brachten den Verleger Hayley in Harnisch. Auch Hayley war ein Mann, der bei jeder Witterung den Regenschirm mit sich führte. Jedoch war es immer der gleiche Regenschirm, denn die Vergeßlichkeit gehörte nicht zu seinen Untugenden. Er benutzte den Regenschirm nicht nur als Fußgänger, sondern auch als Reiter, denn als Pferdefreund befand er sich sehr häufig auf dem Pferderücken. Man sah ihn täglich hoch zu Roß! An Stelle einer Reitpeitsche benutzte er seinen baumwollenen Regenschirm, und erst kürzlich hatte man ihn bei einem heraufkommenden Frühlingsgewitter mit aufgespanntem Schirm im Galopp nach Hause reiten sehen. Er erinnerte sich jetzt dunkel, daß Oberstleutnant White damals am Straßenrand gestanden hatte und hämisch lachte.

»Herr Oberstleutnant«, bemerkte er mit Nachdruck, »ich kenne Professor Buffers nicht persönlich, aber daß er Verstand hat, beweist eine Tatsache: er kann ohne Regenschirm nicht existieren. Auch den Soldaten sollte man mit einem Regenschirm ausrüsten, schon allein 112 aus dem Grunde, daß er sein Pulver trocken halten kann. Aber es fehlt an Verstand!« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Nicht bei den Soldaten, bewahre, Herr Oberstleutnant, bei den Offizieren!«

Lady Hesketh hatte die Tischunterhaltung mit der Politik begonnen, aber es wäre besser gewesen, sie hätte vom Wetter gesprochen. Jetzt vom Wetter zu sprechen, wäre unklug gewesen. Sie sah hilfeheischend die Tafelrunde an. Der Rechtsanwalt hob darauf die Hände und sagte: »Keine Injurien, meine Herren!«

Aber das genügte nicht, und wenn jetzt nicht John Varley, der Aquarellist, besondere Geistesgegenwart bewiesen hätte, dann wäre vielleicht die Tafelrunde aufgeflogen, um der Grafschaft noch monatelang willkommenen Gesprächsstoff zu liefern.

John Varley war Aquarellist, und unter einem solchen stellen wir uns einen feingliedrigen Mann vor, womöglich mit einer Brille, der in den Wasserfarben gut Bescheid weiß und sorgfältig mit Pinseln aus Marderhaaren Papiere, die nicht zu grobkörnig und nicht zu stark sein dürfen, betüpfelt. John Varley trug keine Brille und war von mächtiger Gestalt. Er war ein liebenswürdiger Mensch, und es gab Zeitgenossinnen, die ließen in seiner Gegenwart ihre Spitzentaschentüchlein fallen. Dann bückte sich John Varley schnell, aber etwas schwerfällig, um sie aufzuheben, und die 113 Zeitgenossinnen brachen in ein unterdrücktes und trotzdem fröhliches Lachen aus. Er sah in diesem Augenblick, wie sich eine von ihnen in ihren vor kurzem herausgegebenen Memoiren ausdrückte, »einem riesigen indischen Elefanten, dessen Rüssel den Boden nach würzigen Kräutern abtastete«, ähnlich.

Wenn dieselbe Dame behauptet, daß es kein Bett in London gab, welches nicht einmal unter dem Körpergewicht Varleys zusammengebrochen wäre, so ist das zweifellos übertrieben, dagegen ist es Tatsache, daß es in ganz London keinen Omnibuskutscher gab, der nicht erbleichte, wenn Varley auf sein Fuhrwerk zuschritt. Varley brauchte für sich vier Sitzplätze und war nicht bereit, auch nur die doppelte Fahrtaxe zu bezahlen. Er zahlte überhaupt nicht gern, und wenn gegen Ende eines Quartals die Rechnungen überhand nahmen und dazu ein lang vertrösteter Gläubiger mit dem Schuldgefängnis drohte, dann zog er es vor, plötzlich aus London zu verschwinden, um Ehrengast auf einem möglichst abseitigen Landsitz zu werden. Sein Gepäck hinderte ihn an einem schleunigen Verlassen von London nicht. Es bestand hauptsächlich aus einem knallgelben Schlafrock, der auch in die Memoirenliteratur jener Zeit Eingang gefunden hat, und einem Vorrat von selbstfabrizierten Pillen, mit denen er die Gastfreundschaft auf dem Lande belohnte. Diese Pillen wirkten 114 nicht nur gegen alle damals vorhandenen Krankheiten, die Seekrankheit und die Mondsüchtigkeit eingeschlossen, sie verhinderten auch Mißernten, Überschwemmungen, Erdbeben und Vulkanausbrüche. Varley vergaß nie zu erzählen, daß er eines Tages, bei der Meldung von einem demnächstigen Vesuvausbruch, stehenden Fußes nach Neapel geeilt sei und mittels zwei oder drei seiner Pillen, die er in den Krater warf, die Stadt vor dem Schicksal von Pompeji und Herculanum gerettet habe.

