Hermann Stegemann
Die als Opfer fallen
Hermann Stegemann

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X.

Die Linden waren ins Laub geschossen, ihr dichter, grüner Wipfelkranz schloß sich fest um die Stadtmauer. Über Nacht sprangen kleine Gäbelchen mit Blütenköpfchen heraus und streckten die zarten Blattzünglein bläßlich grün aus dem kräftiger leuchtenden Laub. Der Schwarzdorn war schon verblüht.

»Morgen haben wir erst den ersten Mai, und schon ist alles im Rausch.«

»Im Rausch? Ach so, Frau Direktor meinen die Natur, ich dachte schon, Sie sähen einen Bummelfritzen, der schon heute blau macht.«

Assessor Drexler hatte sich aus dem Fenster gebeugt und auf die Straße hinuntergeschaut.

Kläre stand neben ihm.

»Tut Ihnen der Abschied von Dornkirch eigentlich leid, Herr Assessor?« fragte sie.

»Leid, nee, das könnte ich nicht behaupten. Das heißt in gewisser Beziehung ja, denken Sie nur, gnädige Frau, gerade jetzt, gestern abend, ist endlich der Juristenklub gegründet worden. Mit Hilfe des Amtsrichters in Rihsingen, dann noch meinem Nachfolger und so. Vier 310 Jahre war ich hier, und nun ist die Sache geglückt. Jetzt, wo der notwendige Abschluß, pardon, ich meine Zusammenschluß erfolgt ist, muß ich weg.«

»Ja, das ist freilich schade,« antwortete Kläre, ohne weiter darüber nachzudenken, und als Georg gerade in den Salon trat, sagte sie, um rasch und zwanglos anknüpfen zu können: »Denk mal, nun ist ein Juristentisch gegründet worden, gerade wo Assessor Drexler fortkommt. Er will uns eben Adieu sagen.«

»Das war ja eine ereignisreiche Nacht, ein Dachstuhlbrand und eine neue Tischgesellschaft,« antwortete Kolb.

Kläre blieb am Fenster, während der Assessor und Georg sich stehend unterhielten. Sie hatte den Spott in Georgs Worten gefühlt. Aber noch etwas: ihre ereignisreiche Nacht lag vor dieser letzten. Dem jähen Ausbruch war keine Aussprache gefolgt. Sie schmollten auch nicht, sondern gingen äußerlich kalt aneinander vorbei, beide wie erschreckt, beide sich plötzlich mit andern Augen messend.

Ihre Gedanken trieben unstät, da fing sie aufschreckend die Worte auf.

»Nein, erst am zweiten Mai, den Rosengarten-Tanz mach ich nochmals mit und wenn Sie's gestatten, verehrter Herr Direktor, bitte ich Ihre Frau Gemahlin gleich um einen Walzer.«

Kläre sammelte sich rasch, und ohne Georgs Antwort abzuwarten, sagte sie lächelnd:

»Gewährt.«

Drexler schlug die Hacken zusammen und neigte den spiegelnden Scheitel. Georg aber fügte mit einem kurzen Blick, den Kläre kalt erwiderte, ruhig hinzu:

311 »Und ratifiziert, Herr Assessor, trotz der brahmanischen Stiftung.«

»Wie? Pardon, ich verstehe nicht recht.«

Kolb hob den Kopf, der ihm fest auf dem breiten Nacken saß, höher.

