Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Buchschmuck

Vierzehntes Kapitel.

In einer der ältesten Gassen von Paris lag das Haus des Schreiners Duplay. Hier wohnte der große »Unbestechliche«, der unbeschränkte Machthaber in diesen Tagen des Schreckens, der die Kommune und den Konvent, den Wohlfahrtsausschuß und das Überwachungskomitee am Gängelband führte und sich die Tochter des einfachen Handwerksmeisters als Liebste auserkoren hatte.

Schon seit einigen Wochen stand jetzt im Torweg des alten, fast völlig baufälligen Hauses ein Italiener und hielt auf einem Karren seine Ware feil. Er nannte sich Benvenuto Lipari, wie auf einem über seinem fliegenden Laden angebrachten Schild weithin in blutroten Buchstaben zu lesen war. Und eine Frau, die nach Sitte der Neapolitanerinnen ein buntes Tuch um den Kopf geschlungen hatte, war ihm bei seinem Geschäft behilflich.

Benvenuto Lipari verkaufte auf seinem Karren, was der verlotterten und zerlumpten Jugend der alten Pariser Gasse willkommen war. Da gab es Orangen aus Messina, das Stück schon für einen Sou, Zuckersteine, arabischen Honig, glasierte Maronen, Zitronat und Pomeranzenschale, wie man sie heute noch bei den Straßenhändlern am Kai von Santa Lucia findet.

Wie die Frau, trug auch er neapolitanische Tracht. Trotz der noch immer recht empfindlichen Kälte des zu Ende gehenden Ventose stak er in einem weißen Anzug, um den er an Stelle eines Gürtels eine blutrote Schärpe geschlungen hatte. Bei der Jugend der alten Gasse war er ungemein beliebt. Er knauserte keineswegs mit seinen Schätzen, im Gegenteil, wenn so ein kleiner zerlumpter Bengel oder ein Mädel in zerrissenen Röcken die Blicke auf Liparis Karren richtete und kein Kupferstück bei sich hatte, dann kam es mehr als einmal vor, daß der Italiener nach den herrlichen Gaben seines Vaterlandes griff und dem mit den Augen bettelnden eine Frucht oder ein Stück Naschwerk reichte, und zwar ohne Bezahlung dafür zu verlangen. Das wußten die Kinder der Gasse und darum scharten sie sich vom frühen Morgen bis lange nach Sonnenuntergang zu Haufen um Liparis Karren.

Der Italiener sprach nur wenig. Er mochte die französische Sprache wohl nur ganz unvollkommen beherrschen. Viele Stunden lang beschränkte er sich auf den Ruf: »Dolci, Dolci, Dolci, Signori, Signore, Dolci ...«

Das amüsierte den Pöbel.

Aber einem aufmerksamen Beobachter wäre es wohl kaum entgangen, daß Benvenuto desto aufmerksamer zuzuhören verstand, je weniger er selber sprach.

Denn durch den Torweg dieses Hauses gingen tagsüber allerhand Menschen aus und ein und auch während der Nachtstunden brach der Verkehr niemals völlig ab.

Wenn es zu dunkeln begann, machten sich der Italiener und die Frau, wie es schien, auf den Heimweg. Benvenuto Lipari schob dann den Karren vor sich her, die Frau mit dem bunten Kopftuch folgte und die allen Anwohnern jetzt schon so wohlbekannte Gruppe verschwand in dem Gedränge der Pariser Pöbelhaufen, die bei Beginn des Abends diese Stadtgegend unsicher machten.

Sobald der Italiener die Rue Saint Honoré erreicht hatte, ließ er die Maske fallen. Die Frau verschwand in einem der alten Häuser, wo sie den Karren im Schuppen eines Hofes die Nacht über unterstellte, und Benvenuto Lipari begab sich in das Refektorium des ehemaligen Klosters, um Chaumette über seine Beobachtungen Bericht zu erstatten.

Das war der Posten, von dem Aristide Poignard in seinem Brief an Auguste Rodeur damals gesprochen hatte und der ihm den ansehnlichen Verdienst von 20 Franks täglich eintrug.

