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Buchschmuck

Neunzehntes Kapitel.

Der aus Blut und Nebel gewobene Schleier hob sich in den folgenden Tagen nicht von den Augen Silvain Parmentiers. Wie ein Nachtwandler schritt der junge Bürger daher. Er sah und hörte nichts von den Vorgängen in Paris.

Nur das eine entsetzliche Bild stand vor seinem Innern und war nicht mehr auszulöschen: Der endlose Weg durch den Faubourg Saint Antoine, der Platz vor der Barrière du Tronc mit der grauenvollen Maschine, das blutbesudelte Gerüst, dessen Stufen die Bürgerin Louise Marteau, die ihn bis in den Tod geliebt und die er selbst verurteilt hatte, wie eine Verklärte emporgestiegen. Und dann ertönte immer und immer wieder jener gellende Schrei aus seinem eigenen Munde, dann sah er den hochaufspritzenden Strahl des Blutes, das rollende Haupt der Angebeteten, das der Knecht des Henkers zu den andern in den Korb mit den Sägespänen warf, und dann ward es stockfinstere Nacht vor seinen Blicken ... So waren seine ruhelosen Tage, so waren seine schlummerlosen Nächte gewesen.

Er verkroch sich wie ein verwundetes Tier in das Bureau der Conciergerie. Er achtete nicht darauf, daß hier Fouquier Tinville schon seit einigen Tagen nicht mehr seines blutigen Amtes zu walten schien, daß er den »Unermüdlichen« seit jener Stunde, da er sich von hier zu der verhängnisvollen Sitzung in den Saal des Revolutionstribunals begeben, nicht mehr gesehen hatte.

Stumpfsinnig, ohne den Inhalt des vor ihm liegenden Schriftstücks begreifen zu können, brütete Silvain Parmentier hier über den Akten, Anklageschrift auf Anklageschrift, die sich zu Bergen und Bergen gehäuft hatten, gingen auch in diesen entsetzlichen Tagen durch seine Hände. Aber sie sagten ihm nichts mehr, sein Gehirn war verdorrt, seine Fantasie ausgeschöpft, sein Herz erstorben, sein ganzer innerer Mensch tot. Nur der Körper lebte noch und übte mechanisch seine Funktionen aus.

War er verrückt? Stundenlang saß er mutterseelenallein in dem Bureau der Conciergerie und konnte sich gar keine Rechenschaft darüber geben, warum er denn eigentlich mutterseelenallein hier saß ... Das Schreiberheer des großen »Unermüdlichen« hatte sich verlaufen ... In diesen drei Tagen seit dem Tode der Bürgerin Louise Marteau schien es mit einem Male, als stünde die Blutmaschine wie auf Kommando still. Oder feierte sie nur? Um noch einmal mit erneuten Kräften arbeiten, um zu einer letzten Anstrengung ausholen zu können, bevor sie endgültig zur Ruhe kam?

Silvain Parmentier wußte es nicht. Er hatte nicht einmal die Kraft, Erkundigungen danach einzuziehen und darüber nachzudenken ... und doch lagerte in diesen drei entscheidungsvollen Tagen die entsetzliche Schwüle und die atembenehmende Ruhe, die dem Sturmgewitter voranzugehen pflegen, über Paris.

»Hier findet man Euch in diesen Tagen, Bürger Silvain Parmentier, hier in dem Bureau der Conciergerie?«

Erstaunt blickte Silvain von dem Aktenheft auf, dessen Seiten seine Finger gerade wieder mechanisch umblätterten, ohne daß er dazu imstande gewesen wäre, auch nur eine einzige Zeile zu lesen.

Es war das häßliche, pockennarbige Gesicht Chien de Bouchers, das sich über ihn neigte.

