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Buchschmuck

Zwölftes Kapitel.

Der Monat Ventose brachte in diesem Jahr schon schönes und mildes Wetter. Er schien mit den Machthabern in Paris durchaus nicht einverstanden zu sein, da er seinem Namen so wenig Ehre machte. Die Luft war windstill und warm und in den Alleen des Schloßparks von Versailles trieben die Ulmen und Roßkastanien schon zaghaft ihre Knospen.

Auch in dem Garten des Landhauses von Louveciennes erwachte schüchtern und bescheiden das erste Leben der auferstehenden Natur. Auf den Beeten, an geschützten und sonnigen Stellen reckten schon Veilchen, Primeln, Krokus und Osterblumen die bunten Köpfe. Das Schneeglöckchen war aus der schwarzen Erde hervorgekrochen und stand in den ersten Strahlen der Frühlingssonne in zitterndem Weiß. Auf dem Magnolienbaum, der in der Mitte des großen, jetzt mit Gänseblümchen bestickten Rasens stand, schmetterte des Abends die Schwarzamsel ihr brünstiges Gebet der untergehenden Sonne entgegen und ein flinkes Rotschwänzchenpaar, das in der Nähe von Paris den schönen Namen »Mauernachtigall« führt, suchte schon über dem Balkon des Landhauses, unter der Dachrinne einen Platz für sein Nest.

Während Adrienne Sourieux droben in dem Zimmer mit dem großen Himmelbett qualvolle Stunden der sich immer rascher entwickelnden und ihrem Ende zugehenden Krankheit verbrachte, war die kleine Flora mit Tante Jacqueline viel im Freien.

Onkel Auguste hatte der Kleinen einen Spaten und eine Hacke aus Versailles mitgebracht, und das Kind bestand darauf, in diesem Frühjahr in Louveciennes sein Beet zum erstenmal selbst bestellen zu wollen. Tante Jacqueline mußte ihm dabei zur Hand gehen.

Mit seinen kleinen Patschen machte es in der Sonne den Versuch, die braune Erde umzugraben und warf dann nach Tante Jacquelines Weisung, den Samen der Radieschen und der Kresse, die Feuerbohnen und Wicken in die Furchen, die es mit dem von Onkel Auguste geschenkten Spaten gezogen hatte. Flora jubelte:

»Wenn die Sonne so weiter macht, Tante Jacqueline, dann werden wir in sechs Wochen die saftigsten Radieschen haben, dann werden wir im Sommer in der Bohnenlaube sitzen, die mir Armand von den von mir selbst gezogenen Stecklingen anlegen soll!«

Armand war der alte Gärtner, der schon in Diensten des einstigen Kriegsschülers von St. Cyr gestanden hatte, der das Kind als Baby auf dem Arm getragen und ohne den sich Flora das Landhaus in Louveciennes gar nicht vorzustellen vermochte.

»Ja, mein Liebling, das wird schon der Fall sein,« sagte dann Tante Jacqueline mit einem Seufzer, den das Kind nicht verstand. Denn sie dachte daran, daß droben in dem Zimmer mit dem Himmelbette eine Sterbende lag, daß diese Sterbende des Kindes Mutter war und daß die Tage des Jahres II der Republik, in denen man noch lebte, das Beil der Maschine über einem jeden gezückt hatten.

Aber davon wußte die kleine Flora nichts.

Wenn dann der Abend kam und Tante Jacqueline die Kleine in ihr Bettchen gebracht und zusammen mit ihr das Nachtgebet gesprochen hatte, dann saß sie zusammen mit Frau Tourlan in dem großen Salon des Landhauses vor dem Kamin, in dem noch immer ein kleines Feuer flackerte, denn, wenn die Sonne untergegangen war, wurde es wieder empfindlich kalt.

Voll Ungeduld waren in diesen Abendstunden Frau Tourlans und Jacquelines Augen auf die Bronzeuhr gerichtet, die dort zwischen den Marmorkandelabern des Kamins stand. Träge schienen den beiden Frauen die Zeiger über das Zifferblatt zu schleichen. Sie warteten der Mitternachtsstunde, bis es in den schon am Tage fast totenstillen Straßen Louveciennes noch stiller geworden war, und man nur noch das Heulen eines an der Kette liegenden Hofhundes oder drunten unter den Ziersträuchern des Gartens das Miauen einer verliebten Katze vernahm.