Die Partei der Dantonisten, ihre Führer an der Spitze, Chaumette und Hébert fürchteten die wachsende Macht Robespierres. Sie hatten Angst, daß der große »Unbestechliche« und sein unbegrenzter Einfluß ihnen eines schönen Tages über den Kopf wachsen könnten, und so hielt Chaumette es für notwendig, den »Unbestechlichen« den lieben, langen Tag beobachten zu lassen und sich und seine Anhänger davon zu unterrichten, wer bei dem ein- und ausging und was er den Tag über getrieben hatte.

Und der in die Haut des Italieners geschlüpfte Aristide Poignard war schlau. In dieser Zeit der Not, da er dem Verhungern nahe gewesen, wußte er die 20 Franks aus der Tasche Chaumettes wohl zu schätzen. Er tat so, als ob er kein Wort von all dem verstünde, was den lieben, langen Tag im Torweg um ihn herum gesprochen wurde. Er bot einfach in ein paar italienischen Brocken seine Leckereien zum Verkauf an, und die Leute achteten kaum auf ihn. Sie führten in seiner Gegenwart Gespräche, die sie bei einem anderen wohl unterdrückt hätten, denn sie waren der Ansicht, daß dieser Orangenverkäufer ein durchaus ungefährlicher Zuhörer sei.

So betrat denn Aristide Poignard, nachdem er Fleurette Bouchard, die auch in diesem neuen Beruf getreulich an seiner Seite aushielt, an der Ecke der Rue Saint Honoré und der Rue Saint Roch verabschiedet hatte, auch heute wieder in der neunten Abendstunde das Refektorium des Klubs der Cordeliers, in dem Chaumette seiner voll Ungeduld wartete.

Schon gleich bei seinem Eintreten sah es ihm Chaumette an, daß er heute nicht, wie so oft in diesen Tagen, nur gleichgültige Dinge berichten würde, sondern daß es ihm heute gelungen sein mußte, etwas aufzuschnappen, was für ihn und die Seinen von Wichtigkeit war. Daher ging Chaumette mit raschen Schritten auf Aristide Poignard zu und sagte:

»Nun, was habt Ihr in Erfahrung gebracht, Bürger, ich sehe es Euch an, daß Euch heute Wichtiges zu Ohren gekommen sein muß!«

»Allerdings, Bürger Chaumette!«

»Heraus mit der Sprache.«

»Wollt Ihr Euch nicht zunächst setzen?«

Sie nahmen vor dem Kamin Platz, an dessen Feuer einst der Bürgersoldat Silvain Parmentier seine philosophischen Betrachtungen über das jugendgrüne und brennende Buchenscheit angestellt hatte, und Aristide Poignard sagte:

»Ich möchte den Posten in dem Torweg der Maison Duplay aufgeben, Bürger Chaumette. Habt Ihr keinen anderen Platz für mich, einen weniger gefährlichen für meinen Orangenkarren?«

»Oho,« lautete Chaumettes Antwort, »so haben wir nicht miteinander gerechnet, Bürger Aristide Poignard, daß Ihr im Augenblick der Gefahr einfach von Eurem Posten davonlauft! Was ist geschehen und aus welchem Grunde verlangt Ihr nach einem anderen Posten?«

»Weil es mich schon am Hals zu jucken beginnt, Bürger Chaumette. Offen gestanden, ich möchte die Zeit der Krise überstehen, weil ich mich noch zu Höherem berufen fühle. Aber auch Euch rate ich, seid auf der Hut!«

»Wieso, Aristide Poignard?«

»Ich habe heute die Stimme des ›Unbestechlichen‹ selber gehört, Bürger Chaumette!«

»War er etwa so unvorsichtig, auf der Straße, in dem Torweg von seinen Plänen zu reden? Das sieht ihm doch sonst nicht ähnlich. Er ist doch die Verschlossenheit selbst!«

»Das hat wohl so den Anschein, Bürger Chaumette. Aber er schien erregt ... Es dunkelte bereits ... Ich stand allein mit meiner Freundin vor dem Karren im Torweg, wir waren gerade im Begriff, Feierabend zu machen ...«

