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Buchschmuck

Dreizehntes Kapitel.

Der Dichter Auguste Rodeur hatte das Ende des Gäßchens erreicht, das den Garten des Tourlan'schen Landhauses in Louveciennes mit der Landstraße nach Paris verband. Und seltsam beklommen war ihm in dieser dunklen Frühlingsnacht zumute, da er sich auf den weiten und schweren Weg machte, den er vor hatte, und da er sich nun diesen, im Düster kaum zu erkennen, vor sich ausbreiten sah.

Der mit niederschmetternder Schnelligkeit eingetretene Tod der Heißgeliebten, Jacquelines rätselvolles Wesen, die Angst um Herrn Tourlan, den er in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft so lieb gewonnen hatte, der Schleier, der sich über seiner eigenen Zukunft breitete, die Wolken des Schicksals, die sich plötzlich wie das Gewitter dieser Nacht über dem Landhaus von Louveciennes zusammenballten, das alles lag zentnerschwer auf seine Seele und benahm ihm die Leichtigkeit des Handelns und des Entschlusses, die all sein Lebtag die eigentliche Kraft seines Seins gewesen war. Endlos, so kam es ihm in dieser Stunde vor, lag diese Straße vor ihm. Wenn er alle seine Kräfte zusammennahm, wenn er nicht vorher ermüdete und energie- und willenlos am Wegrand sich niederließ, dann konnte er Paris in etwa fünf Stunden erreichen, dann war es möglich, daß er noch kurz vor Sonnenaufgang in der Rue Saint Honoré in dem Unterschlupf des Herrn Tourlan, den Jacqueline und deren Mutter ihm verraten hatten, anlangte und den Vater der jetzt Toten von der Gefahr, in der er sich befand, unterrichtete.

Nur von diesem einen Gedanken beherrscht, schritt Auguste Rodeur vorwärts. Er achtete nicht des Regens, der jetzt in dichten Strömen fiel, der seinen Mantel und seine Kleider durchnäßte, so daß er bald keinen trockenen Faden mehr auf dem Leib hatte. Er wollte den Freund retten, den Vater der Familie erhalten, und wenn er das wollte, dann mußte er es ermöglichen, daß er noch ungesehen und unbemerkt in der Rue Saint Honoré anlangte, bevor sich die Sonne des neuen Tages über Paris erhob.

Mit dem Regen und Sturm des Ventose, der sich eben wieder kräftiger erhoben hatte, kämpfend, schritt Auguste Rodeur voran, stunden– und stundenlang, ohne zu erlahmen, ohne sich auch nur den Gedanken an Müdigkeit und Ruhe zu gönnen.

Es war totenstill in der Runde. Kein menschliches Wesen weit und breit zu sehen. Wenn er auf seinem Weg durch die Gasse eines Dorfes schritt, dann schlug hie und da ein Hund an oder ein verschlafener Hahn, dem der Morgen wohl nicht mehr fern zu sein schien, krähte dann und wann in einem Hühnerstall. Das Muhen einer Kuh. das Scharren eines träumenden Pferdes drang an Auguste Rodeurs Ohr. Sonst nichts ... nichts als das Heulen und Klagen dieses Frühlingswindes, der die Äste der Ulmen und Kastanien, deren erste Knospen sich eben entfalten wollten, wie in gigantischer Umarmung zur Erde bog.

So kam er durch Les Gressets, so durch Vaucresson. Als er endlich Saint Cloud erreicht hatte, schlug es von dem alten Kirchturm vier Uhr. Die Massen des gewaltigen Schlosses ragten düster in das noch immer undurchdringliche Dunkel der Nacht hinein. Aber hie und da in den Häusern wurde es schon lebendig. An der Seine waren Bootsleute damit beschäftigt, ihre Nachen flott zu machen. Sie zogen auf Fischfang aus, sie wollten offenbar ihre Netze heben, deren Ertrag in den Stunden vor Sonnenaufgang der ergiebigste war. Aus manchem Fenster schimmerte Licht. Die Landleute von Saint Cloud begannen mit ihrem Tagwerk. Sie rieben sich den Schlaf aus den Augen, warfen sich noch mitten im Dunkel in ihre Kleider, um in den Ställen nach dem rechten zu sehen und dann beim ersten Sonnenstrahl mit der Arbeit auf den Feldern und in den Gemüsegärten zu beginnen.

Vor den Toren Saint Clouds auf der Landstraße traf das Geräusch eines langsam seines Weges daherziehenden Wagens Auguste Rodeurs Ohr. Unwillkürlich drehte er sich um. Die Füße schmerzten ihn. Es war ihm mit einemmale, als ob er so nicht mehr weiter könne.

