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Buchschmuck

Fünftes Kapitel.

In einer stürmischen Nacht der dritten Dezemberwoche machte der junge Bürgersoldat Silvain Parmentier eine wichtige Bekanntschaft. Es war weit nach Mitternacht, und er saß noch immer im Café zu den Rutenbündeln in der Rue Saint Honoré. Vater Levoisin war müde. Er lehnte auf der Bank in der Ofenecke und war selig entschlummert. Einige Stammgäste des Cafés waren noch mit einem späten Kartenspiel beschäftigt. An ihrem Tische ging es laut genug her. Sie amüsierten sich. Denn eben war ein Händler in dem Café gewesen, der ihnen eine ganz neue Sorte von Spielkarten angeboten hatte. Sie aber hatten ihre Assignate in den Taschen behalten und ruhig mit den alten Karten weiter gespielt.

Es sei ein Skandal, es sei unwürdig freier Männer und der Söhne der einen und unteilbaren Republik, so hatte der Händler verkündet, daß sie mit Königen und Königinnen, Buben und Aß noch fernerhin Karten spielten. Er habe ein neues System erfunden. Seine Karten müsse jetzt alle Welt kaufen, denn das höchste Wesen nehme auf seinen Karten den Platz des Königs und die Vernunft den der Dame ein.

Da hatte aber der alte Schuster Brouillard aus der Rue Saint Martin dem Händler ins Gesicht gelacht.

Die alten Karten seien ihm gerade recht, hatte der Schuster gemeint. Es sei für einen jeden Republikaner eine wahre Wonne, dem König und seiner Dame den Trumpf zu geben, mit jedem Spiel dem König eins über den Kopf zu hauen, und die ganze Tischgesellschaft war in lautes Lachen ausgebrochen.

Der Händler hatte seines Weges ziehen müssen, ohne auch nur ein einziges seiner neumodischen Kartenspiele an den Mann gebracht zu haben.

Auch Silvain hatte hinübergehört. Dann war er aber wieder in seine Träume versunken, die ihn nun schon seit Wochen, seit dem Todestage der »Gerechten«, beherrschten und die er die ganze Zeit über nicht hatte los werden können.

Die Bürgerin Louise Marteau saß an seiner Seite. Viel gab es in dieser Stunde im Café nicht mehr zu tun. Die Alten am Stammtisch waren mit ihren Karten beschäftigt und leerten langsam und gemächlich die Viertel »Vin blanc«, die vor ihnen auf dem Tisch standen, und Vater Levoisins Auge wachte in dieser Stunde Gott sei Dank einmal nicht über ihrer Emsigkeit. Sie hielt die Hand des jungen Bürgersoldaten, dem sie sich so rasch und stürmisch hingegeben hatte, in der ihren und blickte ihn voll verzehrender Leidenschaft an.

Aber Silvains Gedanken weilten nicht bei der Geliebten, das empfand die Bürgerin Louise Marteau nur zu gut.

Er war in tiefen Gedanken verloren, er nagte an der Unterlippe, und wie eine finstere Wolke lagerte es auf seiner Stirn. Noch immer hatte er keine Gelegenheit, noch immer hatte er nicht den Mut gefunden, sich einem der Machthaber mit seinem Anliegen zu nähern, und das verdroß ihn.

Da ging die Tür des Cafés noch einmal auf ... und ein langer, hagerer Mann von etwa fünfzig Jahren erschien auf der Schwelle.

Die Alten am Stammtisch steckten die Köpfe zusammen. Es hatte den Anschein, als ob ihnen der neue Gast bekannt sei.

»Guten Abend, Bürger!« sagte der.

Dann ging er geraden Weges auf die Bürgerin Louise Marteau zu und befahl kurz:

»Einen Kaffee, Bürgerin!«

Es war dem jungen Mädchen durchaus nicht angenehm, jetzt noch einmal in die Küche zu müssen, um diesen Kaffee zu bereiten. Aber die Worte waren in solch herrischem Tone aus dem Munde des neuen Gastes gekommen, daß die Bürgerin Louise Marteau gar nicht an Widerspruch dachte.

