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Buchschmuck

Neuntes Kapitel.

Der Dichter Auguste Rodeur war gerade wieder mit seinem »Hermes« beschäftigt, als Frau Labiche in sein Zimmer trat und ihm einen Brief überreichte. Der kam aus Louveciennes. In fieberhafter Hast, die Frau Labiche sonst gar nicht an ihm gewohnt war, riß Auguste Rodeur den Umschlag von dem Bogen und las:

Teuerster Freund!

Kommen Sie so rasch Sie können! Adrienne ist sehr krank. Mutter ist außer sich. Wir sind in Gefahr!

Ohne Unterschrift hatte Jacqueline diese Zeilen mit fliegender Hand auf das Papier geworfen.

Ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, ohne zu bedenken, daß er selbst denen in Paris verdächtig war und sich doch hier in Versailles verborgen hielt, nahm Auguste Rodeur Mantel und Hut und machte sich nach Louveciennes auf den Weg.

»Wann darf ich Sie zurückerwarten, Herr Rodeur,« rief Frau Labiche ihm noch nach.

»Ich weiß es nicht,« lautete seine Antwort.

Er lief mehr, als er ging. Auf dem ganzen langen Weg von Versailles nach Louveciennes kam er keinen Augenblick zur Ruhe. Adrienne war sehr krank, Frau Tourlan außer sich, die ihm so nahe stehende Familie, die nächsten Angehörigen der Heißgeliebten in Gefahr! Was mochte vorgefallen sein?

Im Garten des Landhauses in Louveciennes kam ihm Jacqueline entgegen.

»Was gibt es, Jacqueline,« rief er Adriennes Schwester schon von weitem zu.

»Gott sei Dank, daß Sie endlich da sind, teuerster Freund, wir sind vor Angst fast gestorben und Adrienne ist so krank!«

Nur diesen letzten Satz: Adrienne ist so krank, verstand Auguste Rodeur in seiner ganzen Furchtbarkeit. Die Gefahr, in der die anderen sich befunden hatten, in der sie immer noch schweben konnten, hatte er beinahe schon wieder vergessen.

Jacqueline war ihm entgegengegangen. Jetzt standen sie dicht beieinander am Gartentor und Jacqueline reichte ihm die Hand.

»War Dr. Richard da, was hat Dr. Richard gesagt, Jacqueline,« stammelte er.

»Dr. Richard war da. Er hält es für einen Unfall, wie er schon des öfteren dagewesen ist, für einen Herzkrampf, der auch diesesmal wieder vorübergehen wird, Herr Rodeur!«

»Gott sei Lob und Dank!«

»Es geht ihr ja auch schon wieder besser. Nur die furchtbare Aufregung ist daran schuld gewesen.«

»Welche Aufregung, Jacqueline?«

»Kommen Sie mit in das Haus, ich erzähle Ihnen dann alles,« erwiderte Jacqueline.

Mit diesen Worten führte sie Auguste Rodeur nach der Tür des Landhauses, sie traten ein.

»Es war entsetzlich, was wir in diesen Stunden abgehalten haben!«

»Aber so reden Sie doch endlich, Jacqueline, so erklären Sie mir doch!«

»Ein Abgesandter des Überwachungskomitees, Herr Rodeur, ist mit zwei Nationalgardisten bei uns im Haus gewesen.«

»Bei Ihnen, Jacqueline?«

»Bei uns!«

»Aber sie haben nichts gefunden, Gott Lob und Dank! Sie haben eine Haussuchung veranstaltet, das oberste haben sie zu unterst gekehrt, Herr Rodeur. Bis in Adriennes Schlafzimmer sind sie vorgedrungen. Sie haben die Kranke aus dem Bett gezerrt. Aber sie haben nichts gefunden.«

»Die Halunken,« knirschte Auguste Rodeur.

Auguste und Jacqueline saßen jetzt wieder in dem Salon des Landhauses, wo der Dichter an jenem Abend seiner Unterredung mit Jacqueline mit der kleinen Flora gespielt hatte. Endlich hatte Auguste seine Gedanken gesammelt.