»Nun, und?«

»Da erschien er, wie gewöhnlich zu dieser Stunde, um sich zu Duplay in seine Wohnung zu begeben.«

»War er allein?«

»Nein, Bürger Chaumette ... Sonst hätte ich seine Rede doch nicht vernehmen können. Der »Unbestechliche« pflegt nämlich keine Monologe zu halten, ein wie großer Redner er auch sonst auf der Tribüne des Konvents ist.«

»Wer war bei ihm?«

»Es war schon reichlich dunkel, Bürger Chaumette. Aber ich hielt seinen Begleiter für Souberbielle! Sie blieben vor der Tür der Maison Duplay stehen und plauderten noch eine Weile miteinander. Der »Unbestechliche« schien sehr erregt. Ich drückte mich mit meiner Freundin und dem Karren in die Ecke des Hofes, aber ich glaube, er sah uns sowieso nicht. Es war schon zu dunkel.«

»Und was sagte er zu Souberbielle?«

»Er sagte: Heute habe ich denen noch einmal ihre Beute entrissen. Ich sah bei diesen Worten seine Augen leuchten. Sie blitzten wie gezückter Stahl durch das einbrechende Dunkel, Chaumette!«

»Und wen verstand er unter dieser Beute?«

»Danton ... ohne Zweifel ... Danton ... Bürger!«

»Was hat das mit uns zu tun? Danton ist unser Feind. Danton kann er opfern.«

»Er weilt übrigens mit seiner jungen Frau in Sèvres.«

»Das weiß ich, Poignard!«

»Ich fürchte ...«

»Was fürchtet Ihr, Poignard?«

»Ich fürchte, daß der Sturz Dantons auch noch andere mit in den Abgrund reißen könnte!«

»So ... Am Ende den ›Unbestechlichen‹ zu allererst, mein Freund!«

»Meint Ihr das in der Tat, Bürger Chaumette? Ich habe nämlich heute noch manche andere Stimme im Torweg des Hauses Duplay gehört, die über Danton und dessen bevorstehendes Ende sprach.«

»Und was meinten diese anderen Stimmen?«

»Sie meinten, daß Dantons Sturz beschlossene Sache sei. Der ›Unbestechliche‹ zögere nur noch, weil er doch mit Danton auf der gleichen Bank im Konvent gesessen, weil er mit ihm wie mit dem ermordeten Marat eng befreundet gewesen ist. Er wolle das Odium darum auf andere wälzen, und dazu seien ihm Hébert und dessen Freunde gerade recht!«

»Wir, Poignard?«

»Wenn Ihr Euch zu dem Anhang Héberts zählt, dann ja, Chaumette!«

»Und weiter?«

»Ihr vermutet mit Recht, Chaumette, daß das nicht alles ist, was ich weiß, daß eine Bemerkung des ›Unbestechlichen‹, die ich im Vorübergehen aufgefangen habe, mich noch nicht dazu veranlassen könnte, meinen einträglichen Posten als Hörrohr des großen Chaumette im Torweg der Maison Duplay aufzugeben und auf meine 20 Franks zu verzichten. Um Mitternacht findet eine geheime Sitzung des Konvents, des Wohlfahrtsauschusses, des Überwachungskomitees und der gesetzgebenden Körperschaft im Ballsaal der Tuilerien statt. Wollt Ihr vielleicht Zeuge dieser Sitzung sein, Chaumette?«

»Und um was dreht es sich in dieser Sitzung, Poignard, habt Ihr auch das in Erfahrung bringen können?«

»Auch das, Chaumette! Unsereiner arbeitet prompt für seine 20 Franks, während er seine Orangen verkauft. Es dreht sich ... um den Kopf Danton!«

Chaumette brach in einen Ausruf des Entzückens aus.

