Hermann Stegemann
Die als Opfer fallen
Hermann Stegemann

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII.

Grau glomm der Tag, als Georg Kolb mit Habermeier vom ›Lamm‹ heimwärts ging. Die Gassen rochen feucht und modrig, es war kühl. Georg knöpfte den Rock zu.

»N' ja, wie ich Ihnen sagte, Direktor, der Junge war 'mal bei mir, das ist so ein Jahr her, wegen einer Halsgeschichte. Es war auch ein bißchen Eiweiß im Spiel. Und dann Nerven. Das wußte er nicht. Reflexe, das Bein flog nur so. Das scheint arg zugenommen zu haben, nach allem, was man jetzt so feststellen kann bei den Hausleuten und von Ihnen. Er hat keinen rechten Halt gehabt, die Mutter ist doch offenbar auch belastet gewesen. Eine Kerze, die an zwei Enden angebrannt wird: Da Phantasie und auf der andern Seite sein Schulpensum, und begabt, was rauszuholen – bums, schmeißt die Karre um, wenn zuviel getrieben wird.«

»Ja, und nun: Unglücksfall oder Absicht?« fragte Kolb.

»Ich werd Ihnen was sagen, Direktor: Selbstmordkandidat ist so einer immer, wenn er den richtigen Momang erwiseht, ob der arme Kerl nun mit Absicht 365 hineingesetzt ist in die Lokomotive, das – ja, glaubens, was Sie wollen! Nix G'wisses weiß man nicht.«

»Dann war's Absicht.«

»Bong – aber das braucht man ja dem Vater nicht zu sagen,« erwiderte Habermeier und blieb stehen. Sie waren an der Ecke der Kreuzgasse angekommen.

»Ja, der – nun, das muß ertragen sein!« Kolb rückte sich zusammen. Als ihn der Arzt fragend, befremdet fast, anblickte, fuhr er fort:

»Ich meine, daß er mir über den Kopf kommt. Die Schule, wir haben doch auch unser Teil daran.«

»Ja so! Wissens, die Schule, das ist wie mit den Mixturen: dem einen schadet die übliche Dosis, und dem großen Haufen schadet's nix. Nutzen tut's freilich selten was.«

»Ja, und den Winghoff, den kauf ich mir noch! Der scheint dem armen Jungen ja die Hölle noch geheizt zu haben,« grollte Kolb. »Aber wer konnte auch ahnen, so eine krampfhafte Empfindlichkeit –«

»Bei den Weibern nennt man's hysterisch. Gehen wir heim, Direktor, es nützt nix, hier Tau zu tröpfeln. Ihre kleine Frau kann Sie brauchen.«

»Meine Frau, ja!«

Sie gingen auseinander.

»Georg, bist du's?«

»Aber Kläre,« antwortete er leise und zog sie in den Flur. Auf dem Treppengang hatte sie gestanden und gewartet.

»Ich kann nicht schlafen, Georg.«

Sie gingen in sein Zimmer. Da lag von Tabaksrauch und Arbeit immer so etwas wie Wärme gefangen. Kläre 366 stand an der Türe, als wagte sie sich nicht tiefer in das im Zwielicht schwimmende Zimmer, Georg schritt rastlos, die Hände auf dem Rücken, auf und ab. Und auf einmal begann Kläre zu erzählen.

»Ich war toll, Georg, ich stemme mich ja gar nicht, ich bin mit ihm gegangen und weiß nicht wie.«

»Mit ihm? Mit wem?«

Die Hände sanken von seinem Rücken.

Einen Augenblick zauderte sie:

»Nun, mit ihm doch!«

»Mit dem Jungen! Was sprichst du da? Bist du wahnsinnig?«

Sie sah ihn erstaunt an. Dann flog trotz all der Erschütterung ein Lächeln, ihr Lächeln, das in den Augen zu einem köstlichen Schielen wurde, über ihr verweintes Gesicht.