»Nun, Sie gehen ja fort, Herr Assessor, und Sie haben ja auch lange an unserem Tisch gesessen. Sehen Sie, dieser Juristentisch da, das ist ein Fluch. Ein Erbfluch. Das verfluchte Kastenwesen, das wir auch hierhin mitgeschleppt haben. Wissen Sie, was mir an den Elsässern imponiert? Daß sie da alle an einem Tisch sitzen, da gibt's keine Kasten und Cliquen, so ein Stück Gleichheit ist eben doch darüber hingegangen. Na ja, ein roter Demokrat, was? So meinen Sie wohl? Fällt mir nicht ein, aber was soll uns das? Ihr Juristen baut euch einen Tisch, denn ihr seid was Besseres. Tuschen Sie nicht, lieber Assessor, ich mein's natürlich ganz unpersönlich. Wir Schulmeister werden uns auch einkasten. Unten am Bahnhof sitzen die Eisenbähnler, die paar Zollmenschen hocken in der ›Alten Brücke‹, und so sind wir säuberlich geschieden, und Indien mit seinem Kastenwesen wird vom Deutschen Reich in den Schatten gestellt. Das ist auch ein Grund, der uns hier nicht festwachsen läßt. Aber den Walzer kriegen Sie doch von meiner Frau, trotz der Stiftung, und wenn Sie mal Ministerialrat fürs Schulwesen sind, ihr Juristen könnt ja auch das werden, dann sorgen Sie dafür, daß der Kolb nicht den roten Piepmatz vierter Güte bekommt nach vierzigjähriger Dienstzeit, er nähme ihn am Ende doch nicht.«

Drexler hatte ihn ein paar Mal unterbrechen wollen, 312 ohne daß es ihm gelungen wäre. Als ihm Kolb jetzt die Hand hinhielt, fing der Assessor einen kurzen, bittenden Blick aus Kläres Augen auf, und da schlug er ein mit einem befangenen Lachen.

Kläre war es bei Georgs Rede bang geworden. Er hatte den großen, erregten Zug im Gesicht, mit dem er durch die Wand ging. Der helle Tagesschein spiegelte auf seiner gewölbten Stirn, und um den Mund zuckten sarkastische Falten. Und als sie Drexler nervös werden sah, wurde ihr beklommen zumute. Jetzt ärgerte sie sich schon über die stumme Bitte, die sie an ihn gerichtet hatte. Als ob sie das für Georg hätte tun müssen! Er hätte es gar nicht verlangt, sich dagegen verwahrt, und er hätte ihre Vermittlung auch nicht mal nötig gehabt. Aber daß er es so gar nicht bemerkt hatte und seinen Sieg seiner eigenen Beredsamkeit und seiner Überlegenheit zuschrieb, das belustigte sie beinahe. Doch nein, es war etwas anderes, es war doch ein bißchen reine Freude. Und unwillkürlich wurde sie lebhafter, und Assessor Drexler küßte ihr zum Abschied die Hand mit dem Gefühl, einen starken Eindruck gemacht zu haben. Daß man so was auch immer erst im letzten Moment entdeckte!

Als sie allein waren, ging Kolb eine Weile schweigend auf und ab. Kläre band die Schürze wieder um, die sie abgelegt hatte bei Drexlers Empfang. Es war die künstliche Kälte, die verhaltene Spannung des gestrigen Tages zwischen ihnen. Sie hatten kein Wort mehr miteinander gesprochen, das nicht zur unentbehrlichen Scheidemünze des Verkehrs gehört hätte. Früher, wenn Kläre 313 getrotzt, Georg seinen Ärger in sich hineingefressen hatte, waren sie einen oder zwei Tage stumm aneinander vorbeigegangen ohne ein einziges Wort, bis Kläre auf einmal lächelte, als ob nichts vorgefallen wäre, wieder anfing zu plaudern oder Georg reuig seine Zärtlichkeiten zu ihr trug. Diesmal scheuten sich beide vor einer Aussprache, denn keines wußte, was sie bringen würde.

Jetzt räusperte sich Kolb.

»Wir werden also morgen abend in den Rosengarten gehen.«

»Es wird ganz amüsant werden.«

»Ja, das wird es wohl – ganz amüsant.«

Er war stehen geblieben und blickte zum Fenster hinaus und wiederholte noch einmal leise und bitter: »ganz amüsant.«

Da entsann sich Kläre plötzlich, daß sie das Wort nicht aus sich hatte. Es war in der Villa Haury gefallen. ›C'est amusant, Madame‹ . . . Es klang ihr noch im Ohr. ›Und Sie werden kommen?‹ hatte er hinzugefügt, bittend leise, ein verhaltenes Zittern in der Stimme und ihre Augen suchend. Das war gestern gewesen, als sie mit Frau von Wernecke zum letzten Male der Einladung der Damen gefolgt war. Am Sonntag reisten die Schwestern nach Nancy. Sie brachte die Erinnerung nicht zur Ruhe.