Es war der Karren eines Milchmanns, der seine Kannen in der frühen Morgenstunde in die Hauptstadt fuhr.

Den Schlaf noch in den Augen, saß der Alte in seiner blauen Bluse auf dem Bock. Er schnalzte von Zeit zu Zeit mit der Zunge, um seine Mähre anzutreiben, die sich aber nicht um alles in Trab setzen wollte. Auf dem Kahlkopf trug er die rote Mütze der Republik, wie sie alle in diesen Tagen, denn besser war schon besser, zumal wenn man aus Saint Cloud kam und in Paris seine Milch an die Freunde der Freiheit verkaufen wollte. So dachte wenigstens Vater Legrange, der den Sturz des Königtums und den Sieg der Gerechtigkeit hier in Saint Cloud aus nächster Nähe miterlebt hatte. Als der Wagen den einsamen Wanderer einholte, wandte sich Auguste Rodeur an den Alten auf dem Bock.

»Wie weit ist es noch nach Paris, Bürger?« fragte er ihn.

»Wenn Labruyère so weiter macht, dann werden wir kaum vor sechs im Quartier Saint Germain sein, Bürger, und ich muß noch in die Gegend des Palais Royal!«

Bei diesen Worten deutete der Alte auf seinen Gaul, der wieder hindöste, als ob er die Stalluft, aus der er gerade kam, noch nicht aus den Nüstern hätte.

»Ihr verkauft Eure Milch im Quartier des Palais Royal, Bürger?« fragte jetzt Auguste Rodeur.

»In der Rue Saint Honoré, wenn Euch das interessiert, Bürger!«

»Diese Straße ist auch mein Ziel, meint Ihr nicht, daß man vor Sonnenaufgang diese Straße noch erreichen kann?«

Der alte Legrange kratzte sich hinter den Ohren.

»Wenn Labruyère nicht so lendenlahm wäre, Bürger, dann schon! Die Sonne geht erst nach sechs Uhr auf, wir könnten dann schon um halb in der Rue Saint Honoré sein. Aber Labruyère will nicht. Wenn Ihr aber aufsitzen wollt, Bürger?«

Auguste Rodeur kletterte auf den Bock des Milchkarrens an die Seite des alten Legrange.

Er zog ein Assignat über fünf Franks aus der Tasche seines Rockes und reichte es dem Alten.

»Wenn Ihr Labruyère antreiben möchtet, Bürger, fügte er diesem Geschenk bei, es liegt mir sehr viel daran, noch vor Sonnenaufgang in der Rue Saint Honoré zu sein.«

Einen Augenblick sah der alte Legrange Auguste Rodeur mißtrauisch an.

»Komisch, Bürger,« meinte er, »in diesen Zeitläufen komisch, wenn man zu Fuß von der Straße von Daucresson kommt und noch vor Sonnenaufgang in die Rue Saint Honoré will. Habt Ihr am Ende politische Geschäfte in Paris? Das ist in diesen Tagen ein gefährlicher Beruf! Aber gleichviel, fünf Franks sind fünf Franks ... Hopla, Labruyère!«

Die Mähre setzte sich jetzt wirklich in Trab, die Peitsche des alten Legrange hatte sie dazu vermocht und eine Viertelstunde lang ging es in ganz anständigem Tempo vorwärts.

»Ihr kommt täglich nach Paris, Bürger?« fragte jetzt Auguste Rodeur.

»An jedem neuen Tag das gleiche, Bürger,« lautete die Antwort des Bauern. »Alle Morgen punkt vier hole ich Labruyère aus dem Stall und fahre meine Kannen nach Paris. Sie können unsere Milch gebrauchen in der Rue Saint Honoré, wer auch am Ruder sein mag, Robespierre oder Danton. Milch und Brot braucht man immer, solange einem noch die Vernunft und die Maschine das Leben lassen. Das war so in den Tagen des Tyrannen und ist auch heute im zweiten Jahr der Republik noch nicht anders geworden. Ich verkaufe meine Milch, ob nun der Monat März oder Ventose heißt!«

Er lachte, so daß die zahnlosen Kiefern seines breiten Mundes sichtbar wurden. Dann spie er in weitem Bogen aus und rief:

»Hopla, Labruyère! Für fünf Franks kann man sich schon ein wenig anstrengen.«

»Und was gibt es neues in Paris, Bürger, ich bin lange nicht mehr in Paris gewesen?«

Legrange schnalzte mit der Zunge.