»Aber Georg! Nein, mit Haury doch!«

»Haury!«

Mit einem gurgelnden Schrei riß er sie von der Türe weg ins Zimmer, so jäh und gewaltsam, daß sie taumelte und an ihm herab auf den Teppich schlug. Aber sie stand ruhig auf, empörte sich nicht und sprach:

»Du warst nicht da, Georg. Du kamst nicht, und ich bin mit ihm gegangen –«

Er griff sich an den Kopf und schrie: »Hör auf, hinaus mit dir –« aber sie sprach nur schneller: »Nein, hör doch. In den Garten, und dann bekam ich Angst und wollte umkehren, und da . . . . .« Jetzt brach sie ab.

»Und das ist alles? Du hast nicht, du bist nicht?«

367 »Alles, ja ist denn das nicht genug! Der Junge!«

Das traf ihn, er tastete nach seinem Schreibsessel.

»Ja, der Junge!«

Und da versank das andere, sie schlich zu ihm hin und legte ihm die Arme um den Hals. Er wehrte ihr nicht. So hart hatte sie am Rand gestanden, und er hatte sie nicht halten können. So weit weg und ihm doch so nahe. Und sie erzählte der Reihe nach.

»Schorschle, ich glaub, er hat mich furchtbar lieb gehabt,« schluchzte sie.

»Ich brech ihm's Genick,« fuhr er wild auf.

»Aber er ist ja tot und hat nie was Unrechtes getan.«

Beschämt ließ er sich wieder fallen. Sie sprach von Siegfried, und er dachte an den Kerl, den Haury!

Und dann griff er plötzlich in die Rocktasche.

»Hier, Kläre, das gehört wohl dir, ohne daß du's weißt. Es hat in seiner Schublade gelegen.«

Er reichte ihr ein Blatt Papier, und sie las mit überströmenden Augen und einem winzigen Fünkchen einer Freude, das sie selbst in dieser Stunde nicht unterdrücken kennte, seine Verse:

Als ich dich zuerst gesehen,
Wähnt ich dich noch frei.
Wo die alten Linden stehen
War's, auf der Bastei.

Da, von meinem Stein getroffen
Hell dein Fenster klang,
Doch schon stand das Pförtchen offen
Das dich jäh verschlang. 368

Blieb mir nichts als eine Scherbe,
Die dein Fuß berührt,
Und ich hab als köstlich Erbe
Selig sie entführt.

Küßte sie mit heißem Munde,
Schwur dir ewige Treu,
Wußt ja nicht zu jener Stunde,
Daß du nicht mehr frei!

»Schorschle, es ist wunderschön! Der arme Junge!« schluchzte sie laut.

»Unsinn wunderschön!« begehrte er auf, aber dann setzte er still hinzu: »Armer Junge, ja. Im Alter, wo man noch alles anbetet, kurz vor dem, wo man alles verbrennt. Und wir haben ihn doch auf dem Gewissen, wenn er auch krank war!«

Da sah sie ihn mit ihren tränenden Augen an und sagte:

»Siehst du, ich bin doch schuld!«

Er zog sie herunter aufs Knie:

»Blödsinn, Kläre, so einfach ist die Sache nicht.«

Und als er die Stirn an ihre Backe gelehnt hatte und ihrem Ohr nahe war, kam der Mut eines Selbstbekenntnisses über ihn:

»Ja, Kläre, da sitzen wir nun. Und beinahe säß ich allein hier. Siehst du, ich hab's immer gut gemeint. Ich bin nun mal einer, der die Finger an den Menschen haben muß und bilden. Deswegen bin ich ja auch 'rein ins Lehrerfach, als ich studieren durfte auf Gemeindekosten. Aber ein Tyrann, Kläre, na, das bin ich doch nicht. Und nun geht mir der Junge verloren und du, 369 du bist doch eigentlich auch nicht mein. Ich hab meine fünfzig auf dem Buckel, aber ich hab doch noch was in mir, Kläre. Wenn nur das andere nicht fehlte, die Liebe von deiner Seite. Nein, sitz still, ich mache dir keine Vorwürfe, es war ja Unsinn, du mit deinen zwanzig Jahren und ich!«

»Georg,« murmelte sie kleinlaut und duckte sich, »ich hab dich aber doch lieb!«

Da prustete er plötzlich einen schluchzenden Laut an ihrem Hals, daß es sie kitzelte, und umklammerte sie mit einer Kraft, die sie eisern verkettete.