Der junge Bürgersoldat war dermaßen in seine Träume versunken, daß er von dem Weggehen Louises keinerlei Notiz nahm.

Indessen trat der Fremde mit den Worten: »Ist es erlaubt?« an den Tisch Silvains heran und setzte sich diesem gerade gegenüber.

»Gefallt Ihr Euch in dem Rock der Republik, Bürgersoldat,« fragte er, sich setzend.

Mit einem erstaunten Blick maß Silvain den Fremden von oben bis unten.

Das vorhin noch so laute Gespräch am Stammtisch der Alten wurde nun im Flüsterton geführt.

»Ob ich mir gefalle?« kam es in gedehntem Tone aus Silvains Munde. »Man muß mit dem Posten fürlieb nehmen, Bürger, auf den einen das Vaterland, gestellt hat.«

»Das will ich meinen, Bürgersoldat,« antwortete der Fremde.

Es lag ein seltsamer, lauernder, werbender Ton in seiner Stimme. Das entging Silvain nicht.

Da entstand eine Pause.

Silvain nahm einen langen Schluck aus dem vor ihm stehenden Glas und sah dann sein Gegenüber wartend und fragend an.

Und der Fremde ergriff wieder das Wort:

»Ihr seid noch sehr jung, Bürgersoldat. Ihr seid von guter Statur und dünkt mich, wie ich Euch beim ersten Anblick beurteile, keineswegs auf den Kopf gefallen.«

»Oho,« brummte Silvain.

»Seht Ihr, daß ich recht hatte,« fuhr der Fremde unbekümmert in ruhigem und festem Ton fort. »In Eurem Alter und bei Euren Fähigkeiten kann man es heutzutage noch sehr weit bringen. Ihr stammt aus guter Familie, sollt ich meinen?«

Es entging Silvain nicht, daß die Augen des Fremden bei dieser Frage einen lauernden Ausdruck angenommen hatten.

»Was soll das heißen, Bürger, aus guter Familie?« erwiderte der Bürgersoldat in beinahe gereiztem Ton. »Ich dächte, daß man heute ... Mein Vater ist Landmann im Elsaß ...«

»Um so besser ... Nehmt Euch ein Exempel an Hébert ... Nehmt Euch eines an dem großen Chaumette! Der eine war Logenschließer und der andere Schuster, und heute regieren sie Paris und die Welt. Heute stürzen sie die alten Götter und die Könige, heute führen sie die Vernunft und die Natur als höchste Wesen ein. Dazu bedarf es keiner sogenannten guten Familie. Ich wollte Euch auch nur gefragt haben, ob Ihr lesen und schreiben könnt, Bürgersoldat?«

»Das will ich meinen,« antwortete der junge Silvain voll Stolz.

»Wenn man heutzutage das kann, dann hat man schon den halben Weg hinter sich, um eine Rolle in der Politik zu spielen. Sagt an, hättet Ihr nicht Lust dazu? Ich dächte, an dem Verstand könnt's Euch nicht mangeln.«

Argwöhnisch betrachtete sich Silvain jetzt sein Gegenüber von oben bis unten. Es gab heutzutage so viele Spitzel in Paris, das wußte er, die davon lebten, daß sie Wildfremden ihre politische Gesinnung auf die Zunge lockten und dann hingingen, sie dem Überwachungskomitee anzuzeigen, um so ein Stück Geld zu verdienen.

Es hatte den Anschein, als erriete der Fremde Silvains Gedanken.

»Ihr müßt mich nicht für solch einen halten, Bürgersoldat,« sagte er darum treuherzig. »Ich habe im Ernst gesprochen, ich meine es offen und ehrlich mit Euch. Kennt Ihr Chaumette?«

»Pierre Gaspard Chaumette? Freilich kenn' ich den dem Namen nach ... und Ihr?«

»Ich kenne ihn so gut, wie ich mich selber kenne, Freund.«

Erstaunt blickte Silvain sein Gegenüber an.

Da erschien die Bürgerin Louise Marteau mit dem Kaffee.

Langsam schlürfte der Fremde, von dessen Persönlichkeit sich der junge Bürgersoldat noch immer kein rechtes Bild machen konnte, das heiße Getränk.