»Und hättet gut daran getan, Bürger, zu bleiben, wo Ihr wart, sollt' ich meinen! In Paris gibt es nichts neues, immer nur das alte und dasselbe, Bürger!«

»Was meint Ihr damit?«

»Blut und Blut und wieder Blut, Bürger!« ... Das ist das einzige, was in diesen Tagen in Paris verzapft wird. Die Abnehmer meiner Milch verringern sich von Stunde zu Stunde. Du lieber Himmel! Über die Liebe feiert trotz allem nicht. Ha, ha ... wenn sie erst darauf kommen, die Säuglinge zu köpfen, dann kann ich Labruyère zum Schinder bringen und meine Kühe dem Schlächter verhandeln, aber bis dahin hat es noch gute Wege. Denn trotz allem, die Liebe feiert in Paris nicht!«

»So ... so ... Bürger!«

Auguste Rodeur starrte vor sich hin ... finster.

»Was ist Euch, Bürger?«

»Ich denke über das nach, was Ihr soeben sagtet, die Liebe feiert nicht.«

»Tut das! Sapristi, ob ich nicht recht habe! Der Storch kommt jeden Tag nach Paris, als hätte er keine andere Aufgabe als die, dafür zu sorgen, daß es dem Henker und seinen Knechten niemals an Material mangelt, und ich, ich verkaufe meine Milch dabei ... Übrigens hat es in der Rue Saint Honoré gestern einen kleinen Aufstand gegeben, Bürger! Vielleicht interessiert Euch das, wenn Ihr doch in diese Stadtgegend wollt!«

»Was war das?« forschte Auguste Rodeur gespannt. Um Ende handelte es sich um Tourlan, und der Zufall gab ihm hier eine handhabe, die ihm seins Nachforschungen erleichtern konnte! Deshalb fragte er: »Hat man vielleicht gestern in der Rue Saint Honoré einen Verdächtigen aufgegriffen, Bürger?«

Legrange lachte.

»Die greift man in der Rue Saint Honoré wie in ganz Paris eben an jedem Tag auf. Gestern sind es wieder 68 gewesen, die man auf dem Revolutionsplatz um einen Kopf kürzer gemacht hat. Das wäre also kein Grund für einen Aufstand. Aber die Leute lassen sich das nicht länger gefallen, sie machen in der Rue Saint Honoré nach ihrem eigenen Rezept Revolution. Denn sie begreifen nicht, warum sie allein den Vorzug haben sollen.«

»Welchen Vorzug Bürger, ich verstehe Euch nicht?«

»Den Vorzug, daß die Karren mit den Verurteilten von der Conciergerie jeden Tag durch die Rue Saint Honoré gezogen werden. Am Anfang hob das ja das Geschäft. Aber das Volk hat sich jetzt an den ewigen Exekutionen auch satt gesehen, es verlangt nach neuer Unterhaltung, Fouquier Tinville zieht eben nicht mehr, Robespierre sollte also findiger sein. Keiner reckt sich mehr den Hals nach diesen Karren aus. Es macht den Leuten keinen Spaß mehr, wie noch vor sechs Monaten, als die Österreicherin an die Reihe kam. Deshalb meidet man die Rue Saint Honoré und das schädigt die Läden und die Cafés.«

»Und deshalb gab es gestern einen Ausstand?«

»Ja, Bürger! Das Volk hat demonstriert, vor dem Café Vater Levoisins ... es heißt jetzt ›Zu den Rutenbündeln‹ und hieß in den Tagen des Tyrannen ›Zu den drei weißen Lilien‹ ... ist es gestern zu einer solennen Keilerei gekommen, als die den Karren mit den 68 Verurteilten wieder einmal durch die Rue Saint Honoré nach dem Revolutionsplatz fuhren. Man schrie: Schluß! Fort mit der Maschine! Die Maschine gehört nicht in die Stadt! Sucht euch gefälligst einen anderen Platz für das Ding! Na, und was man in solchen Fällen noch alles ruft. Die Begeisterung ist eben futsch, was wollt Ihr, Bürger? Man ist nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache. Das Volk verlangt neue Sensationen und das sehen eben Fouquier Tinville und Robespierre nicht ein.«

»Und hat dieser Aufstand irgend einen Erfolg gehabt, Bürger?«

»Es scheint doch so. Die Sache ist im Konvent zur Sprache gekommen, man beratschlagt darüber, ob man die Maschine nicht lieber in einem Faubourg aufstellen soll. Man sprach, wenn ich nicht irre, von Saint Antoine und der Barrière du Tronc ... aber bis dahin hat es wohl noch gute Wege ... Hopla, Labruyère!«

Infolge seines Gespräches hatte Legrange der Mähre nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Das Tier wäre um ein Haar in die Knie gesunken, wenn es Legrange nicht noch im letzten Augenblick in die Höhe gerissen hätte.

