Heinrich Stilling
Eine wahre englische Katze
Heinrich Stilling

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Siebentes Kapitel

Wieder sind Wochen vergangen, und das Marine- und Armeewarenhaus hat noch immer nicht auf mein sehr höfliches Schreiben reagiert. Seit mehr als vier Wochen bin ich nun richtig zornig und lege mir in der Verwendung von historischen Personen, bei ihren heimlichen oder unheimlichen Beziehungen zu dem Warenhaus, keine Beschränkungen mehr auf.

Was wäre aber geschehen, wenn ich keinen Grund bekommen hätte, auf das Marine- und Armeewarenhaus zornig zu werden?

Wenn es mir zum Beispiel geschrieben hätte, daß es mir bei meinem hohen Ansehen als, sagen wir bescheiden, als einem der führenden Schriftsteller unserer Zeit und bei meinem oft bewährten Taktgefühl keine Vorschriften im Verbrauch von historischen Personen machen dürfe; daß es mit jeder Geschäftsbeziehung zu prominenten Persönlichkeiten, die ich ihm andichten würde, von Anfang an einverstanden sei, sofern es sich nicht um notorische Galgenstricke handle, die ich auch sonst in meinen früheren Werken sehr schnell abgehängt hätte; daß sich die Direktion erlauben würde, tausend Exemplare der Buchausgabe zu 168 bestellen und um sofortige Angabe meines Bankkontos bäte, wenn ich es im Laufe meiner schriftstellerischen Tätigkeit dazu gebracht hätte, was doch bei meinen Erfolgen gar nicht so unwahrscheinlich sei.

Was hätte ich auf einen solchen Brief hin getan? Meiner Frau hätte ich am Abend erzählt, ich sei seit Wochen nicht mehr drüben in der »Harmonie« gewesen, ich müsse einmal wieder hin, sonst würde man mich zu den Vergessenen zählen, was für einen Schriftsteller doppelt traurig ist. In der »Harmonie« hätte ich bei einer vermeintlich günstigen Gelegenheit das schmeichelhafte Schreiben aus der Tasche gezogen und zur Vorlesung gebracht. Aber außer einem Herrn wäre niemand bereit gewesen, der Vorlesung die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, denn das Unterhaltungsthema des Abends war auf die Gebührenordnung des städtischen Friedhofes beschränkt und absorbierte die ganze Aufmerksamkeit. Und der einzige Herr, der meiner Vorlesung lauschte, tat das nur aus dem Grunde, weil er mir bei dem baldigen Ende mitteilen wollte, daß er kürzlich Gemeinderat geworden sei. Da ich aber sofort nach der Verlesung des Briefes gegangen wäre, hätte ich ihn zweifellos sehr gekränkt und gegen mich eingenommen. Ein Gegner an Ort und Stelle ist schlimmer als zehn Feinde in London. Zehn andere Leute hätten aus 169 meinem Brief, der in ihre Gebührenordnung hineinplatzte, Schlußfolgerungen nicht erfreulicher Art gezogen und aus meiner Desinteressiertheit geschlossen, daß ich zu den Schriftstellern gehöre, die sich begraben lassen, ohne an die Kosten zu denken und diese der Allgemeinheit aufbürden. Solche Gäste, von denen man das annehmen muß, stören die Harmonie, und die zehn Herren hätten mich vielleicht beim nächsten Male so unfreundlich angesehen, daß ich nicht wiedergekommen wäre.

Leser! Bei einer unangenehmen Sache überlege dir rasch, wie sie verläuft, wenn sie angenehm gewesen wäre, und du wirst erstaunt feststellen, daß das Ende katastrophal ist. Unangenehme Sachen, die ich persönlich viel mehr erlebe als angenehme, entwickeln sich regelmäßig zu einem sehr schönen Ende, und diese Erkenntnis hat mich schon in meiner Jugend zu einem grenzenlosen Optimisten gemacht. Ich habe einmal mit einem entzückenden Mädchen getanzt und ihm dabei absichtslos das Bein gestellt, so daß es auf den Boden geflogen ist und ein bekannter Oberlehrer und seine junge Frau gleichfalls, wobei seine Brille in Scherben ging. Es war ein großer Skandal, und die Mutter des entzückenden jungen Mädchens wollte sofort aus dem Kurort abreisen. Aber einige Jahre darauf habe ich trotzdem das wunderschöne junge 170 Mädchen geheiratet, und wenn ich ihm jetzt diesen Teil der Geschichte vorlese und ihm sage, daß ich heute abend nicht eine halbe Stunde, wie ich es vorhatte, in die »Harmonie« gehe, sondern nur eine Viertelstunde in die »Krone«, so sagt es gewiß nicht: nein.

Also jetzt, am Anfang des 8. Kapitels, endgültig Schluß mit meiner schlecht angebrachten Liebenswürdigkeit dem zeitgenössischen Marine- und Armeewarenhaus gegenüber. Sollte sein juristisches Büro den Mut haben, sich mit mir anzubinden, so stelle ich ihm einen alten Freund gegenüber, der lange Jahre nichts war, jetzt aber einer der gesuchtesten Anwälte Londons ist. Er ist so geschickt, daß er einen etwaigen Prozeß lange über meinen Tod hinausziehen kann, und so etwas haßt eine große, dem Staate nahestehende Firma wie die Sünde. Endgültig Schluß!

Während ich diese Zeilen schreibe, an einem Pfingsttagmorgen, in einem Jahre, das jene Optimisten, deren Optimismus nur von dieser Welt war, in grämliche Pessimisten verwandelt hat, klärt sich das Wetter langsam, aber immer schöner auf, trotz der Wettervoraussage, die grämlich lautete. Wie macht mir das Spaß! Ich könnte vor Freude meine alte Underwood Portable nehmen und sie drei Stockwerk tief hinunter auf den Dorfplatz schmettern, und selbst wenn sie in den Kühler eines Zürcher Verlegers fährt, der sofort mit 171 dem Bähnlein heimkehrt, ohne mir ein in seinen Augen verlockendes Verlagsangebot unterbreitet zu haben. Meiner Underwood würde ich sicherlich noch am gleichen Tage Tränen nachweinen, sicherlich noch am gleichen Tage, aber gewiß nicht sofort.

In einer solchen gloriosen Stimmung muß sich William Blake befunden haben, als er, zwar an keinem Pfingsttag, aber an einem herrlichen Frühlingstag, ein Schreiben seines Freundes Fuseli bekam, der frug, ob sein Logierbesuch willkommen sei.

