Hermann Stegemann
Die als Opfer fallen
Hermann Stegemann

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VII.

Tot lag Dornkirch in der klaren Sonne, der Schneeteppich, der von jedem Reif neugepudert wurde, war wie mit Zimt gefärbt und deckte als lockerer, rötlicher Streusel die Gassen. Vor der Epizerie Grisard ›Zum Mohren‹ saß frierend die Magd und drehte die Kaffee-Trommel, die Bohnen kugelten, die Holzkohlen pufften und der Geruch des gebrannten Kaffees zog an den Häusern hin. Bis in die Rosengasse und zum Kleinkinderplatz strich der herbe Duft. Am Kleinkinderplatz schoben die Kinder ihre Laufschlitten. Jählings tauchten sie hinunter ins Brunngäßlein. Am Rebbrunnen vor dem ›Schwarzen Lamm‹, wo das Rebmännele auf der Brunnensäule hockte und die Hosen knöpfte, weil es zu viel Neuen im Leib hatte, da war ein Schneewall gestaut, in den sie hinein plumpsten mit den sausenden Schlitten, Maidle und Buben. Röcke und Kappen flogen, und die Nasen liefen ihnen bis aufs Kinn. Das Gäßlein war spiegelglatt von den Kufen, der Schnee schimmerte in violetten Tönen.

»Heut sind's wieder weniger,« sagte das Rosele, das sich die Nase breit drückte am Eckfenster im ›Schwarzen Lamm‹.

190 Sütterlin nickte.

»Ja, es geht um, das Würgfieber.«

»Tiens, voilà die Madame vom Direktor!«

Das Rosele riß einen Flügel auf und preßte das Gesicht ans Vorfenster.

»Herrschaft, nein! die ist einmal sauber, und wie sie umeinander lugt, wie der Gockel auf dem Kirchturm. Was gibst, was hast, die fährt noch auf dem Schlitten ins Blaue.« Und jetzt kreischte das Mädchen laut auf und rannte aus der Stube, indem es dem Herrn zurief:

»Hab' ich's nicht gesagt! Sie hat ihren garçon auf dem Schoß und fegt auf dem Veri seinem Schlitten 's Gäßle ab.«

Kläre hatte lange am Kleinkinderplatz gestanden. Hansjürgen neben sich im hochbeinigen Stoßschlitten. Doch, als sie die Lust der auf den niedrigen Hockern bergab Gleitenden sah, faßte sie das unwiderstehliche Verlangen mitzutun. Es war schon Jahre her, da war sie mit dem Vater einmal im Winter in Davos gewesen, es war in der letzten Zeit, Mutter lag schon auf den Tod dort oben, und dort hatte sie als kleines Mädel auf einem Davoser Schlitten mit einem Bündner von St. Wolfgang nach Klosters hinabfahren dürfen. Zwischen den Schneewällen, Kehre rechts, Kehre links, in sausender Jagd. Bis ins Dorf hinunter. Es war ihr, als atmete sie den glitzernden Hauch der Berge, als leuchtete das Eisgebirge fern herüber über die braunen Häuslein und den Lärchenwald.

»Xavier, laßt mich mal fahren, du bekommst eine Nougatstange so lang wie dein Lineal,« bat sie Sinnigers 191 Ältesten, der eben wieder den Hang heraufkam, den Schlitten auf der Schulter.

Und sie wartete seine Antwort gar nicht ab, riß Hansjürgen aus den Decken und raffte den Rock. Außer den Kindern war niemand da. Schon saß sie auf dem Hocker, die Füße mit den hohen Stiefelchen vorgestreckt, das Kind auf dem Schoß. Sie hackte mit den Absätzen in den Schnee, übermütig gab ihr der Verele einen Stoß, und im Hui sauste der Schlitten das Gäßlein hinab. Den geschmeidigen Leib zurückgeworfen, daß die Stäblein des Korsetts sich bogen, fuhr sie mit flatternden Volants in die Tiefe, bis an den Brunnen. Ein Ruck, und mit ihrem Buben, der laut aufjauchzte, lag Kläre im stäubenden Schnee. Hansjürgen begann aus dem Lachen heraus jämmerlich zu weinen, denn eisig rieselte es ihm in den Nacken.

»He, hopla, Madame,« schrie das Rosele und lief zu Hilfe.

Kläre hatte den Hut verloren, das Haar war ihr aufgegangen und hing ihr schneegepudert über das Samtjackett. Aber sie lachte, klopfte den Jungen ab und mühte sich, den Kamm zwischen den Zähnen, die Haarflut zu bändigen.

Das Rosele blickte staunend auf die junge Frau.

»Mais entrez donc chez nous, madame. Im ›Lamm‹ hat's Spiegel und was es braucht.«

Kläre konnte nicht antworten, aber sie schüttelte den Kopf und drehte die Haare rasch zum Knoten. Da schoß ihr plötzlich glühende Röte ins Gesicht, und unwillkürlich öffnete sie die Zähne und ließ den glänzenden Kamm in 192 den Schnee fallen. Sofort bückte sie sich hastig danach, aber dabei brach das Haar wieder aus dem Knoten und kaum konnte sie mit gespreizten Fingern den Schwall im Nacken auffangen. So stand sie die Arme erhoben, als Ernest Haury den Hut zog und sagte:

»Pardon, Madame,« und schneller als das Rosele den Kamm aus dem Schnee aufhob.

Er lächelte, ein zärtliches, diskretes Lächeln.

»Danke sehr,« erwiderte sie leise, konnte sich aber nicht rühren und blickte ihn in hilfloser Verlegenheit an.

Seine Augen saugten ihren Anblick in sich.

»Gardez, garde–e–e–e–e–e–z!« schrie's da das Brunngäßlein herab, und schon sauste ein mit zwei Knaben besetzter Schlitten heran, und ehe sie sich retten konnten, fuhr er Haury in die Beine und warf ihn vornüber. Unwillkürlich streckte er die Hände aus und Kläres Kleid fassend, brach er vor ihr in die Kniee, den Kopf in ihren Schoß gewühlt. Es war nur ein Augenblick, Kläre hatte aufschreiend die Haare preisgegeben und am Brunnenbecken Halt gesucht. Die braunen, goldig glitzernden Flechten streiften Haurys Gesicht, als er hastig emporschnellte. Der Kamm war zerbrochen, zerbeult lag der schwarze Herrenhut im Schnee.

»Mille fois pardon, madame,« stammelte Haury.

Kläre mußte lachen trotz ihres Schreckens und ihrer Verlegenheit. Er war rot, verwirrt, die lächerliche Lage, der Rausch, der ihn erfaßt hatte, als er ihre Gestalt in den Armen gehalten, der Zorn auf die Gamins, die ihm in die Kniekehlen geschossen hatten, all das drängte ihm wild zu Kopf. Wie ein hilfloser Knabe stand er vor ihr.

193 Und Kläre fühlte etwas wie Triumph, sie konnte lachen, lachte laut und faßte ihr Haar jetzt mit sicherer Hand, zog es dicht an Hals und Ohr straff und schlug die Jacke über die Flut. Dann eilte sie, dem Rat Roseles zu folgen, das Hansjürgen schon auf den Arm genommen hatte und wartend neben ihr stand.

Da, in der Hast noch etwas zu retten von der Situation, kam Haury ein törichter Einfall. Er bückte sich, hob den zerbrochenen Kamm auf und sagte:

»Ich schulde Ihnen das, Madame.«

Ihr Lachen war wie weggewischt.

»Verzeihung, Herr Haury, das geht doch wohl nicht. Sonst müßte ich Ihnen ja am Ende einen neuen Hut kaufen.«

Und jetzt lachte sie wieder, aber spöttisch, überlegener noch; ein Blick, wie ihn der Sieger auf seinen Sklaven wirft, und sie ging an ihm vorbei ins ›Schwarze Lamm‹.

Das Rosele hatte, als verstünde sich das von selbst, den Kamm aus seinen widerstandslosen Fingern gepflückt und schritt mit Hansjürgen, der immer noch weinte und Augen und Nase wischte, hinter ihr drein.

»Cré nom de Dieu,« fluchte er leise. »Voilà une bêtise! A crever tout bonnement!« Wie sie ihn niedergeblitzt hatte mit den dunklen blauen Augen, wie ihre Lippen gezuckt hatten im spöttischen Lachen! Und noch fühlte er die runden, bebenden Kniee in den Händen, atmete er den Duft ihrer Haare, die ihm die Stirn gepeitscht hatten. Ridikül war er ihr gewesen, jetzt hätte er sie am liebsten zerbrochen in einer tollen Umarmung, ah, la coquine, war er darum vom schwarzen Kaffee 194 aufgesprungen und hinausgerannt, als das Phinele, das am Fenster saß, gerufen hatte: Lug da, la jolie madame Kolb, mais comme elle est gentille! Er hatte den Stich wohl gefühlt, aber der trieb ihn nur um so heftiger vom Stuhl. Das Phinele? Ja, z' leid! –

Pah, il s'en fichait maintenant! Aber Claire! Nun ja, – es war nur eine Kaprize gewesen bis auf diesen Augenblick, hatte einen Tag gebrannt und dann Wochen unter der Asche geschwelt, vergessen, verlottert. War nie über ein Gelegenheitsspiel hinausgewachsen, jetzt aber war's wie eine Wut über ihn gekommen. Ah, il brûlait de désir! Ins Bett wollte er sie reißen, ins Bett! Aber als das Rosele auf der Schwelle, über die Kläre ohne sich umzuschauen ins Haus getreten war, noch einmal den Kopf wandte, da brachte ihn der Anblick seines roten, von unterdrücktem Lachen glänzenden Gesichtes wieder zu sich. Er bückte sich und raffte den Hut auf. Dem Sinniger-Veri, der eben gerannt kam, seinen Schlitten zu retten, gab er eine Ohrfeige, daß ihm die Funken aus den Augen stoben, und ging hastig davon, verfolgt von dem Geschrei des Knaben der hinter ihm dreinrief:

»Wartet nur, ich sag's dem Vater, ich sag's dem Großvater – Ihr Fabriklerwaggis, Ihr elendiger!«

Sütterlin hatte das Geschrei seines Großsohnes überhört, das Rosele war gerade mit Hansjürgen hereingeschossen und hatte den Kleinen an den Ofen gesetzt. Kläre stand zögernd unter der Tür der Wirtsstube. Da sagte die Magd:

»Kommt nur mit, Madame.«

Sie stiegen die Treppe hinauf, aber unterwegs kamen 195 dem Rosele Bedenken, es konnte die feine Madame doch nicht in seine Kammer vor den zerbrochenen Spiegel führen, und der Herr hatte den Schlüssel zur Schlafstube im Sack. Aber der Siegfried war nicht da, kehrte auch vor vier Uhr nicht heim. So öffnete es rasch entschlossen die Tür des blauen Eckstübchens.