»Wo ist Frau Tourlan,« fragte er. »Wollen Sie mich zu Adrienne führen? Darf ich zu ihr, Jacqueline?«

»Ich werde Sie nachher hinausbegleiten, Herr Rodeur,« antwortete Jacqueline. »Mutter ist auch oben. Sie zittert noch immer an allen Gliedern. Ich glaube nicht, daß sie sobald den Mut findet, wieder herunter zu kommen aus Furcht. daß die Halunken aus Paris noch einmal zurückkehren könnten.«

»So will ich mich denn gedulden. Aber sagen Sie mir um Gotteswillen das eine, Jacqueline, was hat man denn bei Ihnen im Hause gesucht, was hat man denn in drei Teufels Namen bei Ihnen im Hause suchen können?«

Jacqueline schwieg.

Auguste Rodeur wurde es momentan klar, daß die Familie Tourlan, die er doch so gut kannte, die er doch so gut zu kennen glaubte, ein Geheimnis vor ihm hatte, daß Jacqueline mit sich selbst noch nicht im reinen war, ob sie ihm dieses Geheimnis preisgeben sollte oder nicht. Deshalb sagte er:

»Sie kennen mich, Jacqueline, Sie wissen, daß Sie vertrauen zu mir fassen können, daß ich Adrienne über alles, daß ich sie mehr als mich selbst liebe, daß ich sie liebe mit einer Leidenschaft, an die nichts Irdisches, an die weder Tod noch Leben heranreichen können. Sie wissen, daß Sie alle drei aus diesem Grunde in mir einen Freund besitzen, der jederzeit bereit sein wird, sein letztes mit Ihnen zu teilen und sein Leben für Sie in die Schanze zu schlagen! Darum reden Sie, Jacqueline!«

»Das weiß ich, Herr Rodeur, daß wir einen solchen Freund in Ihnen besitzen,« sagte Jacqueline schlicht, »und darum ...«

»Reden Sie, Jacqueline. Es wird mir leichter sein. Mittel und Wege zu finden, Sie und die Ihren zu beschützen, wenn ich weiß, um was es sich handelt. Was hat man bei Ihnen in Ihrem Hause suchen können, hier in Louveciennes?«

»Es ist unser tiefstes und heiligstes Geheimnis, Herr Rodeur.« erwiderte nun Jacqueline leise und langsam.

»Daß Sie mir darum vorenthalten zu müssen glauben, Jacqueline,« kam es nun schmerzlich von seinen Lippen.

»Ach nein, Herr Rodeur. Aber ...«

»Aber?«

»Das Leben des teuersten Menschen hängt von der Wahrung dieses Geheimnisses in diesen Tagen ab, Herr Rodeur!«

»Des teuersten Menschen, wer ist Ihnen dieser teuerste? Jacqueline, von dem ich noch nie ein Sterbenswort gehört habe?«

Es lag fast wie Eifersucht in Auguste Rodeurs Frage.

Jacqueline bemerkte das wohl.

»Sie können darüber völlig beruhigt sein. Herr Rodeur,« antwortete deshalb Jacqueline mit einem feinen Lächeln, »obwohl dieser Mensch Mutter und Adrienne und mir, uns allen dreien, gleich teuer ist, hat er doch nicht die Möglichkeit, unserer Freundschaft zu Ihnen und Adriennes Liebe irgendwelchen Abbruch zu tun.«

»Und wer ist dieser seltene Mensch, Jacqueline?«

»Ihnen will ich es sagen, selbst auf die Gefahr hin ...«

»Auf welche Gefahr hin?«

»Auf die Gefahr hin, daß Mutter damit nicht einverstanden ist. Denn sie hat Ihnen gewiß, wie allen anderen Freunden und Bekannten erzählt, daß unser Vater, daß Herr Tourlan in Lyon, enthauptet worden ist?«

»Das hat sie mir allerdings erzählt.«

»Das wußte ich ... Aber Herr Tourlan lebt. Er ist nach der Schweiz entkommen. Er wohnt in Genf. Er gehört zu den Emigrierten, Herr Rodeur.«

»Jetzt verstehe ich alles ... Und Sie, Sie haben ... Sie Unglückselige haben ...«

Das Wort erstarb auf Auguste Rodeurs Lippen.