»Wäre noch schöner, Labruyère,« knurrte jetzt der Alte, »fünf Franks und auch noch stolpern, wäre noch schöner ... Hopla, Labruyère!«

Dann fuhr er in seiner Erzählung fort:

»Man kann es ihnen ja schließlich nicht weiter übelnehmen, Bürger, daß sie rasche Arbeit machen. Fouquier Tinville schafft ununterbrochen Tag und Nacht und seine Aktenstöße werden nicht niedriger. Die Gefängnisse sind schon alle überfüllt. In der Conciergerie, im Luxembourg, in Saint Lazare ist kein Plätzchen mehr zu haben. Fouquier Tinville und seine Henker müssen für freie Stellen sorgen ... Ich kenne per Zufall einen, der in Saint Lazare Wächter ist ... einen gewissen Rougegorge ... der hat es mir erzählt ... Das und noch mehr ...«

»Was noch mehr?«

»Daß es in Saint Lazare sehr fidel hergehen soll, Bürger! Man sperrt jetzt Männer und Weiber einfach zusammen, einstmalige Herzoginnen und Gräfinnen, die unter dem Tyrannen in seidenen Betten geschlafen haben, mit Damen aus dem Palais Royal und Dirnen von der Place Grève. Alles kunterbunt durcheinander. Und auch in den Gefängnissen feiert die Liebe nicht. Die Leute wollen ihr Leben noch einmal genießen, wenn jeden Morgen der Friseur seine Visite abstatten kann. Rougegorge erzählte mir, daß man in Saint Lazare Herzoginnen um eine Flasche ordinären Landwein versteigert und der glückliche Besitzer hat selber noch nicht einmal dem dritten Stand angehört. Wie sich doch die Zeiten ändern können, Bürger, in wenigen Monaten. Man sollt' es einfach nicht für möglich halten. Mir dünkt's noch gut wie heut', da ich den Galawagen des Bürgers Capet und den der hochnäsigen Österreicherin in Versailles sah, an dem Tage, da der die Nationalversammlung zum erstenmal einberief!«

Plötzlich und unvermittelt gab Auguste Rodeur dem Gespräch eine andere Wendung.

»Habt Ihr viele Kunden in der Rue Saint Honoré, Alter.« fragte er.

»Es macht sich so ... auch in der Rue Saint Honoré, Bürger, verliert man den einen und den anderen Kunden im Handumdrehen, man könnte sagen, durch höhere Gewalt!«

»Was meint Ihr damit, Bürger?«

»Da hatte ich zum Beispiel eine alte Frau zu bedienen, Bürger, Estelle mit Namen. Die brauchte viel Milch. Ich habe sie anfangs für eine Kinderhalterin genommen, weil sie so viel Milch brauchte ...

»Ja und was ist mit dieser Frau Estelle?«

»Wartet, ich erzähle Euch alles hübsch der Reihe nach!«

»Sie war aber, gar keine Kinderhalterin, sie betrieb vielmehr ein ganz anderes Geschäft in dem alten Hinterhaus der Rue Saint Honoré.«

Auguste Rodeur wurde immer gespannter. Aber er hütete sich, Legrange noch einmal zu unterbrechen und ihm so zu verraten, daß das Hinterhaus in der Rue Saint Honoré, in dem diese Frau Estelle wohnte, ein ganz besonderes Interesse für ihn habe.

Deshalb fragte er lieber ganz unbefangen:

»Und welches andere Geschäft betrieb diese Frau Estelle in ihrem Hinterhaus in der Rue Saint Honoré?«

»Ein sehr gefährliches ... eines, Bürger, das einen in diesen Tagen den Hals kosten kann. Sie hielt eine Herberge, eine Fremdenherberge, sie nahm Verdächtige in ihrer Herberge auf ... das wußte ich nicht!«

»Das ist ja interessant, Bürger,« heuchelte nun Auguste Rodeur, dem alles daran lag, den Namen dieser Herberge der Frau Estelle aus dem Alten herauszubekommen, ohne daß der Verdacht schöpfte.