Kläre sah sich gar nicht um, eilte auf den Waschtisch zu, zog die Jacke aus und begann ihre Haare aufzustecken. Das Rosele riß die Lade auf und erwischte Siegfrieds Kamm und reichte ihn ihr. In langen Strichen glitt er durch das leise singende Haar, dann reichte Kläre ihn zurück, die roten Finger der Magd zupften ein wenig daran und er lag wieder in der Schublade. Da Kläre nur noch drei ihrer Nadeln gefunden hatte, half ihr das Rosele mit seinen langen, dicken Zinken aus, die hielten besser als die feinen. Auch den zerbrochenen Schildkrotkamm hielt es ihr hin. Ein Stück des Kranzes fehlte und ein Zahn war zertreten worden.

»Nein, den kann ich nicht mehr brauchen,« sagte Kläre, setzte den Hut auf und ging.

Da steckte die Magd den Kamm in die Tasche. Wenn man ihn geschickt unters Chignon schob auf einer Seite, sah er gewiß noch wie ganz und neu aus. Und es war teure Ware, fein wie ambre.

Als Kläre Hansjürgen holen kam, der ängstlich auf den schweigsamen alten Mann geblickt und in der Angst das Schluchzen vergessen hatte, sagte Sütterlin zu ihr:

»Bringt ihn heim, Madame Kolb, daß er sich nicht verkältet. Jetzt, wo das Halsfieber umgeht.«

»Er ist nicht so anfällig. Gelt, Bubi! Aber besten Dank, 196 Herr Sütterlin,« antwortete sie und setzte Hansjürgen draußen in den Stoßschlitten. Die Sonne lag schon auf den Bergen, die Schatten schlugen über die stillen Gassen. Vor der Epizerie Grisard drehte die Magd immer noch die Kurbel des Kaffeebrenners. Die Bohnen trommelten, die Kohlen pufften, und ein köstlicher Duft flog mit den Winden.

Kläre stieß den Schlitten die steile Gasse hinan. Zuweilen knirschte das Eisen über einen Pflasterstein, kein Laut sonst, sie hörte ihr Herz klopfen in der Stille. In der Scherbengasse quoll ihr der Strom der Schüler entgegen, eine tollende dunkle Schar, zuletzt weit hinter den andern kamen die Primaner. Als einer, der allein aus dem Tore trat, grüßte und Kläre Siegfried Höpfner erkannte, fiel ihr ein, daß sie ja im ›Schwarzen Lamm‹ gewesen war, wo er wohnte. Das hieß sie mit einem Lächeln danken, für das er keine Erklärung suchte, sondern nur noch tiefer und beglückter die Mütze zog.

Kolb war müde. Er hatte heute sechs Stunden gegeben und eine Stunde Konferenz gehalten. Zusammengesunken saß er in dem Korbsessel dicht am Ofen. Da hörte er draußen Kläres Stimme. Sie lachte, es klang hell und glücklich. Sein Ohr war argwöhnisch geschärft worden, er kannte jetzt jede Färbung ihrer Stimme. Vorhin, als er müde die Treppe herauf und in die leere Wohnung, in die verlassene Stube gekommen war, wo seine Frau nach übler Gewohnheit nicht ordentlich aufgeräumt hatte, als er ein Paar Handschuhe, eine Schürze, eine Mantille auf dem Sofa und über den Stuhllehnen fand, da war ihm der tolle Gedanke durch den Kopf gefahren, sie sei 197 nicht mehr da, kehre nicht mehr zurück, das seien die Zeichen ihrer raschen, hastigen Flucht. An den Jungen hatte er nicht gedacht. Und nun lachte sie vor der Türe. Eine große Hoffnung stieg in ihm auf, Gott, er wußte, er fühlte ja so genau, daß sie nicht eins geworden waren, daß Kläre nicht seine Frau war, wie man sich das so malt: ähnlich werdend, ähnlich empfindend, ihre Gedanken im Kreise gehen lassend um ihn und das Kind. Er kannte jetzt vielleicht den Ton ihrer Stimme, aber sonst kannte und wußte er nichts von ihr. Manchen seiner Schüler kannte er viel besser, wußte er richtiger zu behandeln, zu stacheln, zu formen. Hier versagte ihm alles. Wenn sie wirklich nicht wiedergekommen wäre, er hätte sich nicht gewundert. Aber was hätte sie mitgenommen? Das Kind, nein, das meinte er nicht, was aus seinem Leben! Er fragte sich das, nicht sentimental, bewahre, nur ein wenig resigniert. Unsinn, sie war ja da! Er sprang auf. Und da stand sie schon mitten im Zimmer, Hansjürgen auf dem Arm.

»Bubi, nun erzähl mal, was passiert ist!« sagte sie lachend.

»Na, was ist denn passiert!« antwortete Georg und nahm ihr den Kleinen ab. Aber der kam nicht weit mit der Mär.

»Mami, hott hüpumps, umfallen, mich auch umschmeißt, danz doll,« machte er, und hatte große glänzende Augen und heiße Bäckchen.

Da erzählte Kläre, und ihre Phantasie war geschäftig.

»Ja, denk dir nur, Kinder, ein ganzer Berg voll in dem toten Nest. Und mit den Hockschlitten. Weißt du, wie 198 ich mal in Davos war, mit Vater, damals, als ich Mama besuchen durfte, das war eine Fahrt, die hab ich heut noch einmal nachgelebt. Und wie ich mit Bubi auf dem Schlitten saß –«

»Aber Kläre!« unterbrach er sie strafend.

Doch sie faltete die Hände:

»Bitte, bitte, erst zuhören: Also, wie wir so runtersausten, die Sonne hinter uns, vor uns unten der Brunnen mit den weißen Eiszapfen und dem putzigen Kerl drauf, und die Gasse wie roter Wein glühend, da schnitt die Luft, da brauste es einem in den Ohren – ach, es war herrlich. Und dann lagen wir beide im Schnee, wir krabbelten uns hoch, ein Mädchen kam aus dem ›Lamm‹, weißt du, aus dem ›Schwarzen Lamm‹, das ist doch grad an der Ecke, und dann tat noch ein stolzer Herr einen Kniefall, so eilig war er uns zu helfen. Und so wurden wir gerettet. Vom Tode natürlich. Gelt, Jürgi!«

Sie lachte, es war dasselbe Lachen, mit welchem sie Haury gegeißelt hatte. Sie dachte jetzt an ihn, und wieder schwellte ihr ein Gefühl der Überlegenheit und der Befriedigung die Brust.

Kolb war still geworden. Er fragte nicht weiter, er schulmeisterte auch nicht. Da war es wieder, das Fremde! Er hatte das Kind enger an sich gezogen, und Hansjürgen war gerade so still geworden, ganz plötzlich, wie schläfrig, mit hängenden Gliedern und blassen Mienen.

Kläre aber sagte:

»Nun, Schorschle, du fragst ja gar nicht, wer der galante Herr war? Herr Haury ist es gewesen!«

Sie hatte den Namen aussprechen müssen, wie ein 199 Triumphschrei hatte er ihr auf der Zunge gebrannt, als könnte sie dem Manne, vor dem einmal hier in diesem Zimmer ihre Schwäche, ihre Sinne sie verraten hatten, damit noch in die Ferne ihre Überlegenheit beweisen, ihn demütigen, wie er sich vor ihr gedemütigt hatte. Sie hatte seine Hände an den Knieen herabgleiten fühlen, aber es war kein Rausch gewesen, der sie gepackt hatte wie ihn, als er dalag, mit fleckig gerötetem Gesicht, von Gassenbuben in den Schnee gesetzt.

»Haury?« fragte Kolb mechanisch. »So so . . . Na, wenn ihr euch nur nichts geholt habt.«

Er wußte kaum, was er sagte.

Hansjürgen wollte nichts essen, die Milch wurde ihm aufgenötigt. Am anderen Morgen war er kaum zu wecken, und am Nachmittag, als es zu Tisch ging, hatte er fieberheiße Backen und schluckte wie ein Erstickender.

Kläre sah es zuerst.

»Um Gottes willen, das Kind ist krank!«

Kolb war zerstreut.

»Was? Wieso! Dem hat ja noch nie was gefehlt.«

»Noch nie?« erwiderte Kläre empört. »Und der Darmkatarrh und das Zahnfieber! Er ist krank, sag ich dir.«

Sie hatte sich vor Hansjürgen auf den Teppich gehockt. Er glitt ihr von seinem Stühlchen herab in die Arme. Und wie eine Beute trug sie ihn fort, kauerte sich auf einen Schemel und machte ihm eine Wiege aus ihrem Schoß.