»Jubelt ja nicht zu früh, Bürger Chaumette,« warnte Poignard. »Ich möchte Euch wirklich geraten haben, nicht voreilig zu triumphieren. Ich habe einem Schreiber des Konvents ein halbes Dutzend meiner köstlichen Messinablut für seine Kinder verehrt ... das ist alles!«

»Und dieser Mensch war so leichtsinnig, Poignard, Euch um ein halbes Dutzend Orangen ...«

»Aber doch nein, Bürger Chaumette ... Er hatte eine Aktenmappe des Konvents in das Haus des ›Unbestechlichen‹ zu tragen. Und ...«

Poignard machte absichtlich eine Pause.

»Aber so redet doch weiter, Poignard, Ihr spannt mich ja auf die Folter ...«

»Der Mann hatte es eilig. Die Familie Duplay war in corpore ausgegangen. Der ›Unbestechliche‹ befand sich, wie ich nachträglich erfuhr, in der Rue Saint Honoré im Jakobinerklub, nicht einmal die unvergleichliche Leonore, die er zu seinem Bettschatz gemacht hat, war daheim. Da wollte der Mann traurig und unverrichteter Dinge mit seiner Aktenmappe wieder abziehen. Da trat ich ihm in dem Torweg entgegen. Ich stammelte in der Sprache Voltaires. Ihr könnt es mir glauben, wie ein geborener Italiener mit einem ganz gräßlichen Akzent. Ich habe mich in der Tat vor mir selbst geschämt!«

»Und da gab Euch der Kerl die Mappe?«

»Nur zum Aufbewahren!«

»Sapristi!«

»Ich gewann sein Vertrauen mit den Orangen, die ich ihm für seine Kinderchen schenkte, und ich sagte ihm, daß ich die Mappe sofort droben abgeben würde, sobald Mademoiselle Duplay zurückgekehrt sei. Es macht nämlich der Braut des großen ›Unbestechlichen‹ Spaß, wenn sie Mademoiselle tituliert und auch bei dritten so genannt wird, Ihr verzeiht mir also diesen Rückfall in die Tage des Tyrannen, Bürger Chaumette!«

»Ich verzeihe ihn ... Und da habt Ihr die Mappe untersucht, Poignard?«

»Für Euch dürfte das Ergebnis meiner Untersuchung schon von Interesse sein. Ihr erinnert Euch doch, was ich soeben von Hébert und dessen Anhang sagte?«

»Nun?«

»Sie sind alle in dieser Nacht heimlich verhaftet worden ... Die Mappe enthielt eine Liste für Fouquier Tinville ... Ihr hört wohl nicht, Bürger Chaumette?«

Fassungslos starrte Chaumette vor sich hin.

Ein unartikulierter Laut, wie ein Seufzer, ein Fluch oder ein Röcheln entrang sich seiner Kehle.

Dann packte er Poignard an den Schultern, schüttelte ihn und schrie mit der Stimme eines Tieres:

»Aber so redet doch, Poignard ... Das ist nicht wahr! ... Wer ist in dieser Nacht verhaftet worden?«

»Ich habe die Namen abgeschrieben, Bürger Chaumette, wer kann denn in diesen Tagen die Namen aller Verhafteten behalten? Selbst, wenn diese Namen einen besseren Klang hätten!«

Poignard brachte ein zerknittertes Stück Papier zum Vorschein, eines von dem grauen, in das er den Kindern des Torwegs der Maison Duplay den arabischen Honig einzuwickeln pflegte, denn auf dieses hatte er mit Bleistift die Namen derer notiert, die man in der vergangenen Nacht festgenommen und in die Cachots abgeführt hatte, die die noch gestern selbst mit den Opfern ihrer Grausamkeit und ihres Blutdurstes gefüllt.

Das Blatt in den Händen, trat jetzt Chaumette dicht an den Kandelaber, dessen Kerzen auf dem Kamin flackerten, und las:

»Ronsin.«

»Der General der Revolutionsarmee,« fügte Poignard in trockenem Ton hinzu.

Chaumette hörte gar nicht auf ihn.

Er fuhr einfach fort.

»Hébert.«

»Euren Freund, Bürger Chaumette, den großen Stifter einer neuen Religion!«

Die Namen überstürzten sich jetzt aus Chaumettes Munde.