»Ja, wir haben ... wir mußten doch, Herr Rodeur ... Es ist doch unser Vater,« erwiderte Jacqueline.

Endlich hatte sich Auguste Rodeur gefaßt.

»Und wissen Sie denn, in welch ungeheurer Gefahr Sie sich alle drei befinden? Kennen Sie denn das Gesetz über die Verdächtigen wirklich nicht? Wissen Sie denn wirklich nicht, daß der Konvent die Todesstrafe für alle anberaumt hat, die mit einem Emigrierten korrespondieren? Und Sie waren so leichtsinnig, Briefe in die Schweiz zu schreiben und diese Briefe hat man hier in Louveciennes bei Ihnen gesucht!«

»Wir waren so leichtsinnig, Herr Rodeur ... was hätten wir denn anderes tun sollen? Herr Tourlan mußte doch Nachricht aus der Heimat haben!«

»Und Herr Tourlan ist Girondist, das wissen Sie doch!«

»Er ist es! Aber man hat die Briefe nie gefunden, denn die Boten, die die unseren bis an die Grenze brachten, sind treu und zuverlässig, Herr Rodeur!«

»Wer ist heute noch treu und zuverlässig,« lachte da Auguste bitter, »wer, wer, wer in ganz Frankreich, meine arme Jacqueline? Aus der einfachen Tatsache, daß diese Burschen hier waren, ersehen Sie doch, daß Ihr Geheimnis auch von den zuverlässigsten Freunden verraten und preisgegeben worden ist.«

»Nein, Sie irren. Herr Rodeur! Die Gefahr ist im Gegenteil noch viel größer, als sie jetzt annehmen! Mutter hat Herrn Tourlan nach Genf geschrieben. Sie hat ihm nicht verschweigen können, wie es um Adriennes Gesundheit steht, sie hat ihm mitgeteilt, was Dr. Richard gesagt hat, daß es mit Adrienne bald zu Ende gehen wird ... und Adrienne war immer Herrn Tourlans Lieblingstochter ... Herr Rodeur ... und ...«

»Und?«

»Sie haben die Briefe nicht gefunden ... Ihr Platz ist sicher ... An die Röhre in der Wand über dem Kamin dachten sie nicht ... aber die andere Gefahr. daß, worüber sie noch nicht unterrichtet zu sein scheinen, das ist das Schlimme, Herr Rodeur!«

»Reden Sie, Jacqueline, denn jetzt bin ich auf alles gefaßt!« Über ich errate, was Sie meinen! Sie brauchen jetzt gar nicht mehr zu reden, und wie ich Ihnen schon damals sagte: Ich bin zu allem bereit! ... Ihre Mutter hat also Herrn Tourlan von Adriennes Krankheit und bevorstehendem Tod geschrieben. Adrienne ist Herrn Tourlans Lieblingstochter. Herr Tourlan hat sein Kind noch einmal sehen wollen. Er hat sein sicheres Asyl in der Schweiz verlassen. Herr Tourlan ist nach Frankreich zurückgekehrt und Sie halten ihn hier in Louveciennes in Ihrem Hause verborgen!«

»Herr Tourlan ist nach Frankreich zurückgekehrt, ja. Sie haben recht, Herr Rodeur. Er wäre kein Vater, wenn er nicht zu seinem sterbenden Kinde zurückkehrte. Aber wir halten ihn nicht hier in Louveciennes in unserem Hause verborgen. Herr Tourlan wollte die Seinen nicht in Gefahr bringen ... Er ist in Paris! In tiefer Nacht ist er heute hier gewesen und hat Adrienne noch einmal gesehen.«

