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Buchschmuck

Zehntes Kapitel.

»Fouquier Tinville braucht einen Schreiber!«

Mit diesen Worten trat an einem der ersten Tage des Monats Pluviose des Jahres II ... das war also im Februar 1794 ... Chaumette an die Seite des Bürgers Silvain Parmentier, der wieder einmal, in tiefes Grübeln versunken, vor dem Kamin in dem Refektorium des ehemaligen Franziskanerklosters saß.

»Fühlt Ihr Euch diesem Posten gewachsen, Bürger Parmentier?«

»Und ob ich mich ihm gewachsen fühle, Bürger Chaumette,« lautete Silvains rasch gegebene Antwort. »Wenn ich ganz offen sein soll, es reut mich schon lange, den Rock der Republik ausgezogen zu haben und hier in Eurem Klub der Cordeliers in Untätigkeit zu verharren. Was ist denn hier viel los, sagt es selbst, Bürger Chaumette! Mit Theorien kommen wir nicht weiter, mit den Lehren von der Vernunft und dem Atheismus auch nicht, mein Bester! Männer der Tat verlangt die eine und unteilbare Republik, Chaumette! Und darum ist mir der Platz an der Seite Fouquier Tinvilles gerade recht. Er ist der einzige, der in Paris wirklich handelt!«

Chaumette lächelte überlegen.

»Mein bester Bürger Parmentier,« sagte er dann langsam und jedes Wort betonend, »das will Euch so scheinen. Und doch ... Fouquier Tinville und sein Revolutionstribunal, der Wohlfahrtsausschuß und der Konvent, sie alle sind doch schließlich nur der Arm, der unsere Gedanken zur Ausführung bringt. Das Gehirn, dem alle Gedanken entspringen, findet Ihr in der Kommune und hier im Klub der Cordeliers ... Prache, Hébert und Chaumette ... so nennt sich dieses Gehirn!«

»Und Robespierre und Danton und Collot d'Herbois und Saint Just, Bürger Chaumette?« fragte da Silvain und sah den, der ihn einst in die Lehren der Cordeliers eingeführt hatte, fast mitleidig an.

»Ihre Tage sind gezählt, mein bester Parmentier, wenn wir nicht mehr mit ihnen gehen wollen,« erklärte Chaumette. »Jawohl, gezählt! Die Schale der Macht beginnt sich zu neigen und ihre schwerere Seite sinkt gewaltig in der Richtung des Stadthauses nieder. Der Maire von Paris und seine Getreuen halten jetzt das Heft in den Händen, der Konvent und das Überwachungskomitee und der Wohlfahrtsausschuß mitsamt dem Revolutionstribunal und dem famosen Fouquier Tinville, der es noch auf ein halbtausend Todesurteile an einem Tage bringen wird, wenn wir ihm das befehlen, sie alle tanzen nach unserer Pfeife. Auch Danton und Robespierre werden das über kurz oder lang einsehen müssen, wenn nicht, dann sind auch sie verloren. Danton traue ich schon solches zu. Aber Robespierre ist denn doch viel zu klug. Er ist schlau wie ein Fuchs!«

»Er ist der einzige, vor dem man in diesen Tagen Achtung empfinden kann, Bürger Chaumette,« sagte jetzt Silvain in festem Tone. »Ich stelle mich also in seine Dienste, wenn ich den Posten bei Fouquier Tinville annehme. Bringt mich zu ihm in die Conciergerie!«

»Das will ich gerne tun, Bürger Parmentier. Aber unter einer Bedingung!«

»Unter welcher, Bürger Chaumette?«

»Ihr müßt mir Ersatz für Euch schaffen!«

»Ersatz für mich, Bürger Chaumette?« Silvain lachte. »Ich möchte doch wissen,« fuhr er dann fort, »was Ihr für mich für einen Ersatz braucht, wenn ich in der Conciergerie die Akten Fouquier Tinvilles führe? Ich habe hier ja sowieso den lieben, langen Tag nichts zu tun gehabt und habe auf der Bärenhaut gelegen. Das bißchen Herumschnüffeln nach Verdächtigen und die Propaganda für Eure Ideen, das kann man doch kaum als Arbeit für einen gewesenen Soldaten bezeichnen, der im Feuer der Schlachten und am Fuß des Schafotts gestanden hat!«