»Vincent, Momore ...«

»Der soll doch seine eigene Frau auf Eurem Altar des Fleisches zur Schau gestellt haben, Chaumette! Oder ist dem etwa nicht so?«

Chaumette zitterte an allen Gliedern.

»Ducroquet, Cock ...,« fuhr er fort.

»Ei, den Bankier aus Holland, der die Republik um Millionen betrogen hat. Um den ist es wirklich nicht weiter schade, Chaumette, meint Ihr nicht?« warf da Poignard mit teuflischer Schadenfreude dazwischen. Auch unter dem neuen Regime passieren Dinge, über die man in den Tagen des Tyrannen sich nicht weiter echauffiert hat!«

»Ihr seid ein Satan, Poignard!«

»Entschuldigt, Bürger Chaumette, ich bin nur bei den Cordeliers in die Schule gegangen.«

Der Wind, der durch die schlecht schließenden Fenster des alten Refektoriums eindrang, trieb die Flammen auf dem Kandelaber hin und her, so daß Chaumette die Namen der verhafteten kaum mehr zu entziffern vermochte.

Der »Unbestechliche« hatte seine schwere Hand fast auf alle Mitglieder des Klubs der Cordeliers gelegt. Wie durch ein Wunder war Chaumette selbst noch der Gefahr entgangen. Aber für wie lange? Das war nur eine Frage der Zeit, wenn der Mann in der Maison Duplay den nervigen Arm aufs neue recken und auch ihn selber am Schopfe packen würde.

Chaumette zitterte für sein Leben, denn er war im Grunde seines ganzen Wesens ein Feigling. Und das bereitete Poignard in diesem Augenblick ein grausames Vergnügen, ihm, dem Künstler von Gottes Gnaden, dem Schüler der Watteaus und Bouchers, der trotz Fleurettes aufopfernder Hilfe schließlich verhungert wäre und den die 20 Franks dieses Bluthundes ... gerettet hatten.

Er hörte die Namen, die dem Munde Chaumettes wie schwere Tropfen rinnenden Blutes in dumpfem Tone entfielen, und er hatte auch nicht für einen einzigen ihrer Träger nur einen Funken des Mitgefühls. Nein, er freute sich, daß er diesem da diese Botschaft übermitteln konnte, daß er diesen da in seiner ganzen Feigheit und in seiner in solchen Tagen ekelhaften Todesfurcht vor sich hatte.

»Laumur,« sagte jetzt Chaumette.

Poignard lachte.

»Ei, ei, der Infanteriehauptmann und Gouverneur von Pondichéry. Er wird auf dem Revolutionsplatz seine schneidigen Kommandos vergessen. Meint Ihr nicht?«

»Leclerc, Pereyre, Anarchasis Clooß.«

»Der Deutsche, Chaumette ... Euer Evangelist mit dem neuen Weltsystem, auch den ...«

Und Chaumette las immer weiter.

»Desfieux, Dubuisson, Proly ...«

»Seid Ihr zu Ende?«

»Und wo hat man sie hingeführt,« stammelte jetzt Chaumette.

»Lest nur weiter, Bürger Chaumette, auch das steht auf dem Papier, in das ich sonst den arabischen Honig für meine Kleinen zu wickeln pflege. In die Conciergerie, geraden Weges in die Conciergerie. Ich schließe daraus, daß der »Unbestechliche« und Fouquier Tinville dieses Mal kurzen Prozeß machen werden. Erst Hébert und seinen Anhang! Hat er Euch nicht einmal die Enragés genannt? Dann Danton und die Gemäßigten! ... Die Schlange beginnt sich selbst aufzufressen und verschluckt ihren eigenen Schwanz. Ist das nicht zum Totlachen, Bürger Chaumette?«

Der Führer der Cordeliers gab Aristide Poignard keine Antwort. Er starrte noch immer in dumpfer Verzweiflung vor sich hin. Der »Unbestechliche!« Kaum ein paar Wochen waren es her, daß Hébert, Clooß, er selber und die andern ihn gezwungen hatten, seine Einwilligung zu der Umweihung der Kirchen in Tempel der Vernunft, seine Erlaubnis zur Plünderung der Königsgräber in Saint Denis zu geben ... und jetzt ... und jetzt? ...