Einen Moment packte ihn die Wut. Momentan erinnerte er sich daran, daß es ja dieser Mensch gewesen, der Tourlan und Rodeur dem öffentlichen Ankläger denunziert hatte, daß er selbst sich angeboten, die Rue Saint Honoré nach dem Girondisten zu sondieren und daß er in der Begleitung dieses Ungeheuers den nun Geköpften in der Kammer der eigenen Geliebten aufgestöbert hatte!

Er war drauf und dran, gegen den die Hand zum Schlag zu erheben. Aber die Kraft verließ ihn, seine Hand sank schlaff herab. Es hatte nur den Anschein, als ob er nach seiner eigenen Stirn griffe, um die fliehenden Gedanken mühsam zusammenzuhalten.

Geistesabwesend starrte Silvain den Helfershelfer der Schreckensherrscher an.

»Was führt Euch zu mir, Chien de Boucher,« stammelte er endlich völlig fassungslos.

»Mein Weg ging zufällig am Justizpalast vorüber,« lautete die Antwort Chien de Bouchers. »Da dachte ich Eurer und kam herauf. Doch fast war ich sicher, Euch in diesen Tagen nicht mehr hier oben zu finden, Bürger Silvain Parmentier!«

Silvain hatte sich noch immer nicht gefaßt.

In sinnloser Verwirrung kamen die Worte aus seinem Munde, so daß Chien de Boucher für den Verstand des jungen Bürgers zu fürchten begann.

»Löscht sie aus, Chien de Boucher, löscht sie aus ... ich bitte Euch darum!«

»Was soll ich auslöschen, Bürger Silvain Parmentier?«

»Die rote Laterne, die dort unten im Hof der Conciergerie noch brennt!«

Silvain Parmentier war an das Fenster getreten. Er deutete durch die eisernen Gitter hinab in den Hof und sagte noch einmal:

»Löscht sie aus!«

»Aber es ist ja heller Tag, Bürger Silvain Parmentier,« erwiderte Chien de Boucher, den Ton des Schreckens vor dem hier hell aufflackernden Wahnsinn in seiner Stimme ... »dort unten im Hof brennt gar keine Laterne, Ihr irrt Euch bestimmt, Bürger Silvain Parmentier!«

Verständnislos starrte Silvain ihn an.

»Wenn Ihr die rote Laterne nicht löschen wollt, Chien de Boucher, dann nehmt wenigstens das Tuch dort an der Wand und trocknet mir die Hände, ich fühle nicht die Kraft in mir, mir meine Hände selber zu trocknen ... und meine Hände triefen von Blut! Kommt, kommt mit hinaus aus diesem schrecklichen Hause!«

»Ja, kommt,« mahnte jetzt auch Chien de Boucher. »Das ist nichts für Euch hier in diesem stickigen Raum, kommt, schaut Euch Paris an! Ich wette, der Hunger spricht aus Euch, Ihr habt gewiß tagelang nichts gegessen?«

Da fiel es Silvain Parmentier ein, daß er in der Tat seit jenem Gang nach der Barrière du Tronc keinen Bissen mehr über die Lippen gebracht hatte und daß seitdem drei Tage, wenn nicht mehr, verflossen sein mußten.

»Was habt Ihr denn nur in diesen letzten Tagen getrieben, Bürger Silvain Parmentier,« vernahm er da wieder die Stimme Chien de Bouchers.

»Ich weiß es nicht ... Ich saß hier und las und las ... Stunden und Stunden, Tage und Tage ... aber kein Mensch ist gekommen. Nicht Fouquier Tinville und nicht einer seiner Schreiber, und ich saß hier ... und las und las ...«

»Und habt nichts von alledem gehört, was sich in diesen Tagen in Paris ereignet hat ... nichts von dem, was augenblicklich geschieht?«

»Geschieht etwas, Chien de Boucher?«

Die geistige Umnachtung schien schon wieder aus den Worten Silvains zu sprechen.

