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Buchschmuck

Siebzehntes Kapitel.

Von der Liebe war nicht mehr zu leben. In diesen Tagen der allgemeinen Zügellosigkeit wenigstens nicht. Das sah Fleurette Bouchard nachgerade ein. Angesichts des einem jeden in unmittelbare Nähe gerückten Todes gaben sich die Frauen des Bürgerstandes, die Mädchen aus dem Volk, die Damen der Aristokratie umsonst den Begierden der Männer hin. Selbst in den Kerkern Saint Lazares feierte noch die Wollust ihre Triumphe. Eine ausgediente Besucherin der Cafés des Palais Royal konnte heute betteln gehen, zumal wenn sie einen Maler, der keinen roten Sou verdiente, zum Freund hatte.

In dieser Einsicht hatten sich Aristide Poignard und Fleurette endlich getrennt. Vielleicht brachte die Zukunft doch noch einmal bessere Tage, in denen sie wieder zueinander finden konnten. Für die Gegenwart war es schon besser, wenn jedes seine eigenen Wege ging. Das hatte Fleurette dem Freund unter Tränen noch an dem Morgen auseinandergesetzt, der ihrem Besuch in Saint Lazare gefolgt war. Und Poignard hatte dem Mädchen recht geben müssen. Zu bieten hatte er Fleurette wirklich nichts mehr und, wenn sie verhungern wollten, dann war es schon besser, das allein zu besorgen, als zu zweien zu Grund zu gehen und sich den Abschied von diesem Leben, das man freilich kein Leben mehr nennen konnte, gegenseitig noch schwerer zu machen.

So hatten sich denn die beiden in einem Winkel des Faubourg Saint Denis, wo sie unter freiem Himmel genächtigt, noch einmal freundschaftlich die Hände geschüttelt und waren dann schweigend, ein jedes seinen trüben Gedanken überlassen, ihrer Wege weitergegangen.

Und alle beide hatten sie noch einmal Glück.

Madame Gay, die Wirtschafterin in einem muffigen Kellerlokal der Rue Saint Denis, wußte zwei kräftige und junge Arme schon zu schätzen, wenn die bereit waren, sich den lieben langen Tag und die halbe Nacht gegen Kost und Logis für sie abzurackern. Und so stand denn Fleurette seit etwa vierzehn Tagen vor dem Waschtrog dieser Dame und rieb sich zusammen mit noch einem halben Dutzend Schicksalsgenossinnen die Hände rot und wund, bis der hohe Haufe schmutziger Kleidungsstücke, den die Besitzerin der Anstalt an jedem neuen Morgen wieder zum Vorschein brachte, weiß wie frisch gefallener Schnee geworden war.

Fleurette dachte nicht mehr der Tage ihrer Triumphe am Theater. Sie dachte nicht mehr ihrer Eroberungen in den Cafés des Palais Royal, ja, vor Arbeit und Müdigkeit kam sie kaum mehr dazu, darüber nachzugrübeln, was denn aus ihrem Freund Aristide geworden sein könne, von dessen Schicksal sie in der Waschanstalt des Faubourg Saint Denis auch nicht ein Sterbenswörtchen erfuhr.

War Poignard verschollen? Hatte ihn, den Künstler, sein unabwendbares Schicksal in diesen Tagen des Schreckens und des Jammers ereilt? War er zugrunde gegangen auf dem Boden dieses blutgetränkten Paris, das seinem Talent kein Arbeitsfeld mehr zu bieten vermochte, oder hatte das Geschick ihn wie sie in letzter Stunde noch vor dem äußersten, dem Tod aus Entkräftung oder dem Sprung in die Seine, bewahrt?

Fleurette wußte es nicht und wollte sich darüber auch nicht weiter den Kopf zerbrechen. Sie war so todmüde, wenn sie endlich tief in der Nacht Seife und Bürste beiseite legte und mit den anderen in den früheren Gemüsekeller kroch, den Madame Gay für ihre Mädchen als Schlafsaal eingerichtet hatte. Und doch war Aristide ihr nicht fern.