Und der Tag rückte vor.

Unter drückendem Schweigen verlief das Mittagsmahl, selbst das Kind litt und saß gedrückt wie ein ängstlicher Vogel zwischen ihnen. Nur das Salmele stapfte unbekümmert einher.

314 Am Nachmittag ging Kläre zu Frau Eisenreiter, aber es wurde ihr eng in dem verhängten, von Portieren und Teppichen verdunkelten Zimmer. Anfangs hatte sie sich bei der alten Dame so wohl gefühlt, wie verhätschelt und fast als Kind aufgenommen. Das war vorbei. Als sie erkannt hatte, daß die gepflegten welken Hände in den Filethandschuhen die Berührung mit dem Leben scheuten und nur über einen weiten Weg und aus sicherer Entfernung spendeten, damals als Hansjürgen auf den Tod lag war ihr das klar geworden, da rückte auch sie langsam ab von der stillen Frau. Und was sie ihr jetzt zu sagen gehabt hätte, das wäre erst recht ohne Verständnis geblieben. Ja, hatte sie denn etwas zu sagen?

Sie ging durch die stillen Gassen. Die Sonne flimmerte, selbst die Schatten spielten in farbigen Tönen, und das Münster glänzte dunkel wie ein mächtiges Bronzedenkmal. Wo die grotesken Wasserspeier die Hälse reckten, schimmerte das Gestein smaragdgrün. Die Kirchenstufen lagen voll abgerissener Buchenblätter. Kläre war rings um die Kirche gegangen. Unten am Fluß hämmerte der Schmied, schlug Radreifen fest und ließ die Räder vom hohen Ufer in den Fluß rollen. Ein Zischen, ein Plätschern, eine Dampfwolke stieg auf, goldene Kringel trieben flußabwärts, dann lief das Wasser wieder glatt, und auf dem Grund lagen die Räder, saugten sich die eisernen Reifen fest ans Holz, bis der Schmied sie mit den langen Haken wieder ans Land zog. Kläre hatte ihm eine Zeitlang zugeschaut, es schien ein Spiel, das Glühen und Hämmern und der Sprung durch Nesseln und Kraut in den klaren Fluß. Auf dem andern Ufer stand auf dem Bahndamm eine 315 Lokomotive und wälzte Gebirge von Rauch aus dem Schlot. In mächtigem, unruhigem Drang wogten silberweiße, goldbraune und violett schimmernde Massen über dem schwarzen Hals der plumpen Maschine. Die Schienen schossen Strahlen in die Felder und tauchten blitzend hinter die grünen Hecken. Wo die Kerzener Straße den Schienenweg schnitt, bewegte sich eine Draisine. Wie eine große Spinne regte sie sich, kroch über die Straße und verschwand an der Kurve, die dort zwischen den Bodenwellen ihren Haken schlug. Auf dem Rosengartenhof wehte schon die rotweiße Fahne. Kläre sah den großen Tanzboden herüberblinken aus buschigem Grün, die neuen Dielen glänzten gelb in der Sonne.