Aber Chien de Boucher achtete nicht weiter darauf. Denn er brannte darauf, einem Menschen, der noch nichts von seinen furchtbaren Neuigkeiten wußte, diese mitzuteilen, und wenn dieser Mensch auch nur ein armer Narr gewesen wäre, wie Silvain Parmentier einer in dieser Stunde war.

»So vernehmt denn, Bürger Silvain Parmentier,« sagte er, »und hört mir aufmerksam zu!«

Entgeistert, mit weitaufgerissenen Augen starrte Silvain Chien de Boucher an. Und allmählich während dessen Erzählung gewann es den Anschein, als ob langsam die Erinnerung in das Gehirn des Gemarterten zurückkehre, als ob der von dem Anblick des Blutes und dem Hunger Geschwächte seine Gedanken und Vorstellungen allmählich wieder sammle.

»Sie sind auf dem Stadthaus, Bürger Parmentier!«

»Wer ist auf dem Stadthaus, Chien de Boucher?«

»Der große ›Unbestechliche‹ und seine letzten Anhänger!«

»Was soll das heißen, seine letzten Anhänger?«

»Die Jakobiner, die ihm noch treu geblieben sind, Bürger Silvain Parmentier! Wißt Ihr denn gar nichts? Der Konvent hat sich gegen ihn erklärt. Der Konvent hat ihm den Prozeß gemacht. Aber die Gefängnisse weigern sich, Maximilien Robespierre und den Seinen ihre Tore zu öffnen. Die Jakobiner haben sie im Triumph durch die Stadt geführt. Jetzt sind sie auf dem Stadthaus versammelt und niemand weiß in dieser Stunde, was er eigentlich anfangen soll, ob Robespierre die Welt regiert oder der Konvent!«

Wie der Blitzstrahl der letzten Erkenntnis fuhren diese Worte Chien de Bouchers durch das arme Gehirn Silvains.

Er ballte beide Hände.

»Die Schurken,« knirschte er.

Dann trat er an den Schrank, der in dem Bureau der Conciergerie stand, öffnete dessen Tür und entnahm ihm den Säbel, den er einst als Soldat der Nationalgarde getragen hatte, sowie die Pistole, dir einst in den Kämpfen drunten am Rhein in längst vergangenen Tagen seine Waffe gewesen war.

»Kommt, Chien de Boucher,« sagte er.

»Wo wollt Ihr hin, Bürger Silvain Parmentier?«

»Auf das Stadthaus ... an seine Seite ... Chien de Boucher!«

»Das wird nicht angehen!«

»Und warum nicht?«

»Barras hat vom Konvent den Befehl, das Stadthaus mit Gewalt zu nehmen, mein bester Bürger Silvain Parmentier! Es ist der letzte Kampf der Verzweiflung, den man dort führt. Dulac kommandiert einen Teil der Truppen, hört Ihr dort draußen? Hört Ihr denn nichts?«

Vor dem Justizpalast wurden die Rufe der Menge laut.

»Nieder mit den Tyrannen! Es lebe der Konvent! Nieder mit Robespierre! Wir wollen seinen Kopf? Gebt uns den Kopf von Henriot! Gebt uns Lebas Saint Just, Couthon ...« so scholl es den beiden weiter Entfernung von den Straßen entgegen.

Der Lärm schien wie das Brausen des brandenden Meeres, er wuchs bald zur tosenden Welle, die sich den festen Mauern des Justizpalastes brach.

»Diese Verräter,« schrie Silvain, »diese Verräter ... Kommt, Chien de Boucher, kommt!«

Er vermochte sich kaum auf seinen Beinen aufrecht zu halten. Der Hunger nagte in seinen Gedärmen, die Schwäche drohte ihn vollständig zu überwältigen. Ein Meer von Nebel und Blut wogte da wieder vor seinen Augen. Aber die Leidenschaft und der Fanatismus, die ihn da wieder bei der Nachricht, daß man den großen »Unbestechlichen« verraten habe, gepackt hatten, überwanden in dieser Stunde auch jede Schwäche seines Körpers.