»Es wird aber Arbeit geben, Bürger Parmentier, wenn Ihr erst in der Conciergerie bei Fouquier Tinville seid!«

»Wie meint Ihr das, Bürger Chaumette?«

»Wie ich das meine? Lange wird es nicht mehr dauern, mein Freund! Robespierre wird sich entscheiden müssen, die Mehrheit des Konvents und der Wohlfahrtsausschuß werden sich entscheiden müssen! Es gilt jetzt, Freund! Danton oder uns! Ihn oder uns wird man zum Opfer bringen! Es ist die Frage, ob der Kompromiß oder die Sache der Freiheit und der Gerechtigkeit den Sieg davontragen wird! Die Frage lautet für Robespierre: Danton und der Konvent ... oder Hébert, Chaumette und die Kommune!«

»Ihr seid ganz von Sinnen, Bürger Chaumette,« sagte Silvain in kühlem Tone. »Glaubt Ihr denn wirklich, daß sich der Unbestechliche am Gängelband wird leiten lassen, glaubt Ihr das denn wirklich, nachdem auf seinen Antrag der Konvent, die Klubs der Frauen abgeschafft, nachdem er Euch selber gezwungen hat, gegen Rose Lacombe und deren Anhang zu reden? Er wird Frankreich und Paris seinen Willen aufzuzwingen wissen, ohne Danton und den Konvent und ohne Euch und die Kommune! Und wenn Ihr alle beide dabei zu Fall kommen solltet, die auf der Rechten und die auf der Linken ..., denn er ist unbestechlich!«

»So haltet Ihr ihn für den Mittelpunkt von Paris und mithin für den Mittelpunkt der Welt, Bürger?«

»Dafür halte ich Maximilien Robespierre, Bürger Chaumette!«

Chaumette biß sich auf die Lippen. Er erwiderte kein einziges Wort mehr. Er wußte nur zu gut, wie recht Silvain Parmentier hatte, und war erstaunt darüber, mit welchem Scharfblick der junge Bürger die verwickelten Verhältnisse der politischen Situation durchschaute. Es war freilich klar, was den Robespierre feindlichen Parteien bevorstand. Das sagte sich auch Chaumette. Danton und die Seinen waren dem Machthaber verhaßt, weil sie drauf und dran zu sein schienen, mit dem Gewesenen zu paktieren und so die große Sache der Gerechtigkeit und der Freiheit zu verraten, und die »Enragés«, wie sie Robespierre kurzerhand nannte, wühlten die Masse des Volkes gegen die Regierung auf. Denn in der Tat stand nur noch der Pöbel von Paris auf ihrer Seite. Die Masse des französischen Volkes begehrte Ruhe und der Blutgeruch des Revolutionsplatzes, der die Rue Saint Honoré und die Champs Elysées verpestete, hatte für die Mehrheit längst seinen Reiz verloren, nachdem das Haupt der Tyrannen gefallen war. Denn dieser Blutgeruch entwertete die Häuser der von ihm durchdrungenen Straßen und das wollten die Besitzer und die Inhaber der Läden nicht.

Das alles sagte sich Chaumette, als er den jungen Bürger Parmentier, der jetzt Fouquier Tinvilles rechte Hand werden wollte und sie ... das glaubte der Führer der Cordeliers mit Recht annehmen zu dürfen ... auch werden würde, betrachtete und seine erste Frage wiederholte:

»Habt Ihr für mich einen Ersatz, Bürger, einen Mann, den ich an Eurer Stelle im Dienste unserer Sache verwenden kann? Ihr spracht doch vorhin selber von Euren Schnüffeleien in den Gassen von Paris. Ich sollte meinen, bei diesem Geschäfte könntet Ihr wohl einem solchen begegnet sein?«

»Ich stand gestern auf der Place Grève, Bürger!«

»Nun, und?«

Gespannt waren Chaumettes Augen auf den jungen Bürger Silvain Parmentier gerichtet.

»Da kam ich durch Zufall mit einem Mann ins Gespräch, der dort gebratene Kastanien feilhält.«

Chaumette lachte.