Aber auch seine Tage und Nächte waren jetzt in Anspruch genommen. Einem augenblicklichen Entschluß der Verzweiflung folgend, hatte er sich in der früheren Kapelle mit der vielsagenden Aufschrift: »Hier ist das Haus Gottes und die Pforte des Himmels!« als Gefangenenaufseher in Saint Lazare gemeldet. Und seltsam ... seine Meldung hatte den gewünschten Erfolg. Wie so oft in seinem Leben, trotz allen Unglücks fiel der Maler Aristide Poignard auch diesmal wieder auf beide Füße.

Ein gichtiger Alter, namens Bland, den man schon lange nur noch aus Mitleid in Saint Lazare geduldet hatte, konnte sich nicht mehr von seinem Lager erheben ... und der Bürger Aristide Poignard erhielt dessen Platz.

Nun hatte der Maler den lieben, langen Tag zu laufen von Zelle zu Zelle, von Saal zu Saal durch die langgestreckten und rätselvollen Bogengänge des einstmaligen Klosters, das die Regierung der Republik in ein Gefängnis gewandelt hatte.

Und eines schönen Morgens stieß er in der Zelle Nummer 27, die acht Männer und sieben Frauen beherbergte ... auf seinen Freund, den Dichter Auguste Rodeur!

Wie eine Erscheinung starrte der ihn an.

»Du bist es, Poignard,« kam es endlich von seinen Lippen. »Bist denn auch du ... doch nein ... du trägst ja die Futterschüssel der wilden Tiere und an deinem Arm ... ist das nicht das Abzeichen des Angestellten der Republik?«

»Es ist es, Rodeur,« stammelte nun auch Poignard und schloß den so wiedergefundenen Freund lange in seine Arme. Das konnte er ohne jede Gefahr, aber selbst auf die äußerste Gefahr hin hätte er es in dieser Stunde getan. Doch es befand sich niemand in dieser Zelle mit Ausnahme der Unglückseligen, die nun schon seit Wochen vergeblich auf ihr Urteil harrten, denn die Berge der Anklageschriften häuften sich vor Fouquier Tinville und der »Unermüdliche« kam nicht mehr über sie hinweg.

»Aber so gib mir doch eine Erklärung, Poignard!«

»Die Nymphe ist noch immer unverkauft, das heißt beim Trödler ...« erwiderte der Maler in elegischem Tone, »das sagt dir wohl alles, Rodeur! Man muß essen. Ich habe nichts unversucht gelassen. Und mit diesem Abzeichen am Arme füttert man mich in Saint Lazare. Der alte Bland hat das Reißen in den Gliedern ... das war mein Glück!«

Die übrigen Insassen der Zelle kümmerten sich nicht um das Gespräch der beiden Freunde. Nur die dunklen Augen eines schönen Mädchens waren unablässig auf den Dichter gerichtet, als wollten sie in dem Wiedersehen der beiden einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft und die endliche Befreiung aus dem Kerker entdecken. Es waren die Madonnenaugen der Bürgerin Louise Marteau, die Augen derer, die der eigene Geliebte im Fanatismus für die große Sache der Freiheit erst in den Luxembourg und dann nach Saint Lazare geschleppt hatte, wo sie mit ihren Mitschuldigen in Sachen Tourlan den Kerker und die Erwartung des sicheren Todes teilte.

»Und was machst du den lieben, langen Tag, Rodeur?« So fragte jetzt Poignard ... »Es sind doch Monate verflossen, seitdem ich dir jenen Brief nach Louveciennes geschrieben habe, hat sich das Schicksal dieses Herrn Tourlan erfüllt?«

»Darüber bin ich nicht unterrichtet, Poignard,« lautete Auguste Rodeurs Antwort. »Man hat ihn, wie es scheint, nicht nach Saint Lazare geschafft. Er ist im Luxembourg geblieben oder gleich in die Conciergerie gewandert. Ich weiß es nicht, ich vermute nur solches. Doch was sage ich. Saint Lazare ist groß und seiner Zellen und Säle sind Legion ... Ich wette, die Verwaltung weiß selbst nicht recht, wem sie alles Logis gewährt.«

»Das könnte schon sein, Rodeur! ... Und sonst ...?«

»Und sonst? ... Ich dichte hier! Ich habe in Saint Lazare erst den würdigen Gegenstand meiner Poesie gefunden, Poignard, nachdem die Tage von Louveciennes und mit diesen die Fanny meiner Oden für immer dahingegangen sind!«

Poignard entging es nicht, daß Rodeur bei diesen Worten eine Träne in seinem Auge zerdrückte.