Die Bürgerin Louise Marteau hatte sich wieder zurückgezogen.

»Ihr steht gut mit der Bürgerin, Bürgersoldat?« fragte da der Fremde ganz unvermittelt.

»Wie kommt Ihr auf diese Frage?«

»Ich meine nur so ... Sie ist jung ... Sie saß bei Euch allein am Tisch, als ich eintrat. So dachte ich mir, daß Ihr gut miteinander steht.«

»Ich kenne Euch nicht, Bürger,« lautete Silvains Antwort. »Ich wüßte also auch nicht, aus welchem Grund ich Euch Auskunft darüber schuldig wäre.«

»Schuldig ... schuldig ... davon ist doch nicht die Rede ... Bürgersoldat, ich habe doch nur ganz bescheiden gefragt ... Ihr kennt mich wirklich nicht?«

»Nein.«

»Aber ich, ich kenne Euch ... Silvain Parmentier!«

Erstaunt sah der junge Bürgersoldat sein Gegenüber an.

»Jawohl! ... Ich habe viel des Rühmenswerten von Euch gehört, von Eurem Eifer für die Sache der Freiheit, von Eurer Energie, von Eurem Mut! Die Republik kennt ihre Männer. Die Regierung weiß ihre Männer zu schätzen. Das könnt Ihr mir glauben, Silvain Parmentier!«

Das Herz in der Brust des jungen Mannes begann höher zu schlagen. Wer war der, den er da vor sich hatte? Sollte er seinen Worten Glauben schenken oder aber war hier höchste Vorsicht am Platze? ... Von beiden Seiten konnte in diesen Zeiten das Verderben drohen. Der Aufstand im Süden war noch lange nicht zu Ende. Die Royalisten waren immer noch heimlich am Werke und sandten in alle Welt, vornehmlich aber nach Paris, ihre Spitzel aus.

Silvain war wieder voll Argwohn. Der Fremde lächelte.

»Man hat mir viel von Euch erzählt, Silvain Parmentier,« fuhr er nun unbeirrt fort, »von Euren Reden, die Hand und Fuß haben, die es ernst nehmen mit der großen Sache der Republik, von Euren Plänen habe ich das eine und das andere vernommen!«

»Von meinen Plänen?«

»Was man so nennt,« verbesserte sich der Fremde, »sagen wir also lieber von Euren Ideen. Ihr standet am Schafott, als das Haupt der Österreicherin fiel, und Ihr habt nicht gezittert ... so hat man mir erzählt ... Ihr ward Zeuge des letzten Mahles und des Todes der 21 Vaterlandsverräter und seid keinen Augenblick wankend geworden. Die große Republik hat ihre Augen allüberall, Silvain Parmentier, und darum ...«

Der junge Bürgersoldat zitterte.

Woher wußte dieser Mensch das alles ... und er war doch der Meinung gewesen, er sei in der Menschenmenge dieses gewaltigen Paris und in dem Dunkel des Nichtgekanntseins völlig untergetaucht!

Der Fremde war mit seinem Kaffee zu Ende. Er winkte die Bürgerin Louise Marteau an sich heran, die sich jetzt hinten auf der Ofenbank neben Vater Levoisin niedergelassen hatte.

Er bestellte eine Kanne Bourgogne.

»Ihr tut mir doch Bescheid, Bürgersoldat,« wandte er sich an Silvain.

Die Alten am Stammtisch hatten ihr Kartenspiel beendet. Sie erhoben sich und gingen. Ein jeder warf noch einen neugierigen Blick auf den Fremden, der den jungen Bürgersoldaten jetzt völlig an sich gefesselt zu haben schien.

Aber der Fremde schenkte den Gehenden keinerlei Beachtung. Sein Blick hing wieder an der vollen und üppigen Erscheinung der Bürgerin Louise Marteau, die eben die Kanne mit dem Bourgogne auf den Tisch niedersetzte und dann rasch, als ob sie diesen Blick nicht ertragen könne, verschwand. Dem Fremden entging das nicht.