Nun kam Kolb und legte ihm die Hand auf den Kopf. »Ja, ein bißchen heiß hat er wohl. Wo tut's denn weh, Bubi?«

200 »Ein bißchen heiß! Er brennt ja. Quäl ihn nicht, schick zum Doktor, Georg.«

Sie streifte seine Hand von der Stirn des Kindes, ließ ihn gar nicht heran und erklärte, sie bleibe so sitzen, bis der Arzt komme.

»Aber Kläre, sei doch vernünftig, steck ihn ins Bett, mach ihm Tee oder so was. Salome kann nachher zu Habermeier gehen. Er soll nach der Sprechstunde herkommen.«

»Nach der Sprechstunde erst? Und in der Zeit kann passieren was will,« antwortete sie.

Er redete ihr zu, auf einmal blickte sie mit entsetzten Augen zu ihm auf.

»Schorschle, wenn ich's am End schuld bin! Gestern mit dem Schlitten.«

Ihre Lippen bebten, angstvoll hing sie an seinem Munde. Im selben Augenblick hatte er ihr gerade das sagen, ihr Vorwürfe machen wollen, aber jetzt erwiderte er barsch:

»Dummes Zeug! Setz dir nur so was in den Kopf! Das hat doch schon lang dringesteckt in dem Jungen. Es fehlen uns ja Dutzende in den unteren Klassen.«

»Meinst du?« fragte sie unsicher und atmete leichter.

»Hätt ich's sonst in die Tasche gesteckt?« fragte er dagegen.

»Nein.«

Sie schüttelte den Kopf und starrte über das leise wimmernde Kind ins Leere.

Da räusperte er sich und ging hinaus, das Salmele zum Arzt zu schicken.

Dieses Nein hatte ihn getroffen. Zum ersten Mal hatte er einen Vorwurf, einen gerechten sogar, unterdrückt, 201 ihre reizbare Seele, ihre schwankende Stimmung geschont. Es war ein Sieg über sich selbst, über seine schulmeisternde, fest zugreifende Art gewesen, und er verspürte ein seltsames Gefühl danach. Halb Zufriedenheit, halb Unsicherheit. Als ob er sich am Ende doch eine Blöße gegeben, sich etwas hätte ablisten lassen! Er war wieder einmal schwach gewesen ihr gegenüber, aber dennoch – es war eine Schwäche, die er als Stärke fühlte, ganz anders als früher, wenn sie sich mit Schmeicheln oder Schmollen etwas abgehandelt hatte. Aber wie sie gleich in Ängste geraten war! Erst Dummheiten machen, dann wegen einer Erkältung das Dach abdecken! Ein wahres Glück, daß es nicht so war. Eine tüchtige Schwitznacht, und morgen kleisterte der Bengel sich wieder voll Reisbrei bis an die Augen.

Es wurde fünf Uhr. Kläre hatte Hansjürgen endlich ins Bett gebracht, er warf sich, und seine Augenlider flimmerten vor Hitze. Weinen konnte er nicht, ein Rasseln stieg aus seiner Brust, als sie ihm Milch bot, erbrach er sie.

Kläre war jetzt ganz ruhig, aber es lag ein Gewicht auf ihr, das trug sie mit dem Gefühle, daß es noch schlimmer kommen würde. Alles war aus ihren Gedanken gefallen, sie dachte nur noch an ihr Kind.

Habermeiers laute Stimme schallte auf dem Flur. Sie hörte, wie er zu Georg sagte: »Wird nix sein! Das liegt in der Luft. Nun ja, die Frauensleut müßten keine Mütter sein. Also gehen wir ihn beschauen, den kleinen Patienten.«

Und nun kam er ins Schlafzimmer. Als er schwer und 202 gewichtig, geräuschvoll atmend, auf das Bett zuschritt, hätte Kläre ihn am liebsten wieder hinausgewiesen. Unwillkürlich drückte sie den Kleinen dichter an sich. Aber da setzte sich Habermeier schon neben sie auf den Bettrand, und nun ergriff er Hansjürgens Händchen so zart, als müßte er ein Blumenblatt von der Decke pflücken, und seine Stimme hatte einen leisen, munteren, überredenden Klang, daß Kläre sie gar nicht wiedererkannte.

Als der Arzt dem Kleinen in den Hals schaute und das Kind wimmerte und zuckte, da rannte Kolb aus dem Zimmer. Kläre aber hielt die Lampe, und als Habermeier seine Untersuchung beendigt hatte und hinausgegangen war und sie seine Stimme draußen nur noch als Murmeln hörte, bis ihr Mann die Türe öffnete und sie leise, mit merkwürdig unsicheren Worten bat, einmal hinauszukommen, da drückte sie Hansjürgen ruhig, mit kühlen Händen in die Kissen und flüsterte: »Mami kommt bald wieder, gell, Bubi?« Und ging dann zu den beiden und wußte, daß ihr Junge krank, viel kränker war, als Georg geahnt hatte.

»Ja, er hat's halt ein wenig im Hals und auf der Lunge. Es ist gleich tief gegangen, aber wir werden's schon kriegen, schauens so ein Kind, das ist wie ein Ball, je fester man den auf den Boden schmeißt, desto höher springt er nachher. Nur Geduld muß man haben.«

»Und Gefahr, ich meine die äußerste Gefahr, ist ausgeschlossen?« fragte Kolb.

Habermeier zögerte einen Augenblick.

Da sagte Kläre:

»Das muß man nicht fragen, Georg.«

203 »Recht habens, das ist eine famose Frau, Ihre Frau, Herr Direktor. Also, ich werd Ihnen was aufschreiben, und das andere machen wir, wie wir gesagt haben. Aber einen Thermometer müssen wir haben, liebe Frau Kolb. Und schön anschreiben! Neununddreißig, vierzig, oh, so ein Kind brennt gleich lichterloh, also nur keine Angst. Morgen früh mit dem frühesten seh ich wieder nach.«

Es war eine schlimme Nacht, und schlimmere Nächte folgten. Die Tage waren nur Pausen der Ermattung, bereiteten dem Fieber, dem angstvollen Kampf um das Leben, den Weg, und Kläre empfand sie als schleichende Qual, während sie die Nächte, wo sie in Spannung jeden Pulsschlag, jeden Atemzug zählte und nicht vom Bett ihres Kindes wich, im Fluge durchmaß. Sie kannte keine Müdigkeit.

Georg war schon nach drei Tagen erlahmt. Nun ja, er hatte seine Schule – aber sie, entrüstet wehrte sie sich, als man sie bat, sich zu schonen, eine Krankenschwester ins Haus zu nehmen, oder wen sie nur wollte, aus Ladenburg kommen zu lassen. Aus Ladenburg! Wie fremd ihr der Name klang, wie fremd ihr die Gesichter geworden waren, die da vor ihr heraufbeschworen wurden, als lägen Jahre, lange Jahre dazwischen. Sie wunderte sich einen Augenblick selbst, dann verschwammen ihr die Bilder.

Frau Eisenreiter schickte täglich, um fragen zu lassen, wie es ging. Selbst kam sie nicht aus Furcht vor der Ansteckung, und sie konnte so etwas nicht mit ansehen. Frau von Wernecke war schon am zweiten Tage 204 dagewesen und hatte die Klingel gezogen, leise, um keinen Lärm zu machen.

»Madame Wernecke,« meldete das Salmele.

»Bitte, von Wernecke,« sagte sie im Vorbeigehen zu der Magd, die ihr die Türe offen hielt.

»Von, von, das macht einem den Buckel nicht feist,« brummte die Zurechtgewiesene hinter ihr drein.

Kläre aber dankte für ihre Hilfsbereitschaft.

»Wenn Sie mir meinen Mann abnehmen könnten für eine Zeitlang,« sagte sie mit einem gefaßten, ernsten Lächeln, »das wäre alles.«

Da drückte ihr Frau Lisbeth die Hand.

»Die Männer müssen wir tragen, liebe Frau Kläre.«

»Ja, und sie uns, das gleicht sich aus,« erwiderte Kläre, und einen Augenblick blitzte es hell in ihrem weißen Gesicht, und das Grübchen tat sich auf und spiegelte einen rosigen Schein.

Nun war es wieder Nacht geworden. Kläre lag im Morgenkleid auf dem Bett. Im Nebenzimmer saß Georg und arbeitete. Sie hörte mit ihrem gereizten Ohr, wenn er die Blätter wendete. Draußen hatte sich ein starker Wind aufgemacht, aber er wehte gleichmäßig, es war nur ein dunkles Tönen, kein Laden schlug, kein Riegel schwang; wie von Bienenschwärmen zuweilen die blühenden Bäume dröhnen, so klang der Atem der Nacht.

Das Kind schlief. Sein blasses, zerfallenes Gesicht mit dem verzogenen Mund, den zuckenden Nasenflügeln und den starkgewölbten, von den Lidern nur unvollkommen überspannten Augäpfeln stach erschreckend aus den Kissen.

205 Kläre sah, die Hand unter die Backe geschoben, unverwandt zu ihm hinüber. Frau von Wernecke hatte recht gehabt, es mußte sich bald entscheiden. Einen Augenblick hatte sie heute an seinem Bettchen gestanden, ruhig, war dann wieder hinausgegangen und hatte draußen zu ihr gesagt: »Ich glaube, in ein paar Tagen ist das Schlimmste überstanden.«

»Oder alles,« hatte sie ihr geantwortet, und zum ersten Mal war ihr ein Krampf in die Kehle gestiegen, und es war ein kurzer heftiger Sturm über sie hingefahren, die Tränen wollten sich nicht mehr halten lassen.