Sie hielt ganz still, eine lange Zeit, bis sie ein Frostschauer überlief. Da sagte er leise mit einem tiefen Atemzug:

»Es ist vier Uhr geworden. Geh zu Bett.«

»Nein, nicht allein,« flüsterte sie furchtsam.

Er ging mit ihr hinüber. Hansjürgen schlief fest, und Georg mußte bei ihr bleiben, bis sie einschlief. Noch im letzten Augenblick flüsterte sie:

»Gell, dein Bett kommt heut noch wieder hier 'rein?«

Sie schluchzte noch im Schlaf.

Kolb konnte sich nicht legen. Er war nicht schnell fertig mit einer Sache, und diese hatte ihn in allen Fugen seines Wesens erschüttert, aber das Blut lief ihm doch wieder schnell und kräftig, das seit gestern abend geflockt und gestockt hatte. Jetzt war nicht Schlafenszeit. Er mußte erst mit sich ins reine kommen. Und dann, daß auch seine äußere Stellung erschüttert war, das wußte er wohl. Aber nichts vertuschen! Seinen Vorgesetzten gegenüber sicher nicht. Ja, die Schule und das 370 glorreiche System! Bankerott gemacht! Oder auch nicht! Der Junge gehörte eben nicht in die Schule, da gehörte der Durchschnitt, der robuste Normalkram hinein, na ja, und an die Spitze selbigen auch Durchschnittsmannen. Eine dreckige Weisheit. Der arme Alte! Aber der galt ja als ein Bärenhäuter, hatte sich wenig um den Sohn gekümmert, wer weiß, ob's dem auch so nahe ging! Das heißt, Vater ist Vater, und es war der Einzige! Armer Kerl! Aber wie kam der verfluchte Bengel auch da hinaus! Und wenn er zu Hause geblieben wäre, hätte die Sache doch ein schlechtes Ende genommen; der Monsieur Sütterlin, der sah durch ein Brett, der hatte so 'was fallen lassen. An dem Gewehrschrank habe er geknabbert, der Junge! Aber den Kerl, den Winghoff, den wollte er sich kaufen, den auf alle Fälle! Und den andern, der ihm die Kläre angekrallt hatte, was tat er mit dem? Er spürte es in den Fäusten, was dem gebührte. Seine Kläre, also doch seine Kläre!

Um elf Uhr, als er in seinem Studierzimmer saß, kam Kläre und hatte einen Brief und war rot und wurde blaß. Der Brief war von ›dem Herrn‹. Französisch natürlich und korrekt. ›J'étais fou, madame, entrainé par une passion aveugle et coupable. C'était une action honteuse, dont je me repens sincèrement.‹ Und Entschuldigungen in allen Formen. Zum Schluß die Mitteilung, daß er in drei Tagen verreise. In drei Tagen, also auch hierin korrekt, er blieb drei Tage, für den Fall, daß der Mann sich mit der Erklärung und mit den Entschuldigungen nicht zufrieden geben werde.

»Georg!«

371 Er fuhr in die Höhe.

»Ja, was ist?«

»Gelt, jetzt gibt's kein Duell! Ich hab so furchtbare Angst gehabt!«

Da lachte er trotz der bittern Stunde, und dann ernst werdend, nahm er ihre Hand und sagte mit unsicherer Stimme:

»Weil du mir diesmal von selbst gekommen bist und alles gesagt hast, hab ich ja keine Ursache mehr. Ich denke, wir versuchen's jetzt auf anderm Wege, wir zwei. Und siehst du, Kläre, erst kommt auch noch das andere, der arme Junge da.«

Sie nickte, und die Tränen kugelten schon wieder.

»Ja, Georg. Wir leben ja,« erwiderte sie leise.