»Ein hübsches Weib, die Bürgerin,« sagte er leise. »Ist es die Tochter des Bürgers Levoisin, der das Café zu den Rutenbündeln führt?«

»Nein,« erwiderte Silvain treuherzig, er wußte noch immer nicht, wo der eigentlich hinaus wollte. »Sie ist eine Waise aus der Normandie. Beide Eltern starben in dem gleichen Jahre. Sie ist bei Vater Levoisin nur in Stellung.«

»Desto besser!«

»Was soll das heißen desto besser?« fragte Silvain jetzt in aufbrausendem Ton.

»Aus Eurer Erregung, Bürgersoldat, schließe ich, daß Ihr ein Verhältnis mit der Bürgerin habt!«

Silvain erwiderte kein Wort. Am liebsten aber wäre er aufgesprungen und hätte dem Unverschämten glatt den Rücken gekehrt. Aber ein Rätselvolles, die Tatsache, daß der Fremde ihn beim Namen kannte und von seinen Diensten in Sachen der Freiheit unterrichtet war, die Neugier, die sich darauf gründete, hielten ihn davon ab.

Das Gespräch wurde im Flüsterton geführt. Louise Marteau, die sich wieder in die hinterste Ecke des Cafés zurückgezogen hatte, verstand infolgedessen kein Wort. Aber eine Ahnung verriet ihr, daß zwischen den beiden Männern von niemand anderem, als von ihr selber die Rede war.

»Trinkt, trinkt, Bürgersoldat,« ermahnte nun der Fremde. Und nachdem sie miteinander angestoßen und die Gläser geleert hatten, fragte er: »Ihr habt Einfluß bei der Bürgerin, Bürgersoldat, wenn sie Eure Geliebte ist. Sie ist hübsch. Sie könnte der Republik in diesen Tagen einen großen Dienst erweisen.«

»Der Republik?«

Es entging dem Fremden nicht, daß es bei diesem Worte in Silvains hellen Augen zu leuchten begann. Die Flamme des Fanatismus, die bei diesem einzigen Zauberworte in den Blicken des jungen Bürgersoldaten lohte! Die kannte er! Sie sprach beredter als alle Worte jemals dazu imstande waren.

So ließ er denn die Maske der Vorsicht fallen und sagte endlich: »Wenn Ihr Einfluß bei der Bürgerin habt, Bürgersoldat Silvain Parmentier, dann zweifle ich keinen Augenblick daran, daß Ihr patriotisch genug sein werdet, Euren Einfluß dahin geltend zu machen, daß die Bürgerin ihre Schönheit in den Dienst des Vaterlandes stellt. Doch darüber sprechen wir ein andermal, denn das hat noch Zeit!«

»Patriotisch bin ich,« versicherte Silvain.

»Das ist über jeden Zweifel erhaben, Bürgersoldat, doch nun ... wollt Ihr mich begleiten?«

»Wohin?«

»Kennt Ihr die Cordeliers?«

»Was ist das?«

»Seid Ihr ein Kind? Ihr lebt in Paris und kennt die Cordeliers nicht?«

»Ich bin erst seit drei Monaten in Paris,« entschuldigte sich Silvain, »ich kam von der Rheinarmee, ich tue meinen Dienst, das ist alles.«

»So kommt!«

Der Fremde warf ein Assignat auf den Tisch.

»Der Rest für Euch, Bürgerin,« sagte er zu der herbeieilenden Louise Marteau, die er noch einmal von oben bis unten mit einem prüfenden Blicke maß.

Es war das erste Mal, daß Silvain sie beim Abschied nicht umarmte, das erste Mal seit jenem Abend, da sie sich drüben in der Kammer hinter dem Café ihm hingegeben hatte. Aber in dieser Minute schien der junge Bürgersoldat gar kein Auge mehr für Louise zu haben. Er folgte dem Fremden, der ihn wie mit dämonischer Gewalt in das Dunkel der Rue Saint Honoré zog.