»Adrienne Sourieux ist tot,« sagte der Dichter dann einfach. »Ich glaubte, das Lächeln, von dem sie doch ihren Namen hatte, sei mit ihr aus meinem Leben verschwunden. Doch der Aufenthalt in Saint Lazare, mein Freund, hat mich eines besseren belehrt!«

»Was soll das heißen?«

Der Dichter deutete auf das schöne, junge Mädchen, das seine Mitgefangene und nach dem Willen der Machthaber seine Mitschuldige war.

»Es blühen Blumen in diesen Tagen auf Frankreichs Erde, mein bester, von deren Anmut und Farbenfülle, von deren süßem Dufte wir vordem gar keine Vorstellung hatten. Diese Blumen blühen aber nur am Rand des Grabes und hier entfalten sie für unsereinen ihren Reiz.«

Louise Marteaus dunkele Augen, die so recht der Gegensatz zu den blauen Adriennes waren, richteten sich bei diesen Worten Rodeurs voll Begeisterung und Dankbarkeit auf das Gesicht des Dichters. Sie sagte schlicht:

»Ach ja, mein Freund ... Sie haben mir die Tage des Kerkers zu Tagen des Paradieses gemacht! Das werde ich Ihnen niemals vergessen, auch nicht in der letzten Stunde, wenn wir, wie ich hoffe und wünsche, Seite an Seite und Hand in Hand, den Karren und das Blutgerüst besteigen werden.«

Rodeur war dicht an die Bürgerin Louise Marteau herangetreten. Er drückte deren Hand in der seinen und hauchte einen Kuß auf die weiße Stirn des Mädchens. deren einst so blühende Gesichtsfarbe die Luft des Kerkers gebleicht hatte.

»Das sind Blumen, Poignard,« wiederholte nun Rodeur, von deren Süße und Schönheit wir in Versailles und Louveciennes noch gar keine rechte Vorstellung hatten. Blumen des Todes, die in ihrem berauschenden Duft noch einmal den ganzen Hochgenuß des Lebens in sich schließen ... wie es sich hier lebt, Poignard? ... Doppelt und dreifach, zehnfach wie in der Freiheit ... denn hier ist jeder neue Morgen ein Geschenk. Hier wird jeder Blick der Geliebten zu einem Hymnus auf das Leben, jeder Händedruck wird hier zum Gedicht, Poignard, jeder Kuß zum nimmer versiegenden Quell höchster Lust und letzter Seligkeit. Nicht wahr, Louise?«

Rodeur zog die Bürgerin Louise Marteau an seine Brust.

»Freundin meines Kerkers und meines Todes,« sagte er jetzt feierlich, »Stimme meines letzten Liedes, Unsterbliche, Unsterbliche, künde ich dir!«

Eine Flutwelle höchster Liebesseligkeit schien ihm aus jedem Hauch, der von den Lippen der Bürgerin Louise Marteau kam, hier in den Kerkermauern Saint Lazares entgegenzuwogen.

»Komm, Komm, Poignard, setze dich an unsere Seite. Du hast doch Zeit?«

Poignard vergaß in diesem Augenblick seinen Dienst. Es hätte ihm auch nichts daran gelegen, wenn man ihn jetzt wieder auf die Straße gesetzt hätte. Er mußte sich in dieser Stunde aussprechen mit dem so wiedergefundenen Freunde um jeden, auch um den höchsten Preis! Er trat mit Rodeur und Louise Marteau an das vergitterte Fenster. Hier rückten sich die drei die Schemel des Gefängnisses zusammen, die sie von dem in der Mitte des Raums stehenden langen Tisch wegnahmen. Poignard und Louise Marteau lauschten den Worten des Dichters und Auguste Rodeur begann:

»Der Genius der Unsterblichkeit hat sie und mich geküßt, Poignard, in diesen Stunden vor dem Tode, im Kerker! Nicht Louise?«

»Er hat dich geküßt, mein Freund, er hat dich geweiht, mein Bruder,« lautete die Antwort des Mädchens, »und mich durch dich! Mich, die kein anderes Verdienst ihr eigen nennt, als mit dir sterben zu dürfen!«

Auguste Rodeur griff in die Tasche seines verschlissenen und nun schon seit Wochen nicht mehr gereinigten, tabakbraunen Rocks und brachte ein dünnes Heft zum Vorschein, in das er mit einer Haarnadel Louises und mit aus Ruß und Kohlenstaub fabrizierter Tinte seine letzten Gedichte schrieb.