»Auch ein Geschäft in diesen Tagen, Bürger. Aber das Métier mißfällt mir nicht. Am Ende hat ein solcher Übung und vermag die gebratenen Kastanien für andere aus dem Feuer zu holen! Meint Ihr nicht, Parmentier?«

Silvain blickte düster vor sich hin.

»Das weiß ich nicht, Bürger Chaumette!«

»Aber weiter ... Wie kamt Ihr mit dem Mann, der auf der Place Grève die gebratenen Kastanien feilhält, ins Gespräch?«

»Als Schnüffler natürlich. Ich hatte den Mann schon seit einigen Wochen beobachtet. Ich hatte mich nach ihm erkundigt, Bürger Chaumette. Ich hielt ihn für einen verkappten Royalisten, dem sein Geschäft nur als Vorwand dient, um sich in Paris aufhalten und mit dem Ausland, vor allem mit England, konspirieren zu können.«

»Wie kamt Ihr auf den Gedanken, Bürger Parmentier?«

»Sehr einfach! Ein solches Geschäft nährt doch seinen Mann nicht und der Mann lebt doch in Paris ... er muß also andere Einnahmequellen haben!«

»Sehr richtig!«

»Und da war ich der Meinung, daß er vom Ausland her unterstützt werde.«

»Das war ein richtiger Schluß ... Und weiter! Traf das zu?«

»Nein, Bürger Chaumette. Ich hatte mich getäuscht. Der Mann scheint wirklich der Republikaner, als den er sich auch ausgibt!«

»Woraus schließt Ihr das, Bürger Parmentier, und wer ist dieser Mann?«

»Es ist ein Maler mit Namen Aristide Poignard!«

»Schon der Name macht mir den Mann sympathisch, Bürger Parmentier,« lachte da Chaumette. »Was habt Ihr weiter über ihn in Erfahrung gebracht? Und woraus schließt Ihr, daß er kein Royalist ist? Bezieht er die 40 Sous von der Regierung zur freien Ausübung seiner politischen Geschäfte?«

»Er hat sie eine Zeitlang bezogen, Bürger Chaumette! In den letzten Wochen ist er aber nicht wieder erschienen, um sein Geld abzuholen. Er haust in einer elenden Wohnung in der Rue Saint Roch zusammen mit seiner Geliebten, die früher regelmäßige Besucherin der Cafés des Palais Royal war, einer gewissen Fleurette Bouchard, die auch mit Rose Jacombe bekannt gewesen ist. Die Schande dieser Dirne ist jetzt die einzige Einnahmequelle des Aristide Poignard, abgesehen von den Sous, die er mit seinen Kastanien verdient.«

»Ich kann mich Euer Ausdrucksweise nicht anschließen. Bürger Silvain Parmentier,« verwies Chaumette streng. »Die Liebe ist frei unter der einen und unteilbaren Republik, das wißt Ihr. Seit dem Vendemiaire des Jahres l kann also von einer Schande nicht mehr die Rede sein.«

»Ich lasse mich belehren, Bürger Chaumette!«

»Und woher wißt Ihr, daß dieser Aristide mit dem schönen Zunamen Poignard kein Royalist ist, trotz allem kein Royalist, Bürger Parmentier?«

»Ich habe diesen Schluß aus seiner früheren Tätigkeit gezogen, Bürger Chaumette!«

»Und worin bestand diese seine frühere Tätigkeit, Bürger Parmentier?«

»Er war während des Monats Nivose Besitzer eines Polichinellentheaters auf der Place Grève, in dem er den »Untergang des Tyrannen« nach selbstverfaßten Versen zusammen mit der Bürgerin Fleurette Bouchard gespielt hat!«

»Davon habe ich gehört. Die Komödie hat damals gewaltigen Zulauf gehabt.«

»Das hat man auch mir erzählt, Bürger Chaumette, bis das Volk wieder etwas anderes sehen wollte. Der Maler behauptet, daß das schlechte Wetter des Monats Nivose sein Geschäft ruiniert habe.«

»Und könnte diese Farce mit dem ›Untergang des Tyrannen‹ nicht eine Finte sein, Bürger Parmentier, die es einem verkappten Royalisten desto leichter macht, sich in Paris aufzuhalten?«