Keine Laterne brannte mehr. Nur der Mond, der eben zwischen zerrissenen Schneewolken hervorlugte, warf einen matten Schein auf die Straße der beiden nächtlichen Wanderer. Es hatte den lieben, langen Tag geschneit. Sie gingen wie auf einem Teppich. Kein Laut wurde hörbar. Paris schlief. Nur in dem Arbeitszimmer der Conciergerie saß einer unermüdlich beim Schein der Lampe und schaffte und schaffte. Das war Fouquier Tinville, der öffentliche Ankläger des Konvents, auf dessen Tische sich die Anklagen auf Leben und Tod zu Bergen häuften.

Silvain hüllte sich fest in seinen Mantel. Von der Seine her wehte ein rauher Wind, die Nacht war schon weit vorgeschritten. Jetzt hatte sich der Himmel völlig geklärt und über Paris glitzerten die ungezählten Sterne. Er schauerte zusammen. Wie Eis und Tod lag es in dieser blutgeschwängerten Atmosphäre.

»Wir haben einen weiten Weg, Bürgersoldat,« vernahm da Silvain die Stimme des Fremden, als käme sie aus fernster Ferne. Der eisige Wind, der sich erhoben hatte, ließ ihm Fingerspitzen und Ohrmuscheln erstarren und verschlang in stöhnender Klage fast jeden Laut.

Dicht an der Seite des Fremden und fest in seinen Mantel gehüllt schritt Silvain einher. Es war ihm klar, daß diese Nacht eine Wendung seines Schicksals brachte, daß sie eine solche bringen mußte. Und er wäre mit diesem gegangen und wenn der ihn bis an das Ende Frankreichs geführt hätte.

»Der Weg ist weit,« begann der jetzt noch einmal, »und dennoch der Weg ist kurz, Bürgersoldat Silvain Parmentier, wenn wir überlegen, welch ungeheuren Weg wir hier in Paris in wenigen Monaten zurückgelegt haben. Von der Allmacht des Tyrannen ... bis zum Siege der Vernunft! Dieser Weg war weit!«

»Dem Siege der Vernunft,« wiederholte Silvain und sah seinen Begleiter begeistert an.

»Wenn man bedenkt, was die Welt noch vor dreiviertel Jahren war, Bürgersoldat, und was wir nun aus ihr gemacht haben, dann sollte man die Weite keines Weges mehr scheuen. Die Könige haben wir enthauptet, die Priester haben wir gestürzt, mit den Vorurteilen des Standes, der Geburt, der Gesellschaft haben wir endgültig aufgeräumt. Das Kreuz ist zertrümmert und in wenigen Tagen wird das Symbol der Freiheit von dem Altar des Tempels der Vernunft grüßen an der Stelle, wo sich einst der Wahnwitz des Aberglaubens breit gemacht hat.«

»Das Symbol der Freiheit,« wiederholte Silvain mit Begeisterung in der Stimme, »ja, Bürger, ja, das Symbol der Freiheit, dem wir auch das letzte Opfer zu bringen bereit sein müssen!«

»Und wäret Ihr dazu bereit, Bürgersoldat Silvain Parmentier,« fragte nun der Fremde ernst.

»Dazu bin ich zu jeder Minute und zu jeder Stunde bereit, Bürger!«

Scharf blickte der Fremde dem jungen Bürgersoldaten in das Gesicht.

»Jedes Opfer, Bürger,« wiederholte der nun voll Fanatismus, »jedes, auch das letzte!«

»Auch Euer Leben, auch Eure Liebe, Bürgersoldat, wie es einem treuen Sohne der einen und unteilbaren Republik zukommt?«

»Auch mein Leben ...« Silvain zögerte einen Moment ... »und auch meine Liebe, Bürger ...,« stieß er nun mühsam, aber im festen Tone unerschütterlicher Entschlossenheit hervor ... »auch diese, Bürger!«

»So hört ... Ihr habt doch vernommen, was sich in diesen Wochen im Konvent ereignet hat?«

»Was meint Ihr, Bürger?«

»Was ich meine? Daß man die Vernunft und die Natur feierlich an die Stelle der alten Götzen gesetzt hat!«