Wenn dann endlich die Bronzeuhr auf dem Kamin mit zwölf silberhellen Schlägen die Mitternachtsstunde verkündete, sprang Jacqueline endlich auf, hüllte sich in einen dunkelblauen Schal, den sie von der Lehne des großen Sofas nahm, wo sie ihn immer bereit liegen hatte, und schlich sich auf den Zehen hinaus aus der Tür des Landhauses in den Garten.

Wie ein Schatten huschte das junge Mädchen dann durch das Buschwerk und erreichte lautlos und von niemanden gesehen, die hintere Pforte des Gartens, die in ein kleines zwischen Äckern und Nachbargärten sich hinziehende Gäßchen mündete, das schließlich auf die große Landstraße nach Paris führte.

Dann knarrte der Schlüssel, den Jacqueline in zitternden Händen hielt, einen Moment in dem Schloß der Gartenpforte und die Tochter ließ Herrn Tourlan ein, den der Wagen aus Paris bis an die Mündung des kleinen Gäßchens auf der großen Landstraße gebracht hatte.

So war es jetzt schon wochenlang gegangen, seit jenem Tage, da Frau Tourlan den Brief an den Gatten in Genf geschrieben hatte, der die Nachricht von der tödlichen Erkrankung Adriennes enthielt und der Théophile Tourlan zu seiner unbedachten Rückkehr nach Frankreich veranlaßt hatte.

Auch der Dichter Auguste Rodeur, den jeder Tag aufs neue wieder in das Sterbezimmer nach Louveciennes und an Jacquelines Seite rief, war Teilnehmer dieser nächtlichen Zusammenkünfte geworden. In dem totgeglaubten Herrn Tourlan hatte er so die Bekanntschaft eines Mannes gemacht, der ihm nicht nur als Vater Adriennes und Jacquelines nahe stand. Auch Théophile Tourlan war wie er selber ein Anhänger jener gemäßigten Richtung, die eben von den Machthabern zum Opfer gebracht werden sollte, ein Mitgänger jener Partei, die zwar für die Abschaffung des Königstums und die Einführung der Republik gestimmt hatte, die aber das Leben des Bürgers Capet und das seiner Familie hatte schonen wollen, die der Ansicht gewesen, das Wohl des neuen Staates auf Reformen und Gesetzen und nicht auf dem vergossenen Blute der Bürger und den Launen der Willkür einer Handvoll neuer Tyrannen, die der Stimme des Pöbels lauschten, aufbauen zu können.

So hatten sich denn Auguste Rodeur und Théophile Tourlan rasch gefunden. Das Land der Liebe und Freundschaft knüpfte sich ja so schnell in jenen Tagen, da das Beil des Henkers über jedem Nacken gezückt war, da es nur eine Frage des Zufalls schien. ob und wann es herniedersausen und einen selbst wie die Tausende und Abertausende, deren Blut schon auf dem Revolutionsplatz geflossen war, vernichten würde.

Es knüpfte sich eben so leicht und sicher, wie die Flamme des Hasses und der Feindschaft jach emporloderte, da der Dienst im Solde des Henkers wie bei Chien de Boucher zu Vaterlandsliebe und Freiheitsgesinnung geworden war!

Acht Tage hatten genügt, um Auguste Rodeur an Tourlan zu ketten, den der Dichter jetzt schon mit all der Sorge und Freundschaft umgab, die sonst nur der Sohn für den Vater übrig hat.

So war denn Auguste Rodeur die Stunde dieser nächtlichen Zusammenkünfte bekannt. Auch er machte sich jeden Abend kurz nach elf Uhr zu Fuß von Versailles auf den Weg und langte wenige Minuten vor Mitternacht an dem hinteren Gartentore des Landhauses in Louveciennes an, wo Jacqueline seiner und des Vaters wartete und ihnen das Schloß öffnete, das dem Vater den Weg zu seiner Familie und ihm den zu den Freunden seines Herzens und der sterbenden Genossin seiner Dichterträume freigab.