Und Kläre Kolb lehnte sich mit dem Rücken an den Kastanienbaum, der tausend zierliche Kerzen aufgesteckt hatte, und schlang die Hände fest ineinander. Sie hätte weinen, nein, sie hätte schreien mögen und – tanzen, ja tanzen. Überhaupt leben und sich halten, sich anklammern und anschmiegen. An das Kind? Da hatte sie keinen Halt, das riß sie mit, aber lieb hatte sie 's. Er hatte sie schlagen wollen. Und wenn er sie geschlagen hätte! Und warum? Weil sie jung war, weil sie ein anderer begehrte, der ihr alles an den Augen ablas, nein, nein, er hatte den Schulfratz schlagen wollen, der ihn anlog, der ihm nicht die Ehre gab, die er forderte. Warum hatte er sie nicht geschlagen? Sie wäre ja nicht bis in den Flur gelaufen, sie wäre umgekehrt, aus dummer Angst vor der Nacht und dem Dunkel. Und dann hätte er wieder recht gehabt und sie unrecht. Er war am Ende doch stärker als sie. Aber was nun? So 316 konnte es doch nicht bleiben. Wenn sie nur einen Halt gehabt hätte! Aber sie hatte ja keinen, gar keinen. Ins Wasser, wie da unten die Räder – es überlief sie kalt. Ah – sie brauchte, sie wollte auch keinen. Und jetzt schwellte ihr ein Lebensgefühl die Brust, daß sie die Hände auseinander warf und den Arm um den Baum schlang, und den mächtigen Stamm fest an sich preßte. ›Sage, gibt's auch Tänzer da?‹ klang es ihr plötzlich im Ohr. Das Wort hatte sie einmal vor langer Zeit gehört, es war Georgs Stimme gewesen, er hatte irgend etwas vorgelesen. ›Sage, gibt's auch Tänzer da?‹ Und dann eine Antwort. ›Die schönsten.‹ Nein, anders – ›die besten‹ und noch irgend etwas – Tänzer, ja! Warum hatte sie ihm eigentlich immer etwas vorgemacht? Sie sann nach. Notwehr war's gewesen, sie hatte doch recht gehabt in der Nacht. Sie trat mit dem Fuß auf. Sie war doch kein Kind mehr, aber er hatte sie immer dazu machen wollen. Sie brauchte ihn gar nicht. Es war ganz schön so, wie es jetzt war zwischen ihnen – ganz schön! Er war doch noch gar nicht so alt. Was würde er nun machen, wenn sie morgen tanzte? Auf ihrer Hochzeit hatten sie nicht getanzt, weil das Trauerjahr noch nicht um war. Aber später einmal und früher auch. Er tanzte ganz jung. Morgen tanzte er gewiß nicht mit ihr. Am Ende schickte sich das auch für sie wieder nicht! Aber das ließ sie sich nicht verbieten. Sie wollte tanzen, furchtbar, unaufhörlich – bis sie umfiel.

Es schlug vier Uhr über ihr auf dem Turm. Mächtig fielen die Schläge auf sie herab. Erschreckt fuhr sie auf. 317 Und die Lokomotive drüben stieß einen Pfiff aus, hielt den Atem an, lief über die stählernen Netze und verschwand hinter dem Güterschuppen. Der Pariser Zug erschien plötzlich, wie aus dem Boden getaucht, am Übergang der Kerzener Straße. Die Fenster blitzten, ein dumpfes Rollen, ein Donnern und Dröhnen, ohne anzuhalten jagte er durch die Station rechts am Kirchhof hin, wo die weißen Grabsteine ängstlich durcheinander zu laufen schienen, als die Wagen vorbeiflogen, und bohrte sich wild in das grüne Tal, das hinter ihm seine Hügelwände gelassen wieder zusammenschob.

Kläre ging nach Hause. Sie kam sich so groß vor zwischen den niedrigen Häusern, sie konnte in die Fenster blicken, dahinter lag alles still und unbewegt. In der Scherbengasse verhallte der Lärm der Schuljugend, als sie heimkam. Müde war sie und doch so voll zitternder Erwartung, daß sie ihre Füße nicht spürte. Eine große weiße Wolke zog an der Sonne vorbei und über das Städtchen. Kein Wind wehte auf der Erde, die Wolke aber flog eilig wie aus eigener Kraft einem fernen Ziele zu.

Siegfried Höpfner schritt an Kläre vorüber und grüßte. In sie verschossen sei er, hatte Georg gemeint, und sie lächelte ihn an. Zärtlich als müßte sie ihm dankbar sein dafür, daß Georg glauben konnte, der Junge hätte seine Neigung an sie gehängt. Und wie lange schlief sie nun schon allein. Allein mit dem Jungen! Seit Monaten, oder waren es Jahre? Ihr Herz fing an zu klopfen, daß es ihr die Brust erschütterte. Das Blut strömte ihr heiß und schwer durch die Adern und pochte in allen Fingerspitzen. Auf einmal war's 318 ihr, als stände sie nackt auf der Gasse im quellenden Licht, und das Gesicht in Purpur gebadet, eilte sie ins Haus und mit schweren, immer schwereren Füßen die Treppe hinauf.