»Das habe ich vernommen.«

»Nun, der Tag ist nicht mehr fern, Bürgersoldat, da man die Kathedrale von Paris zum Tempel der Vernunft weihen wird. Der alte Gobel hat schon darauf schwören müssen. Es wird ein Fest werden, Bürgersoldat, wie die Welt noch keines gesehen hat. Der Konvent und der Stadtrat und die Behörden werden an diesem Tage der Vernunft huldigen und der Jungfrau, die man dort angebetet, solange die Tyrannen lebten, wird man ins Gesicht speien. Wollt Ihr einer der unseren sein, Bürgersoldat?«

»Ich bin der Eure. Ich war stets der Eure, zweifelt Ihr am Ende daran, Bürger?«

»Ich zweifle nicht daran.«

»Nun also.«

»So hört denn weiter! In allen Kirchen von Paris, in allen Kirchen Frankreichs soll sich das gleiche Schauspiel wiederholen, sobald die Kathedrale durch das Volk geweiht worden ist. Das Symbol der Natur, das Symbol der Vernunft soll aufgerichtet werden an der Stelle, wo einst der Kelch und das Tabernakel gestanden haben. Das Volk wird aus dem Kelch dieser verlogenen Priester trinken, das Tabernakel wird in Geld für die Armee umgeschmolzen, die lügnerischen Glocken dieser Kirchen sollen sich in Kanonen zur Verteidigung der Republik und der Freiheit wandeln. Sie und die Bronzetüren der Kathedralen werden in Kugeln umgegossen werden. Wir brauchen Bilderstürmer, Bürgersoldat, die ihre Sache ernst nehmen! Wollt Ihr der unsere sein?«

»Ich bin der Eure!«

»Mit Haut und Haaren?«

»Mit Haut und Haaren!«

»Nach Saint Denis richte sich der Blick!«

Der junge Bürgersoldat sah den Fremden voll Entsetzen an.

»Nach Saint Denis, Bürger, was soll das heißen nach Saint Denis,« stammelte er.

»Dort liegt das letzte Bollwerk des Gewesenen,« fuhr der Fremde im Tone des Fanatismus fort. Es hatte den Anschein, als wolle sich seine Rede überstürzen, wie ein Gießbach ergossen sich, sprudelten jetzt die Worte seines Mundes.

»Die Königsgräber müssen fallen. Sie müssen unser, sie müssen des Volkes und der Freiheit werden, Bürgersoldat!«

»Die Gräber ... das wäre Schändung!«

»Schändung?«

Es war ein drohender Blick, der nun den jungen Bürgersoldaten aus den Augen des Fremden traf.

»Verzeiht,« stammelte der, »aber ich dachte, die Toten –«

Der Fremde lachte. Heiser, bitter, schrecklich, wie im Wahnwitz lachte er, so daß der junge Bürgersoldat wieder einen Moment zurückschauerte.

»Seid Ihr etwa feige, Bürgersoldat?« hörte er da wieder diese Stimme. »Wollt Ihr halbe Arbeit machen? Sie müssen hervor aus der Kathedrale von Saint Denis, die sich Könige nannten und Königinnen, Dauphins und Prinzessinnen, auch ihre Asche muß vernichtet werden. Wir müssen auch den letzten Rest ihrer Gebeine vom Erdboden vertilgen, wenn wir denn ganze Arbeit machen wollen, Bürgersoldat!«

»Ja, das müssen wir, das müssen wir in der Tat, Bürger, großer Bürger,« stammelte nun Silvain.

»Seht Ihr, daß ich recht hatte! Umgewandt sollen sie werden ... diese Gräber. Kein Stein soll in Saint Denis auf dem andern bleiben, heraus aus euren pomphaften Särgen, ihr, die ihr euch noch im Tod über die andern erheben wolltet! In die Kalkgrube wollen wir sie versenken, und der Kalk wird ihr letztes Überbleibsel verzehren, wie sie noch kein Wurm der Grube verzehrt hat!« ... Und wenn noch einer den Kopf auf den Schultern tragen sollte, Bürgersoldat, ... dann werden wir ihn köpfen!«

Entzückt starrte Silvain den Fremden an. Wie der da sprach! So wahr und so gerecht! So hatte noch keiner zu ihm gesprochen, bis heute hatte er ja überhaupt noch gar keine Ahnung davon gehabt, daß man so sprechen konnte.