»Nichts würde mich mehr freuen«, schrieb Blake, wenn man diesen Ausdruck hier verwenden kann, ›postwendend‹ zurück, »Platz haben wir genug, wenn auch Varley einen gemessenen Teil beansprucht. Aber er schläft nicht hier, sondern in einem Schloß, in einem Bankettsaal auf der Tafel und umklammert im Schlaf die Tischbeine, da seine Arme keinen Platz finden. Dich bringen wir in der Küche bei uns unter, obwohl meine Frau anfangs dagegen war. Glücklicherweise besucht mich jetzt viel der Prophet Hesekiel, der ihr (durch mich) klarmachen wird, daß man insbesondere in dieser Jahreszeit im Freien schmackhafter kochen kann als im Hause. Hesekiel selbst hält auch das Kochen im Freien noch für Luxus, denn er verspeiste Heuschrecken kalt (wir haben hier leider keine) und aß mit Vorliebe Lehm, den ich schon eher beschaffen 172 könnte. Vergiß Deine Staffelei nicht. Wir stellen sie auf den Herd, und von dem, beziehungsweise von der Küche aus hast Du einen wundervollen Blick auf den Gemüsegarten und weiterhin auf die ginsterbewachsenen Höhen hinter Felpham.«

Ich sagte vorhin, daß Blake diesen für ihn charakteristischen Brief »postwendend« schrieb, aber das ist nicht ganz richtig ausgedrückt: in seiner Freude schrieb er zwar diesen Brief sofort und legte ihn auf die Literaturseite des Küchentisches. Er sollte am nächsten Morgen dem Postboten übergeben werden, wozu es nicht kam, denn an diesem nächsten Morgen riß Blake bei geöffneter Küchentür das Fenster so heftig auf, daß ein Wirbelwind den Brief in den Gemüsegarten trieb und von dort auf die ginsterbewachsenen Höhen hinter Felpham. Der Sohn eines Pächters aus der Umgebung fand ihn im Herbst an einem Ginsterbusch hängen, und da noch eine Seite unbeschrieben war, nahm er ihn mit, um diese unbeschriebene Seite gelegentlich zu verwenden. Da auch seine Nachkommen seriöse Leute waren, die nur im äußersten Notfall zur Feder griffen, blieb die unbeschriebene Seite unbenutzt, bis fast auf unsere Zeit. Als erst vereinzelt, dann paarweise, schließlich in Heerhaufen die Literaturhistoriker die Gegend um Felpham systematisch abgrasten, um noch etwaige Erinnerungen an Blake in die Zukunft 173 hinüberzuretten, da stieß der Glücklichste unter ihnen auf den Brief, von dem noch eine Seite vollständig unbeschrieben war.

Als er die Unterschrift des Briefes las, wurde er rot, dann blaß und wieder rot und legte stillschweigend (die Sprache blieb ihm aus) zehn Sovereigns auf den Tisch. Der gegenwärtige Pächter hielt den sprachlosen Mann für nicht ganz zurechnungsfähig, aber da er bei diesem stillschweigenden Angebot ganz auf seine Rechnung kam, steckte er die Goldstücke rasch in seine Tasche und schob den Brief dicht an den schweigenden Mann heran. Und nun geschah etwas so Unglaubliches, daß der Pächter beinahe einen Teil der Goldstücke wieder zurückgegeben hätte.

Der schweigende Mann trennte die unbeschriebene Seite von dem Brief ab, schrieb quer darüber seinen eigenen, durch drei Vornamen angemeldeten Familiennamen und schob das Blatt dem erstaunten Manne zu. Der Gedankengang war natürlich richtig: durch die Entdeckung dieses Blakeschen Briefes war der Name seines Entdeckers unsterblich geworden, und das Autogramm hatte, vielleicht in fünfhundert Jahren, wenn das Ansehen Blakes bei den Literaturhistorikern weiter wuchs wie bisher, einen gewissen materiellen Wert, wenn auch nicht in Sovereigns und Shillings, so doch sicher in Pence. 174

Der Pächter sah mit großem innerem Zorn, wie dieser Mensch die noch unbenutzte Seite des Briefes dermaßen behandelte. Aber ehe er noch eine schnöde Bemerkung machen konnte, war er an die Türe gesprungen und hüpfte einige Augenblicke darauf über die ginsterbewachsene Höhe wie ein loser Knabe, dem ein prächtiger Streich geglückt war. Er sah gar nicht aus wie ein älterer Literaturhistoriker. Der Pächter sah ihm erstaunt nach, schüttelte den Kopf, griff sich an die Stirne und zerriß darauf das ihm gebliebene Blatt in hundert Fetzchen. Die Hühner eilten herbei und bemühten sich einen Augenblick darum. – Die beschriebene Seite ziert heute das Museum der schönen Künste in Philadelphia, die literaturkundigen jungen Mädchen umlagern sie täglich, sagen »wie schön« und gehen dann, weil der Glaskasten in der Nähe des Ausganges steht, schnell nach Hause zum Lunch oder einer andern Mahlzeit. –

Der Brief Blakes war rechts zwischen Salatstauden hindurch über den Gartenzaun gewirbelt, unbeobachtet von Blake, der seine ganze Aufmerksamkeit einem großen Manne zuwandte, der sich links auf einen Schemel neben einem Radieschenbeet niedergelassen hatte. Auf diesem Schemel saß sonst Blake selbst, um das Wachstum dieser Radieschen durch seine Gegenwart anzuspornen. Er sah von ihnen in 175 diesem Augenblick wenig, denn der Mann hatte seinen Rock, einen roten Uniformrock, darüber geworfen und war eben im Begriffe, mit seiner weißen Halsbinde das gleiche zu tun.

»Sie vernichten mir meine Radieschen«, rief Blake heftig, »tun sie das Zeug fort!«

»Das ist kein Zeug«, antwortete der Mann, stand phlegmatisch auf, und es erwies sich, daß er zweimal so groß war wie Blake, »es ist der Rock Seiner Majestät unseres gnädigen Königs.«

»Das ist mir ganz egal«, meinte Blake, und sein Kopf wurde dabei fast so rot wie der Uniformrock des gnädigen Königs, »was haben Sie hier in meinem Gemüsegarten zu tun?«

»Gar nichts«, sagte der Mann, »mein Freund John vom Gasthaus zum Fuchsen hat mich gebeten, an seiner Stelle hier Erde umzugraben, aber ich habe keine Zeit, denn wir rücken morgen ab.«

»Rücken Sie sofort ab«, rief Blake, »und nehmen Sie Ihr Zeug mit!« Dabei versuchte er, mit der Fußspitze den Uniformrock auf die Seite zu schieben, damit seine Radieschen wieder Luft und Licht bekamen.