Es war um ein Uhr nachmittags, immer noch stand der silbergraue Himmel über dem Tal, alles hell und klar, aber keine Sonne, kein Licht- und Schattenspiel, da rollte der char-à-bancs des Wirtes ›Zu den drei Tannen‹ vor das ›Schwarze Lamm‹, und Rentmeister Höpfner kletterte ungelenk von dem hohen Sitz. An der Tür stand das Totentischlein mit der schwarzen Decke, Xavier Sütterlin wartete auf der Schwelle. Am Männelebrunnen rätschten leise ein paar Mädchen.

Sütterlin bot dem Rentmeister stumm die Hand.

»Wo? Dort?« fragte Höpfner und stieg alsbald hinauf.

Auf dem Treppenabsatz begegnete ihm das Rosele, schrak zurück und lehnte dann heulend an der Wand. Doktor Ledermann hatte wartend auf dem obern Flur gesessen, um zwei Uhr sollte Kolb kommen. Aber als er den Mann mit den geschwollenen Augenlidern die Treppe hinaufgehen 372 sah, starr, ohne sich umzublicken, enthielt er sich jeder Anrede.

Der Rentmeister klinkte die Türe auf und zog den altmodischen, rauhhaarigen Zylinder. Erst drückte er langsam die Türe ins Schloß, dann blickte er auf seinen Sohn. Das Fußende des Bettes war dicht vor ihm. Lang und schmal, so dünn, daß sich das Leintuch, das über ihn gebreitet war, in spitzem Winkel brach über seinem Leib, lag er da. Die Füße hoben sich ab, die Hände waren wie aus klarem Wachs gegossen, auf der Brust gefaltet, die linke durch ein paar Blumen verdeckt. Die Nase schmal und spitz, eine glatte, heitere Stirn, auf der die spielenden Brauen zu friedlichen Bogen erstarrt waren und die Augen schwer vom zeitlosen Schlaf. Die alte Sackuhr des Rentmeisters tickte in das Schweigen. Und dann war's wie ein Schnarchen und wurde wieder still, und jetzt flüsterte der Mann mit seiner heiseren Stimme:

»Jungelchen, Jungelchen, was sind das für Sachen!«

– und wieder das schnarchende Schluchzen.

Er stellte den Hut auf die Diele und ging um das Bett herum. Noch einmal schielte er mißtrauisch nach der Glasscheibe an der Tür, dann machte er die Lippen spitz, daß sie aus dem borstigen Bart heraustraten und suchte die Stirn. Aber als er so vorsichtig sich nahte und auf die Kälte des Todes traf, da warf es ihn plötzlich über den Sohn, und er tastete mit den Fingern über das Gesicht und die Brust und würgte und kruxte und wühlte den Bart an sein Ohr und raunzte:

»Oh nä, nä, meinem Kättche sei' Jungelche!«

Und er lag so geraume Zeit. Aber das Bett kältete, es 373 war nichts mehr darin von der Wärme, die er kannte, und Siegfried nicht darin. Ein Stuhl stand da; für ihn. Er schlug die Rockschöße auseinander und setzte sich. Die Uhrkette mit der Chassepotkugel und die Dekorationen an dem alten Band klingelten leise. Auf dem Tische brannten zwei dicke Kerzen, die Vorhänge waren zugezogen, die Teemaschine glänzte kalt, neben dem Ofen stand ein Paar Schuhe. In diesen war er verunglückt. Sein Junge war verunglückt. Ein Jahr vor dem Examen. Und mit einem Osterzeugnis, das nur so funkelte. So war er verunglückt . . . Ja . . . Er sah ihn an, er zupfte das Schweißtuch wieder zurecht. Die Locke auf der Stirn, die auch. Das war die sogenannte Dichterlocke.

Und wieder schüttelte ihn ein Krampf. Sein Junge! Sein Junge! Aus dem Bett hatte ihn das Telegramm geschlagen. Sie hatten ihn nicht angelogen, ihm gleich die Wahrheit gesagt. Verunglückt und tot. Das ging auf einen Hieb.