»Auch daran habe ich gedacht, Bürger Chaumette, aber das glaube ich nicht!«

»Warum glaubt Ihr das nicht, Bürger Parmentier?«

»Weil das Elend des Malers so groß ist, Bürger Chaumette, daß er unmöglich ein Anhänger des Tyrannen sein kann.«

»Und wenn er dieses Elend gerade der Republik in die Schuhe schiebt? Er ist Künstler, die Republik solchen Leuten nichts zu verdienen, unter dem Tyrannen hat dieses Gelichter Geschäfte gemacht, bedenkt das wohl, Bürger Parmentier!«

»Auch das habe ich bedacht, Bürger Chaumette, aber gerade darum fiel mir dieser Mensch ein, als Ihr mich vorhin nach einem Ersatz für mich selbst fragtet, da ich denn doch in die Conciergerie zu Fouquier Tinville muß!«

»Wieso gerade darum?«

»Ihr braucht doch exaltierte Naturen, Bürger Chaumette! ... Wer in diesen Tagen der Sache der ... wie sagte der Unbestechliche gleich? ...«

»Der Exagérés ... meint Ihr?«

»Ja, der Exagérés dienen will, der muß eine Leidenschaft sondergleichen sein eigen nennen, und nichts ist so dazu imstande, die Leidenschaft bis in ihre äußersten Entfaltungsmöglichkeiten zu entwickeln, Chaumette, als das Elend und die Schande und der Hunger, vor allem, wenn sie einen betreffen, der früher bessere Tage gesehen hat.«

»Ihr seid ein feiner Kopf, Bürger Parmentier, trotz Eurer Jugend, ein seiner Kopf,« sagte jetzt Chaumette und schüttelte beifällig das Haupt.

»Und kennt Ihr die Wohnung dieses Desperado, den ich am Ende besser als irgend einen anderen verwenden kann, Bürger Parmentier?«

»Ich sagte Euch doch, er haust in der Rue Saint Roch.«

»Wißt Ihr das Haus?«

»Ich kann es Euch zeigen.«

»Und er haust zusammen mit der Bürgerin ... wie hieß sie?«

»Fleurette Bouchard ... Mit ihr haust er zusammen ... Er lebt von ihr, da er ihr Männer zuführt ...«

»Schön!«

Chaumette erhob sich.

»Wollt Ihr mich begleiten, Bürger Parmentier?«

»Wohin?«

»Ihr sollt mir das Haus in der Rue Saint Roch zeigen, ich bringe Euch alsdann in die Conciergerie und stelle Euch selbst Fouquier Tinville vor.«

»Ich bin bereit.«

Die beiden Bürger machten sich auf den Weg.

Als sie die Rue Saint Roch erreicht hatten, fand Silvain nach einigem Suchen auch glücklich das Haus, in dem Aristide Poignard wohnte. Das war nicht so leicht. Eines der alten und schmutzigen Häuser ähnelte hier dem anderen und dann ... Er war auf seinen Beobachtungsgängen bislang nur in der Nacht durch die Rue Saint Roch gekommen, so daß ihm das Wiedererkennen des Hauses am Tage Schwierigkeiten bereitete.

»Hier ist es, Bürger Chaumette,« sagte er endlich. »Vier Treppen hoch. Am Ende habt Ihr Glück und trefft ihn zu Hause, wenn er nicht gerade auf der Place Grève Kastanien feilhält oder in der Nähe des Palais Royal einen Liebhaber für Fleurette Bouchard sucht.«

»Ich werde allein hinaufgehen,« entschied Chaumette nach einer Minute der Überlegung. »Das erweckt weniger Verdacht. Ich erwarte Euch also um drei Uhr vor dem Eingang in den Hof der Conciergerie.«

»Und seid pünktlich zur Stelle?«

»Ihr werdet noch schnell genug zu Fouquier Tinville kommen, denke ich,« erwiderte Chaumette und sah den jungen Bürger mit einem ganz seltsamen Blick an.

Dann reichte er ihm zum Abschied die Hand und verschwand in der niedern und alten Tür, die den Eingang des Hauses bildete, in dem Aristide Poignard wohnte.