»Ich bin der Dragoner Schofield von den Gardedragonern«, bemerkte nun der Mann, »und wenn Sie, kleiner Herr, den Rock Seiner Majestät in den Dreck treten, dann werden Sie etwas erleben!« 176 Blake einen »kleinen Herrn« zu nennen, war sehr gefährlich, denn Blake verfügte über große Körperkräfte, deren er sich bei Beleidigungen sehr rasch zu bedienen pflegte. Ohne viel Umstände faßte er den Dragoner an den Ellbogen und stieß ihn quer über die Beete zum Ausgang hin. Der Dragoner Schofield machte alle Anstrengungen, sich aus den eisernen Griffen Blakes zu befreien. Aber seine Anstrengungen konnten nicht gleichzeitig nach rückwärts gehen und nach vorwärts, um seine Arme zu befreien, die wie in Schraubstöcke gepreßt wurden. Sein Mund blieb frei, und der übergoß Blake mit einer Flut von Schimpfworten, wie sie einem Dragoner in einem solchen Moment zur Verfügung stehen.

Am Gartentor ließ Blake die Arme seines Gegners los, und die Angelegenheit wäre vielleicht sozusagen zu einem guten Ende gekommen, denn Blake war schon wieder im Begriff, zu seinen mißhandelten Radieschen zurückzukehren, und achtete kaum mehr auf das Geschimpfe des Dragoners. Da aber kam Frau Katherine die Straße daher und ergriff die Partei ihres Mannes, nicht in der Sprache eines Mannes, sondern mit der Beredsamkeit einer Frau, die für ihren Mann einem andern Mann die Wahrheit sagt. Meistens sagen die Frauen fremden Männern nicht gerne die Wahrheit, sondern lieber ihren eigenen, weil sie genau 177 wissen, daß, wenn sie ihren eigenen Männern die Stange halten, diese vor Begeisterung gar nicht mehr wissen, was sie tun sollen.

Kaum hatte also Frau Katherine in das abflauende Wortgefecht eingegriffen, als Blake nicht mehr in der Richtung seines Radieschenbeetes sah, sondern auf die Landstraße und in die Richtung des Gasthauses zum Fuchsen, wohin sich Schofield schimpfend zurückzog. Gleich darauf sprang Blake auch seinen Gegner von neuem an, der einige Boxstöße versuchte, ehe seine Ellbogen wieder in den Blakeschen Schraubstöcken lagen.

So trieb er nun den Dragoner vor sich her, und, angefeuert durch die Reden seiner lieben Frau, blieb er nicht stumm. Wenn sie sagte: »Es ist eine Schande, wie sich unsere Soldaten hier aufführen!« fügte er hinzu: »Ein gemeines Gesindel ist es, was sich unter dem Namen Soldat in England herumtreibt!«

Und wenn sie sagte:

»Wenn unser guter König wüßte . . .«

fügte er hinzu:

»Er weiß alles, er ist auch nicht viel mehr wert.«

Es ist eine Tatsache, daß Blake diese und ähnliche Äußerungen in den späteren Gerichtsverhandlungen feierlich ableugnete, aber es ist ebenso eine Tatsache, daß die meisten Ehemänner, wenn sie ihre Frauen in 178 teilnahmsvoller Aufregung sehen, selbst noch viel aufgeregter werden und sich dabei zu Worten und Taten hinreißen lassen, an die sie sich später absolut nicht mehr erinnern können. Blake trieb den Dragoner Schofield an Herrn Consens vorbei, dem Besitzer einer benachbarten Mühle, der während dieser Zeit angestrengt einen blühenden Kirschbaum betrachtete und sich später in den Gerichtsverhandlungen an nichts mehr erinnern konnte. Frau Haynes, die Frau von Herrn Consens' Diener, ging ahnungslos auf der Landstraße und sprang mit ihrem Eierkorb zuerst erschreckt in den Straßengraben. Da sie die nebenherlaufende Frau Blake sehr schätzte und die Kraft des kleinen Mannes bewunderte, kam sie beruhigt aus dem Straßengraben heraus, halbwegs überzeugt, daß er im Rechte sei. Als ihr Herr Consens am Abend erzählte, Blake sei nicht nur kräftig, sondern er hätte sogar Gedichte über die Unschuld geschrieben, da beschloß sie, die Hauptentlastungszeugin für diesen kleinen, kräftigen und unschuldigen Mann zu werden, sofern er nicht vorher von einem Kriegsgericht aufgehängt wurde.

Blake hatte eine solche Entlastungszeugin blutnotwendig, denn je länger Frau Katherine neben ihm herlief, um so schärfer wurden seine Redensarten. Die Belastungszeugen bekundeten später, daß Blake nicht 179 nur den gnädigen König mehrmals schwer beleidigte und seine Soldaten als Verbrecher und Galeerensträflinge bezeichnete, sondern er soll nach ihren Aussagen an den nicht anwesenden Kaiser Napoleon die Aufforderung gerichtet haben, bei Felpham an Land zu gehen und an dem Pack eine blutige Abrechnung vorzunehmen. Er, Blake, würde ihm nach jeder Richtung hin behilflich sein.

Zeuge dieser Äußerungen war ein anderer Gardedragoner, namens Cock, der seinem Kameraden zu Hilfe eilen wollte, sich aber letzten Endes bei dem Anblick von Blakes Armen auf das Schimpfen beschränkte. Aus einem Erkerfenster des ersten Stockes im »Fuchsen«hause sah der Wirt dem sich heranwälzenden Lärm entgegen, und wenn es schon damals Fernsprecher gegeben hätte, dann wäre die nächste Polizeistation schnell im Bilde gewesen. So mußte sich der Wirt auf seine eigen Hilfskräfte verlassen, nämlich auf seine Frau, seine erwachsene Tochter und den Hausdiener John und letzten Endes auf sich selbst. Als er nun alle um sich versammelt hatte, machte er einen Ausfall auf die Landstraße.

Im Gasthaus saß ein alter Mann namens Johns. Er trug eine Hand in der Schlinge, weil ihn sein Enkel vor kurzem in den Daumen gebissen hatte, als er ihm eine Ohrfeige geben wollte. Im übrigen galt er als ein 180 Philosoph und bewies es auch dadurch, daß er als Zeuge jeder der streitenden Parteien recht gab, somit zwar als Zeuge wertlos wurde, aber, als er ein halbes Jahr darauf an Blutvergiftung starb, keine eigentlichen Feinde in dieser Welt zurückließ.

Als der Wirt Grinder die streitenden Parteien erkannte, trat er ihnen sofort mit der striktesten Neutralität entgegen, denn Blake war sein Nachbar, der selten sein Wirtshaus betrat und von dessen Freunden aus dem Jenseits noch nie einer im Gasthaus zum »Fuchsen« gesehen worden war; die beiden Soldaten sprachen zwar seinem Bier tapfer zu, aber ob und was sie zahlen würden, das hing noch ganz in der Luft.