»Wenn die Stunde kommt, Poignard, ... das Schicksal ließ mich dich noch finden ... dann trage du diese Lieder aus meinem Kerker und sie sollen Frankreich verkünden, was ich ihm sein wollte und was ich ihm nicht war!«

»Das werde ich tun, Rodeur!«

»Du versprichst es mir!«

»Bei der Heiligkeit deiner letzten Stunde, Rodeur!«

Der Dichter schüttelte dem Maler die Hand.

»Und noch eine weitere Bitte habe ich an dich, Poignard! ... da dich das Schicksal zu mir nach Saint Lazare geführt hat! Willst du mir auch diese Bitte erfüllen?«

»Jede, die in meinen Kräften steht, Rodeur!«

Wieder griff Rodeur in die Tasche seines Rocks. Er zog ein Assignat hervor.

»Ich habe Geld bei mir, Poignard, Geld, das keinen Wert mehr für mich hat, denn die Tore Saint Lazares haben sich für immer hinter mir geschlossen. Aber dir, Poignard, öffnen sich diese Tore, willst du mein Bild zeichnen, Poignard, und willst du dieses Bild nach Louveciennes bringen? Adriennes Schwester Jacqueline lebt noch in Louveciennes. Ich bin hellseherisch geworden in Saint Lazare ... Sie liebt mich ... und das von dir gezeichnete Bild soll ihr ein Andenken sein! Willst du das tun, Poignard?«

»Ich will ... und ich werde die Stunde dafür finden, Rodeur!«

So nimm das Geld der Republik. Kaufe dir das notwendige und in den Stunden der Stille suchst du die Zelle deines Freundes auf. Es gibt viele Stunden der Stille in Saint Lazare, Poignard!«

»Ich werde sie finden!«

»Und ich werde meine letzten Verse für Jacqueline unter dieses Bild schreiben ... und du selbst wirst dieses Bild nach Louveciennes bringen. Abgemacht, Poignard?«

»Abgemacht, mein Freund! ... Aber die Schätze der Unsterblichkeit, von denen du noch eben sprachst, Rodeur!«

»Bild und Verse und dieses Heft mit meinen Liedern aus Saint Lazare sollst du hinaus nach Frankreich und in die Welt tragen, Poignard, wenn die Stunde geschlagen hat. Abgemacht?«

»Abgemacht.«

»So höre denn! Es ist die Freundin, die ich in meinem Kerker als Genossin meines Todes fand, die also zu dir spricht!«

Er nahm Louise Marteaus Hand in die seine. Er las weltentrückt. Er wußte nicht mehr, wo er sich befand. Er sah nichts mehr von Saint Lazare. Und auch die übrigen Schicksalsgenossen in der Zelle drängten sich nun um das Mädchen und den Dichter und den Maler, während der Poesie unsterbliche Stimme auch aus Frankreichs Todeskerker zu ihnen sprach.

Rodeur las:

Die Sense schont den Halm, bis er gereift,
Geduldig harrt die Kelter ihrer Traube,
Daß sie ihr keinen Strahl der Sonne raube,
Und ich bin jung, obwohl der Tod mich streift.
Birgt auch der Kerker Schrecken und Verderben!
Ich bin so jung und will doch noch nicht sterben!

Es schaut der weise trock'nen Aug's den Tod,
Doch meine Jugend weint der Hoffnung Tränen,
hebt sich der Nord mit sturmgepeitschten Mähnen,
verhülle ich mein Haupt in Angst und Not!
So wundersüß und bitter ist das Leben
Und ohne Sturm hat's noch kein Meer gegeben.

Die schöne Zukunft lebt in meiner Brust,
Und es bedrängt die Kerkerwand vergebens
Beim Flügelschlag der Fittiche des Lebens
Der starken Hoffnung ungebroch'ne Lust.
Und gleich dem Vogel, der dem Garn entronnen,
Schwing' ich mich einst befreit zur gold'nen Sonnen!