Da hatte Frau von Wernecke sie getröstet und von allem möglichen gesprochen. Sie saßen auf dem Sofa. Die Dämmerung kam, und die spröde, gleichmäßige Stimme erzählte leidenschaftlos, ohne Anteil, nur um die Fassungslose abzulenken, von dem, was im Städtchen vorging. Und was ging dort vor? Nichts. Daß viele Kinder krank seien, daß die Eisbahn zu brechen anfange, daß Assessor Drexler versetzt würde, und richtig, daß Herr Haury einen Annäherungsversuch gemacht habe. Er hatte den Kreisdirektor besucht und sich bereit erklärt eine Kandidatur für den Kreistag anzunehmen. Also eine Kandidatur im Sinne der Regierung oder doch wenigstens nicht gegen die Regierung. Und der Kreisdirektor hatte zu seiner Frau gesagt: »Das ist ein Anfang. Er kommt, er kommt, und die Hoffnungen auf die Boulange sind also im Schwinden.«

Warum Kläre das jetzt wieder durch den Kopf ging! Ja, jetzt erst gegenwärtig und bewußt wurde! Aber sie lag so ruhig dabei, erhaschte so gespannt, so aufmerksam 206 jede Bewegung, jede Regung ihres Kindes, daß diese Erinnerung, wie von ihr losgelöst, einem zweiten Ich zu gehören schien. Und als Hansjürgen plötzlich mit einem pfeifenden Laut den kleinen Leib reckte, als ein Krampf ihn in einer seltsamen welligen Bewegung vom Kopf bis zu den Füßen erschütterte, da stand Kläre mit zusammengepreßten Zähnen, ohne Atem, fast ohne Herzschlag neben ihm, schob ihn, hob ihn und war nur noch ein Wesen, ein Gefühl, ein Wille und eine Kraft.

Und sie erkannte, daß sie jetzt ihren Mann rufen müßte und den Arzt.

Ihre Stimme klang klar, Kolb fuhr verwirrt in die Höhe.

»Salome soll zum Doktor, Georg.«

Er fragte nicht, er hatte in diesen Tagen aufgehört, ihre Weisungen zu kontrollieren. Wenn sie es sagte, mußte es sein und notwendig sein. Das Salmele kroch aus dem Bett und lief zum Arzt.

Kolb hatte auch die Studierlampe ins Schlafzimmer getragen. Zwei Lichter brannten nun und zerwarfen die Schatten ihrer Gestalten.

»Ist es so schlimm, Kläre?« flüsterte Georg unsicher.

»Ja, so schlimm,« antwortete sie und hielt mit steifen, zitternden Armen das Kind im Kissen aufrecht, wischte ihm mit der freien Hand den blasigen, zähen Schleim vom offenen Mund, durch den der Atem eines gehetzten Hündleins schnob.

»Was kann man denn machen? So'n Wickel, Kläre? Meinst du nicht?«

Er wollte zum Waschständer eilen.

207 »Nein, der Doktor muß ja gleich da sein.«

»Ja, gleich. Er könnte schon lange hier sein,« erwiderte er.

Kläre antwortete nicht mehr. Kolb stand am Fußende des kleinen Bettes. Da sah er, daß sie weinte, still, ohne zu schluchzen, ohne das Gesicht zu verziehen.

»Kläre!«

Sie winkte ab, auf die andere Seite, nicht zu ihr. Er ging auf die andere Seite, bückte sich wie sie und suchte ihren untergeschobenen Arm zu stützen, war glücklich, als es ihm gelang und sie ihm dafür einen guten Blick gab.

Jetzt schlug die Haustür. Es hallte dumpf durch die Korridore.

»Kamel!« stieß Kolb unwillkürlich hervor und meinte das Salmele.

»Geh ihm entgegen,« flüsterte Kläre.

Habermeier knurrte kaum einen Gruß und setzte sich auf Kläres Bett.

»Ein Wind ist draußen,« sagte er nach einer Weile angestrengter Beobachtung. Und sie horchten alle einen Augenblick auf das feierliche Dröhnen, das die Nacht erfüllte, und an den Mauern, an den Fenstern, selbst im Innern des Hauses vibrierte.

»Ja, und jetzt wollen wir's versuchen,« setzte der Arzt nach einem kurzen Schweigen hinzu.

Da atmeten sie und regten sich, dem Kind zu helfen gegen den Tod. Es war ein stilles, zähes Mühen, das kalte Wasser tropfte von Kläres Händen, es roch nach Kampfer, und Kolb packte die Lampe, als wöge sie sieben Zentner, als Kläre den Jungen aufrichtete, ihm mit dem 208 Kinn das Köpfchen zurückpreßte, die Arme hielt, daß er wie ein kleiner Jesus an ihrer Brust aufs Kreuz gebunden hing und der Arzt ihm den Draht mit dem Wattebäuschchen tief in den röchelnden Hals stieß. Ein heiseres Krächzen und Schreien und Husten und Jappen, und der graue, glasige Schleim stieg würgend aus der Kehle. Und Kläre hielt ihren Jungen gegen den Tod.

Eine, zwei Stunden waren vergangen, da atmete das Kind leichter, das Thermometer vergaß seine wilden Sprünge und stand zitternd still.

»Wir haben's geschafft,« sagte Habermeier und richtete seinen steifgewordenen Rücken mit einer Grimasse des Schmerzes gerade.

Kläre lag neben der eisernen Bettstelle auf den Knieen, die Backe an die kühle Messingkugel gedrückt, einen Arm schützend über Hansjürgen geworfen. Blaue Ringe rahmten ihre Augen, in ihren Schultern stachen glühende Nadeln, aber sie blieb auf ihrem Platz.

»Legen Sie sich ein bisserl hin, Sie haben's verdient,« brummte Habermeier und klopfte ihr auf den Rücken.

Aber jetzt war er ihr widerlich, auf einmal sah sie in ihm den Peiniger; es war nur eine dumpfe Empfindung, sie fand sich im Augenblick wieder zurecht und sah ihn dankbar mit dem Schatten eines Lächelns an.

Er drang nicht in sie und ging hinaus. Kolb schritt hinter ihm wie einer, der aus dem dumpfen Schlaf der Trunkenheit geweckt worden ist, und trug schwer an der Lampe. Stumm waren sie bis an die Haustüre gekommen. Habermeier brannte sich im Flur noch eine Zigarre an.

209 »Es ist Westwind, wir kriegen Tauwetter,« sagte er.

»Glauben Sie, daß das sich wiederholt?« fragte Kolb.

»Was wiederholt? Nein, so was macht man nur einmal, und jetzt gehen S' zu Ihrer kleinen Frau und tun ein' Kniefall, verstehen S', von wegen weil sie dem Buben sein Engel gewesen ist. Ja, ein rechter Engel, und wenn sie auch sonst den Satan im Leib hätt. Und dann saufen Sie sich meinetwegen einen an, damit Sie ins Bett kommen und Schlaf kriegen. So, und jetzt gute Nacht, heißt guten Morgen!«

Er riß die Türe auf. Da sprang der Sturm herein, der winselnd draußen im Hof herumstrich und keinen Ausweg fand, packte die Lampe und riß ihr die hochaufleckende feurige Zunge aus, daß sie in rauchendem Stank erlosch. Zur Not noch rettete Kolb Glocke und Glas und tappte dann im Finstern die Treppe hinauf zu seiner Frau.

Kläre kniete noch an Hansjürgens Bett. Als Georg sie vorsichtig unter den Armen faßte und in die Höhe zog, ließ sie es ohne Widerstand geschehen. Das Kind schlief. Die kleinen Hände zuckten über die Decke hin, aber der Kopf lag ruhig, die Haare waren feucht, und der Atem strich leichter.

Sie gingen ins Wohnzimmer.

»So, nun legst du dich zu Bett, Kläre. Ich werde aufbleiben. Es ist bald Morgen.«

Dabei unterdrückte er mühsam ein Gähnen, das ihm fast die Kiefern zerriß.

»Bald Morgen?«

Kläre trat ans Fenster. Eine ungewisse Helle kämpfte 210 mit der Nacht. Man sah die verschneiten Felder wie weiße, in dunklem Wasser auf- und niedertauchende Tücher in der Tiefe schwimmen. Am Himmel zogen schwere Wolken. Der Sturm blies zum Wind abgeschwächt. Er lief jetzt unruhig, launenhafter ums Haus, schwieg eine Weile und griff dann plötzlich in die kahlen Linden, daß das Geäst knisterte und knackte. Nun begann er silberne Speere gegen die Scheiben zu schleudern, schwere Regentropfen, die dumpf aufprallten und sich in schmal zugespitzte Spritzer auflösten. Kläre starrte gedankenvoll auf das glitzernde Spiel. Wie schön das war! Und das Zusehen erst, so ruhig dastehen, warten auf die zerperlenden Tropfen, den Drang in den Lüften beobachten und dabei langsam und tief atmen, leben, ja leben! Und sie lebte, ach, sie fühlte es in jedem Nerv, daß sie lebte, daß alles in ihr lebte, alles um sie her. Sie öffnete das Fenster, hielt es gegen den Wind und trank die feuchte, warme Luft, die ihr fast den Atem nahm, und aus ihrer Brust wälzte sich ein wilder, jauchzender Drang, sie lachte, sie schrie, einen einzigen unbeschreiblichen Schrei, ihr ganzer Leib tönte mit, und der Wind fing ihn ihr vom Munde und trug ihn aufgelöst in tausend Stimmen, die wie die Stimmen der Lüfte selber klangen, in die verblassende Nacht.

»Nanu, Kläre, du willst dich wohl erkälten!«

Kolb kam mit der Kaffeemaschine aus der Küche. Der Wind jagte die blaue Spiritusflamme, daß sie frei ins Zimmer tanzte, als wollte sie ohne Docht leben. Er stellte das Geschirr rasch ab und zog Kläre vom Fenster weg.