Bis in die Gräber, bis auf die Gebeine der Tyrannen, bis auf die Goldgewänder und Szepter, die sie noch in ihren Grüften in Saint Denis tragen,« schrie nun auch er.

»So gefallt Ihr mir, Bürgersoldat, so seid Ihr der rechte, der Sache der Freiheit zu dienen!«

Der Fremde blieb stehen und reichte Silvain die Hand.

»Und darf ich das andere heute dem Klub verkünden,« fragte er plötzlich.

»Welches andere und welchem Klub?«

»Ach so! Ich sprach Euch doch von den Cordeliers, Bürgersoldat. Wir stehen vor ihrem Heim.«

Es war ein altes Kloster. Ein unheimlicher Bau, so wollte es Silvain bedünken ... mit vielen Kellern und Zellen, vor dem der Fremde jetzt Halt machte.

»Tretet nur mit ein, Bürgersoldat, ich will Euch gern mit den Brüdern der Vernunft und der Freiheit bekannt machen.«

Silvain zitterte an allen Gliedern. Jetzt war es ihm klar. Die Cordeliers waren ein politischer Klub, sie mußten eine große Rolle im Konvent spielen. So nahe war er also völlig unvermutet seinen hohen Zielen durch einen Zufall gekommen. Oder vielleicht doch nicht durch einen Zufall? Hatte nicht der Fremde gesagt, daß er ihn kannte, daß man ihm von seinen freiheitlichen Gedanken und Plänen, von den Diensten, die er der Republik schon geleistet hatte und noch leisten wollte, erzählt hatte?

Silvain war stolz. Er war Patriot, ein guter Sohn des Vaterlandes, einer, der für die Sache der Freiheit zu jedem Opfer bereit war. Auch zu dem letzten!

Und deshalb sagte er jetzt voll fanatischen Eifers:

»Nehmt mich denn hin, Bürger, ich bringe dem Vaterland auch das letzte Opfer!«

»Auch die Geliebte,« forschte der Fremde.

Silvain schauderte. Er dachte an Louise Marteau, an die heißen Küsse, die sie jetzt schon seit Monden in der stillen Kammer hinter dem Café zu den Rutenbündeln tauschten. Er dachte daran, daß er sie ja an diesem Abend zum ersten Male nicht umarmt hatte. Er dachte an all das süße Glück, an all die heimliche Seligkeit und unvergeßliche Wollust, die er in ihren Armen genossen ... und ... was wollte der Fremde von ihm? Was sagte er? Was tat er da?

»Alles, auch das letzte Opfer, auch die Geliebte, auch das Glück ... der Freiheit und der Republik und den Brüdern ...« so vernahm er da wieder die furchtbare Stimme.

Und seiner selbst, seiner Sinne und seiner Gedanken und seines Willens nicht mehr mächtig, stammelte er:

»Alles, Bürger ... auch die Geliebte!«

»Weib und Natur und Schönheit, Vernunft und höchstes Wesen sind eines, Bürgersoldat,« hörte er da weiter. »Sie dürfen, sie können, sie sollen nicht einem gehören, das wäre Raub und Diebstahl an den andern. Hört Ihr! Es ist das höchste Ziel des Kommunismus, das sie gemeinsam wie die Luft und das Licht der Sonne allen, allen sind. Könnt Ihr Louise Marteau auf dem Altar des Vaterlandes zum Opfer bringen, Bürgersoldat? Fühlt Ihr die Kraft, ihren Namen in die Liste des gemeinsamen Gutes des Vaterlandes einzutragen, den Namen derer, die die Eure war? Seid Ihr bereit, sie als Symbol auf dem neuen Altar der Vernunft in der zum Tempel der Natur gewandelten Kirche vor allem Volke zu entblößen, fühlt Ihr diese höchste Kraft der Entsagung in Euch, Bürgersoldat?«

Und Silvain stammelte:

»Ja, ich fühle diese höchste Kraft der Entsagung in mir, Bürger!«

»So kommt!«

Der Fremde faßte Silvain an der Hand. Über eine dunkle, nur spärlich von einer an der Wand befestigten Fackel erleuchtete Treppe führte der Weg hinunter in das einstige Refektorium des ehemaligen Franziskanerklosters, das nun dem Klub der Cordeliers als Versammlungslokal diente.