»Kommt, Chien de Boucher, kommt!«

»Seid Ihr denn rasend, Bürger Silvain Parmentier? Wo wollt Ihr denn hin?«

»Auf die Place de la Grève, auf das Stadthaus, Chien de Boucher, ihn mit meinem Leibe decken!«

»Es gibt keinen Durchgang nach der Place de la Grève. Das Stadthaus ist umstellt. So hört mich doch, Silvain Parmentier. Barras wird es mit den Truppen des Konvents nehmen. So habt doch Vernunft. Alle sind sie von ihm abgefallen!«

»Aber ich nicht, Chien de Boucher,« schrie jetzt Silvain Parmentier. Ich nicht! Wagt Ihr es, Euch mir in den Weg zu stellen? Ich kenne eine Gasse, durch die ich nach der Place de la Grève gelange. Es gibt ein Türchen im Stadthaus, das die Halunken nicht gefunden haben, durch das ich ihm den Weg in die Freiheit zeigen will. Kommt, Chien de Boucher, kommt!«

»Keinen Schritt mit Euch, Bürger Silvain Parmentier!«

»Feigling!«

Chien de Boucher lächelte kühl.

»Die Geschäfte der Republik sind im Rückgang begriffen, mein Lieber,« sagte er in einem unverschämten Ton, »ich halte mich heute an den Konvent, und morgen, na, morgen, wir werden ja sehen ... am Ende ist der Tag nicht mehr fern, an dem ich wieder Hofjuwelier in Versailles werden kann ... Gehabt Euch wohl, Bürger Silvain Parmentier ... Ich kann Euch nicht vor dem Verderben schützen, in das Ihr selbst zu rennen beliebt!«

Wie durch ein Wunder hatte Silvain Parmentier sich selbst wiedergefunden. Alle seine Kräfte, die die Schrecknisse der letzten drei Tage lahm gelegt hatten, kehrten wie durch Zauberspruch noch einmal zurück. Er spürte nicht mehr den Hunger in seinen Gedärmen, die Schwäche schien ihn zu fliehen, die wilde Leidenschaft für die Sache der Freiheit, für die des großen »Unbestechlichen«, der Fanatismus seiner Tage packten ihn noch ein letztes Mal und trugen ihn auf starken Flügeln über alle Hindernisse hin.

Den Säbel des Nationalgardisten umgeschnallt, die Pistole des Rheinarmeesoldaten in der Tasche seines Schreiberrockes, drückte er sich durch ein Gewirr von Gassen und Gäßchen, durch Winkel und Höfe, die er genau kannte, und vermied so die von den rasenden Pöbelhaufen und den Truppen des Konvents angefüllten Straßen, die nach der Place de la Grève führten. Wieder und immer wieder drang der Ruf der Verräter, die den Sieg schon in ihren Händen zu halten schienen, an sein Ohr:

»Es lebe der Konvent!«

Und dieser Ruf trieb ihn vorwärts.

Endlich hatte er das kleine Türchen erreicht, das durch den Torgang eines alten Krämerhauses die Verbindung mit dem großen Hof des Stadthauses herstellte.

Er hatte richtig vermutet.

In der allgemeinen Verwirrung des Aufruhrs hatte niemand an dieses Türchen gedacht.

Kein Soldat war davor postiert, wenn er also den großen »Unbestechlichen« und dessen Freunde noch rechtzeitig fand, dann konnte er ihnen durch dieses Schlupfloch den Weg aus dem von den Soldaten des Konvents umzingelten Stadthaus zeigen.

Auf der Wendeltreppe, die er benutzte, drangen wieder die Rufe der Verräter an Silvains Ohr:

»Es lebe der Konvent!«

Und seltsam ... der Schleier aus Blut und Nebel, der in diesen drei Tagen vor seinen Augen gelegen, hatte sich wie durch ein Wunder des Himmels gehoben. Er hatte nur noch den einen Willen und den einen Gedanken, in den Saal zu Maximilien Robespierre und dessen Getreuen vorzudringen und ihnen den Weg der Rettung aus dem Stadthaus in die Gassen von Paris zu zeigen.