In diesem kritischen Moment, an der Tafel der Lady Hesketh, zog er aus seiner Tasche die niedliche Bonbonniere, öffnete sie und reichte über den Tisch hinüber.

»Was soll ich damit?« fragte der Oberstleutnant erstaunt.

»Essen! Sie sind gut gegen Schwermut und Jähzorn.« Da der Oberstleutnant nicht sofort zugriff und Varley es für unanständig hielt, seine Dose noch länger über den Tisch zu halten, stand er auf, begab sich um den Tisch herum zu dem Platze des älteren gichtischen Herrn. Er glich in diesem Moment weniger dem Rüsseltiere eines zoologischen Gartens, das nach Kupfermünzen späht, als einem Kriegselefanten Hannibals mit ganz bestimmten Absichten.

Oberstleutnant John Whyte interessierte sich nun 115 sehr für die Pillen, und da Varley mit ihm übereinstimmte, daß die stärkste Wirkung zu erwarten sei, wenn er sich dieselben nicht sofort, sondern eine halbe Stunde nach dem Essen einverleiben würde, gewann er wenigstens Zeit. Er klappte die Dose zu und stellte sie neben sich auf den Tisch. Dann legte er seine schmale, aristokratische Hand darüber. Varley kehrte befriedigt an seinen Platz zurück, und der Oberstleutnant dachte an einen Zauberkünstler, den er in London gesehen hatte und der Gegenstände verschwinden lassen konnte, die mehrmals so groß waren als Varleys Pillendose.

»Sie müssen sich einmal die Innenseite des Deckels ansehen«, sagte dann Varley von seinem Platze aus, »wundervolle Kleinmalerei! Die Hülle und der Inhalt sind unübertrefflich!«

Der Oberstleutnant hörte nicht, was Varley sagte, denn seine Gedanken waren bei dem Zauberkünstler in London. Dagegen waren die drei andern Herren sofort im Bilde und sagten wie aus einem Munde: »So zeigen Sie doch einmal her, Herr Whyte!«

Da der Oberstleutnant hierauf nicht reagierte, versuchten von verschiedenen Seiten her der Verleger Hayley und der Rechtsanwalt Rose in den Besitz der Dose zu kommen, doch der Raritätensammler, Graf Egremont, kam ihnen zuvor. Er öffnete sie und zeigte 116 als Kunstkenner gleich ein enttäuschtes Gesicht.

»Ich habe mir etwas ganz anderes gedacht«, meinte er, »wenn man schon in eine solche kleine Dose einen großen Felsblock malt, dann setzt man nicht einen alten Mann darauf mit einem großen Vollbart, sondern ein nettes junges Mädchen in einem duftigen Frühlingskleid oder so ungefähr. Sind Sie nicht auch der Meinung, meine Herren?«

Die beiden andern Herren waren auch seiner Meinung, und darauf schob er die Dose wieder zu dem Oberstleutnant hin, der noch mehr dieser Meinung war und aus diesem Grunde die uninteressante Dose mit Inhalt gerne wieder an Varley zurückgegeben hätte.

Varley war empört. Er holte sein Taschentuch hervor und schneuzte sich. So klang die Stimme von Hannibals Leibelefanten, wenn er die Römer oben auf dem Berg aufforderte, herunter in das Tal zu kommen.

Dann sagte er:

»Das Gemälde in der Dose ist mein kostbarer Besitz! Der abgebildete alte Mann ist Urizen, der König der Sorge, der auf einem Felsen sitzt und sich durch die zurückfließende Phantasie versteinert hat. Eine Haupteigenschaft meiner Pillen ist die, daß sie die Sorgen vergessen machen . . .«

»Sehen Sie, Varley«, rief der Verleger Hayley, »daß 117 Ihre Pillen bei Ihnen selbst wirken, das glaube ich Ihnen aufs Wort. Sie lassen die Sorgen auf dem Felsen zurück, worauf man die Städte baut, und reisen mit Ihrer Phantasie auf das Land. Das gleiche tut William Blake auch, denn ich bin überzeugt, daß er das Bildchen gemalt hat!«