Langsam und bedächtig stieg Chaumette die schmalen und dunkeln Wendeltreppen bis zum vierten Stockwerk hinauf. Kaum daß ein Strahl des grauen Februartages auf diese düsteren und ausgetretenen Stufen fiel, über die man sich tastend hinauffühlen mußte, da schlechterdings nicht die Hand vor den Augen zu sehen war.

Nach langem Suchen fand Chaumette endlich die Klingel vor der Tür des vierten Stockwerks.

Auf sein Läuten erschien eine alte Frau von über siebenzig Jahren. Ihre Haltung war gekrümmt, die ungekämmten, weißen Haarsträhne fielen ihr tief in das runzelige Gesicht hinein.

Das vermochte Chaumette zu erkennen, da sich beim Öffnen der Vorplatztür der Schein eines Fensters über ihn und die Alte ergoß.

»Wohnt hier der Bürger Aristide Poignard?« fragte Chaumette.

Die Alte schlotterte an allen Gliedern, als sie Chaumettes ansichtig wurde. Zwar kannte sie ihn nicht. Aber jeder Besuch eines Fremden, der in solchem Ton nach einem Bürger fragte, war in diesen Tagen des Gesetzes gegen die Verdächtigen schon eine Gefahr.

Deshalb zögerte die Alte mit der Antwort.

Und Chaumette fragte noch einmal:

»Ich habe Euch gefragt, Bürgerin, ob hier der Bürger Aristide Poignard wohnt?«

Die herrische Art und Weise, in der Chaumette sprach, brachte die Alte in nur noch größere Verwirrung. Am liebsten hätte sie dem da die Tür vor der Nase zugeschlagen, aber was half das, die Soldaten der Nationalgarde traten solche Türen in diesen Tagen einfach mit den Stiefeln der Republik ein, und wenn man lange Geschichten machte, dann geriet man womöglich noch selbst in den Verdacht, den Royalisten oder den Gemäßigten Vorschub zu leisten ... und Fouquier Tinville und seine Maschine auf dem Revolutionsplatz arbeiteten rasch. Kein Alter war vor den beiden sicher, noch neulich hatte man einen Mann geköpft, der das 94ste Lebensjahr überschritten hatte und den die Knechte des Henkers auf einer Krankenbahre auf das Schafott geschleppt. Deshalb besann sich die Alte rasch eines Besseren und sagte:

»Der Bürger Aristide Poignard wohnt hier, Bürger, ... oder vielmehr er hat hier gewohnt, da wir ihm heute gekündigt haben, weil er uns fünf Wochen die Miete schuldig geblieben ist. Wir sind arme Leute, Bürger, und wir leben von dem Vermieten unserer Zimmer,« fügte sie rasch hinzu. Sie wußte selbst nicht, ob das diesem gegenüber als Entschuldigung galt oder ob es unter Umständen ihre Tage noch schwieriger machen könne. Denn was Aristide Poignard trieb und wovon der eigentlich lebte, das wußte die gute Alte selber nicht.

»Und ist der Bürger Aristide Poignard zu Hause, Bürgerin?«

»Ich weiß es nicht, Bürger, überzeugt Euch bitte selber,« log die Alte und verschwand eiligst in die Küche. »Diese Tür führt in die Zimmer des Bürgers Poignard,« sagte sie noch auf dem am Vorplatz rechts gelegenen Eingang deutend ... und war fort.

Chaumette hatte Glück. Der Maler Aristide Poignard war in der Tat zu Hause.

Als Chaumette an die Zimmertür pochte, rief die Stimme des Malers »Herein!«

Erstaunt sah sich der Führer der Cordeliers in dem Raum um, den er nun betrat. Hier sah es jetzt noch ganz anders aus als vor Wochen, da der Maler Aristide Poignard wegen der Unverkäuflichkeit seiner »Nymphe« und weil man schon mit Kistendeckeln heizte, auf die Idee gekommen war, sich von der Regierung die 40 Sous zur Freiheit seiner politischen Geschäfte zu holen und die Puppenköpfe aus der Rue Richelieu in politische Polichinellen zu verwandeln.