Na, nu wars aus mit dem verfluchten Latein! Das Kättchen, und nun der Junge! Dem Kättchen sein Jungelchen! Nein, seiner, seiner, sein einziger, um den er herumgegangen war wie ein bissiger Hund und den er jetzt ableckte wie ein verlassener Hund. Und er stand auf, warf einen wilden, höhnischen Blick auf das matte Glasauge der Tür und küßte seinen Jungen auf den kalten Mund, der schon fest geschlossen war und ohne Binde hielt und sich küssen ließ, küssen ohne Wehren von seinem zerfressenen, verblichenen, stinkenden Bart.

Und Rentmeister Höpfner stand wieder aufrecht, nahm seinen Hut vom Boden und ging aus der Tür.

374 Doktor Habermeier war schon unten, als er aus dem Totenzimmer trat, und eine Viertelstunde später kam Kolb. Der Rentmeister war wortkarg, sein Bart zitterte zuweilen, das war der Unterkiefer, der ins Zucken kam, aber sonst hielt er sich fest. Und Kolb rief Ledermann, und sie erzählten dem Vater von dem Unglück, von der scharfen Kurve, und daß Siegfried vielleicht aus Furcht, sie möchten ihn gewahr werden, noch rasch das Gleis habe kreuzen wollen. Endlich wälzte sich Kolb herunter, was er als Bekenntnis sich und dem Vater schuldig zu sein glaubte:

»Es war ein sensitiver Mensch. Wir wußten's zu wenig. Sehen Sie, Herr Rentmeister, wir sind ja keine Tyrannen, das ist Blech, aber einen Ehrgeiz hat man doch und ein System auch. Ihr Sohn hatte eine Phantasie, die das nicht vertrug. Aber wie Sie's auch aufnehmen, die Erklärung bin ich Ihnen schuldig: Wir tragen alle Schuld dran, ich meine, nicht an dem Unglück selbst, sondern daß er so wenig Verständnis gefunden hat. Wir, der Klassenlehrer, ich und alle. Er hat eine wunde Seele gehabt, der Siegfried.«

Da sagte der Rentmeister mit rauher klangloser Stimme, indem er die Hand ausstreckte, die er bisher noch keinem der Lehrer gereicht hatte:

»Da können wir uns ja die Hand geben, ich bin auch schuld daran. Aber wenn es so ist, wie der Doktor sagt, und es ist wahr, ich hab's ihm immer gesagt, daß er kein Murr hat in den Knochen, dann wollen wir ihn mal ruhig liegen lassen. Aber daß ich nur den einen fertig gebracht hab – Donnerschlag, ein armer Kerl war er doch!«

375 Er schüttelte sich in einem unterdrückten Schluchzen und ging auf die Mairie.

Am andern Morgen in der Frühe trugen sie Siegfried Höpfner aus dem ›Lamm‹. Die Gasse war schwarz von Menschen, darunter stand auch das Christinele, schneuzte sich und nahm mit einem gewissen Stolz die Ausrufe der Teilnahme für sich in Anspruch, die von allen Frauenzimmern um es her gespendet wurden.

»Wo bleibt Winghoff?« fragte Kolb und sah sich um.

Die ganze Schule war aufmarschiert, es roch nach den Kränzen und gewichsten Schuhen.

»Er läßt sich entschuldigen, Herr Direktor,« raunte Ledermann. »Er ist gestern abend von einem Angetrunkenen, wie er sagt, angefallen worden. Unter uns, der Kerl hat ihn mächtig verwamst.«

Der Sarg stand auf dem Brückenwagen festgeschnürt, Kränze darüber her und ein langes Tuch, das über die Radreifen fegte.

Im Hausflur hockte das Rosele auf der untersten Treppenstufe und heulte in die Schürze.

»Voyons, Rosele,« sagte Sütterlin.

Da schluchzte es_

»Ich kann's nicht glauben, er ist doch so ein lieber Knab' gewesen, so ein lieber.«

»Tien, tiens, was weißt du von dem?« fragte er, und dann, als es ihn mit traurigen Augen bedeutsam ansah, »so, so.«

»In der Nacht vorher, wo sie ihn so geplagt haben, er ist auch gar so in mich geschlupft,« murmelte es und duckte den Rücken, und war doch froh, daß es einer wußte.