»Und wenn ihn einer in Paris erkennt. Jacqueline ... der Wohlfahrtsausschuß und das Überwachungskomitee haben in der ganzen Stadt ihre Häscher und man kennt Herrn Tourlan, denn alle Girondisten sind der Regierung genau bekannt!«

»In Paris wird man ihn nicht finden, Herr Rodeur. Er hat bei einem Freund in der Rue Saint Honoré einen Unterschlupf gefunden und verläßt niemals vor Mitternacht das Haus.«

»Sie stehen auf einem Krater, Jacqueline,« sagte Auguste Rodeur ernst. Sie und Frau Tourlan und Adrienne stehen auf einem Krater und ich selber, wir alle, Jacqueline, wir alle ... Sei's drum! Ganz Frankreich baut sich in diesen Tagen auf einem Krater auf. Kommen Sie! Über das eine verspreche ich Ihnen! Bauen Sie auf mich! Wenn die Stunde ruft, wenn man sich Ihres Vaters, wenn man sich Herrn Tourlans bemächtigen sollte, dann rechnen Sie auf mich, denn ich bin zu dem letzten bereit!«

»Wie danke ich Ihnen, Herr Rodeur, aber es wird nicht dahin kommen, die Freunde des Herrn Tourlan sind treu. Man wird ihn nicht in Paris finden!«

»Ich bewundere Ihren Mut und Ihre Hoffnungsfreudigkeit, Jacqueline, doch jetzt führen Sie mich zu Frau Tourlan und zu Adrienne!«

»Gerne ... Aber Sie versprechen mir ...«

»Alles, was Sie verlangen, Jacqueline!«

»Daß Sie der Mutter und Adrienne nichts davon sagen, daß Sie um unser Geheimnis wissen, Herr Rodeur. Es würde für die Kranke und Frau Tourlan nur neue Aufregung geben, und Doktor Richard sorgt wohl mit Recht für Adriennes Herz.«

»Es bleibt zwischen uns beiden. Jacqueline, Sie sind ein tapferes Mädchen, mit dem ein Mann in diesen Tagen gerne ein Geheimnis teilt!«

»Also abgemacht!«

An Jacquelines Seite stieg Auguste Rodeur jetzt die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf.

Frau Tourlan kam den beiden entgegen.

»Es geht etwas besser,« sagte sie und ein glückliches Lächeln verklärte ihr von Gram und Sorge schon früh gealtertes, aber noch immer so hübsches Gesicht.

Jetzt begrüßte sie Auguste.

Sie hatte keine Ahnung davon, daß ein Brief Jacquelines den Freund in dieser Stunde nach Louveciennes gerufen hatte. Sie war der Meinung, er sei, wie so oft, aus eigenem Antrieb gekommen, um sich persönlich nach dem Befinden Adriennes zu erkundigen und sich selbst ein Bild von deren Zustand zu machen.

»Darf man eintreten,« fragte Auguste, nachdem er Frau Tourlan herzlich die Hand gedrückt hatte.

»Adrienne erwartet sie,« lautete die Antwort. »Sie hat an diesem Morgen schon verschiedenemale nach Ihnen gefragt, Herr Rodeur!«

Von Jacqueline gefolgt, trat Auguste Rodeur in das Schlafgemach Adriennes. Sie lag in dem Himmelbett des Schülers von Saint Cyr, in dem der Dichter neulich den ruhigen und gesunden Schlaf der kleinen Flora bewundert hatte.

Ganz leise erhob sich bei Augustes Eintritt das Kind, das neben dem Bett auf einem Taburett gesessen und wieder in seinem Bilderbuch geblättert hatte.

Die Worte des Arztes, der Großmutter und der Tante hatten ihren Eindruck auf die Kleine nicht verfehlt. Sie schlich sich auf den Zehen an Onkel Auguste heran, ließ sich von dem in die Höhe heben, denn sie wußte, daß sie in Mutters Gegenwart keinen Lärm machen durfte, daß es ihr verboten war, zu lachen, fröhlich und laut zu sein.