In der Abendstunde hatten sie sich heute wieder, seit langem zum ersten Male, Wolken am westlichen Horizont zusammengeballt. Im Lauf des Tages war es wohl wärmer gewesen, als während der ganzen vergangenen Woche. Es lag daher wie ein Frühlingsgewitter in der Luft, als Jacqueline wartend und horchend im Schatten eines Fliederbuschs zur Seite der Hinterpforte des Gartens stand.

Ihr war heute so seltsam, ängstlich, schauerlich beklommen zumute. Nicht, daß sie sich fürchtete! In den Tagen des Schreckens hatte man die Furcht wohl abgelegt ... oder vielmehr man hatte sich so an die Furcht gewöhnt, daß man sie nicht mehr empfand. Sie war etwas so Selbstverständliches, etwas, das einen in diesen Tagen verfolgte wie sein eigener Schatten, so daß sie einem eigentlich gar nicht mehr zum Bewußtsein kam. Man las die Zeitungen, die in diesen Tagen in Paris wie die Pilze nach des Sommers warmen Regen aus dem Erdreich schossen, und man achtete kaum mehr auf das, was man las. Ob die Zahl der Hinrichtungen an einem Tage 120 oder 130 betragen hatte, war einem gleich. Paris troff von Blut, das wußte man, das war ein notwendiger Bestandteil dieses Regierungssystems, an dem man ja doch nichts zu ändern vermochte.

Es war also nicht die Furcht, es war etwas anderes, was Jacquelines Inneres in dieser mitternächtlichen Stunde des Wartens so ganz erfüllte. Unter den Wolken des drohenden Frühlingsgewitters wartete sie in tiefer Nacht. Sie wartete auf den Vater, der nach der gefährlichen Fahrt von Paris, die den Keim des gewaltsamen Todes für ihn in sich bergen konnte, nach Louveciennes herauskommen sollte. Aber wartete sie eigentlich wirklich auf ihn und wartete sie nur auf ihn? Oder war es in Wahrheit ein anderer, auf den sie hier wartete?

Flammenröte schlug bei diesem Gedanken in ihr Gesicht. Sie fühlte das wohl, wenn hier auch kein Spiegel war, in dem sie ihre von Purpurglut übergossenen Wangen hätte betrachten können.

Wie große, schwarze Vögel des Schicksals zogen die Wolkenballen des Frühlingsgewitters, das sich immer noch nicht entladen wollte, über Jacquelines Scheitel dahin. Der Wind, der sich jetzt erhoben hatte, spielte mit ihrem blonden Haar. Sie trug keinerlei Kopfbedeckung, nur den Schal hatte sie um Hals und Brust geschlungen. So wartete sie. Was die sterbende Adrienne damals in ihrem Fieberwahn zu Auguste Rodeur gesagt, hatte sie wohl verstanden. Die Meinung und der Wunsch der Scheidenden, deren Tage nach dem Urteil Doktor Richards gezählt waren, gingen ihr durch den Kopf. Und auch sie hatte es gepackt ... War es die Liebe, wirklich die Liebe zu dem Dichter Auguste Rodeur, von dem sie doch wußte, daß er die sterbende Schwester anbetete, die Schwester, die sie nun hintergehen wollte, indem sie ihr das nahm, was der Scheidenden bis zu deren letztem Atemzug als unverlierbares Eigentum gehören mußte? War es diese verzehrende Leidenschaft und Liebe, die nun ihren Busen höher wogen ließ, die ihr das Herz zusammenkrampfte ... oder war es der Geist dieser Zeit? War es das Schrankenlose dieser Tage des Schreckens, die Mann und Weib zueinander zwangen, so lange das Blut noch durch ihre Adern pulsierte, in der Gewißheit, daß man die Stunde des Lebens und des Genusses nicht vorübergehen lassen dürfe, weil das junge und heiße Blut schon morgen dazu bestimmt war, in hochaufspritzendem Strahle die Stufen des Gerüstes zu färben?

Jacqueline wußte es nicht.