Mit einem Blick auf seine hinter ihm aufmarschierenden Hilfskräfte sagte er also zu Blake:

»Aber Herr Blake, das hätte ich von Ihnen nicht gedacht! Sie sind doch sonst so still, daß man von Ihnen gar nichts sieht noch hört.«

Und zu den Soldaten sagte er:

»Meine Herren, gehen Sie in den Schankraum, es ist frisch angestochen.« Blake wußte, daß sich ein Soldat bei einem Bierfasse nicht betätigen kann, wenn er seine Hände nicht frei hat. Deswegen ließ er den Dragoner Schofield los, der gar keinen Versuch machte, mit seinen freigewordenen Händen nach Blake zu schlagen, denn Blakes Schraubstöcke hatten sie vollkommen 181 blutleer gemacht. Um so stärker schimpfte er, und auch sein Freund nahm sich kein Blatt vor den Mund. Blake horchte noch einen Augenblick zu, dann nahm er seine Frau Katherine unter den Arm und verließ als Sieger den Kampfplatz. Die beiden Soldaten schimpften ihm noch lange nach; der Wirt Grinder stand höflich dabei und sagte nur von Zeit zu Zeit:

»Meine Herren, es ist frisch angestochen.«

Er ließ sie ruhig schimpfen, denn er wußte, daß Schimpfen Durst macht, und der Durst der Gäste ist für den Wirt ungleich wertvoller als zum Beispiel der Hunger.

Als sich die beiden Soldaten so richtig durstig geschimpft hatten, bekamen sie Sehnsucht nach dem frisch angestochenen Faß. In der Nähe des Fasses saß Mister Johns, der von seinem Enkel in den Finger gebissen worden war. Schofield erzählte ihm ausführlich, was er mit diesem Mister Blake erlebt hatte, und Mister Johns bemitleidete ihn sehr. Als Schofield sagte, daß es ihm möglich gewesen wäre, den kleinen Mann mit einem Schlag in den Boden zu stampfen, meinte Johns, daß er einen solchen Schlag bei einem Soldaten für selbstverständlich halte.

Auf die Frage Schofields, was für ein Handwerk dieser Blake eigentlich treibe, antwortete er: »Keines von unsereins seines! Er ist Miniaturmaler!« 182

»Was ist denn ein Miniaturmaler?«

»Ei, das ist das gleiche wie Militärmaler. Die einen sagen Miniaturmaler, das ist der lateinische Ausdruck dafür, und die andern sagen Militärmaler, und das ist der englische Ausdruck dafür.«

»Militärmaler ist er also? Er malt in der Öffentlichkeit uns Soldaten und in der Heimlichkeit die Küste und schickt die Miniaturen an den Kaiser Napoleon, damit der weiß, wo er am besten in England landen kann. Der Mann ist nichts weniger und nichts mehr als ein französischer Spion. Ich gehe sofort zum Kapitän Leath und melde es. Herr Johns, Sie sind mein Zeuge!«

Herr Johns lehnte die Aufforderung mit einer energischen Handbewegung ab.

»Ich bin Großvater und habe drei ungezogene Enkelkinder; eines davon hat mich in den Finger gebissen, so daß ich jetzt noch nicht weiß, was ich sagen soll. Das ist aber gewiß: wenn einer ein Militärmaler ist, so ist das noch kein Beweis, daß er mit dem Kaiser Napoleon unter einer Decke steckt.«

»Er hat sogar genau angegeben, wo der Kaiser Napoleon mit seiner Hilfe die Decke aufheben wird, nämlich hier bei Felpham. Und in diesem Zusammenhange hat er unseren gnädigen König beschimpft und die ganze britische Armee eine Horde von 183 Galeerensträflingen genannt.«

»Als mich mein Enkel in den Finger gebissen hatte«, sagte der philosophische Mister Johns, »da habe ich auch geschimpft und gesagt, der Teufel solle ihn holen. Wenn nun wirklich der Teufel gekommen wäre, dann hätte ich gesagt: lieber Teufel, ich habe mich versprochen, du sollst mich holen, denn ich bin in den Jahren, wo einen der Teufel holt, aber das arme Kind bleibt am Leben! Was ich damit gesagt haben will? Sie, Herr Soldat, haben durchaus recht, und wenn mich der Militärmaler um seine Meinung angeht und mir die Geschichte von seinem Standpunkt aus erzählt, dann hat er auch nicht ganz unrecht. Wenn ich dann die notwendigen Abzüge von jedem Standpunkt mache und mich auf den Aussichtspunkt begebe, von wo aus man beide Standpunkte von oben betrachten kann, dann bleibt für mich nur noch die Tatsache: mit dem Gericht will ich aber auch gar nichts zu tun haben.«

Nach dieser längeren Rede leerte Mister Johns mit Hilfe seiner gesunden Hand rasch das Glas, grüßte höflich und ging.

 

Frau Katherine hatte ihren Mann schon lange nicht mehr in so gehobener Stimmung gesehen wie an diesem Abend, obwohl er sehr oft und sehr schnell in Begeisterung geriet. 184

An Varley, der zum Abendbesuch gekommen war, aber anscheinend in etwas gedrückter Stimmung, demonstrierte er, wie er mit zwei Handgriffen den Soldaten wehrlos gemacht hatte.

»Dein Haus ist deine Festung«, meinte Varley und rieb sich die Ellenbogen, »und wenn der Kerl dich prügeln wollte, dann hast du in Notwehr gehandelt, und niemand kann dir etwas wollen. Es ist nämlich so, Frau Katherine (er wandte sich an Blakes Frau), heute, wo England von dem Kaiser Napoleon bedroht ist, muß man diese Herrschaften wie rohe Eier behandeln, sonst stempeln sie uns im Handumdrehen zu Vaterlandsverrätern und hängen uns, ehe wir uns darüber klar sind, an den Galgen.«

»Ein frisches, rohes Ei«, meinte Blake, »wird von mir liebevoll behandelt, denn ich denke dabei an meine eigene menschliche Schwäche, aber einem rohen Soldaten drücke ich ohne Gewissensbisse den Schädel ein.«

»Glauben Sie ihm nicht«, rief Frau Katherine, »selbst einem Floh versucht er noch klarzumachen, warum es sich nicht gehört, daß er ihn in die Backe sticht und daß er sich auf eine redlichere Art Nahrung verschaffen soll.«

»Und das habe ich auch bei diesem Soldaten versucht«, fügte William hinzu, »ich habe ihm gesagt, daß die 185 Soldaten das unnützeste Pack seien, was auf der Erde herumlaufe, und daß ein fleißiger Kaminfeger hundertmal wertvoller sei als ein General, der die Menschen umbringen läßt, damit er sich auf seinem Rock eine neue Medaille anbringen lassen kann.«