Auguste Rodeur küßte die Kleine auf die Stirn. Dann setzte er sie sanft und behutsam auf den Boden nieder und näherte sich dem Himmelbett, in dem Adrienne Sourieux mit wachsbleichem Gesicht lag.

»Wie das Marmorbild eines griechischen Meisters,« dachte der Dichter.

Sie reichte ihm die Hand.

Er hielt sie lange in der seinen.

Die Hand war kühl und schlaff. Merklich traten die Adern unter der zarten Haut dieser Hand hervor, denn aus dem Garten von Louveciennes fiel ein schüchterner Strahl der Wintersonne durch das hohe Fenster in das Gemach und dieser Strahl traf gerade diese Hand, als sie Auguste Rodeur fast feierlich an seine Lippen führte.

Er wagte es gar nicht, Adrienne Sourieux nach ihrem Befinden zu fragen. Er sah und er wußte schon zu viel!

Jacqueline war an das Fenster getreten. Sie blickte hinaus in den Garten, über dessen Beete und Rasen der Winter noch immer sein Leichentuch gebreitet hatte. Aber über den blauen Himmel zogen da weiße Wölkchen in eiligem Fluge und erweckten in Jacquelines Innerem die Vorstellung, als könnten sie bescheidene Boten des doch nicht mehr fernen Frühlings sein.

»Wir haben eine große Aufregung hinter uns, mein Freund,« begann Adrienne.

»Sie deutete auf das Taburett, das zur Seite des Himmelbettes stand, auf dem das Kind noch eben gesessen hatte, und bot es so wortlos Auguste Rodeur an.

Der Dichter setzte sich an das Bett der Geliebten. Wie ein Arzt der Seele sah er in dieser Tage aus, so sorgenvoll, so ernst, so forschend, so jeder Sinnenlust entrückt waren seine guten Augen auf das wachsbleiche Gesicht Adriennes gerichtet.

»Ich weiß es, meine liebste Adrienne,« sagte er. »Aber die Gefahr ist vorüber. Jacqueline hat mir alles erzählt. Sie sollten nicht mehr daran denken. Heitere Vorstellungen und Hoffnung, meine Beste, sind schon der halbe Weg der Genesung.«

Adrienne lächelte trübe.

»Heitere Vorstellungen in dem Frankreich dieser Tage, dazu müßte man schon, wie Sie, ein Dichter sein.«

»Dafür bin ich es ja, Adrienne.« sagte er und zwang sich zum Lächeln, zwang sich zu einem heiteren, fröhlichen, sorglosen Ausdruck seines Gesichtes, obwohl ihm im Anblick der heißgeliebten, der er ansah, daß sie der Tod bereits geküßt hatte, die Tränen in die Augen steigen wollten.

»Dazu bin ich eben Dichter, meine Beste. Sie haben ganz recht. Wäre ich es, wenn ich aus diesem blutgedüngten Boden die Saat der Zukunft nicht schon sprießen sähe! Betrachten Sie Ihre kleine Flora, Adrienne, denken Sie an das Kind, und Sie werden mit mir an die Vorstellung der Heiterkeit und an eine bessere Zukunft glauben!«

»Zukunft, Freund, Zukunft ...«

Es lag ein Furchtbares in dem Tone, den Adrienne in dieser Stunde diesem einen Worte »Zukunft« gab. Doch Sie sprachen von Flora ... Leihen Sie mir Ihr Ohr, teuerster Freund!«

Auguste Rodeur rückte das Taburett dicht an das Himmelbett heran. Adrienne nahm seinen Kopf in beide Hände, führte ihn dicht an ihre Lippen und er erschauerte.

Aber ihre Lippen begegneten nicht seinem Munde. Sie lagen nur dicht auf seinem Ohr und er vernahm ihre Stimme wie den Hauch des ersterbenden Herbstwindes, wie das leise Klagen der Luft, die über einen abgeernteten Acker geht.