Da ließ sie ein dumpfes Geräusch zusammenfahren. Was war das? Waren das die Schritte des Vaters, waren es die Auguste Rodeurs, waren es die der Häscher, die man in diesen Tagen in jedem Augenblick zu gewärtigen hatte? Aber nein! Es war nur der Wind, der raschelnd und knackend durch die Zweige des Fliederbusches fuhr, von dessen Blüte im Floréal sie noch nicht wußte, ob sie sich auch noch schauen würde. Es war nur das Frühlingsgewitter, das droben in ungemessener Höhe dahinzog über ihren blonden Scheitel, das sich jetzt in grellen Blitzen und dumpfem Rollen entladen wollte, ohne daß es zu dem befreienden und erfrischenden Regen kam, nach dem sich des Gartens schon trocken gewordene Beete sehnten, in deren dunkeln Schoß Flora, das Kind, den Samen der Zukunft gesenkt hatte.

Jacqueline blickte hinauf in den düsteren Himmel. Wie die grotesken Spukgestalten einer überreizten Fantasie zogen die Wolkenballen dieses Frühlingsgewitters, das da kommen sollte und doch nicht kam, über sie dahin. Zwischen den aus Dunst und Nässe und Nacht gewobenen, bizarren Gebilden blitzten da die Sterne in unfaßbarer Höhe, einen Augenblick blitzten die, um rasch wieder zu verschwinden, wie das Licht der Hoffnung, das, noch ehe das Auge es gesucht und gefunden, wieder in trostlose Finsternis taucht.

Droben lag die Schwester im Sterben, um derentwillen der Vater das Leben aufs Spiel setzte, und hier unten im Garten stand sie und harrte des Mannes, der der vom Leben Abschied Nehmenden allein gehörte, und ihr Herz kannte in der Tat nur den einen Wunsch: Wenn er jetzt käme, um mich in dieser Nacht des Frühlingsgewitters in seine Arme zu reißen ... daß ich an nichts mehr zu denken brauchte, nicht an die Schwester und nicht an die Mutter, nicht an das Kind und nicht an den in ständiger Todesgefahr schwebenden Vater, nicht an Frankreich und sein Schicksal, auf daß dieser Tag des Schreckens auch für mich in einem Rausch des Blutes unterginge!

Da klang das Heulen Hussards, des großen Bernhardiners, der drüben den seit dem Sturze des Tyrannen verlassenen Park der gräflichen Familie de Tissanderie durchstreifte, und kaum mehr etwas zu fressen hatte, durch das Dunkel der Nacht und übertönte das Klagen des eben ein wenig nachlassenden Windes.

Jacqueline spitzte die Ohren. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse herauf.

»War es der Vater, der aus Paris zu den Seinen kam ... oder ...«

Sie lauschte.

Im Gäßchen wurden Schritte vernehmbar.

Jacqueline fuhr zusammen.

Konnten es nicht auch die Häscher sein, die den Unterschlupf Tourlans in der Rue Saint Honoré ausfindig gemacht hatten. Konnten sie nicht kommen und auch sie holen, sie und die alte Mutter und die sterbende Schwester, weil sie herausgefunden hatten, daß sie trotz allen Leugnens mit dem Emigrierten korrespondiert und so im Sinne des Gesetzes gegen die Verdächtigen schuldig geworden waren?

Oder ... oder ... war es er? Endlich er?

Sie war außer sich. Sie fühlte sich kaum dazu imstande, den Schlüssel in das Schloß der Gartenpforte zu stecken und ihn umzudrehen. Aber sie tat es doch mit einer letzten Anstrengung aller ihrer Willenskräfte, einerlei, ob sie in dieser Nacht des Sturmes Freund oder Feind in den Garten ließ.

Sie taumelte.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in Auguste Rodeurs Armen.

Voll Seligkeit schlug sie die Augen zu ihm auf.

»Wo bin ich, stammelte sie in verzückter Verwirrung.«

»Was ist Ihnen denn, Jacqueline,« fragte er da voll banger Sorge. »Sagen Sie mir um Gottes willen, was Ihnen ist? Ist eine schlimme, eine entscheidende Wendung in Adriennes Zustand eingetreten?«

Diese Frage brachte sie wieder zur Besinnung.