211 »Siehst du, jetzt koch ich mir Kaffee, nein, du nicht. Das Mädel auch nicht, ich mach's ganz allein. Stark, furchtbar stark, wie damals, als ich im Staatsexamen war und die Nächte durchochste. Ja, das kann ich noch. Und du gehst ins Bett. Zu deinem Jungen. Na, du hast's doch verdient.«

Da lachte sie leise, in tiefen Tönen.

»Hab ich das?« Dann wurde sie ernst: »Weißt du, Georg, ich hab immer gemeint, er wär da, er stünde schon vor der Tür, und ich brauchte nur einen Augenblick nachzulassen oder zu weinen, nur zu zweifeln, da wär er hereingekommen.«

»Geh zu Bett, Kläre,« murmelte er und rückte an der Maschine. Das Wasser stand ihm in den Augen, so'n Schuß war ihm hineingeraten bei ihren Worten, er schämte sich, er war wütend auf sich selbst. Und als sie immer noch zögerte, herrschte er sie im Flüstertone an: »Zum Donnerwetter, nun leg dich mal hin!«

Er hatte seit vierzehn Tagen nicht mehr so zu ihr gesprochen, aber es tat ihr nicht weh. Sie horchte wie auf ein gewohntes, entbehrtes Geräusch, und hörte heraus, wie es gemeint war.

»Den Kaffee siebt man, weißt du das noch?« fragte sie und lief dann hurtig ins Schlafzimmer.

Hansjürgen schlief noch, ihr Bett stand neben dem seinen und sah so klein aus in dem großen Raum. Georg hatte seines im Nebenzimmer aufgeschlagen. Und kaum lag sie, da fielen ihr die Augen zu.

Georg Kolb trank den satzigen, bittern Kaffee und schlich alle Viertelstunden an die Türe. Er hörte ihre 212 Atemzüge, die kleinen, raschen des Knaben, die tiefen, langsamen seiner Frau. Grau tastete der Morgen an den Wänden hin. Dann und wann besternte ein schwerer Tropfen die Scheiben, jedesmal war es Kolb, als klopfte es. Er versuchte die Vorhänge im Schlafzimmer dichter zu schließen. Da schlug Kläre mitten aus dem Schlaf die Augen auf.

»Was ist?«

»Nichts, der Regen klopft so an die Fenster. Da – wieder.«

Kläre schlief wieder ein.

In der ersten Stunde, er las Thukydides mit den Primanern, war Kolb so frisch und so beredt, daß er sich über sich selbst wunderte.

Siegfried, der seit den Weihnachtstagen wie im Fieber arbeitete, zwang sich auch heute den Druck in den Schläfen zu vergessen und fragte sich, was wohl Kolb so angeregt haben mochte. Da, bei einer humoristischen Wendung des Direktors, die sogar die stumpferen Mitschüler aufrüttelte, wußte er plötzlich, was geschehen war. Gewiß hatte die Nacht eine günstige Krisis gebracht. Und das erfüllte ihn mit einer Freude, die sich als frischer Blutstrom in seine Adern ergoß. Er hätte Kolb gern etwas zuliebe getan, Eifer bezeigt und meldete sich, als eine schwierige Stelle kam. Sonst peinigte ihn die Lektüre, sie krochen ja wie Schnecken durch das Buch, zwanzig, dreißig Zeilen und das zweimal in der Woche, da ging alles verloren, was an Leben und Spannung in dem peloponnesischen Krieg aufgespeichert lag. Aber heute hatte er seine Lust daran, und wo ihm die 213 Wissenschaft versagte, ahnte er mit geschärftem Instinkt das Richtige, und auch über Kolb war ein heiliges Feuer gekommen. Er ließ die Steine liegen, über die Höpfner keck hinwegsprang, renkte ohne lange Kreuz- und Querfragen und peinliche Gewissensforschung ein, was nicht dem Urtext entsprach, und so übersetzte Siegfried wohl anderthalb Seiten, und Lehrer und Schüler hatten das Gefühl, daß ihnen eine schöne Stunde beschieden war. Erst als es läutete, brach Kolb ab.

»Da sehen Sie, daß Sie's können, Höpfner. Heut war Leben in Ihnen.«

Aber dann fiel ihm aufs Gewissen, daß er die andern lahmen Schafe im Stich gelassen hatte und fuhr fort:

»Wir werden die Stelle nochmals genau durchnehmen. So was muß sitzen.«

Siegfried war in der zweiten Stunde, in der Eisenreiter ›Tasso‹ mit ihnen las, voller Ungeduld. Sein Nachbar schrieb sich noch die Sätze aus dem Thukydides auf, soweit sie haften geblieben waren, und schob ihm immer fragend das Buch hin. Einschläfernd las sein Vordermann Szene um Szene mit schwerfälliger, gutturaler Aussprache, im harten Trott der Verse, ohne Liebe, ohne Verständnis. Eisenreiter korrigierte die Betonungen. In langen Strichen fuhr der Regen gegen die Fenster und wusch die Dächer. Jetzt hatte Siegfrieds Bankgenosse seine Nachlese beendigt. Siegfried starrte auf die Lektüre und vergaß die Blätter zu wenden. Die Zahlenreihen lösten sich auf und begannen zu marschieren, zogen in Kolonnen über das Papier und wuchsen ins Unermessene, 214 wie schwarze Heeresmassen über ein weites Schneefeld ziehen.

Da veränderten sie sich und wurden zu Schlitten, die über die Fläche jagten. Siegfried sah die große Armee auf dem Rückzug von Rußland. Aber dann waren es auf einmal Kinderschlitten. Er tastete mit der Hand nach der Hemdbrust, glaubte ein knisterndes Päcklein zu fühlen, und alles verschwamm vor seinen Augen.

Wie ihm etwas spinnwebfein über das Gesicht gestrichen war vor vierzehn Tagen (oder waren es schon drei Wochen?), als er am Morgen vor dem Spiegel stand und den Kamm durchs Haar führen wollte! Er hatte danach gegriffen, ein langes, zartes Haar, ein Frauenhaar und noch eins, noch mehr spannen sich los von seinem weißen Kamm. Das Rosele? Aber nein, dem quoll es rauh und korngelb um die Schläfen, es waren bräunliche, da und dort mit Gold gelötete Haare, lange, seidige Fäden, die sich anmutig bewegten, wenn er sie ins Licht hielt. Als ihm eines entfiel, bückte er sich unwillkürlich und hob ihrer noch mehrere auf. Wenn er sie um den Finger rollte, war es ein ganzes Gespinst zu einem Ring gedreht, der einen rotgoldenen Glanz hatte. Das Rosele tappte über den Gang. Er rief es herein und fragte, woher die Haare kämen.

»Ja, sell weiß ich doch nicht, Monsieur Siegfried. Habt Ihr am End eins bei Euch gehabt?« sprach es und tat, als dürfte es nicht nach dem Bett hinschauen.

Er wurde rot und barsch. Rot wie immer, wenn von jenem Letzten die Rede war, das sich ihm noch nicht erschlossen hatte, vor dem er immer noch scheu zurückbebte.

215 Da versetzte die Magd patzig:

»Es wird Euch nicht weh tun, wenn sich eins strählt vor Eurem Spiegel. Hätt ich die Madame in meine Kammer führen sollen? Hein?«

Und als er fragte: »Was für eine Madame?« da erzählte es ihm die Begebenheit.

Dann hatte er am Fenster gestanden und die Lippen auf die Haare gedrückt und ein Stückchen Seide aus einer Krawatte geschnitten und sie daran aufgewunden. Er war vor den Spiegel gelaufen und hatte hineingeblickt, als wäre ihr Bild darin gefangen, strich zärtlich über seinen Kamm, und als er sich kämmte, war es ihm wie eine Entweihung und doch so süß – er tat es halb im Traume.

Im Geläute der Zehnuhrglocke erstarb die erbarmungslose Rezitation, die Eisenreiter dem Tasso angedeihen ließ. Siegfried schrak auf. In der Pause kam ihm zu Ohren, daß der kleine Junge Kolbs in dieser Nacht dem Tode abgerungen worden sei. Sie waren ermahnt worden, sich ruhig zu verhalten auf den Gängen, wo sie sich des Regens wegen aufhalten mußten. Da zog es ihn die Treppen hinauf. Im zweiten Stock waren die Zeichensäle und alles still. Hier wartete er auf den Direktor. Jetzt kam er die Stufen herauf, langsam, müde, etwas außer Atem.

Siegfried trat ihm entgegen.

»Ich bitte um Verzeihung, ich möchte nur fragen, wie es dem kleinen Jungen geht.«

Eigentlich hatte er nicht nach dem Kinde, sondern nach der Mutter fragen wollen, aber vor seinem innersten Gefühl kam's auf eins heraus.

216 Kolb rückte die Brille.

»Ich danke Ihnen, lieber Höpfner, es war eine Krise diese Nacht. Ich danke Ihnen.«

Er reichte ihm die Hand, aber schon wieder war das alte Mißtrauen des Magisters gegen alles, das von der Schulbank ausgeht, in ihm rege. Wollte sich der Bengel lieb Kind machen bei ihm?

»Apropos, Höpfner, ich habe das über der Krankheit in meiner Familie ganz vergessen: Wir wollen ja ein bißchen korrepetieren. Also kommen Sie mal heute nachmittag ran. So um drei Uhr. Sie sind ja jetzt im Zuge, da heißt es dicht halten.«

Am Nachmittag zog Siegfried die Klingel. Es war Mittwoch, die Klassen leer, alles still.