»Natürlich hat er es gemalt, Herr Hayley, aus Dankbarkeit für meine Pillen. Er nimmt sie regelmäßig! Sie sollten sie auch nehmen, alle innere Bosheit bringen sie zum Verschwinden!«

Graf Egremont hatte die Dose wieder geöffnet:

»Ich kenne auch diesen Blake, er trägt selbst keinen Vollbart, aber dafür über dem Kopf eine Löwenmähne. Geld hat er auch keines. Der gute Hauptmann Butts läßt ihn auf Felpham wohnen, und zum Dank läuft er selbst Sonntags nackt im Garten spazieren. Er wird häufig von unheimlichen Gestalten besucht . . .«

»Keine unheimlichen Gestalten«, zürnte Varley, »sie sind deutlich sichtbare Gestalten wie ich, und die unsichtbaren, die zu ihm kommen, sind die besten Männer aller Zeiten, darunter fast die sämtlichen Propheten des Alten Testaments.«

»Wo wohnt Blake, ich habe es nicht genau verstanden?« rief vom oberen Tischteil her Lady Hesketh. Sie hatte einen Bleistift in der Hand, um sich die Adresse dieses interessanten Mannes aufzuschreiben. 118 Er mußte zu ihrem nächsten literarischen Lunch kommen.

»In Felpham«, antwortete der Verleger Hayley, »aber ich würde unendlich bedauern, wenn ich ihn eines Tages hier treffen müßte. Ich wäre aus Selbstachtungsgründen gezwungen, Hut und Regenschirm zu holen und nach Hause zu reiten.«

»Sie sind zu Pferd hierher gekommen?« frug neugierig der Oberstleutnant, »sagen Sie mir, wenn Sie nachher heimreiten, so lange bleibe ich unbedingt hier. Ich muß Sie abreiten sehen!«

Hayley nahm von der Frage keine Notiz, sondern erzählte weiter:

»Sehen Sie, wenn man bedeutende Autoren verlegt, dann will man sie auch von bedeutenden Meistern illustrieren lassen und – Blake ist ein großer Meister.«

»Das will ich meinen«, rief Varley, »Sie sollten Gott auf den Knien danken, daß er Ihnen durch den Zufall Blake zuspielen ließ!«

»Das ist kein Zufall, Herr Varley, denn ich verstehe etwas von der Malerei, und ich habe mir deswegen von Blake außerordentlich viel gefallen lassen. Aber alles hat seine Grenzen! Eben erscheint bei mir eine neue Ausgabe von Miltons verlorenem Paradies. Ich sagte zu Blake: ›Lieber Blake, ich bin durchaus mit Ihnen der Meinung, daß die Menschen im Paradies 119 so herumgelaufen sind, wie Sie zurzeit in Felpham spazieren laufen und deswegen auf viele Meilen hin unangenehmes Aufsehen erregen. Aber Adam und Eva wurden aus dem Paradies hinausgeworfen und haben sich dann auch sofort, wenn auch vielleicht nur notdürftig, angezogen. Also ziehen Sie den Leuten auf Ihren Zeichnungen etwas an, den Frauen einen Unterrock, den Männern eine Hose, selbst wenn sie nur kurz ist und bis zu den Waden geht. Aber Sie müssen Ihnen etwas anziehen, das erfordert unser heutiger Anstand, und das Publikum verlangt es.‹ – Ich gab ihm mein eigenes Exemplar des verlorenen Paradieses und unterstrich das Wort ›verloren‹ zweimal mit einem Rotstift. Nach acht Tagen kam er wieder und brachte mir einen Stoß Zeichnungen, denn er ist wirklich sehr fleißig. Und was sah ich? Alle Personen auf den Zeichnungen waren vollständig unbekleidet, und die Männer trugen Vollbärte, wie sie in Wirklichkeit nur Greise haben können, die auf einsamen Inseln wohnen und niemals ein Schermesser gesehen haben. ›Lieber Blake‹, sagte ich, ›es ist unmöglich, daß ich das Zeug verwenden kann, kein Mensch kauft in unserer Zeit ein Buch mit solchen Illustrationen. Solche Bärte, wie Sie diesen Männern anhängen, gibt es nicht, wie Bärte derzeit überhaupt aus der Mode sind. Sie tragen doch selbst keinen!‹ Er wurde sehr böse und 120 meinte: ›Ich habe absichtlich so lange Bärte gezeichnet, weil sie alle Blößen bedecken, und die Frauen habe ich so gestellt oder gesetzt, daß die von Ihnen verlangten Kleidungsstücke gar nicht notwendig sind.‹ Was sollte ich darauf antworten? Ich sagte weiter: ›Lieber Blake, ich bat Sie, Miltons verlorenes Paradies zu illustrieren, aber die Zeichnungen, die Sie mir da bringen, könnten Illustrationen zum Homer oder zu den Werken Ossians sein, der nach den neuesten Forschungen gar nicht existiert hat. Aber immerhin: die Leute haben damals lange Bärte getragen. – Die Situationen, die Sie malen, kommen in Miltons verlorenem Paradies gar nicht vor! Sie müssen sich doch an das vorliegende Werk halten und nicht zeichnen, was Ihnen gerade in den Kopf kommt!‹ Blake ließ mich kaum ausreden: ich glaube, in der ganzen Literaturgeschichte hat sich noch kein Verleger von seinem Illustrator, dem er doch das tägliche Brot gibt, so behandeln lassen.