Der Spötter da hatte recht! Die Schlange wandte sich jetzt gegen sich selber und sie verzehrte zunächst einmal ihren eigenen Schwanz.

Poignard lachte.

»Ihr seid ja so stumm wie ein Fisch und so nachdenklich wie Voltaire geworden, Bürger Chaumette!«

Und noch immer gab Chaumette keine Antwort. Bleicher Schrecken und feige Angst malten sich in seinem Gesicht ... denn gerade in diesem Augenblick brach draußen auf der Straße ein ohrenbetäubender Lärm los, der das alte Franziskanerkloster erzittern ließ.

»Was ist das, Poignard?«

»Wer kann das heutzutage wissen, Chaumette? Die Posaune des jüngsten Gerichtes, wie man in den Tagen des Tyrannen sagte, und die heute ja an jedem neuen Morgen in Paris geblasen wird!«

Der Lärm kam näher.

» Es lebe die Freiheit! ... Es lebe die Republik

»Auf mit ihnen in den Kerker! Schleppt die Tyrannen auf das Blutgerüst. Priester wollen wir wieder haben! Nieder mit der Vernunft! Nieder mit Anarchasis Clooß, nieder mit Hébert, nieder mit Chaumette ...« so scholl es den beiden von drunten entgegen. Es lebe Robespierre! Es lebe die Maschine! Es lebe Fouquier Tinville!«

Lachend sah Poignard, wie sich Chaumette in heller Angst hinter einen der hohen Lehnsessel verkroch, die hier vor dem Kamin des Refektoriums standen.

»Wenn sie kommen ... den Klub der Cordeliers vollends auszuheben, Poignard,« stammelte er voll gräßlicher Todesangst.

Aber Poignard lachte nur weiter.

»Verrückte Weiber sind es, Bürger Chaumette, Pöbel, Maulaffenfeilhalter, Vauriens, die wieder einmal brüllen müssen, damit ihnen die Kehle für ihren sauren ›Vin blanc‹ genügend trocken wird. Weiter nichts! Hört Ihr! Sie singen schon. Wenn sie erst singen, dann hat es weiter keine Gefahr. Böse Menschen haben keine Lieder, so sagt das Sprichwort, Chaumette!«

Die Marseillaise und das Ça ira wurden drunten wieder laut.

»Diese Lieder wachsen einem schon aus dem Hals, Chaumette, findet Ihr das nicht auch? Es ist mit einem Wort geschmacklos, ewig ein und dasselbe zu singen. Seit drei Jahren höre ich in Paris keine andere Musik mehr, als dieses verdrehte: Allons, enfants de la patrie ...«

Der Zug mußte jetzt dicht unter den Fenstern des Refektoriums sein. So nahe klangen die Stimmen des gröhlenden Pöbelhaufens.

»Die Weiber brüllen immer am lautesten, Bürger Chaumette!«

Poignard hatte ganz vergessen, daß der Führer der Cordeliers noch immer hinter dem hohen Lehnstuhl kniete und sich der törichten Hoffnung hingab, daß man ihn hier nicht finden würde, wenn man jetzt wirklich in das Refektorium trat, um den Klub der Cordeliers, mit dem Robespierre jetzt den Anfang gemacht hatte, vollends auszuheben.

»Ihr erlaubt doch, daß ich das Fenster öffne, Bürger Chaumette?«

»Ich flehe Euch an, Poignard, löscht die Lichter! Wenn sie sehen, daß hier oben noch Licht brennt, dann kommen sie herauf.«

»Aber es sind doch nur ein paar Weiber und eine Handvoll Besoffener, mein teuerster Chaumette, doch, wenn Ihr das wünscht, wenn Euch das beruhigt ...«

Poignard trat an den Kamin und löschte die Kerzen.

Es war jetzt in dem Refektorium stockfinster. Der Maler tastete sich nach dem Fenster und öffnete dessen Flügel.

Fackelschein drang von unten herauf.