»Interessant nennt Ihr das. Ehrliche Leute dazu zu veranlassen, ihre Milch in ein solches Haus zu liefern, wo man Gefahr laufen kann ... Meiner Lebtage setze ich keinen Fuß mehr in diese vermaledeite Herberge zu den drei goldenen Kugeln!«

Auguste Rodeur fuhr entsetzt zurück.

Es konnte Legrange unmöglich entgehen, daß der Name dieser Herberge auf seinen Fahrgast einen ganz unerwartet tiefen Eindruck machte.

»Habt Ihr am Ende auch gute Bekannte in der Herberge zu den drei goldenen Kugeln in der Rue Saint Honoré, Bürger? Wenn Ihr solche habt, dann kann ich Euch sagen, daß Ihr zu spät nach Paris kommt. Ein Agent des Überwachungskomitees und die Soldaten der Nationalgarde haben das Nest gestern nacht bereits ausgehoben. Der berüchtigte Chien de Boucher war auch dabei, wenn Ihr den par renommé kennt! Man soll einer ganzen Bande von Royalisten auf die Spur gekommen sein, die mit Pitt in England konspiriert. So hat man wenigstens gestern in der Rue Saint Honoré erzählt.«

Auguste Rodeur nahm alle seine Kraft der Selbstbeherrschung zusammen, damit der Bürger mit der roten Mütze, der so friedlich an seiner Seite auf dem Kutschbock des Milchkarrens saß, nicht merken sollte, in welch' furchtbare Erregung ihn diese Mitteilungen versetzten. Das Haus der Frau Estelle, diese Herberge zu den drei goldenen Kugeln in der Rue Saint Honoré, das war ja der Unterschlupf Théophile Tourlans, den ihm Jacqueline und deren Mutter verraten hatten. Er kam also zu spät, wenn der Milchmann an seiner Seite die Wahrheit sprach, und an der Wahrheit seiner Erzählung war nach den Umständen kaum zu zweifeln.

Es gelang Auguste Rodeur, so viel Ruhe und Fassung zu bewahren, daß Legrange in aller Seelenruhe weiter erzählte:

»Man hat also das Nest ausgehoben und die ganze Gesellschaft in das Luxembourg abgeführt. Wann sie freilich zur Verurteilung kommen, das ist eine andere Frage. Denn wie gesagt, Fouquier Tinville hat alle Hände voll zu tun und die Akten werden dem Eingang nach erledigt ... wer zu unterst liegt, der kann lange warten ...«

Er schwieg und sah Auguste Rodeur, ein schlaues Lächeln um seine unrasierten Lippen, mit einem vertraulichen Zwinkern seiner ein wenig triefenden Augen an.

»Wenn Ihr Lust habt, in der Herberge zu den drei goldenen Kugeln eine Visite abzustatten, Bürger, dann könnt Ihr Euch den Weg sparen. Denn dann kommt Ihr heute zu spät! Hopla, Labruyère!«

Der Milchkarren ratterte jetzt über das schlechte Pflaster der Rue de l'Université. Durch den Faubourg Saint Germain hatte Labruyère endlich Paris erreicht und noch lag die mit dem Dämmer des Morgens ringende Nacht über der Stadt. Als man in der Nähe des Louvre angelangt war und die Seine mit dem Pont Neuf hinter sich hatte, machte Legrange halt. Er deutete mit dem Stiel seiner Peitsche nach dem Wirtshausschild eines kleinen Hauses und sagte:

»Ich muß Labruyère jetzt füttern und will selbst meine Suppe essen drüben bei Vater Michelet, Ihr entschuldigt mich, Bürger.«

Auguste Rodeur reichte dem alten Legrange die Hand zum Abschied und schüttelte sie herzlich.

»Ich danke Euch, Bürger, für die Fahrt und für die Mitteilungen, die Ihr mir gemacht habt.«

Dann ging er geraden Weges vorüber an dem mächtigen Gebäudekomplex des Louvre und betrat voll Sorge und Angst die Rue Saint Honoré.

Noch war die alte Straße in völliges Dunkel gehüllt. Droben am Himmel stritt der erste Schimmer des werdenden Morgen mit den langsam erbleichenden Sternen. Auguste Rodeur fröstelte. Schon zwischen Saint Cloud und dem Faubourg Saint Germain hatte es aufgehört zu regnen, aber sein Mantel und seine Kleider waren noch immer naß. Ein Gefühl der Leere erinnerte ihn daran, daß er seit zwölf Stunden nichts mehr zu sich genommen hatte, und die Schauer, die jetzt über seine Haut liefen, waren wie Vorboten des Fiebers.