»Nein, Herr Rodeur,« sagte sie in fast kühlem Tone zu dem Manne, nach dem sie die Sehnsucht verzehrte und der sie noch immer in seinen Armen hielt. »Adriennes Zustand ist der gleiche, der er gestern gewesen ist. Sie irren sich! Nein!«

»Gottlob,« stammelte Auguste Rodeur.

Es entging ihm völlig, daß ihn Jacqueline bei diesem Wort mit einem geradezu haßerfüllten Blicke maß.

Er fuhr fort:

»Sind sie wieder dagewesen, die Bluthunde, Jacqueline? Haben Sie Bestimmtes über Herren Tourlan in Erfahrung gebracht?«

Sie riß sich von ihm los.

»Ich warte noch auf Herren Tourlan, wie Sie wohl sehen, Herr Rodeur.«

»Sie werden vergeblich auf ihn warten, Jacqueline!«

Dumpf wie das Urteil des Todes fielen diese Worte aus Auguste Rodeurs Munde.

Und Jacqueline erschrak. Aber nicht über die furchtbare Botschaft, die diese Worte aus dem Munde Auguste Rodeurs doch in sich schließen mußten, sie erschrak über sich selbst. Sie erschrak darüber, wie gleichgültig ihr diese Worte in diesem Momente waren, da sie sich dem Manne, den alle ihre Sinne begehrten, in dieser Frühlingsnacht des Gewitters allein gegenüber befand, diese Worte, die den Tod des Vaters, das Ende der Schwester, vielleicht auch das der Mutter und den Untergang ihrer ganzen Familie in sich schließen konnten, und die sie ... das fühlte sie doch in dieser Stunde ... kaum berührten.

»Sie fragen nicht, Jacqueline, warum Herr Tourlan in dieser Nacht nicht aus Paris kommt,« stammelte endlich Auguste Rodeur.

»Doch ... doch ... ich frage ja, Herr Rodeur ...« brachte sie da mühsam hervor.

»So kommen Sie in das Haus, Jacqueline, ich will Ihnen und Frau Tourlan alles sagen. Ich muß noch in dieser Nacht nach Paris!«

»Das dürfen Sie nicht, das dürfen Sie unter keinen Umständen, das lasse ich nicht zu, Herr Rodeur!«

»Ich muß, Jacqueline! Es gilt das Leben Ihres Vaters! Es ist meine Pflicht, alles zu versuchen, mich zu überzeugen, ob es noch einen Weg der Rettung für ihn gibt,« beharrte er.

»Und ich lasse Sie nicht nach Paris, Herr Rodeur!«

Wieder lag sie an seiner Brust wie vorhin, da sie einer Ohnmacht nahe gewesen, und ihre Arme umfaßten seinen Hals wie mit eisernen Klammern.

Er wehrte ihr.

»Aber, Jacqueline, die Angst macht Sie rasend und unvorsichtig! So nehmen Sie doch Vernunft an, Jacqueline!«

Aber sie preßte sich nur noch fester an ihn.

»Nein,« schrie sie, »ich ertrage das nicht! Diesen Hals sollen die Bluthunde nicht haben, diesen nicht!«

Da löste er mit sanfter Gewalt Jacquelines Arme von seinem Halse und sagte:

»Er gehört Frankreich und dem Schicksal und der Vorsehung, wie jeder in diesen Tagen, Jacqueline, wenn die Stunde geschlagen hat! Ich gehe freudig und voll Zuversicht nach Paris, wie es auch ausfallen mag!«

Sie zitterte. Seine Festigkeit und seine Todesbereitschaft hatten ihr mit elementarer Kraft allen Mut genommen.

So legte er ihren Arm in den seinen und führte sie durch den schweigenden, in das Dunkel der Frühlingsnacht gehüllten Garten dem Landhaus zu.

»Sie öffnen mir nachher wieder das Pförtchen, Jacqueline,« vernahm sie da wie im Traum seine Stimme, »das Gäßchen mündet auf die große Landstraße nach Paris ... und diese ist jetzt auch mein Weg!«

Kein Laut kam von ihren Lippen. Aber im Schein des Mondes, der eben die schweren Wolkenballen des Frühlingsgewitters durchbrach und sein mildes Licht wie im sanften Strahl des Abschieds über die Kieswege des Gartens von Louveciennes sandte, schien es ihm, als ob sie endlich leise zur Bejahung den Kopf senkte.