376 Draußen fuhr der Totenwagen schon über den Rinnstein und bog in die Römerstraße, und der Rentmeister ging mit Kolb hinter dem Sarg.

Sütterlin setzte den Hut auf.

»Ja, Maidle, der ist dir kalt geworden im Schoß.«

Von der Schwelle rief er noch zurück:

»Es ist Zeit für dich, mach den Bäck nicht warten.«

Bis an den Teich gingen alle zu Fuß. Dort sangen die Kleinen, und der trübe Tag zerrte an den Kränzen und Schleifen, und als der Totenwagen weiterfuhr und die sieben Klassengenossen auf den Leiterwagen, Kolb und Ledermann mit dem Rentmeister auf das Break stiegen, da sprühte ein feiner Regenschauer aus dem grauen Gewölk.

Sütterlin war an den Wagen getreten. Seine Stimme zitterte.

»Excüsiert mich, Monsieur Höpfner, da kommt just eins und avisiert mich, daß ich's Leid hab in der eigenen Familie. Meine Tochter ist am Verscheiden.«

»So, Ihr auch?« knurrte Höpfner verwundert, daß einem andern auch eins wegsterben konnte.

Sütterlin aber erwiderte mit ruhigerer Stimme.

»Ja, es war arg fatiguiert, das Amélie. Ich mag's ihm gönnen.«

Und mit dem Verele und dem Buchbinder, der ihm nachgerannt war, um ihm zu melden, daß Madame Amélie mit ihrem Kinde zu sterben komme, ging er zurück, ging so schnell er konnte, denn er wollte bei ihr sein in der letzten Not.

Er ging der Stadt zu, die Wagen krochen den Berg hinauf, und die Buben standen und sangen. ›Es ist 377 bestimmt in Gottes Rat . . .‹ und Rothenberger schlug mit dem alten, bespritzten Regenschirm dazu den Takt, so schnell es anging, denn eine graue Wolke drohte mit neuem Regen.

Im Schritt zogen sie bergauf bis zur Kapelle. Hier kletterte der Kutscher vom Bock und half dem Fuhrmann des Totenwagens die Sargseile fester spannen. Die Gäule standen und schnaubten in den rauhen Wind. Rentmeister Höpfner saß wie Stein. Jetzt lief ein Schüttern durch seinen Leib, er wandte den Kopf und blickte zurück. Dort hinten lag auf der Kuppe, aber tief unter ihm Dornkirch. Schwarze Dächer, graue Mauern, das Münster mit dem stumpfen Turm bäumte sich wie ein riesiges Fabeltier über die niedrigen Dachrücken. Wirr und verwittert lag das Städtchen in der weiten, grünen Landschaft, die mit vollen Säften und dampfendem Brodem zu ihm hindrängte, und schon zitterte ein Silberstreif durch den Sprühregen, und ein Strahlenfächer bewegte sich am Himmel hin und fächelte das Land.

Die Gäule zogen an, der Berg krümmte sich empor, durch den flimmernden Wald ging die Fahrt. Die Sonne stand auf und wärmte ihnen den Rücken. Der Wald blieb zurück, das Hügelland rollte sich auf, die Matten gelb von Löwenzahn, die krüppeligen Bäume weiß von Blust. Und Tümpel blitzten blau herüber, die Telegraphenstangen sprangen über das Feld, goldrot glänzten die Drähte. Der Sarg war gerutscht. Sie keilten ihn fest. Als sie das Dorf erreichten, waren sie wie gerädert. Nur der Rentmeister schien nichts gespürt zu haben. Der Wanderprediger stand schon an der Tür der Einnehmerei, 378 klein, mit schiefer Schulter von der schweren Ledertasche, in der er seine Bücher schleppte. Auf dem Dach hatte sich das Wiesenschaumkraut angesiedelt und fiel in bläulichen Wellen über das Wappenschild.

Ein paar Männer kamen aus dem Wirtshaus. Der Wirt, der Schulmeister, der Mergler. Vom Kirchhof glänzte der Helm des Gendarmen.