Jacqueline hielt die kleine Flora an der Hand. Sie stand mit dem Kinde am Fenster und blickte mit ihm hinaus in den Garten des Landhauses von Louveciennes. Sie zeigte ihm die weißen Wölkchen am blauen Himmel, die wie die Gedanken und Fantasiegebilde des Dichters, der hier in dem Zimmer saß, vorüberflogen, und sie erzählte dem Kinde mit halblauter Stimme ein Märchen von den Wolken, die die Daunenbetten der Englein unseres lieben Herrgotts sein sollten.

Und das Kind lauschte den Worten Tante Jacquelines und war ganz in die Vorstellung von dem Himmelbett der Englein droben in den golden-blauen Hallen vertieft.

»Ich habe viel an Sie gedacht und mich viel um Sie gesorgt in diesen Tagen, mein bester Freund,« vernahm jetzt Auguste Rodeur Adriennes Stimme. Sie kam von den kühlen und trockenen Lippen der Kranken, die dicht auf seinem Ohr ruhten.

»Ja, Adrienne,« sagte er leise.

»Und ich habe nachgedacht, Auguste, ich habe nachgedacht über mich und über Sie, über Jacqueline und das Kind.«

»Aber das sollen Sie doch nicht, Adrienne,« wehrte er ihr, »Sie wissen doch ...«

»Das soll ich nicht, mein Freund?« fragte sie in traurigem Tone. »Warum soll ich das nicht? Die Tage des Schreckens in Frankreich werden ein Ende nehmen ... und Sie ... Sie sind noch so jung ... aber ich ...«

Er wagte es nicht mehr, ein Wort zu erwidern. Am Ende wäre ja auch jedes Wort töricht gewesen, vielleicht war Adrienne über ihren eigenen Zustand klarer als sie alle zusammen, er und Dr. Richard, Frau Tourlan und Jacqueline. Aus diesem Gedanken heraus ließ er Adrienne gewähren und lieh ihr weiter das Ohr.

»Vielleicht ist das auch krankhaft, mein Freund, was ich da sage,« vernahm er sie nun weiter, »vielleicht ist das eine Folge des Fiebers. Aber was ich denke, will ich Ihnen nicht vorenthalten, Auguste!«

»Reden Sie, Adrienne,« stammelte er.

»Wenn ich so still und ruhig, wie in all' den vergangenen Tagen bis heute, da diese Menschen kamen, stundenlang in meinem Bett liege, Auguste, dann habe ich einen goldenen Traum, eine herrliche Vision, eine göttlich schöne Fantasie, mein Freund!«

»Erzählen Sie mir, Adrienne!«

»Da wir Kinder waren, als unsere Großmutter starb, wir haben unsere Großmutter alle sehr lieb gehabt, Auguste ... da erzählte die Mutter uns Kleinen, daß Großmütterchen jetzt droben im Himmel aus einem goldenen Fenster auf die Erde herniederschaue und daß wir recht artig sein sollten, weil sie alles sehen könnte. Und wenn ich so daliege und träume, dann stehe ich schon droben an Großmütterchen goldenem Fenster und blicke in den Garten von Louveciennes!«

»Und was siehst du in dem Garten, Adrienne?«

»Dort sehe ich einen Mann, Auguste, der glücklich ist, weil der Frieden wieder seinen Einzug in Paris und in Frankreich gehalten hat. Und dieser Mann ist mein Freund, und mein Freund führt eine Frau durch den Garten an seinem Arme, und das ist meine liebe Schwester Jacqueline, und an der Hand hat er ein kleines Mädchen, Auguste, das ist meine Flora ... So sehe ich die Zukunft aus Großmütterchens goldenem Himmelsfenster, Auguste, und wenn ich sie so sehe, dann schlafe ich beruhigt und glücklich ein.«

Die letzten Worte waren kaum hörbar von Adriennes Lippen gekommen. Auguste Rodeur, der sich noch gar nicht zu fassen vermochte, fühlte, wie das Haupt Adriennes schwer zurückfiel. Er starrte in ihr Gesicht. Als ob der Tod dieses Gesicht schon geküßt hätte, ruhte es in den Kissen, und voll Entsetzen rief er nach Jacqueline.