Er saß wie auf Kohlen in Kolbs Studierzimmer. Wenn eine Tür ging, eine Bewegung über den Gang strich, zerflatterte seine Aufmerksamkeit, aber er hielt sich mit Gewalt bei der kniffligen Übersetzung fest, die ihm Kolb vorgelegt hatte. Nun war er zu Ende. Die Stunde war ihm wie eine Minute gewesen. Er packte die Bücher zusammen.

Ein Regenguß klatschte gerade an die Fenster, im Kamin sang der Wind. Da sagte Kolb:

»Warten Sie noch, bis das Ärgste vorüber ist.«

Und nach einem Schweigen fuhr er fort, wie zu sich selbst:

»Ja, das waren schlimme Tage und böse Nächte.«

Siegfried stand reglos, ein starkes Gefühl bewegte ihn, zog ihn zu dem Manne, der die paar Worte von der schweren Gedankenfracht verlor, die ihm die letzten Wochen aufgebürdet hatten.

217 »Sie haben keine Mutter mehr, Höpfner?«

»Nein, sie ist vor neun Jahren gestorben.«

»Auch wir haben nur das eine Kind.«

In grauen Schwaden fuhr der Regen durch die Gasse und peitschte die Scheiben.

»Wie alt ist Ihr Herr Vater?«

»Sechsundfünfzig Jahre.«

»Da sieht er Sie noch in Amt und Ehren.«

Siegfried preßte die Lippen zusammen.

Georg Kolb stand auf und ging im Zimmer hin und her. Sechsundfünfzig, der Junge vor dem Abiturium, und er war fünfzig und sein Junge zwei, knapp zwei Jahre.

»So warten Sie doch. Es gießt ja mit Eimern,« sagte er, als Siegfried sich zum Gehen anschickte.

Da öffnete sich die Tür.

»Georg, – ach, ich wußte nicht –«

»Was ist denn, Kläre? Das Kind?«

»Nein, nein, er schläft wieder.«

»Na, dann ist ja alles gut. Hier den jungen Herrn kennst du ja. Er hat nach Hansjürgen gefragt.«

Kläre streckte Siegfried die Hand hin.

»Das ist lieb von Ihnen.«

Siegfried hielt die Bücher krampfhaft unter den Arm gepreßt.

Da sagte Kolb freundlich:

»Nun, wollen Sie meiner Frau nicht die Hand geben, Höpfner?«

Und es gab ihm einen Ruck, er umschloß ihre warme, kleine Hand mit seinen kalten Fingern, und der Strom 218 eines ungeheuren Glücks erfüllte sein Wesen mit Fluten, die ihm als Tränen in die Augen traten. Dem trüben Tage dankte er, daß sie verborgen blieben.

Dann ließ er sich nicht mehr halten, nutzte einen Augenblick, da der Regen nicht so wild tat, und nahm Abschied. Er ging wie auf Wolken.

Als ihm befohlen worden war, Kläre die Hand zu geben, als er es getan hatte, da war ihm plötzlich gewesen, als hätte er reineres Blut in den Adern.

»Pfui, Pfui,« stieß er zwischen den Zähnen hervor, mitten auf der Gasse, und schämte sich, daß in ihm jetzt noch einmal einer jener unreinen, verlangenden Träume erwacht war, die er früher gehabt hatte im Schlaf und im Wachen. Er atmete freier, er erhöhte ihr Bild und sah sie jetzt mit ihrem Kind auf dem Arm, blaß, mit einem ernsten Lächeln und stillen, weißen Händen.

Die Luft wehte weich und würzig, aus der engen Gasse sah er oben über den Giebeln, zum Greifen nahe, bauschiges Gewölk treiben, das verhüllt dahinschwebenden Frauen glich. Der Regen hörte auf, in beruhigtem Fluge zogen sie über die Dächer.

»He, excusez, Monsieur Siegfried!«

Er schrak zusammen. Fast hätte er ein Mädchen überrannt, das mit einer großen Kartonschachtel die Gasse heraufkam. Er erhielt von dem Ding einen Stoß, der ihn aufrüttelte. Das Christinele! Und da erwiderte er seinen abweisenden Blick mit einem freien, frohen Lächeln.

»Pardon, Christinele,« rief er leise und freute sich, als ihr das Blut in die Wangen schoß und vor Staunen 219 ihre Augen sich weiteten. Die Schere klirrte ihr am Schürzenband.

Aber er ging weiter, sah sich nicht um nach dem Mädchen; am Café Mousson begegnete ihm Frau Sinniger. Sie kam langsam, schweren Trittes vom ›Schwarzen Lamm‹ her. Da überlief ihn ein Schauer der Ehrfurcht, er zog die Mütze tief, als sie die Mantille schützend über dem Leib zusammenziehend an ihm vorüberschritt.

Amélie aber hielt inne und bat:

»Wollt Ihr mir eins zu Gefallen tun? Der Vater ist auf der Jagd. Er soll doch zu mir heimkommen, wenn er nicht zu fatiguiert ist. Ich hab's dem Rosele schon gesagt, aber das könnt's vergessen.«

»Aber gern, Madame Sinniger.«

Nach einem kurzen Zögern setzte sie hinzu:

»Ich hab embarras, ich brauch ihn, sagt ihm das, Monsieur Siegfried.«

Ihre Stimme zitterte, und schnell, als hätte sie schon zuviel verraten, ging sie weiter. Aufgeregt schoß das gelbe Regenwasser in der Gasse und spritzte ihr über den Schuh.

Die Tage fingen an zu langen, es war heller als vor einer Stunde. Im Laden lag ein verirrter, zwischen zwei Wolken herausgefallener Sonnenstrahl und funkelte rot in den Schrankscheiben. Es war stille Zeit jetzt, aber an den Drähten über dem Tisch waren schon die Fastnachtslarven aufgehängt und grinsten blöd und tückisch im Zwielicht. In acht Tagen waren die Narren los.

Der Kassenschlüssel war in Amélies Tasche. Ferdinand hatte sich daran gewöhnen müssen, daß er nicht mehr 220 aus ihrer Lade schöpfen durfte und sich darein gefunden. Heute wollte sie ihn fragen, wie es um ihn stände und um die Caisse d'épargne. Es mußte sein, und da sie sich schwach fühlte mit dem Kind im Schoß, so war sie um Hilfe gewesen bei dem Vater.

Der Caissier arbeitete im Kontor, er wühlte im Tresor und schlug mit seinem tabakgelben Zeigefinger hastig die Blätter um. Als der Kommis schon lange gegangen war, saß er noch über den Büchern. Es wurde dunkel.

»Ferdinand, der Vater ist da!«

»C'est bien, laß mich jetzt, ich bin pressiert,« antwortete er und schob das Radiermesser unter die Papiere.

»Nein, Nandi, das da hat Zeit. Komm nur. Oder der Vater kann auch ins Kontor kommen, wenn's dir lieber ist.«

Da stand er ärgerlich auf.

»Also en avant denn, wenn man seine Ruhe nicht haben soll,« und er ging an ihr vorüber.

Sütterlin saß im kleinen Eckzimmer am großen, runden Eßtisch. Die Kinder waren ins Bett geschickt worden.

»Bon soir, père, was gibt's Pressantes?«

Ferdinand warf sich auf den nächsten Stuhl, legte das Päcklein mit dem schwarzen Tabak vor sich auf den Tisch und begann mit unsteten Fingern eine Zigarette zu drehen.

»Ja, das sagt dir 's Amélie am besten,« antwortete Sütterlin nach einer Weile, als würde ihm das Sprechen schwer.

Er hatte noch die feuchte Jägerjoppe an mit den vielen 221 Taschen und die hohen ledernen Gamaschen. Ferdinand tat, als bemerkte er es nicht.

Als Amélie schwieg und mit der gekrümmten Hand mechanisch die Brotkrumen vom Tisch in ihre Schürze strich, da schob Sinniger die Zigarette in den Mund und stand auf.

»Es scheint, es pressiert doch nicht so heillos.«

Jetzt richtete die Frau sich auf.

»Ferdinand, sei raisonnabel. Sag, in welchen Schuhen du steckst. Bist du en règle mit deiner Caisse?«

So bescheiden, so bittend, sie schämte sich, daß sie es überhaupt wagte.

»Hein? Was ist das? En règle? mais t'es folle, Amélie,« stammelte er, und als die Frau ihn immer noch flehend anschaute, der Alte stumm an seiner Pfeife sog und mit den abgründigen Augen ins Dunkle starrte, da schlug er mit der Faust auf den Tisch, spie die Zigarette von sich und schrie:

»Mais, c'est à crever - à crever! Wer fragt so was! Meine Caisse, die ist so gut wie die Banque de France. Weil ich ein paar Billetts zu reglieren hab und dir's Ladengeld abverlangt hab, holst du mir den Vater aus dem ›Lamm‹! Ja, bin ich denn unter Kontrolle! Ich bin Herr im Haus, tu comprends, Amélie. Und ich geriere meine Sach' selber. Gott verdammt, noch einmal!«

Breit hatte er sich hingepflanzt. Die Frau fühlte ihre Energie ermatten, sie gab innerlich schon allen Widerstand auf und bereute den Vater geholt zu haben.

»Also es ist nur für den Moment, Ferdinand? Und du 222 kannst zahlen am Ersten? Ich hab so eine Angst. Ich geh im sechsten Monat, Nandi!«

Jetzt begann sie schon, sich zu entschuldigen, und preßte die Hände auf den Leib, um es deutlicher, verzeihlicher zu machen.

Da nahm der Alte die Pfeife aus dem Mund.

»Alors, c'est fini. Und man kann gehen.«

Aber er stand nicht auf.