Seh' ich zum Sterben aus? Ich schlafe gut
Und meine Nächte quälen keine Träume,
In Ruhe wach' ich auf, durch diese Räume
Trägt mein Gesicht der heiteren Freude Zug,
Bedrückt den Freund die nahe Todesstunde,
Entlocke ich ein Lächeln seinem Munde.

Und wenn mein Leben einer Reise gleicht,
Sah ich die ersten Ulmen nur am Pfade,
Daß mich ihr Schatten ein zur Wand'rung lade,
Der Tafel ersten Gang hat man gereicht.
Ich wollte grade an dem Becher nippen,
Er steht noch voll und schäumend vor den Lippen.

In Blüte stehend harre ich der Frucht
Und will der Sonne gleich mein Jahr beschließen,
Des Sommers Glut, des Herbstes Glanz genießen,
Will sehen meiner Tage heitere Flucht!
Des Lebens Morgenrot war schön und labend,
Ich hoffe still ... und warte auf den Abend!

Du stehst vergebens, Tod, vor meiner Tür,
Drum fliehe mich und töte du die andern,
Die scham- und leiderfüllt durchs Leben wandern,
Ich fordere die mir schuldige Gebühr!
Der Blicke und der Küsse Liebeswerben:
Ich bin so jung und will doch noch nicht sterben!

Aristide Poignard war aufs tiefste bewegt.

»Das ist ein Meisterwerk,« sagte er endlich und drückte dem Freund die Hand.

In seligem Glück waren die Augen der Bürgerin Louise Marteau auf das Gesicht des Dichters gerichtet. Es war, als empfände das Mädchen aus dem Café zu den Rutenbündeln in der Rue Saint Honoré in dieser Stunde, daß sich der Genius der Unsterblichkeit im Kuß zu ihr geneigt hatte.

»Zeige mir die Blätter,« sagte jetzt Poignard zu Rodeur.

Wortlos reichte der Dichter dem Maler die Blätter, die er sich mit so großer Mühe in Saint Lazare zusammengebettelt und auf die er mit den aus Louise Marteaus Haarnadeln hergestellten Federn seine letzten Gedichte schrieb.

»Darf ich sie verwahren, Rodeur?«

»Wenn die Stunde sich erfüllt hat, Poignard, dann werde ich dir diese Blätter überantworten, aber heute und morgen, und wer weiß denn, wieviele Tage noch, habe ich das eine und andere hinzuzufügen. Du wirst sie dann abschreiben, Poignard, denn so dürften sie schwerlich lange mein Schicksal überdauern.«

»Das werde ich tun, Rodeur!«

Auguste Rodeur merkte es dem Maler an, daß eine gewaltige Erregung von dessen ganzem Inneren Besitz ergriffen hatte. War es allein das Gedicht, das er eben ein Meisterwerk genannt hatte und von dem er selbst wußte, daß es ein solches war? War es die Gewißheit, den Freund hier in Saint Lazare wiedergefunden zu haben und die, daß es in diesen Tagen für einen Verdächtigen bei der Arbeit Fouquier Tinvilles keine Rettung gab? ... Oder konnte es am Ende doch noch etwas anderes sein?

Wortlos brütete Aristide Poignard eine ganze Weile vor sich hin und fragend waren die Augen Rodeurs auf den Maler gerichtet.

Endlich kam es von den Lippen Poignards:

»Weißt du, daß ich dich in dieser Stunde beneide, Rodeur! Daß ich dir dieses Gedicht von der ›jungen Gefangenen‹ nicht gönne!«

»Du beneidest mich, Poignard! ... Du bist frei wie der Vogel in den Lüften, du wirst die Schwelle Saint Lazares wieder überschreiten. Du bist noch jung und stark! Deine Kunst wird dir Paris und die Welt erobern, wenn ich längst die Stufen des Blutgerüstes hinter mir habe und mein seines Kopfes beraubter Leib in den Kalkgräben dieser Burschen auf dem Kirchhof in Saint Denis verbrennt.«

»Gerade darum beneide ich dich, Rodeur! ... Dir gab die Nähe des Todes, dir gab die Zeit des Schreckens die letzte und höchste Weihe! In dieser Luft des Mutes und der Tränen schwang sich dein Geist mühelos zur reinen Sonne der Vollendung empor! Sonst hättest du dieses Lied niemals zustande bringen können, Rodeur ... und ich ...«

»Und du ...?«

Wirklich waren die Augen Auguste Rodeurs mit einem Ausdruck des Mitleids auf Aristide Poignard gerichtet. Der Dichter fühlte und wußte, daß ihm der Maler jetzt ein schweres Bekenntnis machen würde.