Damals hatten noch der Tisch und ein paar Stühle, das Bild und das Malzeug des Künstler an ihren Plätzen gestanden. Jetzt war die Bude leer. Auch das letzte hatte den Weg auf den Mont de Pitié gefunden, war in Assignate der Republik und dann in saures Brot und süßen Kastanienbrei verwandelt worden, denn man mußte doch leben und die Liebhaber zahlten für eine ausgediente Dirne aus den Cafés des Palais Royal in diesen Tagen wahre Schandpreise, da, wie Rose Lacombe sehr richtig bemerkt hatte, der Kult der Vernunft die Schönheit des Weibes zum Allgemeingut aller Bürger der einen und unteilbaren Republik gemacht hatte.

Chaumette schmunzelte.

Was hatte der Bürger Silvain Parmentier gesagt? Und hatte der Bürger Silvain Parmentier vielleicht nicht recht? Hatte er ihn nicht selber einen schlauen und feinen Kopf genannt? Elend und Hunger und Schande waren die besten Werber für die Revolution. Sie brachten in wenigen Tagen das zustande, wozu die höchste Leidenschaft und die feinste Kunst der feurigsten Überredung in langen Wochen nicht befähigt waren. Sie ließen alle Entfaltungsmöglichkeiten der Seelenwirrnis in Stunden und Tagen üppig ins Kraut schießen.

So ungefähr hatte sich der junge Bürger Silvain Parmentier ausgedrückt.

Chaumette sah sich in dem schmierigen und halbfinsteren Raum um. Vor den Scheiben hing als Vorhang der zerrissene Unterrock einer Frau, so daß nicht übermäßig viel Licht durch die schlecht geputzten Fenster fallen konnte. Der Führer der Cordeliers suchte den Maler, dessen Stimme er soeben vernommen hatte, aber er entdeckte ihn nicht sogleich. Endlich fiel sein Blick in eine finstere Ecke des Zimmers. Dort lag ein von Mäusen angefressener Strohsack und ein Haufe Lumpen, der sich ihm zu bewegen schien.

»Ist denn jemand im Zimmer,« vernahm da Chaumette von dem Strohsack her eine menschliche Stimme. »Sind Sie es, Bourdonnier, wir sind noch nicht so weit. Fleurette hat die Schätze noch nicht zusammengepackt!«

»Mein Name ist leider nicht Bourdonnier, aber mein Name tut zunächst nichts zur Sache,« sagte Chaumette.

Aristide Poignard richtete sich auf seinem Lager auf und rieb sich die Augen.

»Wer seid Ihr, Bürger, und was wollt Ihr von mir?« fragte er in beinahe barschem Ton. Und dann fügte er etwas freundlicher hinzu: »Ihr entschuldigt, Bürger, wenn ich mich nicht erhebe, einmal ist es so verteufelt kalt in dem Loch, daß mir die Zähne klappern, wenn ich mich von diesen Lumpen entblöße und dann mein letzter Rock ist gestern die Straße zum Mont de Pitié gewandelt. Und dann! Ich habe ein so seltsam Gefühl, einmal in den Knochen, und dann in der Gegend, wo andere Menschen ihren Magen und nicht einen ausgepumpten Schlauch haben. Ich fürchte nämlich wieder hinzufallen, wenn ich wirklich den Versuch machen sollte, aufzustehen?«

»Ihr seid krank, Bürger? Ich spreche mit dem Maler Aristide Poignard?«

»Der bin ich ... Aber wenn Sie einen Auftrag für mich haben sollten, Freundchen, dann tut es mir leid, dann kommen Sie wirklich zu spät. Ich kann nicht mehr malen, mein Bester! Sie hätten schon früher kommen müssen. Ich kann die Farben seit einigen Tagen nicht mehr unterscheiden. Ich bin farbenblind geworden. Ich sehe nur noch rot und immer wieder rot! Es liegt wie ein roter Schleier über der Rue Saint Honoré, und dieser Schleier reicht bis in die Rue Saint Roch, mein Bester! Denn alles schwört nur noch auf diese einzige Farbe!«