Siegfried Höpfner wurde in der Ecke begraben, wo die Protestanten lagen. Es war das dritte Grab. Der Rentmeister hatte im Vorübergehen einen Blick auf ›dem Kättchen sein Grab‹ geworfen; das lag schön in Reih und Glied, mit einem Weihwasserbecklein zu Füßen. Sein Jungelchen hatte dort keinen Platz – das kam in eine Ecke, dorthin, wo sie ihn auch einmal legen würden. Ein schattiger Platz in fettem Kraut. Der Pastor hielt eine magere Predigt. Und nun sollte Kolb sprechen. Er stand auf der gelben, ausgeworfenen Erde. Neben ihm lagen die Seile. Der Rentmeister hatte den Zylinder ganz verdorben, wie ein borstiges, rotschillerndes Tier hielt er ihn vor den Bauch. Und Kolb sprach. Erst matt, einen Kloß im Hals, die Brille rückend, na – was man so sagt. Bei jedem Satz ärgerte er sich über sich selbst, und dann ergriff's ihn mit einem Male, dicht vor dem Schluß. Er blickte Ledermann starr an, vergaß die andern und sprach:

»Was wir an Begabung mitbringen, ist ein gefährliches Gut. Je schwerer die Fracht, desto stärker muß der Kahn sein, der sie trägt. Aber zu oft wird das Talent in ein zerbrechliches Gefäß getan, als könnte es dann erst recht leuchten. Und wir mit unseren Händen, die gewohnt 379 sind, gewohnt sein müssen, auch Härteres zu halten, wir greifen dann wohl zu fest zu und schädigen die schwache Form. Leidet nur die Form Schaden, so mag's uns verziehen werden. Und wenn wir hier stehen und in diese Grube blicken, so dürfen wir wohl sagen, der da schläft in seiner zerstörten Hülle, schläft gut. Wir können freilich nicht wissen, was ihm die Zukunft gebracht hätte: Vielleicht Ruhm und Ehre, eine glänzende Laufbahn, aber vielleicht auch Enttäuschungen, Zerfall mit sich selbst und langes Siechtum. Eins aber scheint mir gewiß: Er ist früh reif geworden und so ist er auch früh gestorben. Mag's der Arzt Reife durch Krankheit nennen, wie die Frucht reif scheint, die der Wurm vom Baum löst, wir wollen in ihm einen Frühvollendeten erblicken. Kämpfer sind das nicht, sie meistern das Leben nicht, aber sie sind wie Opfer, die für uns gebracht werden. Vielleicht auch von uns. Opfer, die auf allen Wegen fallen. Und wie Siegfried Höpfner das geahnt hat, unbewußt, das soll er uns mit seinen eigenen Versen sagen, die er vor noch nicht acht Tagen geschrieben hat.« Und Kolb wischte die Brille und las:

»Müßt ich frühe sterben,
Wär's ein bittrer Tod,
Sterben, eh das Leben
Mir noch Kränze bot.

Eh ich Sieg und Narben
Mir im Kampf gewann,
Eh vom vollen Becher
Noch der Schaum mir rann. 380

Müßt ich frühe sterben,
Wär's im Morgenrot,
Ehe noch des Tages
Heiße Sonne loht.

Eh der Schild zerschlagen
Und der Becher schal,
Wär's ein Frühlingsopfer
Bei dem ersten Strahl.

Doch die noch im Leben
Kränzen den Altar,
Hohe Götter reichen
Mir die Hände dar.

Müßt ich frühe sterben,
Mag es ruhig sein,
Die als Opfer fallen,
Ziehn als Sieger ein.«

Die nasse, klumpige Erde fiel schwer auf den Sarg. Rentmeister Höpfner hatte schweigend die Hand ausgestreckt nach dem Blatt Papier und es in den Zylinder gestopft.

Und sie gingen, hinter ihnen schlug der Totengräber die Schaufel tief in den lehmigen Grund.