›Ich lege Milton so aus‹, schrie er, ›wie ich das für richtig halte, denn ich bin selbst ein Dichter und keiner von den geringsten. Und ich bin überzeugt, daß, wenn ich demnächst Milton selber spreche, dann wird er mir für meine Zeichnungen seinen herzlichsten Dank sagen.‹

Auf diesen Ausbruch gab ich keine Antwort und zuckte 121 nur mit den Achseln, denn ich sagte mir, daß Blake ein großer Maler ist, dessen Launen man auf die leichtere Waagschale legen muß; auch die Theaterdirektoren sind dazu gezwungen, wenn es sich um die guten Tänzerinnen handelt. Aber wenn ich damals gewußt hatte, was ich heute weiß, ich hätte ihn sofort hinausgeschmissen!«

Der Maler John Varley lachte laut auf:

»Sie hätten Blake hinausgeworfen, der die Kraft eines Panthers besitzt?«

»Oh!« rief Lady Hesketh und zerriß den kleinen Zettel, um den Namen und die Adresse Blakes auf einen noch größeren mit noch größerer Schrift zu schreiben.

»Das sage ich Ihnen, Hayley, so wahr ich Varley heiße: Sie könnten jetzt Ihre Gebeine am Strande von Bognor aufsammeln, aber sie lägen nicht auf einem Haufen, sondern in der ganzen Umgebung zerstreut!«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich Blake damals hinausgeworfen habe«, fuhr Hayley fort, »ich hatte auch keine Gelegenheit mehr, ihn hinauszuwerfen, denn er ist nicht mehr zu mir gekommen! Ich glaube, er schämte sich, denn inzwischen ist mir ein Spottvers auf mich in die Hände gefallen. Ich habe ihn stets im Portefeuille und lese ihn allen Bekannten Blakes vor, damit er erfährt, was er angerichtet hat.« 122 Hayley zog aus der Tasche einen Zettel, entfaltete ihn aber nicht, sondern deklamierte auswendig:

        Der eine sieht's natürlich, der andere verkehrt!
Dir, Hayley, ist jede Einsicht verwehrt,
Du siehst nichts von oben, nur immer von unten,
Von unter dem Pferd!

»So etwas nennt man Epigramm«, fügte er hinzu, »und dient dazu, den anständigsten Menschen der Nachwelt in verkehrtem Licht zu zeigen. Ich bin gewiß schon einmal vom Pferd gestürzt, welchem Reiter ist das noch nicht passiert? Aber noch kein Mensch in ganz England hat mich unter dem Pferd liegen sehen! Oder Sie vielleicht, Herr Oberstleutnant?«

»Nein«, sagte Oberstleutnant Whyte, »um so zu stürzen, daß man unter dem Pferde liegt, dazu muß naturgemäß das Pferd selbst mit stürzen. Das ist auf einem gepflasterten Schloßhof wie hier leicht möglich. Wann reiten Sie heute nachmittag nach Hause; es interessiert mich, Herr Hayley?«

»Herr Oberstleutnant«, bemerkte die Gastgeberin, »wir sind hier zusammengekommen, um uns über die schönen Künste zu unterhalten und nicht über die Reitkünste, die ich nicht darin einschließe!«

Der Maler Varley war durch die Vorlesung der 123 Blakeschen Bosheit in Stimmung geraten. Diese äußerte sich bei ihm durch das Verlangen, eine Rede zu halten. Er stand, das Glas in der Hand, auf und sah dabei angestrengt nach der Zimmerdecke. Als er sie (mit dem Kopfe) fast erreicht hatte, wußte er ungefähr, was er zu sagen hatte:

»Mylady!