Diese eilte herbei.

»Es ist nur eine Ohnmacht, Herr Rodeur, wie sie in den letzten Tagen des öfteren dagewesen sind,« sagte sie. »Reichen Sie mir bitte die Tropfen dort vom Tisch, Herr Rodeur!«

Er tat, wie Jacqueline ihm geheißen, und, nachdem Adrienne den Duft der scharfen Essenz in sich aufgenommen, kam sie langsam wieder zu sich.

»Oh, es war so schön an meinem goldenen Fenster, meine lieben Freunde,« sagte sie. »Warum ruft Ihr mich von meinem goldenen Fenster in das Zimmer nach Louveciennes zurück?«

Ein paar Minuten war es ganz still in dem Zimmer. Adrienne träumte vor sich hin und die beiden andern wagten kein Wort.

Da begann die Fieberkranke aufs neue:

»Es war gräßlich, mein Freund! Schreckliche Männer sind in meinem Zimmer gewesen. Sie haben mich aus dem Bett gezerrt. Sie haben mein Bett durchwühlt. Sie haben hier in dem Zimmer das Oberste zu unterst gekehrt!«

»Sie spricht von den Soldaten der Nationalgarde,« wandte sich Jacqueline an Auguste.

Und schon wieder schien das Bewußtsein der Fiebernden zu schwinden.

»Aber bis zu meinem goldenen Fenster mit der schönen Aussicht können sie ja doch nicht hinauf. Von dort sehe ich nicht nur Louveciennes. Ich sehe Paris und die Welt, meine Freunde ... Und der Bogen des Friedens steht schon über der Säule der Freiheit auf dem Platze vor den Tuilerien, wo einst die Maschine und das Blutgerüst des Henkers stand!«

Da übermannte es Auguste Rodeur.

Sich selbst und den Zustand der Kranken ganz vergessend, rief er:

»Von welchen Zeiten sprechen Sie, Adrienne, von welcher Zukunft? Wissen Sie denn nicht, wie fern, wie weltenfern diese Zukunft noch für Frankreich ist?«

»Und doch sehe ich das alles aus meinem goldenen Himmelsfenster,« beharrte die Kranke. »Dort unten steht ein Mann und putzt und putzt. Er putzt die Blutflecken von den Steinen, die einstmals alle ganz rot geworden waren, er wäscht die Steine spiegelblank. Man sieht keine rote Spur mehr aus meinem Fenster. Die Zukunft hat sie alle rein und weiß und blank gewaschen ... diese Steine, die einst so rot und so besudelt gewesen sind! Das sehe ich! ... Und über diese weißen Steine wandelt jetzt mein Freund mit Jacqueline. Frühling ist es in Paris geworden und die Bäume des Tuileriengartens stehen in Blüte. Die Blumen duften von den Beeten, Anemonen und Osterglocken und Veilchen und all die lieben Kinder des April ... und meine Flora pflückt sich diese Blumen, windet sie zu einem Kranz und drückt diesen auf meiner lieben Schwester Jacquelines bräutliches Haupt. Das sehe ich jetzt aus meinem goldenen Fenster, meine Freunde! Und hört Ihr es? Die Glocken tönen wieder, die Glocken der Madeleine und die von Notre Dame und die von Saint Eustache und die von Saint Sulpice ... die Glocken, die man stehlen und zu Kanonen gießen wollte ... sie laden in diesem Frühling meinen Freund und meine Schwester zum Hochzeitsfeste ein! Und die beiden schreiten feierlich nach Notre Dame im Zug der Freunde ... so sehe ich das von meinem goldenen Fenster ...«

Adrienne schwieg. Wieder fiel ihr Haupt schwer in die Kissen zurück.

»Es ist zuviel für sie, Auguste,« wandte sich jetzt Jacqueline an den Dichter. »Kommen Sie!«

Auguste Rodeur beugte sich über das Himmelbett. Leise wie ein Hauch ging der Kuß seines Mundes über Adriennes kalte, in Schweiß gebadete Stirn.