Er warf seinen unsteten Schimmer in den ehemaligen Speisesaal der Franziskaner und malte seltsame Schattengebilde an die weißgetünchten Wände, auf denen das Malerauge Aristide Poignards sofort wie gebannt haftete.

»Seht doch, Bürger Chaumette,« sagte er, »der Schatten des Lehnstuhls, hinter den Ihr Euch noch immer verkriecht, sieht er in dem Flackern dieser Fackeln nicht aus wie die gewaltige Maschine, die heute hoch über allem Irdischen auf dem Revolutionsplatz thront? Und die ... was wettet Ihr ... auch Eure letzte Zuflucht noch sein wird?«

Chaumette schlotterte mit den Knien, die Zähne klapperten ihm in einem unbesieglichen Schüttelfroste aufeinander.

Er brachte kein Wort der Erwiderung hervor.

Poignard trat an das Fenster.

» Es lebe die Freiheit!« tönte es ihm da wieder von unten herauf.

»Sapristi, das solltet Ihr doch sehen, Chaumette, das solltet Ihr Euch unter keinen Umständen entgehen lassen, diesen nächtlichen Fackelzug. So kommt doch hervor, Chaumette!«

Aber der war nicht um alles in der Welt dazu zu bringen, seinen vermeintlichen Unterschlupf hinter dem Lehnsessel zu verlassen und an das Fenster zu treten.

»Wenn sie heraufkommen, Poignard, wenn sie heraufkommen,« stotterte er in einem zu.

»Dann laßt sie doch kommen! Man stirbt doch nur einmal, Chaumette, und heutzutage immer in der gleichen Lage ... Es stirbt sich horizontal ... ob auf der Guillotine oder im Bett ... wie es sich für so viele horizontal gelebt hat!«

Poignard brach in wildes Lachen aus.

Ihm wäre es gerade recht gewesen, wenn sie ihn jetzt geholt hätten. Aber daran war ja gar nicht zu denken. Die Häscher des »Unbestechlichen« waren weit von dem Refektorium, in dem er sich eben an der Seite Chaumettes befand.

Die da drunten vorüberzogen, waren nur die niedrigsten Elemente des Pöbels, der immer Lärm schlagen mußte. Sie führten gerade eine Dirne aus dem Palais Royal auf weißem Pferde als Göttin durch die Gassen, Robespierre, dem »Unbestechlichen« zu Ehren, der heute wieder einmal ein Exempel statuiert haben sollte.

»Aber so seht doch, Chaumette! ... Es ist ja nur die dicke Rose aus dem Café Floréal im Palais, die sich ihren Freunden nach Eurem Rezept wieder einmal nackt zur Schau stellt. So seht doch, bitte, nur einen Blick auf ihren Fackelzug, das müßt Ihr doch gesehen haben!«

Endlich ließ sich Chaumette dazu bewegen, seinen Schlupfwinkel zu verlassen und an das Fenster zu treten.

Das sah toll genug da drunten aus. Männer und Weiber aus dem Pöbel bildeten den Vortrab der dicken Rose. Sie trugen Stangen in den Händen, an denen Schilder mit Inschriften befestigt waren: Hoch Robespierre! Nieder mit der Vernunft! Es lebe die Religion! Es lebe das höchste Wesen! Nieder mit Hébert! Auf das Blutgerüst mit Chaumette! ... So las man auf diesen Papierfetzen im Schein der Fackeln. Wie ein Spuk huschte der Zug vorüber und verschwand im Dunkel der Nacht.

»Es lebe das höchste Wesen!« murmelte Chaumette fassungslos vor sich hin.

Aber Poignard lachte:

»Das kann Euch doch gleich sein, Chaumette,« meinte er, »ob die die Vernunft oder das höchste Wesen leben lassen. Mir ist das durchaus schnuppe. Und Euch? Wenn es Euch nur nicht selber an den Kragen geht!«

Er würdigte Chaumette keines weiteren Blicks. Sein Bericht war für heute zu Ende. Er ging, weil er sich mit Fleurette an der Ecke der Rue Saint Roch und der Rue Saint Honoré verabredet hatte.


 << zurück weiter >>