Und Chaumette, der noch eben geschmunzelt, er, auf dessen geheimen Antrieb schon so mancher Fouquier Tinville überantwortet worden war, schauderte angesichts dieses hündischen Elends. Der Mensch dort hatte das Fieber, wenigstens sprach er wie ein Fieberkranker! Wenn das, was der da hatte, nicht der Hungertyphus war! Und wer wußte, ob ein typhöses Fieber hier nicht ihm selber seine Pestmiasmen ins Antlitz schleudern konnte. Und Chaumette war feige. Und doch! Trotz allem näherte er sich dem Lager des Malers und sagte:

»Seid Ihr denn mutterseelenallein, Bürger? Ihr seid doch krank und niemand nimmt sich Eurer an? Ich dächte, man hätte mir gesagt, daß eine Freundin mit Euch zusammen hier in der Rue Saint Roch haust?«

Und Aristide Poignard, dem es in dieser Lage und in dieser Stunde wirklich vollständig gleichgültig war, wer ihm, dem verhungernden, kurz vor seinem Ende noch einen Besuch abstattete, der sich nichts daraus machte, ob dieser Besuch in freundlicher oder feindlicher Absicht gekommen war, erwiderte:

»Ihr habt ganz recht, Bürger, eine Verworfene haust hier mit mir, eine, auf die die Leute in anständigen Zeiten mit Fingern gedeutet hätten, die haust hier mit mir! Aber sie ist doch wenigstens ein Mensch, sie ist kein Raubtier wie die, die heute in Paris das Heft in den Händen haben, die heute Frankreich und die Welt beherrschen! Deshalb ist sie zu den Damen der Halles gelaufen, Abfall zu erbetteln, damit ich hier nicht verrecken soll! Das ist doch wenigstens noch ein menschlicher Zug in diesen Tagen, Bürger, wenn auch nur von einer solchen!«

Ein schrilles Hohngelächter löste sich bei diesen Worten aus dem Mund Aristide Poignards.

»Mir hilft keiner, Bürger, mir nicht! Die Bluthunde haben die Macht, sie haben das Geld der Republik in den Händen und die Bluthunde helfen unsereinem nicht. Die lassen unsereinen krepieren oder sie schleppen ihn in die Cachots und dann auf das Schafott.«

»Also hat sich Parmentier doch geirrt, also ist er doch ein Royalist,« fuhr es da durch Chaumettes Kopf, und seine Pflicht verlangte eigentlich, daß er den da ... Fouquier Tinville ... wie ein Blitzstrahl ging dieser Name durch das Gehirn Chaumettes ... Doch bald lächelte er wieder und verwarf sofort diesen Gedanken. Am Ende starb der schon auf dem Weg ins Luxembourg oder in die Conciergerie oder nach Saint Lazare ... und was hatte er dann? Nein! Was hatte der junge Silvain Parmentier, der von ihm erleuchtete und auf den rechten Weg geführte, noch vorhin gesagt? Hunger und Elend und Schande ... Auch ein solcher, auch ein Royalist, konnte ihm, wie jetzt die Verhältnisse lagen, von Nutzen sein. Auch ein solcher konnte das Werkzeug seiner höheren Pläne werden, denn er brauchte niemals zu wissen und niemals zu erfahren, wer sein Wohltäter und wer der Lenker und Leiter seiner Taten und Gedanken war! Und wußte er es, erfuhr er es dennoch, dann war immer noch Zeit, dann fiel er eben, wie tausend andere gefallen waren, wie noch viele tausend und tausend andere nach ihm fallen würden, denn dazu waren Fouquier Tinville und seine Maschine da.«

Ein Royalist in seinen Diensten! Jawohl, denn Robespierre war sein Feind! Lange konnte es nicht mehr dauern. Robespierre hatte zu wählen, ob er sich auf die Seite der Dantonisten oder auf die der Kommune stellen wollte, und wenn er gewählt hatte, so oder so, dann war die Stunde nicht mehr fern, da sich der Unbestechliche und Allmächtige auch gegen Chaumette und dessen Anhang richten würde ... und dann verfügte er über diesen da ... und der war Royalist ... und mithin Robespierres geschworener Feind!

So konnte er ein Werkzeug werden, auch ein solches in den Händen Chaumettes!

Blitzschnell hatte sich diese Gedankenfolge in dem Kopf Chaumettes abgewickelt.

»Und wenn euch doch einer helfen sollte, Bürger,« wandte sich jetzt Chaumette aufs neue an den Maler Aristide Poignard.