Sie schwiegen alle drei. Ferdinand begann eine neue Zigarette zu rollen und krümelte den Tabak über die Diele. Er wußte nicht, ob er gehen oder bleiben sollte. Amélie las wieder Brosamen vom Tisch. Sütterlin sah ihr zu. Und in dieser Stille war es Ferdinand Sinniger, als ginge ihm der Vorteil, den er eben errungen, wieder verloren. Sie glaubten ihm nicht, der Alte hatte ihm nie geglaubt, seine Frau verlor den Glauben aufs neue. Mit jedem Wisch über die Tischplatte scharrte sie ein Stück von ihrem Glauben zusammen und trug alles in der Schürze vor den Ofen. Jetzt leerte sie's aus.

Sinniger schüttelte die Gedanken ab und legte die Hand auf die Türklinke.

»Bon soir beisammen. Ich geh ins Café.«

Die Frau antwortete mit einem leisen ›bon soir‹.

Da sagte Sütterlin, als er schon die Türe geöffnet hatte, mit einer brüchigen, langsam Wort um Wort verlierenden Stimme:

»Richtet mir doch mein Geld auf den März, Ferdinand. Ich zieh zurück, was ich auf der Caisse d'épargne hab. Ich hab große Depensen auf Ostern.«

223 »C'est bien, Ihr könnt's morgen holen,« erwiderte er über die Schulter.

»Nein, nein, erst muß gekündet sein, alles nach der règle. Und 's Depot, s'il vous plaît, das hätt ich auch gern, ich changiere die Papiere und geb's auf Hypothek.«

Mit einem quiekenden Laut schnappte die Klinke zurück. Ferdinand kam an den Tisch. Er zitterte vor Zorn.

»Sagt frank, was Ihr denkt, Schwiegervater! Vous me soupçonnez! Meint Ihr, es ist nichts sicher in meinem Tresor! Voyons, parlez!«

Gerührt hatte er an die Depots, gespielt damit, überschlagen, was sie wert waren, aber so schießt einem viel durch den Kopf. Sie lagen noch sicher in den eisernen vier Wänden. Und da kam der Vater der Frau und zog zurück. Ein roter Schwall zog in ihm auf. Es zuckte ihm in den Fäusten.

»Voyons, parlez! Oder ich vergeß, wer Ihr seid!« schrie er wild.

»Nandi, um Gottes willen.«

Die Frau hing sich an ihn, und als der Vater ohne ein Zeichen der Teilnahme sitzen blieb, rief sie ihm zu:

»Es ist nicht, wie du denkst! Du hörst's ja! So red doch!«

»Und wer sagt dir und deinem Manne, wie ich denke? Ich brauch meine paar tausend Livres bar. Werfen sie dich, Ferdinand, eh bien, so behalt sie. Das Depot aber ist unter Enveloppe und Cachet, das nützt dir nichts. Also heisch ich's für bessern Zins daraus zu ziehen. Voilà. Das ist simpel wie Bonjour.«

224 Amélie stand wie gegen einen Feind neben ihrem Manne. Ferdinand trat ungeduldig von ihr weg.

»Gut, wie der Vater will. Die paar tausend Livres werfen mich nicht. Das Depot ist auf die erste Präsentation an der Caisse fällig. Und wenn Ihr noch ein paar tausend braucht, zum Bauen oder aufs Haus, que sais-je, die Caisse d'épargne schafft sie Euch, für das bin ich Euch gut. Und jetzt, bon soir la compagnie.

Er hatte bei den letzten Worten mit dem losen Silber in der Hosentasche gespielt, daß es klirrte. Mit einem leutseligen Winken verließ er die Stube. Man hörte ihn auf dem Gang erst leise, dann laut vor sich hinträllern.

Als es still geworden war, nahm Sütterlin seine Kappe von der Kommode. Er legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter und sagte mit einem halben Lächeln:

»Pas contente, Amélie, n'est-ce pas?«

»Jetzt ist er verzürnt, jetzt macht er den Stolzen und kehrt den Sack um bis aufs Letzte, für dir's zu remboursieren. Und wirft die Fünflivres umeinander wie Spreuer, daß man sieht, er kann's und vermag's. Und mir – mir geht er in ein fremdes Bett.«

Ihre Lippen zuckten, tonlos kam die Rede aus ihrem Munde.

Da richtete sich der Alte auf, nahm die Mütze wieder ab, die er schon über die spärlichen, grauen Haare gezogen hatte und hob seine magere, von Adern und Sehnen strotzende Hand und sagte mit fester, feierlicher Stimme:

»Willst du von ihm gehen, Amélie, sag's?«

»Nein!«

225 Prends garde, Amélie, er ist leichter als du. Es reißt dich geschwinder hinunter als ihn.«

»Ich bleib bei ihm.«

Seine Hand senkte sich auf ihre Schulter.

»So ruf mich nimmer zwischen euch. Du stellst dich sonst gegen mich wie heut.«

»Vater!«

Er strich sich über die Augen, seine Stimme wurde wieder ruhig.

»Adieu, Amélie. Ich geh jetzt. Schlaf gut. Embrasse les enfants.«

Er ging, seine eisenbeschlagenen Schuhe knirschten auf der steinernen Treppe, und die Frau blieb im Dunkel.

Ferdinand Sinniger schaffte das Geld, das der Vater gekündigt hatte, auf die Stunde. Er hatte nicht einmal nach der Einnahme der Ladenkasse gefragt. Die wäre auch gering genug gewesen. Die Fastnacht brachte nichts, noch hing die Kriegsdrohung über dem Land, und als es hieß, der Kronprinz werde nicht mehr gesund, da sagten sie im Café Mousson nicht anders als im ›Ochsen‹, ah voilà un malheur! Amélie saß den ganzen Tag im Laden, das Phinele auf dem Schoß, die andern an den Röcken.

Eines Tages kam Josephine Mousson und sah nach ihrem Patenkind.

»Es ist blaß, das Phinele, Amélie!«

»Ja, es macht an den Zähnen und hat ein wenig Gichter.«

»Und wie es seinem Vater gleicht!«

»Bien vrai, Phinele?« fragte die Frau, und ein glücklicher Ausdruck ging über ihr Gesicht.

226 »Pour sûr,« erwiderte Josephine und lachte und fuhr fort: »Er wird solid, der Nandi, man sieht ihn fast nimmer.«

»Aber er ist doch alle Abend und oft halbe Tage bei dir im Café!«

»Tiens, dann weißt du mehr als ich. Er kommt auf ein petit verre, will mich embrassieren, wenn niemand da ist, affaire et privilège de cousin, wie er sagt, ich stell ihn zurecht, er exküsiert sich und eins, zwei ist er aus der Türe.«

Amélie verbiß ihre Eifersucht. Wo war er denn, wenn er nicht im Café war bis in die Nacht um ein Uhr? Aber sie fragte das Mädchen nicht weiter aus. Sie hatte ja doch keine Hände ihn zu halten. Und als eines Tages der Verele die Nase in den Mantel des Vaters steckte, der im Laden an einem Haken hing, und sagte: »Probier einmal, Mutter, das schmeckt fein,« und sie an dem Rock vorüberstreifend einen süßlichen Moschusgeruch einatmete, da drückte sie das Phinele fest an sich und tat, als hätte sie nichts gehört. In Dornkirch gab es niemand, der sich mit Moschus parfümierte. In Belfort auf der Esplanade, in Mülhausen in der Wildmannsgasse und in Basel auf der alten Brücke, da gab es Frauenzimmer, die schleiften Musc und Patschuli im Korsage mit sich. Ah les gredines! Sie hatte gewußt, daß er ihr aus dem Bett gegangen war, – aber nie so. Immer war sein Herz dabei gewesen, damals, als die schwarze Célestine in Aslach es ihm angetan hatte, später die Liebschaft mit der Georgette Felber und der Handel mit dem Strohl seiner Frau – sie hatte ihm alles 227 verzeihen müssen – jetzt trug er nur Lust aus dem Haus, aber das tat ihr weher als alles. Avec des filles, der Nandi und das! Und sie preßte das Kind an sich, daß es wimmerte. Wenn das wenigstens nicht da wär und das fünfte unterwegs, sie hätte vielleicht die andern doch noch an der Hand genommen und wäre ins ›Lamm‹ gegangen.

Nun sprach sie kein Wort mehr mit ihm. Sie bettete sich mit dem kleinen Phinele in ein anderes Zimmer, sie hielt die Kinder um sich wie eine Henne ihre Küchlein, er kam und ging, schwatzte und kommandierte, war laut und lustig, ließ die Sous tanzen und die Livres springen, sie redete ihm nicht mehr darein. Aber sie sah, daß seine Hände immer stärker zitterten, wenn er den Löffel hielt, die Augen rote Ränder hatten und er manchmal stumpf vor sich hinbrütete, bis es ihn aufschnellte wie unter einem Peitschenhieb und er wieder der Nandi war, der dem Christinele ein Flacon schenkte, der Madame Kolb zuliebe Bücher anschaffte, die sonst kein Mensch las, den Bauern die Sparlivres aus dem Sack lockte und dem alten Vogel, der mit einem Schmarren über dem Schädel wieder dreist tat, hundert Mark lieh, damit er sich auskurieren konnte. Am Schalter waltete der Kommis, der Caissier traktierte seine Affären im Café.

Heute war er wieder nach dem Mittagessen fortgegangen. Amélie hatte ihn die Kreuzgasse hinaufschreiten sehen, am Marktplatz war er dem Notar in den Weg gelaufen, aber er hatte sich nicht halten lassen. Sie stand noch unter der Ladentür, als Ramspacher vorbeikam. Er blieb bei ihr stehen.