»Und du, Poignard?« fragte er aus diesem Grunde noch einmal.

»Und ich, Rodeur ... Mich haben die Tage des Schreckens und des Blutes verlottert, anstatt daß sie mir wie dir letzte und höchste Kraft der Seele und der Kunst geliehen hätten. An jenem Herbsttag im Park von Versailles, Rodeur, da ich an meiner Nymphe malte, da bin ich noch Aristide Poignard gewesen! ... Dann war es aus mit mir ... Der Hunger und das Elend haben mich niedergerungen, Rodeur, in diesen furchtbaren Wochen und Monaten, die das jetzt schon in Paris und in Frankreich dauert. Eine Dirne des Palais Royal hat mich über Wasser gehalten, sonst wäre ich wohl heute nicht mehr. Polichinellentheater, Rodeur, habe ich gespielt, und nicht nur mit Holzpuppen, die ich mir angefertigt habe, um mein Leben zu fristen, nein, mit mir selbst, Rodeur, mit meiner Liebe, mit meiner Kunst, mit meinem Glück, mit Paris, mit Frankreich und mit der Welt! Um auch einmal etwas anderes als verdorbenen Kastanienbrei zu essen, habe ich mich den Führern dieser Narren ausgeliefert, ward ich Wärter in Saint Lazare ... alles, alles, um das nackte Leben zu erhalten. Wie stehe ich, der Maler, der Schüler der Watteaus und Bouchers, jetzt vor dem Dichter dieses Liedes, der auf zusammengebetteltes Papier noch in dem Kerker Saint Lazares, angesichts des Todes, mit den Haarnadeln einer Mitgefangenen und dem Brei aus Kohlenstaub und Wasser ein unsterbliches Meisterwerk wie dieses schreibt!«

Da ging es wie das Leuchten der Verklärung, wie der Schimmer der Unsterblichkeit über das Gesicht Auguste Rodeurs. Seine Worte nahmen einen prophetischen Klang und seine Züge eine hellseherische Weihe an, als er jetzt zu Aristide Poignard sagte:

»Und wenn dich das Geschick in den Kerker Saint Lazares zu mir in die Zelle geführt hätte, Aristide Poignard, weil es noch etwas Großes für dich vorbehalten hat? Was dann, mein Freund? Wenn die Wochen oder Tage vor meinem Tode ausersehen sein sollten, dich zu dir selbst und zu deiner Kunst zurückzuführen, wenn jene Bitte, mein Bild für Jacqueline Tourlan in Louveciennes zu zeichnen und ihr dieses Bild nach meinem Tode zu überbringen, mehr bedeuten könnte, Aristide Poignard, als den Wunsch eines dem Tode Geweihten, wenn sie für dich der erste Schritt auf die neu zu erklimmende Höhe werden könnte, was dann, Aristide Poignard?«

Poignard schwieg. Er fand kein Wort der Erwiderung auf diese Ausführungen des schwärmenden Freundes, den die Aussicht des wahrscheinlich schon so nahe bevorstehenden Todes den Maßen und Grenzen des Irdischen bereits entrückt zu haben schien. Und warum konnte der nicht am Ende recht behalten? War es denn wirklich ein Ding der Unmöglichkeit, daß er in dem Kerker Saint Lazares, an der Seite des der Unsterblichkeit entgegengehenden Freundes, in einem letzten und beglückenden Bunde sich selbst und seine große Kunst wiederfand? War das wirklich ein Ding der Unmöglichkeit?