Sie betraten das Haus.

Jacqueline öffnete die Tür in den Salon, wo Frau Tourlan vor dem flackernden Kaminfeuer wartete.

Der bleiche Schrecken malte sich auf ihrem Gesicht, als die beiden ohne Théophile eintraten.

»Wo ist Herr Tourlan, stammelte die alte Frau.

»Ich weiß es nicht, Madame,« sagte Auguste Rodeur. »Ich bin auf dem Weg nach Paris, ihn zu suchen, seinen Aufenthalt ausfindig zu machen!«

»So weilt er nicht mehr in jenem Hause der Rue Saint Honoré, Herr Rodeur?«

»Ich habe Gründe, aus denen ich annehme, daß das nicht mehr der Fall ist, Frau Tourlan, aber trotzdem werde ich ihn noch in dieser Nacht in diesem Hause suchen!«

»Hat man seinen Unterschlupf ausfindig gemacht, hat man ihn verhaftet.« jammerte jetzt die alte Frau, »verbergen Sie mir nichts, Herr Rodeur, geben Sie mir das Gift nicht tropfenweise, wenn es denn doch Gift sein soll,« bettelte sie.

»All' das weiß ich noch nicht, Frau Tourlan! Ich habe nur einen Brief aus Paris erhalten, der mich warnt!«

»Und ist der Briefschreiber zuverlässig, Herr Rodeur?«

»Ich kann mich auf ihn verlassen, wie auf mich selber, Frau Tourlan! Es ist Aristide Poignard!«

»Der Maler?«

»Derselbe, den auch Sie vor Monaten, im vergangenen Herbst hie und da in Versailles gesehen haben. Ich habe lange nichts von Aristide Poignard gehört. Ich wußte nicht, was aus ihm geworden ist. Fast scheint es, als sei er in schlechte Hände geraten, aber im Grund genommen ist er überzeugter Royalist ... und das macht seinen Brief so wertvoll!«

»Und was schreibt Herr Poignard?«

»Hören Sie!«

Auguste Rodeur bemerkte gar nicht, daß sich Jacqueline für den Inhalt dieses wichtigen Briefes durchaus nicht zu interessieren schien, daß sie in dumpfem Grübeln, wie in Abwesenheit, vor sich hin starrte, während er sich an Frau Tourlan wandte, und sich auf dem ihm von der alten Dame angebotenen Fauteuil niederließ.

Im Schein der Kerzen, die auf den Marmorkandelabern des Kamins brannten, las jetzt Auguste Rodeur:

»Lieber Freund!

Ich bin infolge der Not der Zeit in eine etwas absonderliche Gesellschaft geraten, aber das tut ja weiter nichts zur Sache. Ich halte es für ein Glück, daß mir mein neuer Beruf (Frage nicht weiter nach ihm!) die Möglichkeit gibt, Dir einen Dienst zu erweisen, denn er hat mich mit einigen der blutgierigsten Anhänger des eben in Paris herrschenden Systems zusammengeführt. Wenn ich mit meiner Annahme Recht habe, daß Du auch heute noch in der Villa der Damen Tourlan und Sourieux in Louveciennes verkehrst (wie solltest Du auch nicht? Adrienne ist doch ein Stern, wie so leicht kein zweiter am Himmel aufgehen wird), dann können Dir meine Zeilen nur dienlich sein.«

Begeisterung im Ton seiner Stimme hatte Auguste Rodeur diese Worte gelesen. Ein wehes Schluchzen erschütterte Jacquelines Körper. Er nahm es für das natürliche Zeichen ihrer gewaltigen Erregung, achtete nicht weiter darauf und fuhr fort:

»Mein neues Geschäft, das mir täglich zwanzig Francs einbringt, denke Dir bei dem Niedergang der Kunst ... ein Maler und zwanzig Francs an einem einzigen Tage ... hat mich mit einem gewissen Parmentier bekannt gemacht, der eben der wichtigste Schreiber in dem Bureau des gefürchteten Fouquier Tinville ist. Er und ein Agent des Überwachungskomitees, dem sie den schönen Namen Chien de Boucher gegeben haben und der in Wirklichkeit Duchèsne heißt, sind Herren Tourlan, der also doch noch lebt und unbegreiflicher Weise nach Frankreich zurückgekehrt sein soll, auf den Fersen. Wir alle hielten ihn doch für einen langst in Lyon Geköpften! ... Sie werden versuchen, ihn in seinem hiesigen Unterschlupf ausfindig zu machen, und wenn sie ihn dort nicht finden sollten, ihm sicher auch in Louveciennes nachstellen. Du weißt, wie Du selbst hier angeschrieben bist! Also, wenn Dir Dein Kopf lieb ist, und er sollte dir lieb sein wegen der Pläne und der Dichtungen, die noch in ihm schlummern, dann meide das Landhaus in Tonneciennes. Das hatte ich Dir zu sagen. Dein alter Freund
Aristide Poignard.«

»Und Sie glauben, daß sie ihn schon in der Nue Saint Honoré ausfindig gemacht haben, Herr Rodeur, weil er in dieser Nacht nicht nach Louveciennes gekommen ist?« stotterte nun Frau Tourlan.

»Das ist doch nicht ausgeschlossen. Über das will ich ja gerade feststellen, deshalb gehe ich heute, noch in dieser Nacht nach Paris, ob ich ihn noch finden und ihn zur Flucht überreden kann. Wenn er vor Tagesgrauen Paris verläßt, wenn es ihm gelingt, unerkannt die Grenze zu erreichen, dann ist er gerettet!«

»Und Sie, Herr Rodeur?«

»Ich?«

Auguste Rodeur lachte.

»Ich halte diesen Brief meines Freundes Aristide Poignard für den Wink des Schicksals, das mich auf den Schauplatz der Ereignisse ruft, Frau Tourlan, das ist doch gewiß sehr einfach und das ist alles!«

»So gehen Sie mit Gott, Herr Rodeur ... Aber lassen Sie die Vorsicht nicht ganz aus dem Spiel,« erwiderte jetzt die alte Frau Tourlan, »wenn Sie glauben, ihn noch retten zu können. Unsere ganze Hoffnung und alle unsere Wünsche begleiten Sie nach Paris, Herr Rodeur! ... Nicht wahr, Jacqueline?«

Ein gequältes »Ja, Mutter« rang sich als Antwort von Jacquelines Lippen.

»Aber ehe ich gehe, vielleicht für immer gehe ... habe ich noch eine große Bitte,« sagte jetzt Auguste Rodeur.

»Wir erfüllen Ihnen jede Bitte, Herr Rodeur, deren Erfüllung in unseren Kräften steht, antwortete Frau Tourlan schlicht.

»Ich möchte von Adrienne Abschied nehmen, Frau Tourlan,« sagte jetzt Auguste Rodeur, »weil ich nicht weiß, ob ich von diesem Wege nach Louveciennes zurückkehren werde.«

»Adrienne schläft,« warf da Jacqueline rasch dazwischen.

»Auch so möchte ich sie noch einmal sehen, Jacqueline! Ich verspreche Ihnen, daß ich sie nicht wecken werde, sie nicht und das Kind nicht. Begleiten Sie mich bitte, Jacqueline!«

»So erfülle doch Herrn Rodeur diesen Wunsch!«

Erst die Worte der Mutter belehrten Jacqueline, daß es doch wohl nicht anging, in dieser Tage Auguste Rodeur, der bereit war, sich um des Vaters willen selbst in Todesgefahr zu bringen, seinen Wunsch abzuschlagen.

So nahm sie denn einen der Marmorkandelaber, auf dem die Kerzen brannten, vom Kamin und sagte:

»Kommen Sie, Herr Rodeur!«

Sie stiegen Seite an Seite die Treppe hinauf, die zu dem Schlafgemach führte. Aber sie sprachen kein Wort miteinander und ihre Hände berührten sich nicht.