228 »Bon jour, Madame Amélie. Immer pressiert, der Nandi. Er hat ein Mordstoupet, aber sorgt, daß er ein wenig einhält, sonst bleibt ihm am End doch einmal eine Differenz am Hals, die er nicht mehr schlucken kann.«

»Sagt's ihm selber, das zieht mehr.«

»Non, non, Madame Amélie, er hört besser auf die Frauenzimmer als auf die Mannsleut, der Nandi.«

Er lachte sein speckiges, glucksendes Lachen und schielte nach Kläre, die gerade mit Hansjürgen im Wägelchen die Gasse heraufkam.

»Sapristi, quelle femme!« setzte er hinzu und zog den Hut.

Kläre konnte ihn nicht ausstehen und tat, als hätte sie den Gruß nicht bemerkt. Sie bückte sich über das Kind, das blaß, mit faltigem, ernstem Gesichtchen und großen, dunklen Augen, in denen der helle Märztag glänzte, in dem dreiräderigen Wagen saß. Die Räder lärmten auf dem Pflaster. Es war das einzige Geräusch. Als sie still hielt, um Hansjürgen besser zu setzen, fiel eine plötzliche Stille ein, und in diese tönte weither der langgezogene Pfiff des Einuhrschnellzuges, der in Dornkirch anhielt, wenn er dort Reisende vorfand.

Amélie zuckte zusammen. Das Phinele fing an zu weinen.

Da ging der Notar, der so lange gezögert hatte.

Kläre blickte auf, als sie das Kind weinen hörte, und schob den Wagen unwillkürlich näher.

»Es ist blaß, das Kleine, Frau Sinniger,« sagte sie. Sie hatte seit Hansjürgens Krankheit einen Blick dafür bekommen.

229 »Das machen die Zähne, Madame Kolb. Und wie geht's Ihrem garçon?«

Über Kläres Gesicht zog ein unsicheres Lächeln:

»Der Doktor sagt gut. Es müßte sich auswachsen. Aber ich, sehen Sie, manchmal habe ich eine furchtbare Angst. Meine Mutter ist doch an einem Lungenkatarrh krank geworden und wurde nicht mehr gesund.«

»Das ist doch nicht das gleiche, Madame Kolb, wenn erst der Sommer kommt, dann wird er schon wieder rote Bäckle bekommen.«

»Ach ja, der Sommer! Das denk ich auch. Aber es riecht schon ordentlich nach dem Frühling. Finden Sie nicht auch?«

Lebhaft hatte Kläre geantwortet, den Kopf zurückgeworfen und den lauen Hauch des hellen Tages in sich gesogen. Zum ersten Mal ging ihr wieder ein voller Atem durch die Brust.

»Ja, der Märzen, der bringt's,« erwiderte Amélie.

»Jetzt fahren wir zu Strohl, da gibt's Meringuentörtchen und Osterhäschen, gelt, Bubi?« sagte Kläre lachend, halb zu der Frau gewandt, und drehte den Wagen dem Rosengäßlein zu.

Und den ganzen Tag war eine große Freude in ihr.

Als sie am Abend in die Küche kam, kehrte das Salmele gerade vom Metzger heim.

»Denkt auch, Madame, Sinnigers Phinele ist gestorben!«

»Was!«

Sie schrie's laut hinaus und wurde ganz blaß.

»Ja, es hat Gichter bekommen, und mit eins ist es kalt geworden.«

230 »Die arme Frau! Aber das ist ja gar nicht möglich!«

Aber dann hörte sie gar nicht mehr auf Salmeles Erklärungen, sondern rannte in wilder Angst zu ihrem Jungen, als wäre der schwarze Engel auch unterwegs zu ihrem Kind.

Das Phinele war um sechs Uhr in Krämpfe gefallen, und ehe noch das Kamillensäcklein auf seinem Leib lag und der Arzt ans Bett trat, streckte es sich, und Amélie hatte ihm ein Schaumkränzlein von den Lippen gewischt, das der Tod dort zurückgelassen hatte.

Sie weinte nicht, rollte den Korbwagen in ihr Schlafzimmer und setzte sich dazu, bis Doktor Hornecker kam. Die Magd lief ins Café und ins ›Lamm‹, der Buchbinder zog die Rolläden im Laden herunter. In der Wohnstube aßen die vier zu Nacht, die ihr noch geblieben waren.

Dann war der Vater aus dem ›Lamm‹ gekommen. Ferdinand war nicht zu finden. Der Alte hatte lange das wächserne, spitzige Gesichtchen betrachtet. Jetzt wandte er sich ab.

»Übermorgen kommt's in die Erde. Ich besorge dir alles.«

»Ja, Vater.«

»Es ist Sonntag morgen, meinst du, daß er heimkommt?«

»Je ne sais pas.«

Er schwieg. Sie strich über die kleine Bettdecke, langsam, immer und immer wieder. Ihre Augen waren trocken.

»Wie es ihm gleicht, auch jetzt noch,« murmelte sie nach einer Weile.

231 Als in der Nacht durch die offenen Fenster mit dem warmen Wind der Pfiff der Lokomotive drang, auf den sie gelauert hatte, wich für einige Zeit die Starrheit aus ihrem Gesicht. Aber es schlug eins, er war nicht zurückgekehrt.

Am andern Morgen bat sie den Kommis nach Mülhausen zu fahren, vielleicht fand er den Herrn. Sütterlin hatte Schicklé um das gleiche gebeten. Beide kehrten ohne den Nandi heim. Und am Montag nachmittag wurde das Särglein gebracht.

Der Salon war ausgeräumt, Sütterlin und Amélie nahmen das Leid ab. Der Pfarrer von Aslach war gekommen, um sein Patenkind zu begleiten, das Phinele Mousson stand neben ihm und Schicklé und seine Frau, das ganze Zimmer war voll Menschen. Der starke Duft der Kränze und der Wachskerzen zog durchs Haus. In der Küche kesselte die Magd mit dem Geschirr für den Leidkaffee. Amélie hatte den Vater um Wein aus dem ›Schwarzen Lamm‹ bitten müssen, denn Ferdinand hatte den Schlüssel zum Weinverschlag im Sekretär, und der war abgesperrt. Der Verele und der Gusti durften die beiden größten Kränze tragen, einen von Monsieur Haury, den andern von Monsieur und Madame Eisenreiter. Sie waren arg stolz, und der Jacques, der Knirps, der kaum vier Jahre alt war, heulte und hatte eingesperrt werden müssen, weil er auch dabei sein wollte. Dann kam der Abbé Matthis, und sie trugen das Phinele in seinem kleinen schwarzen Kistlein mit den silbernen Engelsköpfen auf dem Deckel aus dem Hause. Der alte Salomon Brunschwig lief mit einem Blumentopf, einem blühenden 232 Rosenstock, der immer am Fenster hinter den Winterscheiben, gerade gegenüber von Amélies Schlafstube gestanden hatte, hinterher. Er war im schwarzen Schabbesrock, und seine Frau ging hinüber zu Madame Sinniger, en voisin, ein sauberes Taschentuch in den Händen, den Leidkaffee zu trinken.

Und wenn eins nach dem Caissier fragte, sagte Amélie still, mit einem gefaßten Ausdruck und ruhiger Stimme:

»Er ist in Geschäften nach Mülhausen und auf Straßburg. Man hat an die Direktion telegraphiert, aber es hat ihn zu spät erreicht.«

Als sie das Phinele unter dem Eisenbahndamm durchtrugen, fuhr der Straßburger Schnellzug über ihren Köpfen hin. Schicklé stand auf dem Perron und faßte Ferdinand Sinniger am Arm, noch ehe er das Trittbrett verlassen hatte.

»Du hast keine valise. So komm, es ist gerade noch Zeit. Das Phinele, tu sais, die Gichter, allons vite.« Und zog ihn über das Gleis. Der Wärter ließ sie passieren, als sie die Böschung auf der andern Seite hinabrannten, auf den Gottesacker zu.

Erst war der Caissier blaß geworden, hatte an das Kind, an die Frau gedacht, Tränen geschluckt, er wußte nicht, wie ihm geschah, aber an dem roten Erdhaufen, wo die Kränze lagen, da hatte er seine Haltung wiedergewonnen und sah still, mit einem wehmütigen Gefühl, das ihm die Tränen aus den Wimpern trieb, das schwarze Kistlein an der Seilschlinge in den Boden gleiten.

Und auf dem Rückweg sagte er zu jedem, der ihm begegnete und auf ihn zukam und ihm die Hand drückte: 233 »Ja, es schont keinen. Und ich in Geschäften fort, ça c'est dur!«

Es kam ihm gar nicht zum Bewußtsein, daß er log, erst als er den Laden geschlossen sah und ihm im Flur die Frau begegnete, da packte ihn auf einmal das wahre Weh, da schämte er sich und ging ihr nach, holte sie ein, so sehr sie hastete mit ihrem schwerfälligen Leib, und stammelte:

»Amélie, ma pauvre Amélie! Voyons, sag doch ein Wort! Ich bitt dich.«

Da lehnte sie sich an die Wand.

»Was soll ich dir sagen, Nandi! Wegen dem Gräble ist's mir nicht. Man muß sie auch hergeben können, wie man sie bekommt. Aber das andere – das –«

Sie brach ab. Zwei Tränen klumpten sich schwer und salzig in ihren Augen. Sie fielen wie gläserne Kugeln über die magern Backen auf das schwarze Kleid. Er wollte sie umfassen.

Sie machte sich los.

»Komm hinein, das ganze Leid ist noch da.«

Da folgte er ihr nach in den Salon und die Stube, wo die andern saßen und Wein und Kaffee tranken und Torte und Konfitüren aßen und von den Toten und den Lebendigen sprachen und das Phinele noch einmal begruben. 234

 


 


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