In den ›Drei Tannen‹ war der Leichenschmaus gerichtet. Das Sauerkraut dampfte. Die Bauern und die Primaner, die als Bauernsöhne am Tisch saßen, fuhren tief in die Schüsseln. Kolb und Ledermann würgten, der Pastor hatte sein Ränzel umgehängt und zog weiter. Höpfner trank.

Dann brachen sie auf. Die Sonne stand jetzt klar am Himmel, auf dem Forlenweiher schrieen die Enten.

381 Rentmeister Höpfner wartete, bis die Wagen zum Dorf hinaus waren und kehrte in die Stube zurück. Stumpf saß er in der Ecke. Der Schulmeister schlürfte den Kaffee und mischte die Karten. Er spielte mit dem Mergler Sechsundsechzig. Höpfner sah zu. Und auf einmal hatte der Rentmeister das Spiel in der Hand und gab den Skat aus. Ganz mechanisch. Und gewann ein Null ouvert, und der Mergler mischte, und der Schulmeister sagte Grand an mit Zweien und forderte die Buben. Einer fiel, er forderte den zweiten, der blieb aus. Da schlug er im Eifer den Skat um und schrie: »Nundedie, der Bube liegt!«

Und da begab es sich, daß Rentmeister Höpfner mit einem wilden Lachen, einem rauhen, heulenden Schmerzensschrei von der Bank fuhr, die Fäuste aufgestemmt, das Gesicht verzerrt, den dicken grauen Bart geschüttelt wie einen plumpen Sack und die Kumpane anstierte und brüllte: »Ja, der Bube liegt und der Vater lebt, der Junge liegt und der Vater säuft! Aber meint ihr, der geht jetzt vor die Hunde! Nein, das tut er nicht. Der kann noch lange hier hocken, der kann noch lange Steuern treiben, der ist zäh, den könnt ihr beulen und knorzen, der bleibt im Speck.«

Und er hämmerte das leere Glas auf den Tisch und ging hinaus, hinter dem Pfarrhof, die Bodenwelle hinan. Der Kirche und dem Gottesacker wandte er den Rücken. Dort hinter dem Teich lief die Straße in die Welt. Ein Wagen, ein kleines, schwarzes Ding hob sich wie auf einer grünen Woge über den nächsten Hügel und verschwand.

Da räusperte sich Gottlieb Höpfner und heftete den Blick 382 auf eine weiße Wolke, die langsam am blauen Frühlingshimmel wandelte. Den Zylinder zum Gebet vor die Brust haltend, sprach er mit heiserer, verschnupfter Stimme:

»Ein Opfer hat der Junge das genannt, das sollst du ihm gelten lassen, alter Herrgott. Aber sonst lies ihm mal die Leviten, man geht nicht so fort von seinem Vater. Und das Leben ist doch auch 'ne Nuß, die will geknackt sein. Ich werd dir was sagen, ich steh hier zwischen zwei Grablöchern, das sind jetzt meine Wurzeln, die halten fest. Na ja, aber wenn's mal Zeit ist, rin mit dem alten Kerl, aber bis dahin werd ich sie tun, meine verdammte Schuldigkeit. Ich werd auch das Saufen lassen, oder lieber nicht. Am Ende geht das ja doch nicht. Aber daß du mir den Jungen zu seiner Mutter lässest, lieber Herrgott, das bitt ich mir noch aus. 'n ja, und nun hilf mir mal beten. Zum Vaterunser langt's noch. Nee, ich bin nicht besoffen, nur so eine Hitze auf der Brust, so 'ne infame und heulen muß ich ja doch mal um meinen Jungen. Das geht die Lumpen ja den Deuwel an, da unten, wenn ich mir hier oben was heule.«

Und er hob den Hut vor die Augen und sprach das Vaterunser, das ihm am offenen Grab nicht hatte einfallen wollen, mit gläubiger Kraft.

Eine Sense schnarrte irgendwo im Gras, die Grillen geigten, und am Himmel zerfloß langsam die weiße Wolke im klaren Blau, und wie ein Kommando klang plötzlich in die webende Frühlingswelt des Rentmeisters lautes Punktum und Amen.

 


 


 << zurück