»William«, sagte Varley und stellte den Blechteller, den er in der Hand hielt, unabgetrocknet auf die Literaturseite des Küchentisches, »diese Medaillen sind Auszeichnungen, die von unserem König angebracht werden für Verdienste . . .«

»Schöne Verdienste« fuhr Blake dazwischen, »wenn einer den Befehl zum Schießen schneller geben kann als der andere! Soll ich dir sagen, was ich dem Menschen von seinem König gesagt habe, der diese Verdienste belohnt, wenn auch meistens nur mit bemaltem Blech?«

»Bitte nicht«, bat Varley, »ich habe gestern nacht schon nicht geschlafen! Lady Hesketh hat mich dermaßen geärgert, daß ich sogar morgen früh nach London zurückfahre, ohne daß ich ihr Adieu sage.«

»Du hast ihr wohl deine Pillen aufgezwungen, und sie sind ihr nicht bekommen?«

»Meine Pillen? Lady Hesketh nimmt so viele Pillen der verschiedensten Sorten, daß sie gar nicht weiß, welche ihr schlecht bekommen. Nein, ich habe ihr gestern abend das Horoskop gestellt. Ich habe dabei 186 herausgefunden, daß sie in ihrem 60. Lebensjahr zum dritten Male heiraten wird, und zwar ihren alten Kammerdiener, den sie dann noch um sieben Jahre überlebt. Sie wird uralt. Zum Dank dafür ist sie so ausfallend geworden, wie ich das von einer vornehmen Dame niemals gedacht habe. Dazu kommt noch, daß meine Gläubiger meine alte Haushälterin drangsalieren, die kein Dach mehr über dem Kopfe hat. Ich muß heim nach London.«

Er hing die Küchenschürze der Frau Katherine wieder sorgsam an den Nagel, streckte Blake seine breite Pranke hin und sagte: »Ich bin, weiß Gott, ein höflicher Mensch, der gern mit allen andern Menschen in Frieden leben würde, aber der Satan will es, daß ich aus den Schwierigkeiten nicht herauskomme. Woran liegt das, Blake?«

»Bezahle deine Schulden, vertreibe keine Pillen mehr und hilf mit, Jerusalem aufbauen!«

»Das erst kann ich nicht, das zweite will ich nicht, und zum dritten fehlt mir die Geduld. Kann ich in London etwas für dich tun? Etwa Hauptmann Butts besuchen und ihm den Zins bringen?«

»Spaße nicht, Varley! Butts ist der einzige Soldat, der mit mir Jerusalem aufbauen wird!«

»Und dich in dieser Zeit in Felpham zinsfrei wohnen läßt. Verzeihe mir den Spaß, William!« 187

Blake gab darauf keine Antwort, sondern nahm von der Literaturseite des Tisches ein Manuskriptblatt, drückte es Varley in die Hand: »Bring es ihm!«

Gleichzeitig sprach er die Eingangsverse zu seinem Buche »Jerusalem«:

        Und mußte nicht in vergang'ner Zeit
Sein Schritt über englische Berge gehn?
Und hat man nicht Gottes heiliges Lamm
Auf englischen Fluren wandeln gesehn?
Und leuchtete göttliche Sanftmut nicht
Hoch über bewölktem Hügel und Berg?
Ist hier nicht Jerusalem aufgebaut
Inmitten von dunkelem Satanswerk?
Bringt mir den Bogen aus feurigem Gold!
Die Pfeile des Wunsches sind mein Begehr!
Bringt mir den Speer! Und wolkenentrollt
Rase der Wagen von Feuer daher.

Varley hatte bis hierher zugehört. Nun nahm er seinen Hut und schritt hinaus. Er schritt den ginsterbewachsenen Höhen zu. Hinter ihm dröhnte von den Lippen Blakes der letzte Vers: 188

        Denn niemals ende der Geisteskampf
Noch schlafe das Schwert in meiner Hand,
Bis wir aufgerichtet Jerusalem
In Englands grünem, so freundlichen Land.

Ein Lehrer ist ein Mann, der, wenn alle Stricke im Kampf gegen eine bösartige Jugend reißen, seine letzte Kraft einsetzt, nämlich seine körperliche, und ohne Ansehen der Person um sich haut.

Ein Pädagoge dagegen ist ein Mann, der sich die notwendigen Ohrfeigen am liebsten selber gibt, dadurch an Ansehen bei der Jugend gewinnt, und wenn er trotzdem nicht mit ihr fertig wird, sehnsüchtig der nächsten Generation entgegensieht, um mit ihr bessere Resultate zu erzielen.

Als Miß Dorothy Dickens in ihre Wohnung, Lingeringstraße Nummer 44, zurückkehrte und die Haustüre offen fand und keine Katze Betty und keinen sympathischen jungen Mann in der Wohnung, da hätte sie am liebsten um sich geschlagen und sogar in Ermangelung der Schuldigen auf tote Gegenstände, die nur in vorübergehenden Beziehungen zu den Flüchtlingen standen, nämlich ihre noch halbgefüllte Teekanne und ihre ganz geleerte Kuchenplatte.

Aber sehr bald gewann die Pädagogin in ihr die Oberhand, und sie beschloß, den jungen Mann zu verachten, 189 die treulose Katze zu vergessen und eine neue Generation von Katzen heranzuziehen und nicht nur ihr Intellekt zu pflegen, sondern auch die andern anlernbaren Eigenschaften, durch die eine reine Vernunft für die weniger Vernünftigen auf die Dauer ertragbar bleibt, nämlich: Höflichkeit, Häuslichkeit, Edelmut und Dankbarkeit.

Mit welchem Erfolg Dorothy Dickens als Pädagogin und ganz in der Stille in Zukunft wirkte, wissen wir aus den Bemerkungen des Herzogs und der Herzogin von Bristol, die ungefähr gleichzeitig geschahen, obwohl der Herzog damals wegen einer jungen Schauspielerin in Scheidung lebte und die Herzogin, die sich in Madrid befand, wegen ihres Briefwechsels mit allen Schöngeistern Europas kaum Zeit zu solchen Äußerungen fand. Wir wissen es auch durch eine Predigt des Erzbischofs von Canterbury und schließlich durch einen Infanterieobersten, dessen Namen ich im Augenblick vergessen habe. Wir wissen es außerdem noch durch die Katzen selber und endlich durch eine Grabschrift in Bristol, die ich selber entdeckte und die lautet:

        Die Menschen, Dorothy, die werden dich vergessen.
Jedennoch wird manch rosig Mäulchen sacht
Sich leis miauend an dies Grabmal pressen
Zur Sommerszeit in heller Mondesnacht.