Da vernahm er schon wieder Auguste Rodeurs ermunternde und ermutigende Stimme:

»Willst du es nicht wenigstens versuchen, Aristide Poignard? Vielleicht, daß auch dir hier wie mir selber angesichts des Todes ein Meisterwerk glückt?«

»Ich will es versuchen, Rodeur!«

»Aber säume nicht! Es könnte der Fall sein, daß unsere Zeit sehr kurz bemessen sein wird. Ich weiß nicht, wie es mit den Akten ›Tourlan‹ steht, ich weiß nicht, ob das Heft mit den Namen Rodeur und Marteau bei Fouquier Tinville obenauf oder tief unten liegt. Und darauf allein kommt, wie du weißt, in diesen Tagen alles an.«

»Ich werde nicht säumen.«

Ein fester Entschluß war in wenigen Minuten in dem Inneren Aristide Poignards gereift. Mochte daraus entstehen, was da wollte, mochte er seinen Platz als Aufseher bei den Gefangenen in Saint Lazare auch wieder verlieren. Den Versuch wollte er wenigstens anstellen, den Anfang wollte er damit machen, dem Vorschlag Auguste Rodeurs folgen und sehen, ob er in den Kerkern von Saint Lazare durch Ausüben der Kunst, die er beinahe vergessen und aufgegeben hatte, sich selbst wiederfinden könnte.

»Leb wohl, Rodeur,« sagte er da plötzlich, unvermittelt und rasch.

»Wo willst du hin, Poignard?«

»Dein Assignat brennt in meiner Tasche, Rodeur! Ich hatte deren manches in den letzten Wochen, aber die sind alle in den Sack Lerouges gewandert.«

»Wer ist das, Lerouge?«

»Der Cafetier im Glaive in der Rue de Vaugirard. Ich hatte eben keine Kraft mehr, Rodeur ... doch nun will ich es versuchen ... Noch heute, ehe die Sonne sinkt, bin ich wieder da. Und dann beginnen wir mit dem Werk! Ist dir es recht, Rodeur?«

»Ich danke dir, Poignard!«

Die Freunde schüttelten sich die Hände.

Lange ruhte das Auge des Malers auf den herrlichen Zügen der Bürgerin Louise Marteau.

»Was seht Ihr mich so an, Bürger?« stotterte das Mädchen endlich in tödlicher Verlegenheit.

»Es könnte etwas werden ... wartet ... Es könnte etwas werden ... So ... ja ... so ...«

Wieder verfiel er in tiefes Brüten und verwandte keinen Blick von dem Dichter Auguste Rodeur und der Bürgerin Louise Marteau.

»So etwas ... wie das letzte Opfer auf dem Altar der Freiheit ...« sagte er jetzt mit halblauter Stimme vor sich hin.

»Was meint Ihr damit, Bürger?«

»Wenn ich euch zusammen auf eine Leinwand bringen könnte ... Dich, Auguste Rodeur, den Dichter dieses Liedes, und Euch, Bürgerin, die ihn zu diesem Liede begeisterte ... Euch als seinen Genius. Bürgerin, der ihn in der Todesstunde vor dem Blutgerüste krönt? ... Und im Hintergrunde die Türme von Paris und den mit einem blutigen Schleier überzogenen Himmel Frankreichs, auf dem sich doch und trotz allem die Morgenröte neuer Größe kündet ... das könnte etwas werden, Rodeur, das könnte etwas werden, Bürgerin, meint Ihr nicht auch?«

»Und ob das etwas werden könnte,« ermunterte Auguste Rodeur, der den emporflackernden Funken des schöpferischen Gedankens in den Augen des Malers aufblitzen sah, in den Augen dessen, den die Qual und Not der Zeit niedergeschlagen hatten, der versunken schien in den Tiefen des der Gosse und der nun die Schwelle des Kerkers überschritt, um wieder den ersten Flügelschlag nach den ewigen Sternen des Ruhmes und der Größe zu wagen.

»Freilich kann das etwas werden, Poignard,« beharrte Rodeur. Aber die Zeit drängt, vergiß das eine nicht, daß jede Stunde kostbar und unwiederbringlich sein wird!«

»Ich werde es nicht vergessen!«

Mit diesen Worten entfernte sich Aristide Poignard. Er ging in die Gassen von Paris, wo einst in den Tagen des Tyrannen die Schönheit und die Kunst ihre Läden gehabt hatten, sich einen Fetzen Leinwand, Pinsel, Palette und Farben zu besorgen ... und noch in den Nachmittagsstunden desselben Tages begann er sein Werk.

Und niemand hinderte ihn daran. Die Zahl der Gefangenen in Saint Lazare war eine so große, der Aufsichtsdienst in diesen Tagen höchster Verwirrung ein so schlecht organisierter, daß sich kein Mensch darum kümmerte, zu welcher Arbeit der neue Wärter in Saint Lazare die Stunden seines Tages verwandte.


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