Da entdeckte er ungefähr in der Mitte des Stückes der Rue Saint Honoré, das er von hier aus zu überschauen vermochte, noch eine Laterne. Es war die einzige in der ganzen Straße, die brannte. Alle anderen Häuser außer dem einen, das diese Laterne trug, lagen in tiefe Schatten gehüllt da. Er mußte sich stärken, mußte etwas essen, sonst lief er Gefahr, auf dem Pflaster hinzusinken. Und dann ... wenn das der Wahrheit entsprach, was der Alte auf dem Kutschbock des Milchkarrens erzählt hatte, dann war ja sein Besuch in der Herberge der Frau Estelle völlig zwecklos, nein, im Gegenteil, dann war ein solcher Besuch für ihn selbst mit der größten Gefahr verbunden ... So wollte er denn in Ruhe überlegen, welche Schritte jetzt die geeignetesten seien, um etwas über das Schicksal Théophile Tourlans zu erfahren. Wenn es der Wahrheit entsprach, daß man ihn mit den anderen Verdächtigen der Herberge zu den drei goldenen Kugeln im Luxembourg eingeliefert hatte, dann brauchte er unter Umständen nur den Versuch anzustellen, sich einen Einblick in die Listen des Gefängnisses zu verschaffen und dann hatte er die traurige Gewißheit.

So ging er denn geraden Weges auf das Haus mit der brennenden Laterne zu. Schon von weitem vermochte er die auf der Innenseite der Glasscheibe in der Laterne angebrachte Inschrift zu lesen: Café.

Es war das Café zu den Rutenbündeln, das Lokal Vater Levoisins, das Auguste Rodeur jetzt ahnungslos betrat.

Man schien hier die Nacht durchgezecht zu haben. So wenigstens sah es aus. Das Lokal war leer. Aber auf den Tischen standen noch die Gläser mit den Resten und ein Spiel Karten, das irgend jemand vielleicht im Streit auf den Boden geworfen haben mochte, trieb sich in allen Winkeln und Ecken umher. Hier lag eine Karte und dort wieder eine, so daß man jede von den 32 auf einem anderen Plätzchen suchen konnte.

Todmüde setzte sich Auguste Rodeur auf die Bank, die sich hier in der Ofenecke an der Wand hinzog. In dem Ofen flackerte noch ein ganz kleines Feuer, an dem er sich ein wenig erwärmen und seine Kleider trocknen konnte. Ein großer, schwarzer Kater lag auf der Bank. Als Auguste Rodeur ihn im Nacken kraulte, begann das Tier behaglich zu schnurren.

Der Dichter stützte den Kopf in beide Hände und es dauerte nicht lange, da sank sein Haupt schwer herab. Er schlief. Die Aufregungen der letzten Stunden und die gewaltigen Anstrengungen, die ihm Weg und Fahrt von Louveciennes nach Paris auferlegt hatten, forderten ihren Tribut. Er wußte selbst nicht, wie lange er hier gesessen und geschlafen hatte, als ihn eine Frauenstimme in die Wirklichkeit zurückrief.

»Was wünscht Ihr, Bürger,« vernahm er sie an seiner Seite.

Auguste Rodeur fuhr auf. Sein Blick traf das Gesicht eines Mädchens und dieses Gesicht war von außerordentlicher Schönheit.

Es war die Bürgerin Louise Marteau, die vor ihm stand, deren Wuchs und Liebreiz die Pöbelhaufen in Saint Eustache in einen Rausch des Entzückens versetzt hatten. Aber Auguste Rodeur wußte das nicht.

»Könnt Ihr mir einen heißen Kaffee bereiten, Bürgerin,« fragte er. »Habt Ihr Brot oder sonst etwas Genießbares im Hause,« wandte er sich weiter an das Mädchen.

Die Bürgerin Louise Marteau sah ihn ganz erschrocken an. Sie maß den Fremdling in den nassen Kleidern, die auf eine weite nächtliche Wanderung hinzudeuten schienen, mit scheuen Blicken und dann sagte sie: »Wer Ihr auch sein mögt, Bürger, ich bin gern bereit, Euch einen heißen Kaffee zu kochen und Euch Brot zu holen und was wir sonst noch im Haus haben ... Aber wenn Ihr fremd in Paris seid ... Ich weiß nicht, ob das Café zu den Rutenbündeln der richtige Ort für Euch ist!«