190 Wer der Verfasser dieser Zeilen ist, habe ich nicht herausgefunden. Es muß ein minderer Dichter sein und nicht William Blake, wie vielleicht ein Leser etwas voreilig annehmen könnte.

Sir Herbert Linlithgow war noch ziemlich lange Zeit recht nervös, sowohl in seinem Büro im Marine- und Armeewarenhaus als auch abends in seiner komfortabeln Junggesellenwohnung. Sobald er einen Wagen rasseln hörte, dachte er an Miß Dorothy Dickens und legte im Büro die Gänsefeder zur Seite und nahm zu Hause die Katze vom Schoße, um ihrer Erzieherin aufrecht entgegentreten zu können. Auch wenn er gelegentlich den Kriegsminister Lord Purple traf, forschte er eifrig auf seinem Gesicht, ob dieser vielleicht einen anonymen oder mit Dorothy Dickens unterschriebenen Brief erhalten hätte, in dem er, Herbert Linlithgow, schlecht gemacht wurde. Aber da die erwartete Extrapost aus Bristol nicht kam und Lord Purple immer die Liebenswürdigkeit selber blieb, verlor sich allmählich sein schlechtes Gewissen, und er fing wieder an, den Volontär-Sekretär Punkey für einen ganz geschickten jungen Mann zu halten. Er schrieb sogar an den Vater Punkey, der einer der größten Reeder Englands war, daß sein Sohn unter seiner persönlichen Leitung ein außerordentlich geschickter Kaufmann geworden sei, der nun mit großem Nutzen 191 die Zweigfirma in Bombay leiten könne. Sobald Punkey junior sich auf dem Schiffe nach Bombay befand, wollte Linlithgow die Katze aus seiner Privatwohnung in das Marine- und Armeewarenhaus bringen. Darüber schrieb er an Punkeys Vater nichts, denn das ging ihn gar nichts an.

Die Katze hatte von dem allabendlichen Unterricht viel profitiert. Sie wußte in der ruhmreichen englischen Geschichte genau Bescheid, wußte, was Sir Herbert Linlithgow, das Warenhaus und England von ihr verlangten und war begierig, mit unzähligen totgebissenen Ratten das in sie gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen.

Sir Herbert war anfangs etwas pessimistisch, denn er war am Tage, wo Betty nach London kam, in den Kellern des Warenhauses gewesen und über die unheimliche Zunahme der Ratten beunruhigt. Als er dann Betty in seine Privatwohnung nahm und sie auf ihren Dienst vorbereitete, kam er nur noch mit ihr und nicht mit den Ratten zusammen, wodurch er allmählich Betty etwas über- und die Ratten etwas unterschätzte.

Glücklicherweise hatte er in der Gestalt seines Onkels, Professor Buffers, einen Warner in der Nähe, der an Hand seiner immer wieder ergänzten statistischen Aufstellungen den wachsenden Optimismus dämpfte und Sir Herbert nicht zur Ruhe kommen ließ. 192

»Wenn sich etwas ohne große Irrtümer auf dem Papier ausrechnen läßt«, sagte er, »dann ist es die Vermehrung von unter Beobachtung stehenden Geschöpfen, sofern keine Gegenmittel, die ja auch unseren Sittengesetzen nicht entsprechen, angewandt werden. Den Ratten gegenüber fallen jedoch moralische Bedenken fort, das möchte ich gleich hinzufügen. Die Gegenmittel sind also anwendbar, aber die indischen Katzen im Tanzsaal führen ein Faulenzerleben und werden als Gegenmittel wahrscheinlich ganz ausscheiden. Erinnere dich an das Capua des Hannibal, das sinngemäß auch auf die Tierwelt angewendet werden kann. Also die Statistik ist hier ein Kinderspiel, und nach Abzug der an Unfällen und Altersschwäche sterbenden Ratten kann ich dir in jedem Augenblick sagen, wieviel alte Ratten vorhanden sind und wieviel junge Ratten in bestimmter Zeit zuwachsen. Du siehst, wie unsere Wissenschaft rasch den Kinderschuhen entwächst. Zum Beispiel: in diesem Augenblick, die Uhr schlägt gerade neun, beträgt die Zahl der Ratten beider Geschlechter, junge und alte zusammengezogen . . .«

»Onkel, Zahlen interessieren mich nicht! Sieh dir Bettys Zähne an, denke an ihre überragende Intelligenz!«

»Selbst wenn Betty Zähne hätte wie ein Mammut, sie ist nur ein Einzelindividuum! Dagegen ist die Zahl der 193 Ratten inzwischen wiederum um . . .«

»Ja, Herbert, ich sehe schon, die Zahlen interessieren dich nicht«, fuhr der Onkel fort, als er sah, wie der Neffe den Kopf schüttelte, »jammerschade, daß ich einen Neffen habe, der für die Statistik kein Interesse hat, von der wir doch alle abhängen. Was nun die Intelligenz Bettys anbetrifft, so überschätzest du die Bedeutung der Intelligenz. Die Intelligenz zieht der statistischen Zahl gegenüber immer den kürzern. Selbst der liebe Gott, dem du die Intelligenz nicht absprechen wirst, muß die stärkeren Bataillone machen lassen, was sie wollen. Das hat der Preußenkönig Friedrich der Große in einem schlagenden Satz zusammengefaßt, und dessen Intelligenz ließ doch gleichfalls nichts zu wünschen übrig.«

»Lieber Onkel, wenn du auf dein Spezialgebiet zu sprechen kommst, dann gerätst du so ins Feuer, daß ich dir kaum mehr folgen kann. – Ich habe nicht die Absicht, Betty den Ratten allein gegenüberzustellen, dafür ist sie mir schon zu sehr ans Herz gewachsen. Ich werde ihr aus den vorhandenen Katzen einen Generalstab zusammenstellen . . .«

»Das werden wieder die intelligentesten, aber nicht die kräftigsten Katzen sein!«

»Ich werde, lieber Onkel, auch deine Kreuzungsversuche zwischen den englischen und indischen Katzen 194 abwarten!«

»Sie sind im Gange, lieber Neffe, aber die bisherigen Ergebnisse sind betrübend: es ist eine Rasse entstanden, intelligent, verschlagen, aber körperlich ziemlich unbrauchbar, und besonders schlecht ist das Gebiß. Nach meinen bisherigen Erfahrungen ziehe ich die reine englische Rasse doch vor: sie ist muskulös und hat wundervolle, kräftige Zähne.«

»Lieber Onkel«, sagte der Neffe, »ich stehe auf dem Standpunkt, daß in unserer Angelegenheit die Beißfähigkeit nicht die Hauptsache ist. Das ganze Maulwerk muß in Ordnung sein!«