Adrienne lag wie tot. Kein Laut kam mehr über ihre Lippen, nur das leise Heben und Senken der Brust verriet, daß wirklich noch ein Funke Leben in ihrem Körper war.

»Ich werde bei ihr bleiben, Herr Rodeur, entschuldigen Sie mich,« wandte sich jetzt Jacqueline an den Dichter und reichte ihm zum Abschied die Hand. »Und wenn sich hier oder in Paris etwas ereignen sollte, dann dürfen wir auf Sie zählen?«

»Sie dürfen auf mich zählen, Jacqueline, hier und in Paris, in welcher Sache es auch immer sein mag, was auch kommt!«

»Ich danke Ihnen! Bringen Sie bitte die Kleine zu Madame Tourlan!«

Das Kind an der Hand, verließ Auguste Rodeur das Leidenszimmer Adriennes, die er so liebte und von der er wußte, daß es keine Rettung mehr für sie gab, daß ihr Leben nur noch nach Wochen, am Ende nur noch nach Tagen oder Stunden zählen konnte.

Und da fuhr es wieder durch seinen Kopf: Und dein Leben? ... Wie fern waren doch die Tage für Paris und Frankreich, die seine schon verklärte Adrienne aus ihrem goldenen Himmelsfenster schaute! Und er, und er!

Wenn Herr Tourlan nach Paris zurückgekehrt war und wenn das Los seiner Freunde und seine Pflicht ihn eines Tages in schicksalsreicher Stunde in die Hauptstadt führen würden?

Dann war der Traum Adriennes, der Traum von ihm und dem Kinde und Jacqueline, nichts als ein schöner Traum, eine Vision, die man nur im Fieber aus einem goldenen Himmelsfenster sah ... wie alles Schöne und alles Große in diesen Tagen des Wahnsinns und des Schreckens und des Blutes nur ein Traum und eine Vision, geschaut aus des Himmels goldenen Fenstern, waren und sein durften.

Da traf die Stimme des Kindes, das er an der Hand führte, sein Ohr.

»Onkel Auguste!«

»Was willst du, Flora?«

»Ich muß dich etwas fragen, Onkel Auguste!«

»Was denn, mein Kind?«

»Ist denn das wahr, was Tante Jacqueline immer sagt?«

»Was sagt denn Tante Jacqueline immer, mein Liebling?«

»Daß die Welt rund ist und eine Kugel ... Aber ich kann das gar nicht glauben, Onkel Auguste ... und doch hat Tante Jacqueline mich das gelehrt!«

»Das ist schon wahr, mein Herz!«

Das Kind lachte.

»Ist das denn lächerlich, Flora?«

»Aber ganz gewiß, Onkel Auguste ... Dann ist ja die Welt wie eine Seifenblase, mit der ich doch so gerne spiele ... Sie ist schön und rund wie eine Kugel ... aber sie zerplatzt!«

»Genau so, mein Liebling,« sagte Auguste Rodeur in ernstem Tone. »Als eine Seifenblase kannst du dir die Welt sehr gut vorstellen. Sie ist rund und hohl wie eine solche ... und schließlich zerplatzt sie wie die!«

Das Kind lachte.

»Aber das kann doch gar nicht sein, Onkel Auguste!«

»Warum könnte das nicht sein, Flora?«

»Weil dann die Städte und die Dörfer und die Menschen und die Tiere und die Bäume und die Blumen mit zerplatzen müßten, Onkel Auguste. Das kann ich nicht glauben! Tante Jacqueline hat mir einen Bären aufgebunden. Ich glaube nicht, daß die Welt wie eine Seifenblase ist!«

»Glaube es nicht, mein Kind, glaube du es nicht,« sagte der Dichter tief erschüttert.

Auf dem Vorplatz des Landhauses verabschiedete er sich von der ihm entgegenkommenden Frau Tourlan und überließ das Kind dem Schutz der Großmutter.


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