»Was wollt Ihr damit sagen, Bürgerin?«

»Offen gestanden, Bürger, wenn ich Eure weißen und gepflegten Hände ansehe, wenn ich Euer Gesicht betrachte, dann halte ich Euch ... verzeiht mir ... aber dann halte ich Euch für einen gewesenen Adeligen ... und wenn nicht das, so doch sicher für einen Royalisten! Seitdem man gestern die Herberge zu den drei goldenen Kugeln ausgehoben hat, Bürger, ist für Leute Euren Standes kein sicherer Aufenthalt mehr in dem Café zu den Rutenbündeln. Das Café wird nämlich seit gestern von einem Agenten des Überwachungskomitees und den Soldaten der Nationalgarde kontrolliert.«

»Gebt mir meinen Kaffee, Bürgerin, und ich gehe,« sagte Auguste Rodeur mit müder Stimme.

»Wie Ihr wollt!«

Die Bürgerin Louise Marteau begab sich in die Küche, um das Gewünschte zu holen. Auguste Rodeurs Kopf sank wieder schwer auf die Platte des Tisches herab. Und wenn man ihn von hier gradenwegs in den Luxembourg oder nach Saint Lazare geführt hätte, er konnte nicht von der Stelle, ehe er nicht etwas zu sich genommen und sich gekräftigt hatte.

Und erst jetzt fiel es ihm ein, daß ja auch dieses Mädchen mit dem herrlichen Gesichte und den großen Madonnenaugen bestätigt hatte, was der alte Milchmann von der Herberge zu den drei goldenen Kugeln erzählt, daß also alle seine Bemühungen vergeblich sein würden, weil das Schicksal Théophile Tourlans ja schon besiegelt war.

Nach einigen Minuten erschien die Bürgerin Louise Marteau mit einer Schale dampfenden Kaffees. Sie setzte diese samt einem Korbe frischen Brotes und einem Teller Butter vor ihm nieder und er aß und trank mit einem wahren Heißhunger. Er glaubte zu fühlen, daß seine Kräfte fast unmittelbar wieder zurückkehrten.

Die Bürgerin Louise Marteau hatte sich an seiner Seite auf der Bank niedergelassen. Je länger sie ihn betrachtete und beobachtete, desto größeres Gefallen fand sie an dem jungen Menschen, den sie, sie selbst wußte eigentlich nicht aus welchem Grunde, für einen Aristokraten und Royalisten hielt, der sich seinem verstaubten und durchnäßten Äußeren zufolge auf der Flucht vor den Häschern befinden mußte, und sie fühlte, wie sie in ihrem Innern für ihn zu zittern begann.

»Was bin ich Euch schuldig, Bürgerin,« fragte jetzt Auguste Rodeur.

»Der Kaffee kostet vier Sous und das Brot mit Butter drei,« antwortete sie.

Er reichte ihr ein Assignat über einen Franc.

Eben als sie dabei war, ihm herauszugeben, wurde die Tür des Cafés aufgerissen und der mit der Trikolorenkokarde geschmückte Hut eines Nationalgardisten ward sichtbar.

»Sind noch Gäste im Café,« vernahm man da dessen rauhe Stimme.

Der Nationalgardist hatte den in der Ecke am Ofen sitzenden Fremden nicht sehen können. Denn die Bürgerin Louise Marteau stand vor ihm und sie log:

»Nein, keine Gäste mehr, Bürgersoldat!«

Aber ihre Stimme zitterte bei dieser Lüge und alle ihre Glieder schlotterten.

Der Gardist zog sich zurück.

Als er draußen war, sagte Louise Marteau zu Auguste Rodeur:

»Ihr könnt jetzt unter keinen Umständen auf die Straße. Verbergt Euch, Bürger, bis sie fort sind. Sie würden Euch aus dem Café treten sehen und eine Untersuchung abhalten, weil ich den angelogen habe.«

»Wo soll ich hin, Bürgerin,« stotterte Auguste Rodeur.

»Geht den Gang hinunter, hinter das Café, verbergt Euch rasch, rasch in meiner Kammer, ehe sie wieder kommen. Ich ziehe den Schlüssel ab und lasse Euch dann auf die Straße, sobald die Luft wieder rein geworden ist.«

Wie zwei Schatten glitten Auguste Rodeur und die Bürgerin Louise Marteau den noch in tiefes Dunkel gehüllten Gang entlang. Das Mädchen öffnete die Tür der Kammer.

»Hier hinein, Bürger, und regt Euch nicht, bis ich komme!«

Es war das Werk weniger Augenblicke.