Brausende Rufe empfingen die beiden Eintretenden.

Um einen runden Tisch saßen hier beim Schein flackernder Lichter etwa fünfzig Menschen und aus fünfzig Kehlen scholl es nun:

»Willkommen, Chaumette!«

Nun wußte Silvain, wer dieser rätselvolle Fremde war, der ihn und keinen andern im Café zu den Rutenbündeln in der Rue Saint Honoré gesucht und gefunden hatte.

Die ganze Tafelrunde war gleichmäßig gekleidet. Sie alle trugen die Trikolorenschärpen um die Brust und die phrygische Mütze auf den heißen Köpfen.

»Hoch Chaumette, hoch der Prophet.« riefen sie jetzt immer wieder aufs neue.

Da flog eine der roten Mützen durch den Raum.

Chaumette fing sie auf und drückte sie dem jungen Bürgersoldaten, der seine Kopfbedeckung beim Eintritt in den Saal abgenommen hatte, auf die Haare.

Dann krönte Chaumette sich selbst mit einer zweiten Mütze, die ihm geschäftige Hände reichten, und bestieg so die Rednertribüne.

»Hoch Chaumette,« dröhnte es wieder in diesem Augenblick von den Wänden des Saales wider.

Und Chaumette begann:

»Brüder! Der Sieg im Konvent, der Sieg im Stadtrat ist unser!«

»Das ist dein Werk, Chaumette.« hallte es ihm entgegen.

»Er ist unser! ... Die Kirchen der Schande sind gestürmt, sie sind gestürzt und die Tempel der Vernunft sollen nun errichtet werden. Ich führe euch hier einen neuen Bruder zu, Brüder! Die Gesetze des Klubs werden bald zu Gesetzen des Konvents und des Volkes erhoben werden, Brüder! Robespierre steht auf unserer Seite!«

»Dein Werk ... dein großes, dein unsterbliches Werk, Chaumette ...«

»Das Weib und die Schönheit werden gemeinsames Gut aller Bürger sein. Wer ein Weib für sich allein begehrt, Brüder, der begeht Verrat an der Sache der Republik und verfällt der Maschine!«

»Bravo, Chaumette!«

»Wir werden das Gesetz der Schlichtheit, der Einfachheit des Lebens im Sinne der Natur im Konvent einbringen, Brüder! Wir werden es durchzusetzen wissen! Die Kartoffel soll fortab die einzige Nahrung des schlichten Bürgers sein! Der Schlemmer, der Fleischfresser verfalle der Maschine! Das werde Gesetz des Konvents!«

»Hoch Chaumette!«

»Niemand soll anderes Schuhwerk als hölzernes tragen. Es werde gleichfalls Gesetz, und wer dagegen verstößt, verfalle der Maschine!«

»Hoch, Chaumette!«

Ein wahrer Freudentaumel erfaßte bei diesen Ausführungen des Redners die Tafelrunde und er löste sich in den frenetischen Rufen:

»Hoch, Chaumette!« ... und immer wieder: »Hoch, Chaumette!«

Schließlich gingen seine Worte wie in einem brandenden Meer unter. Nur einzelne und unverständliche Laute drangen noch an die Ohren der Hörer.

»Gemeinsamkeit, Gemeinsamkeit, Gemeinsamkeit ...« scholl es wie ein blutiger Fluch, der alles Schöne verderben und vernichten sollte, durch den Saal.

Und der junge Bürgersoldat Parmentier sah und hörte nichts anderes mehr, als dieses eine, dieses furchtbare, alles Entsetzen der Menschheit in sich schließende Wort.

Er hielt es in dieser Stunde für eine Prophetie, für der kommenden Menschheit neues Evangelium ... und so ward auch er in dieser Nacht Mitglied des Klubs der Cordeliers.


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