Wenn ich Ihnen widerspreche, so geschieht das nicht im Hinblick auf die Reitkünste als mindere Künste gegenüber den schönen Künsten, sondern wegen der Objekte, an denen diese sogenannten Künste ausgeführt werden! Mögen Sie es mir verzeihen, weil ich im Grunde meines Herzens ein Tiermaler bin, wie mein Freund Blake ein Tierdichter ist. Nebenbei gesagt, er hat die Laus, die im Pelze eines fremdländischen Bauern sitzt, mit ebenso herrlichen Versen besungen wie den Tiger hinter den Gittern des Zoologischen Gartens. Letzteres Gedicht werde ich Ihnen am Ende meiner Rede zur Vorlesung bringen, um Ihnen den Beweis zu geben, daß Blake genau den Unterschied zwischen Herrn Hayley und einem Tiger erkennt und nach der stolzen Devise verfährt: Jedem das Seine! . . . Regen Sie sich nicht auf, Herr Hayley, erst wenn ich das Gedicht verlesen habe, werden Sie mich verstehen und meine Ansicht teilen! . . . Was ich sagen wollte: das Objekt des Herrn Hayley und im 124 geringeren Maße dasjenige von Herrn Oberstleutnant Whyte ist das Pferd. Das hervorragendste Pferd aber ist der Pegasus! Ich nehme als gewiß an, daß das Pferd, auf dem der Herr Verleger Hayley nach Hause reitet, nicht der eben genannte Pegasus ist, denn dieser würde schon bei dem Gedanken an seine Benutzung durch Herrn Hayley scheu werden und selbst nur den Versuch des Aufsteigens von Anfang an unterbinden! . . . Herr Hayley, ich habe das ausdrücklich nur von diesem Gaul behauptet und nicht von jenem, auf welchem Sie nach Hause reiten. Ich werde außerdem jetzt gleich das Gedicht vorlesen, und dann werden Sie mich verstehen und meine Ansicht teilen . . . Ich bin also mit Ihnen, hochverehrte Lady Hesketh, einverstanden, wenn nach Ihrer Meinung die Reitkünste mindere Künste sind, und bereit, diese Meinung jederzeit gegen den Herrn Oberstleutnant Whyte und den Herrn Verleger Hayley im einzelnen wie in der Gesamtheit zu vertreten. Dagegen hege ich die entgegengesetzte Meinung bei dem Objekt dieser Künste, die ich sekundäre Künste nennen möchte: nämlich bei dem Pferd. Das hervorragendste Pferd ist zweifellos der Pegasus! Unter den hier Anwesenden, ausgenommen mein abwesender Freund William Blake, ist keiner, dem dieses Pferd nicht energisch entgegentreten würde, wenn er Besteigungsversuche unternehmen würde . . .« 125

»Lesen Sie das Gedicht vor«, unterbrach ihn der Graf von Egremont, »sonst finden Sie aus Ihrer Reitbahn keinen Ausweg mehr!«

»Sie haben recht, Herr Graf, aber erst möchte ich noch dieses Glas auf unsere hochverehrte Gastgeberin, den Schutzengel der schönen Künste, leeren!«

»Vielen Dank, lieber Varley«, sagte die Lady und schützte sich vor dem Glase, indem sie auf die Seite rückte, »aber jetzt lesen Sie das Gedicht von Blake, und dann hebe ich die Tafel auf. Es war wieder einmal sehr schön!«

In dem gleichen Augenblick, wo William Blake an zwei junge spielende, sich kugelnde Panther dachte und Zusammenhänge suchte und sie nicht fand, stand der Aquarellist John Varley im Speisesaal der Lady Hesketh und las nicht sehr schön, aber mit einer Stimme, die weit in das Land dröhnte, Blakes Gedicht: 126

Der Tiger    
        Tiger, Tiger, Feuerpracht
Aus den Dickichten der Nacht!
Welche Augen, Hände bilden
Solches Ebenmaß im wilden?
Fackeln, die durch Augen brennen,
Soll ich's Himmel, Hölle nennen?
Gibt es Schwingen fortzuschweifen?
Hände, die ins Feuer greifen?
Wessen Stärke, wessen List
Deiner Adern Meister ist?
Und dein Herz nun künden muß
Finstre Hand und finstern Fuß?
Wo der Hammer? Wo die Ketten?
Wo der Brand dein Hirn zu betten?
Wo der Amboß? Wo die Kraft?
Die den Schrecken aufgerafft?
Sterne mußten Speere brauchen,
Himmel tief in Tränen tauchen!
In seinem Werke aufgelacht
Hat er? Der dich, das Lamm, gemacht?
Tiger, Tiger, Feuerpracht
Aus den Dickichten der Nacht!
Welche Augen, Hände bilden
Solches Ebenmaß im wilden?
127

 


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