»Ja«, rief der Onkel erbittert, »ein Maulwerk hat deine Betty, aber mit einem Maulwerk schafft man nicht Millionen Ratten aus dem Land.«

»O doch«, antwortete sinnend der Neffe und stocherte mit dem Feuerschürer im Kamin, »schon die alten Griechen haben ihre Entscheidungen mit Reden eingeleitet, und wenn sie ihrer überdrüssig wurden, mit dem Maulwerk abgeschafft. Wer hat auf die Dauer größere Erfolge errungen als Odysseus, der Verschlagene?«

Professor Buffers gab sich noch nicht geschlagen. Er sagte:

»Odysseus hatte nicht nur den Mund auf dem rechten Fleck, er war auch ein Dulder und ein Held.« 195

»Aber erst als er keinen andern Ausweg mehr sah, Onkel, und so weit sind wir heute noch nicht.«

 

Es sitzt in einem kleineren Städtchen des Landes ein Mann, der in seiner Jugend Volontär-Sekretär an allen vorhandenen größeren Zeitungen war. Bei seinen Chefs muß er sehr beliebt gewesen sein, denn sie haben ihn, wenn vielleicht auch nur nach kurzem Gebrauch, weiter gereicht und ihm als Abschiedsgeschenk und als kleine Aufmunterung zur Bewahrung der Diskretion das Theaterreferat an einer auswärtigen Bühne mitgegeben. Das ist ein bekanntes Abschiedsgeschenk für Volontär-Sekretäre, die aus gebildeten Familien stammen. Seinen Namen kenne ich nicht, nur sein Zeichen, einen achtstrahligen Stern mit einem dunkeln Fleck darin.

Bei seinen Chefs muß er also sehr beliebt gewesen sein, weniger bei dem Druckfehlerteufel, der behauptete, daß sein mangelhafter Satzbau, seine schlechte Orthographie und die kaum vorhandene Interpunktion mit seiner Tätigkeit in keinem Zusammenhang stünden und wirklich original seien.

Ich selbst habe den Mann bis vor ungefähr vier Wochen gehaßt, da er mich seit Jahren in seinen Theaterbriefen regelmäßig als die »große Enttäuschung« bezeichnet. Ich bin überzeugt, daß er, bevor er das Wort 196 »Enttäuschung« schrieb, sich im Rechtschreibebuch vergewisserte, wie das Wort »Enttäuschung« geschrieben wird, und es dann zum ständigen Gebrauch an meinen Namen hängte, um erst nach Jahren wieder nachzuprüfen, ob das Wort noch immer richtig geschrieben sei. Da er aber mutig urteilt und verurteilt, wird er überall gern gelesen, und erst vor sechs Wochen lernte ich eine Dame kennen, die mir gegenüber steif und fest behauptete, ich hätte ein Drama geschrieben, das »Die große Enttäuschung« heiße und gut sein soll, obwohl es die Kritik einstimmig abgelehnt habe.

Da wurde ich wieder einmal sehr zornig, denn ich wußte, wer die einstimmige Kritik war, nämlich der achtstrahlige Stern mit dem großen dunkeln Fleck mitten drin, und ich schrieb darauf an einen jungen Freund in B., der dort gegenwärtig Volontär-Sekretär ist, einen Brief, in welchem ich meine ganze Wut gegen den Theaterbriefschreiber in H. austobte.

Wenn mein Freund den achtstrahligen Stern mit dem dunkeln Fleck verteidigt hätte, dann wäre er nicht mehr mein Freund geblieben, und ich hätte diese angenehme Enttäuschung in meiner Beurteilung der Volontär-Sekretäre nicht buchen können.

Er schrieb mir zurück, daß er den achtstrahligen Stern mit dem dunkeln Fleck womöglich noch für einen größeren Ignoranten halte als ich selbst; daß er am 197 liebsten mit einem Sonntagsbillett nach H. führe, um ihm um meinetwillen eine körperliche Zurechtweisung zu erteilen, und daß er nicht ruhen und rasten werde, bis diesem achtstrahligen Schandfleck die Theaterberichterstattung in H. entzogen sei und man ihn damit beauftragt habe. Wie dann die Theaterbriefe aus H. aussehen würden, das könnte er nur in diesen Worten zusammenfassen: »Sie stehen alle unter Ihrem Eindruck, der Sie der größte Stilist unseres Zeitalters sind!«

Aber damit begnügte sich mein lieber junger Freund noch nicht. Jedes deutliche Wort über den Theaterberichterstatter in H. bekräftigte er durch einen fein säuberlich mit dem Lineal gezogenen Strich aus roter Tinte, und der Satz, der mit »Sie« beginnt und mit »sind« endigt und von dem größten Stilisten unseres Zeitalters handelt, war sogar zweimal unterstrichen, und dazu noch grün.

Auf diesen Brief hin schwand dann mein Haß gegen den achtstrahligen Stern mit dem dunkeln Fleck und machte einem Mitleid Platz, das zum Größenwahn führen könnte, wenn ich mich nicht so fest in den Händen hätte. –

 

Wenn John, der Hausknecht des Gasthauses zum Fuchsen, als Augen- und als Ohrenzeuge den beiden 198 Soldaten gegenüber nicht behauptet hätte, daß William Blake ein »gentleman« sei, der nie in seinem Leben »verflucht noch einmal« und »Gott verdamm mich« gerufen habe und die Sanftmut selber sei, dann wären die beiden Soldaten nicht so zornerfüllt in ihr Quartier gegangen, und die ganze Angelegenheit hätte sich im Sande von Felpham verlaufen. Sie waren schließlich, wie viele andere Menschen auch, der Meinung, daß ein Gauner kein Gauner sei, aber ein ganzes Nest voll sehr gefährlich.