Der dem Verhungern nahe richtete sich auf seinem Lager auf. Aus großen, weitaufgerissenen Augen starrte er auf Chaumette, als ob dieser Mensch ein Wunder des Himmels, als ob er die Erscheinung aus einer besseren Welt wäre.

Und Chaumette fuhr fort:

»Er braucht ja nicht gerade ein Bluthund zu sein, Bürger, wenn er euch hilft!«

»Dann wäre er ein Royalist,« kam es Chaumette in dumpfem Ton von dem Lumpenlager entgegen, »und wenn er ein solcher wäre ...«

»Ihr fürchtet also Verrat, Bürger?«

Aristide Poignard lachte.

»Ich fürchte offen gestanden nichts mehr, mein Freund,« sagte er.

»Was könnte mir Verrat denn noch anhaben, mein Teuerster, hm? In den Gefängnissen soll man sich satt essen, hat man mir erzählt. Es gibt Leute, die dort Wein trinken, die dort Hühner verzehren, die dort Karten spielen und tanzen und so der Stunde warten, bis der Henker mit seinen Knechten erscheint! Das dünkt mich schöner, Bürger, als hier zu verhungern, nachdem man sechs Wochen lang nichts als den verdammten Kastanienbrei im Leib gehabt hat. Die Maschine auf dem Revolutionsplatz macht rasche und saubere Arbeit. Der Hunger frißt wie ein Tiger in den lebenden Gedärmen, er verzehrt sie einzeln und stückweise, Freundchen, am lebendigen Leibe ... und das ist kein Vergnügen ... Also, wer Ihr auch seid ... was läge mir wohl daran, wenn Euch der Henker auch auf dem Fuße folgte, ob Ihr mich nun für einen Royalisten oder einen Freund der Freiheit und der Gerechtigkeit nehmt!«

Aristide Poignard schwieg.

Eine ganze Weile überlegte Chaumette, wie er diesen Royalisten wohl am besten für sich gewinnen und seinen Plänen dienstbar machen könne. Endlich sagte er:

»Und wenn Euch jetzt einer sagte, Bürger, wenn ich Euch sagte, in der Rue Saint Honoré, nur wenige Schritte von hier um die Ecke, befindet sich ein Restaurant. Der Wirt dieses Speisehauses hat heute köstliche Rindsrouladen zubereitet. Sie erfüllen die ganze Rue Saint Honoré mit ihrem Dufte und übertäuben den Blutgeruch ... der Euch quält! Ihr braucht nur aufzustehen und mit mir zu gehen, Bürger, dann könnt Ihr euch nach Herzenslust satt essen! Könnt essen, so viel Ihr wollt!«

Die Augen Aristide Poignards waren bei diesen Worten Chaumettes weit aufgerissen. Sie traten aus ihren Höhlen. Der Kranke, der dem Hungerdelirium nahe war, sog jedes einzelne dieser Worte wie eine Erlösung und voll Gier in sich ein.

Chaumette fühlte, hier hatte er gewonnenes Spiel und sein Herz jauchzte.

»Ich habe ja keinen Rock, um in die Rue Saint Honoré hinüber zu gehen,« sagte jetzt der Maler, »selbst wenn ich mich noch bis dorthin schleppen könnte!«

Chaumette lachte.

»Wenn das alles ist, Bürger, ich leihe Euch meinen Mantel, der deckt den Mangel eines Rockes zu.«

Er trat an den Strohsack und half Aristide Poignard auf die Beine. Es ging besser, als Chaumette es erwartet hatte.

»Ihr sollt Euch satt essen, Bürger! Ihr sollt Euch jeden Tag satt essen,« sagte er, »wenn Ihr mir einen kleinen Gefallen erweist, einen Gefallen, der Euch mit Euren royalistischen Anschauungen durchaus nicht in Konflikt bringen wird. Ihr könnt Euch dann jeden Tag 20 Francs verdienen, Bürger!«

Die Augen Aristide Poignards wurden größer und größer.

»Zwanzig Francs,« stammelte er, »zwanzig Francs, Bürger?«

»Zwanzig Francs,« bestätigte Chaumette, »und jetzt kommt in die Rue Saint Honoré!«


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