Auguste Rodeur befand sich in der Mädchenkammer der Bürgerin Louise Marteau. Der matte Schein des anbrechenden Tages fiel durch das niedere Fenster. Er traf das unberührte Bett der Bürgerin, das diese infolge der aufregenden Vorgänge der Nacht, die die ganze Rue Saint Honoré in Bewegung gesetzt und das Café zu den Rutenbündeln mit Gästen gefüllt, gar nicht aufgesucht hatte.

Es war die gleiche Kammer, in der einst vor Monaten der verheerende Lenzsturm der Leidenschaft über den Scheitel der Bürgerin Louise Marteau dahingegangen war, in der sie dem jungen Bürgersoldaten Silvain Parmentier die Erstlinge ihrer Liebe zum Opfer gebracht hatte.

Als Louise das Café zu den Rutenbündeln wieder betrat, gewahrte sie zu ihrem Schrecken das pockennarbige Gesicht Chien des Bouchers und hinter diesem tauchte ... nein ... das war doch nicht ... der junge Bürgersoldat Silvain Parmentier, den sie einst so sehr geliebt hatte und von dem sie sich trotz allem noch immer nicht loszureißen vermochte ... das war der Schreiber und Helfershelfer Fouquier Tinvilles, des Unermüdlichen, dem sie seit jenem Tage in der Kirche Saint Eustache nicht wieder begegnet war.

Sie war ratlos, außer sich vor Angst und Verwirrung. Sie wußte nicht mehr was sie tat und sprach.

»Ihr haltet einen versteckt, Bürgerin Louise Marteau,« drang da die Stimme Chien de Bouchers an ihr Ohr.

»Nein,« erwiderte sie in festem Ton.

»Und doch, seht hier!«

Chien de Boucher hob den Hut in die Höhe, den Auguste Rodeur in der Verwirrung und Eile der Flucht auf der Ofenbank hatte liegen lassen.

»Das ist der Hut eines Royalisten, Bürgerin, ich vermisse die Kokarde an diesem Hut!«

»Sucht, Chien de Boucher, sucht,« klang es dem Agenten des Überwachungskomitees in kühlem Ton aus dem Munde des Mädchens entgegen.

»In deiner Kammer, Dirne, in deiner Kammer!«

Silvain Parmentier hatte diese Worte, von der Eifersucht Blitzstrahl erleuchtet und in maßloser Wut, hervorgestoßen.

Die Bürgerin Louise Marteau wankte.

»Kommt, Chien de Boucher, kommt, Gardisten ... ich zeige Euch den Weg!«

Silvain Parmentier stürmte den anderen voran den Gang entlang.

Die Bürgerin Louise Marteau brach zusammen. Aber sie weinte nicht. Sie hatte keine Tränen mehr seit jenem Tage, da sie der Mann, den sie liebte, der Menge in Saint Eustache zur Schau gestellt. Und um alles in der Welt hätte sie den nicht um Gnade bitten können.

Die Kammertür der Bürgerin Louise Marteau gab unter den Tritten der Nationalgardisten nach. Es war eine schwache Tür aus elendem Tannenholz, die ja nur in das Schlafgemach eines Mädchens führte.

»Es ist der Schreiber Auguste Rodeur, der die Verteidigungsschrift für Louis Capet verfaßt hat,« vernahm da die Bürgerin Louise Marteau die triumphierende Stimme Chien de Bouchers.

Dann kamen die schweren Schritte der Männer wieder den Gang entlang. Den verhafteten Auguste Rodeur in ihrer Mitte betraten die Nationalgardisten, gefolgt von Chien de Boucher und dem Helfershelfer des Unermüdlichen, jetzt wieder das Café.

»Gebt mir einen Kognak, Bürgerin Louise Marteau,« sagte da einer der Soldaten.

»Mir auch einen, mir auch einen,« befahlen die beiden anderen. Und erst, nachdem sich die Nationalgardisten aus den Gläsern, die ihnen Louise Marteau gereicht, gestärkt hatten, ertönte die Stimme Silvain Parmentiers:

»Führt sie beide ins Luxembourg, Soldaten, ihn und die Bürgerin Louise Marteau, da sie der Konspiration mit einem Feind der Republik dringend verdächtig ist. Ich erstatte Fouquier Tinville Bericht.«

Der einstige Bürgersoldat würdigte weder das Mädchen noch den Dichter eines Blickes. Er sah nichts davon, wie die Augen Louise Marteaus voll Entsetzen und doch noch immer voll Liebe auf ihn gerichtet waren, als sie an des Dichters Seite den Gardisten voranschritt.


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