Wie Eisesschauer ging es während dieses Ganges durch den Körper Jacquelines, und es war ihr in dieser Stunde, als ob sie Welten von dem Manne schieden, nach dessen Umarmung sie noch vorhin drunten im Garten gelechzt hatte. Es war ihr, als ob der schon dem Tode verfallen sei, als ob der bereits unter den Abgeschiedenen wandelte, er, der als letzten Wunsch noch einmal den Anblick der gleich ihm selber dem Tod Überantworteten begehrte, während das blühende Leben hier dicht an seiner Seite schritt und bereit war, sich ihm in die Arme zu werfen.

Als sie jetzt das Schlafgemach betraten, als Jacqueline mit zitternder Hand den Kandelaber mit den Kerzen hob, um Adriennes Gesicht zu beleuchten und so dem Geliebten einen letzten Blick in das Antlitz der Schwester zu ermöglichen, der, wie sie wußte, trotz allem sein ganzes Herz gehörte, regte sich Arienne nicht.

Schwer und niedergedrückt vom Schlaf lagen die Lider auf diesen Augen, die sie nicht mehr öffnete, und die flackernden Lichter auf dem Kandelaber schwankten in Jacquelines Hand, so daß die Glasverzierungen des Leuchters klirrend aneinanderschlugen.

Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie die Schwester an, der sie noch eben den an ihrer Seite, den um ihres Vaters willen am Ende in den Tod gehenden, nicht gegönnt hatte.

Sie brachte kein Wort über die Lippen. Entsetzen malte sich in ihren Blicken und sie schwieg.

Und auch aus Auguste Rodeurs Munde kam lange kein Wort. Er sah und erfaßte alles in einem einzigen Momente, aber das Wort, das er doch an Jacqueline richten mußte, das fand er nicht.

Endlich trat er dicht an das Bett heran. Mit zitternden Händen berührte er die Lider derer, die die Fanny seiner Oden gewesen, die ihn wie im Tanze durch dieses Frankreich des Blutes und der Tränen auf die Höhe der Dichtung geführt hatte. Er schloß die Lider mit sanftem Druck, dann sagte er einfach:

»Adrienne ist tot, Jacqueline! ... Jetzt wird mir der Abschied so leicht und der Gang nach Paris ist mir nichts weiter, als ob er ein Morgenspaziergang durch den Park von Versailles sein sollte.«

Jacqueline war vor dem Lager der toten Schwester niedergesunken. Sie wagte es nicht, die Augen zu Auguste Rodeur emporzuschlagen.

Da klang die silberhelle Stimme des Kindes, das der Lichtschein der brennenden Kerzen geweckt hatte, durch das stille Gemach.

»Bist du da, Onkel Auguste,« fragte diese Stimme.

Auguste Rodeur trat an das Bettchen der Kleinen heran, das man ihr seit Adriennes schwerer Erkrankung in einer Nische des Gemaches bereitet hatte.

»Du bist ja in Hut und Mantel, Onkel Auguste,« fuhr das schlaftrunkene Kind fort und rieb sich die Augen. »Wo willst du denn hin?«

»Ich gehe nach Paris, Flora!«

Das Kind wurde munter.

»Dann bringst du mir etwas mit, Onkel Auguste?«

»Aber gewiß, mein Liebling,« sagte er. »Doch jetzt sei artig, Flora, und schlafe wieder ein. Wenn du erwachst, dann bringe ich dir das Schönste mit, was ich in ganz Paris finden kann! ... Leben Sie wohl, Jacqueline, und geben Sie mir den Schüssel zur Pforte ... Bleiben Sie bei unserer teuren Toten oder rufen Sie Frau Tourlan. Ich werde meinen Weg jetzt ganz allein gehen müssen! ... Den Schlüssel lege ich Ihnen unter den Fliederstrauch!«

Wortlos reichte ihm Jacqueline den Schlüssel. Mechanisch gab sie ihm die Hand zum Abschied, aber den Druck ihrer Hand fühlte er nicht. Sie war wie die Hand der andern hier im Himmelbett, schlaff und kalt. So ging er aus dem Haus der Tourlans, aus Louveciennes ... nach Paris!

Jacqueline rührte sich nicht. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft des Wunsches, daß er aus Paris wiederkehren möchte, weil er, der Totgeweihte, ja doch Eigentum einer Toten war!


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