Noch am gleichen Abend meldeten sie sich in Ordonnanzuniform bei ihrem Kapitän Leath. Kapitän Leath war ein älterer Bruder des Leutnant Leath, der vor einigen Wochen in Boulogne wegen Spionageverdachts verhaftet worden war. Als begeisterter Schmetterlingssammler wollte er seine Sammlung um einige schöne französische Exemplare vermehren. Besonderes Interesse hatte er an schön gezeichneten Nachtfaltern, und so geriet er in seinem Jagdeifer eines Nachts unglücklicherweise wegen eines besonders schön gezeichneten Falters in die Nähe einer schlafenden Feldbatterie. Er konnte seiner Leidenschaft nicht widerstehen, schlich dem Falter mit erhobenem Netz nach, mitten hinein in die schlafenden französischen Soldaten. Der Nachtfalter setzte sich auf die Lafette eines Geschützes, und ehe Leutnant Leath zuschlagen konnte, 199 wurde er von dem Wachtposten am Kragen genommen. Da aber Leutnant Leath tatsächlich die Hosentaschen voll Nacht- und Tagfalter trug und ein ganzes Jahr vorher durch häufige Besuche bei Professor Buffers gelernt hatte, wie sich ein richtiger Naturforscher benimmt, wenn ihm am Abend etwas Unangenehmes passiert, so ließ man ihn nach einiger Zeit wieder frei. Die toten Falter und das Schmetterlingsnetz wurden konfisziert, den Regenschirm, über dessen Zweckmäßigkeit Professor Buffers seine helle Freude gehabt hätte, bekam er nur aus dem Grunde zurück, weil der Direktor der Militärpolizei einen echt gallischen Witz über das französische und englische Klima daranknüpfen konnte. Der Leutnant ließ den Regenschirm nicht mehr aus der Hand, und als er, ein freier Mann, in Dover an Land stieg, küßte er den Heimatboden und dann den Griff seines Regenschirmes. – Kapitän Leath wußte, daß Spione sich ganz gerne mit Soldaten auseinandersetzen, aber nicht mit geschlossenen Fäusten, sondern mit offenen Händen, und wäre er heute in ganz nüchternem Zustand gewesen, dann hätte er den Dragoner Schofield und seinen Freund Cock, der kein Hahn, sondern ein Hühnchen war, das oft gerupft werden mußte, hinausgeworfen. Aber er hatte ausgerechnet an diesem Abend die Nachricht erhalten, daß sein Bruder als freier Mann nach 200 England zurückgekehrt sei, und er hatte ein oder zwei Glas über den Durst getrunken. In diesem Zustand wuchs seine Vaterlandsliebe ins Grenzenlose, und der sonst friedfertige Mann war bereit, alles, was ihm in diesem Zustande begegnete, ausgenommen seine Schwadron und ihre Pferde, über die Klinge springen zu lassen und als letzter sich selbst.

Als daher Schofield in strammer Haltung William Blake und in zweiter Linie dessen Frau, den Wirt Grinder und seine Familie, den Hausdiener John und noch eine ganze Reihe von andern Leuten als Spione denunzierte, zog Kapitän Leath seinen Degen und forderte die beiden Dragoner auf, ihn in die Wohnungen der Angeschuldigten zu führen.

Die beiden waren gerne dazu bereit, und Kapitän Leath folgte ihnen in verhältnismäßig guter Haltung, denn er konnte seinen Degen in eine Furche stecken, die von einem Wagen gebildet worden war, und indem er dieser Furche, beziehungsweise seinem Degen nachging, sagte er sich richtig, daß beide vereint ihn unbedingt zu einem Ziele führen müßten. Da nun die kühle Nachtluft seine Trunkenheit verminderte, so mußte er versuchen, seinen Zorn zu vergrößern, damit er sein blutiges Vorhaben ausführen konnte. Er rief deswegen den Soldaten Schofield an seine Seite und freute sich darüber, daß es ihm vorher 201 gelang, seinen Degen in die Scheide zu stecken.

»Was ist dieser Blake im Zivilberuf?« frug er.

»Militärmaler, Herr Kapitän!« antwortete Schofield.

»Was ist das?« frug Kapitän Leath erstaunt.

»Ein Mann, der die englischen Küsten und die englischen Häfen und die englischen Soldaten abmalt und die Bilder an den Kaiser Napoleon schickt, damit er weiß, wo er landen kann. Militärmaler ist dasselbe wie Miniaturmaler.«

»Ich will dir zeigen, was ein Miniaturmaler ist«, sagte gleich darauf mit einer so milden Stimme der Kapitän Leath, daß der Dragoner Schofield ganz erstaunt war, »komme nur noch ein wenig näher und bücke dich, mein Sohn.«

Leath öffnete seinen Uniformrock, öffnete sein Hemd und zeigte dem Dragoner Schofield eine sehr haarige Brust, auf der im Mondlicht, das sich extra zu dieser Szene eingestellt hatte, ein goldenes Kettchen schimmerte, an dem ein Medaillon hing.

Leath tastete lange an dem Medaillon herum und schien schließlich eine Springfeder oder so etwas ähnliches zu finden. Dann sagte er:

»Komm noch etwas näher, mein Sohn, und bücke dich noch mehr, denn du bist sehr groß! Das, was ich hier auf der Brust trage, das ist ein Medaillon, und jetzt springt das Medaillon auf, und in dem Medaillon 202 siehst du ein Bild. Das Bild stellt meine Großmutter dar, eine sehr energische Frau, Schofield, und dieses Bild nennt man ein Miniaturbild.«

»Das ist also ein Miniaturbild«, wiederholte der Kapitän, und im gleichen Augenblick bekam Schofield eine Ohrfeige, die ihn mehrere Meter von diesem Miniaturbild entfernt in den Straßengraben warf.

»Was doch für eine Kraft von einer Frau ausgeht, die vor fünfzig Jahren gestorben ist, das ist unheimlich«, sagte der Kapitän erstaunt, »jetzt komm her, Cock, du sollst dir das Miniaturbild auch einmal ansehen!« Da Leath die Konturen einer fliehenden Gestalt sah, vermutete er nicht mit Unrecht, daß der Dragoner Cock kein Interesse an dem Miniaturbild in dem Medaillon hatte, was gewiß eine Respektlosigkeit gegenüber seinem Vorgesetzten war.

Leath machte sich daher an die Verfolgung, aber der Mond hatte sich hinter die Wolken zurückgezogen, um einmal ordentlich lachen zu können, und verunmöglichte dem guten Kapitän das, was ihm gewiß Spaß gemacht hätte, was aber schließlich doch nur eine Wiederholung der ersten Aufführung gewesen wäre. Leath setzte sich daher auf einen Meilenstein an der Straße, und als der Mond schließlich doch nachsah, was der Hauptmann da unten eigentlich anfing, bemerkte er gerührt, daß Leath die helle Gelegenheit 203 ergriff, um einen Kuß auf das Medaillon zu drücken. Dabei kicherte er, was aber der Mond natürlich nicht hören konnte. Der Mond war also gerührt und dachte an Leutnant Leath, den jüngeren Bruder dieses Mannes, der am vorvorigen Abend, fast zur selben Zeit, erst den Boden Englands und dann den Griff seines Regenschirmes geküßt hatte. Der gute Mond vermutete, daß sich auf diesem Regenschirmgriff ebenfalls ein Bild der Großmutter befand. Er freute sich, daß die Soldaten Alt-Englands soviel sentimentaler waren als die auf dem Kontinent, und trat deswegen für länger als zwei Stunden ganz aus den Wolken heraus, damit Kapitän Leath noch immer etwas schwankend, aber sonst kreuzfidel, den Rückweg in sein Quartier antreten und ohne Unfall beenden konnte. 204

 


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