Unheimliches Stimmengewirr, schwere Schritte der Soldaten hallten ihm jetzt von der Haupttreppe des Stadthauses entgegen.

Sein Herz schlug zum Zerspringen. Kam er zu spät? War das Ungeheure schon geschehen? Hatten die Verräter sich den Eingang in das Stadthaus schon verschafft? Wagte man es, die Tür zu sprengen, hinter der sich der große »Unbestechliche« mit seinen letzten Freunden verschanzt hatte ... und er wußte noch nicht einmal, in welchem der Säle das war!

Aber die namenlose Angst, trotz allem zu spät zu kommen, wies Silvain Parmentier den richtigen Weg. Der hohe Bogengang, durch den er sich schleichend den vorderen Räumen des Stadthauses, die nach der Place de la Grève gingen, näherte, wurde heller und heller.

Plötzlich und unvermittelt stand er auf der Treppe, die hinauf nach den Sälen führte. Hier mußte der große »Unbestechliche« mit seinem Anhang sein!

Drunten sah Silvain die Türen des Stadthauses, sie waren verrammelt. Sie waren geschlossen. Aber kein Mensch war weit und breit zu sehen. Oben in den Sälen schien man also noch den letzten Ansturm der Truppen des Konvents zu erwarten.

Da schoß das Blut zu dem Herzen Silvain Parmentiers. Er lauschte. Die Totenstille, die eine ganze Weile droben in den Sälen des Stadthauses und drunten auf der Place de la Grève geherrscht hatte, wurde jäh unterbrochen. Das waren die Kolbenschläge der Soldaten, die wie das Anklopfen des Boten des jüngsten Gerichts wider die schweren Eichentüren des Stadthauses pochten.

Atemlos flog Silvain Parmentier die Treppe hinauf. Nun stand er vor der verschlossenen Haupttür des großen Saales. Er wußte nicht, was er anfangen, wie er sich bemerkbar machen sollte. Und noch ehe er einen Ausweg gefunden hatte, vernahm er drunten ein gewaltiges und unheimliches Krachen.

Die schweren Eichentüren des Stadthauses gaben unter den Axtschlägen der Nationalgardisten nach.

Ein Offizier und etwa dreißig Mann, Bajonett auf dem Gewehr, erschienen jetzt auf der Treppe.

Silvain Parmentier erkannte diesen Offizier. Er hatte ihn des öfteren bei Fouquier Tinville gesehen.

Es war Dulac ... Agent des Überwachungskomitees.

Also hatte Chien de Boucher recht.

Der Konvent und alle seine Mitglieder, sämtliche Behörden der einen und unteilbaren Republik hatten sich gegen den großen »Unbestechlichen« erklärt.

Dulac an der Spitze, stürmten die Nationalgardisten die große Treppe hinauf.

Sie wiesen Silvain Parmentier den Weg.

Der hatte sich hinter eine der großen Säulen verkrochen, die hier die Decke des Treppenhauses trugen, und sah voll bleichen Schreckens und Entsetzens zu, wie das Verhängnis Schritt für Schritt den Gang seiner Vollendung nahm.

Es war die Salle de l'égalité, vor deren Tür die Soldaten Halt machten.

Wie ein Blitz durchfuhr da ein Gedanke den Kopf Silvains. Dieser Saal hatte ja noch eine kleine Tür, die mit dem Zimmer des Maires in Verbindung stand. War diese nicht verschlossen, dann gab es für ihn noch eine letzte Möglichkeit, vor den Soldaten in den Saal einzudringen und den »Unbestechlichen« auf diesem Wege vielleicht noch zu retten. Auf allen Vieren kroch Silvain, von den Soldaten und deren Führer unbemerkt, durch den halbdunklen Bogengang. Tastend erreichte er die Tür, die in das Zimmer des Maires führte. Kein Mensch zeigte sich hier. Die Tür in den Saal stand offen ... Silvain kroch weiter und weiter. Vielleicht kam er noch rechtzeitig, ehe die Soldaten die große in die Salle de l'égalité führende Tür gesprengt hatten.

»Bürger ...« rief er.

Da sah er wie die Mündungen zweier Pistolen auf ihn gerichtet waren. Er hob die Hand!

»Bürger!«

Zwei Schüsse krachten unmittelbar hintereinander.

Lebas und Couthon hatten sie abgefeuert, den großen »Unbestechlichen« zu schützen. Und in dem gleichen Augenblick vernahm man die Kolbenschläge der Soldaten an der großen Tür.

Und Silvain Parmentier sah und hörte das alles, obwohl er zu Tode verwundet, in seinem rinnenden Blute auf dem Boden der Salle de l'égalité lag. Sein Auge und sein Ohr hielten noch eine Weile stand, den Untergang der großen Sache der Freiheit, für die er sein Leben und seine Liebe zum Opfer gebracht hatte, in sich aufzunehmen.

Wie das Pochen des Weltgerichtes drangen die Kolbenschläge der Nationalgardisten an sein Ohr und sein brechendes Auge wurde der stumme Zeuge des Unerhörten, was nun in wenigen Minuten geschah.

Einer der Freunde trat an den großen »Unbestechlichen« heran.

»Stirb wie ein Römer, Maximilien,« sagte er und reichte ihm die geladene Pistole. »Ich beschwöre dich, stirb!«

Aber noch immer zögerte der große »Unbestechliche«.

Da richtete der Freund die zweite Waffe, die er in seiner Rechten hielt, wider die eigene Brust.

Ein Schuß krachte.

Entseelt sank er in die Arme eines dritten, der dicht an seiner Seite stand.

»Gib dir den Tod, großer Unbestechlicher,« hauchten Silvain Parmentiers erkaltende Lippen. Aber seine Stimme ging wie der Hauch einer Klage durch die Salle de l'égalité und traf nicht mehr das Ohr des vielbewunderten, für den er jederzeit sein Leben geopfert hätte.

Die Fußtritte und die Kolbenschläge dröhnten wider die Tür.

Da stürzte einer der Männer an das hohe Fenster des Saales. Ein Ruck und die Flügel öffneten sich, ein Schwung, ein Schrei aus aller Munde. Der Mann fiel und schlug drunten auf dem Pflaster des Hofes nieder. Ein leises Wimmern drang noch herauf.

Es wurde überdröhnt von dem Krachen der großen Tür, die jetzt nachgab. Ihre hohen Flügel fielen donnernd auf den Boden des Saales. Dulac mit seinen Gardisten drang ein.

Wieder ein Schuß.

Silvain Parmentier drohten die Sinne zu schwinden.

Er preßte die Hand auf seine brennende Todeswunde, als ob er so den Strom seines verrinnenden Lebensblutes noch einmal aufhalten könnte, aufhalten, bis er das Ende der großen Sache der Freiheit selbst mitangesehen hatte, das Ende der Sache, der er alles geopfert hatte und an der er schließlich mitverblutet war.

Niemand achtete auf ihn. Wie ein wertloses Bündel lag er am Boden in der Ecke des Saales, dicht neben der kleinen Tür, durch die er vorhin eingetreten war ... und er schaute ... er konnte noch schauen ... ehe die Schatten der Todesnacht sich für immer auf seine Augen senkten.

Er sah, wie einer der eintretenden Männer einen der am Tisch sitzenden packte. Zwei Soldaten schleppten ihn an das offene Fenster, durch das schon jener andere seinen Weg genommen hatte, und stürzten ihn mit den Worten:

»Verrecke, Saufaus, das Schafott ist für dich gut!« ... in den Hof.

Und jetzt dröhnte eine Stimme wie des Sinai Donner an Silvain Parmentiers Ohr.

»Tod dem Tyrannen!« kam es aus dem Munde Dulacs.

»Welches ist der Tyrann,« schrien die Soldaten wie aus einer Kehle.

»Dieser da,« rief da eine Stimme und eine Hand deutete auf den großen »Unbestechlichen«.

Wieder krachte ein Schuß.

Blutbedeckt brach Maximilien Robespierre zusammen. Sein Kopf sank auf das vor ihm auf dem Tisch liegende Aktenstück ... eine Proklamation an sein Volk ... die er soeben noch verfaßt hatte und für deren Unterzeichnung es schon ... zu spät gewesen war!

Das blutüberschüttete Gesicht des großen Apostels der Freiheit war das letzte, was Silvain Parmentier sah.

Nun wurde es schwarz vor seinen Augen. Mit eisernen Krallen umklammerte der Tod sein brechendes Herz.

Die Salle de l'égalité, deren erhabenem Namen einer seiner großen Träume gegolten, drehte sich jetzt in wildem Tanze vor seinem Auge. Allein der Schleier aus Nebel und Blut sank jetzt wieder über sein Gehirn. Ein Seufzer löste sich aus seinem Munde, ein von niemanden gehörter letzter Seufzer, dann lief ein Zucken durch seinen Körper, sein Haupt sank auf die blutbedeckte Brust. Krampfhaft tastete seine Hand nach dem Säbel, den er einst zu Ehren der einen und unteilbaren Republik gezückt hatte, aber die Hand fand den Säbel nicht mehr ... Es war Nacht! Es war vorüber.

Der Traum der großen Sache der Freiheit war ausgeträumt.

Silvain Parmentier war tot.

Und draußen auf der Place de la Grève wurde es jetzt lebendig. »Es lebe der Konvent! Es lebe der Konvent!«

Wie des Meeres wogende Flut drangen diese Rufe an die Mauern des Stadthauses. Barras führte seine Truppen heran.

Die Salle de l'égalité glich einem Schlachthaus, in dem der Fleischer seines Amtes gewaltet hat. Sie troff von Blut und die Soldaten Dulacs wateten bis an die Knöchel durch den purpurenen Saft, der den Leibern derer entströmte, die in den letzten Monaten Tausende und Abertausende auf das Schafott geschickt hatten.

Ihrer harrte die grausige Maschine, noch ihrer, um dann endlich zum Stillstand zu kommen.

Aber Silvain Parmentier sah davon nichts.

Das Stadthaus war von den Truppen des General Barras erfüllt.

Der große »Unbestechliche« und seine Getreuen, die 80 Mitglieder der Stadtverwaltung, wurden in dieser Stunde die Gefangenen des Konvents. Ein ganzer Zug!

Barras führte ihn in Kolonnen, im Triumphe durch Paris ... nach den Tuilerien ...

Es war die fünfte Abendstunde des 8. Thermidor, als die Spitze des Zuges den Eingang der Tuilerien erreicht hatte.

Und Silvain Parmentier sah das nicht.

Einer der Nationalgardisten hatte in der Salle de l'égalité seine Leiche gefunden.

Mit Recht hatte er auch ihn für einen der letzten Getreuen des großen »Unbestechlichen« gehalten.

Er zog seinen Säbel und hieb das Haupt der Leiche vom Rumpfe ab. Er spießte den Kopf des jungen Schwärmers für die große Sache der Freiheit auf sein Bajonett und trug ihn so hinter der Kolonne der Gefangenen im Triumphe durch die Gassen von Paris.

»Es lebe der Konvent!« ... So tönte es diesem Haupte entgegen, das als eines der letzten für Maximilien Robespierre gefallen war.

Im Hofe des Stadthaufes lag ein Haufe Mist. Der Rumpf Silvain Parmentiers und der Leib Henriots lagen mitten unter diesem Schutt und Schmutz.


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