Im ersten Stock traf sie auf Georg und Winghoff. Sie ging rasch vorüber. Dann begegnete sie auch noch Ledermann. Da blieb sie flüchtig stehen und fragte voll Mitgefühl:

»Wie geht es Ihnen, Herr Doktor?«

Er verstand die Frage, aber er lächelte vergnügt:

»Danke sehr, gnädige Frau, ich habe mir ein Veloziped angeschafft und sitze jeden Tag in einem anderen Straßengraben.«

»Ein Veloziped? dann ist das wohl so was wie ihre Braut!« fragte sie spöttisch, – empört und für jene gekränkt, die er geküßt und vergessen hatte.

»Jawohl, gnädige Frau, hurra die Eisenbraut! Verzeihung, ich muß nach Hause, ich habe noch nicht geputzt, morgen abend da stecke ich zum ersten Mal Licht an, wenn's nach dem Rosengarten geht.«

»Also adieu, dann tanzen Sie dort aber auch Walzer mit Ihrer Eisenbraut!« rief sie ihm zornig nach. Er lachte fröhlich.

Georg Kolb hatte das Zwiegespräch gehört. Was ging in ihr vor? Er zermarterte sich den Kopf, aber er spürte nur, daß alle Saiten schwirrten in ihr, als wär's ein Instrument, das gespielt sein will. Und sich gewaltsam zusammenraffend antwortete er Winghoff:

»Ich habe es auch bemerkt, daß der Junge wieder zu schleudern anfängt. Und das mit dem Mädel – ja, reden Sie mal mit ihm. Es ist ein Rückfall, er war 319 so schön im Zuge. Wir können ihn doch schließlich nicht anders behandeln wie die andern auch.« Winghoff nickte.

»Ja, wir sind vielleicht schon zu nachsichtig gewesen. Wie er da eine Ohnmacht hatte, das war entweder simuliert oder die Folge eines Exzesses. Ich werde die Sache energisch in die Hand nehmen, Herr Direktor.«

»Disziplinarstrafen behalten wir der Konferenz vor, Herr Kollege, aber ich denke es wird nicht so weit kommen. Im Grunde sind das die lenksamsten Naturen.«

Winghoff warf einen Blick die Treppe hinauf. Kläre stand oben und wartete, daß das Salmele öffnete. Er sah ein Endchen ihres Strumpfes glänzen, als sie ihren Rock raffte und über die Schwelle trat.

»Ja, ganz recht, die lenksamsten Naturen,« erwiderte er, »und die Geschichte mit dem Mädel, die muß ein Ende nehmen. Daß so etwas überhaupt möglich ist!«

Kolb war es, der diesmal das Echo machte: »Ja, daß so etwas überhaupt möglich ist!« Aber in einem ganz anderen Tone. Es klang wie eine unsichere Frage, auf die er keine Antwort wußte.

Und Doktor Arthur Winghoff machte sich sofort auf den Weg. Er ging durch das kleine Tor und den Lindenwall entlang, über den Kleinkinderplatz und das Brunngäßlein hinunter und kam ungesehen an die Haustüre des ›Schwarzen Lamms‹.

Das Rosele saß am Fenster der Wirtsstube und strickte. Es war niemand da um diese Zeit. Der Herr heute schon zwei Stunden unterwegs. Jetzt hockte er drüben im Café bei dem Notar und Monsieur Haury. Es wies 320 den Professor die Treppe hinauf. Er hatte es kalt angeschaut und um Bescheid gefragt, aber sein Blick war dabei von ihrem Gesicht über ihre Brust geglitten und unsicher geworden. Es wollte vor ihm her, ihm den Weg zeigen. Einen Augenblick zögerte er und preßte die Lippen zusammen, dann überwand er sich.

»Nein, danke, ich finde schon.«

Als er schon auf der zweiten Treppe war, fiel der Magd ein, der Siegfried müsse gewarnt werden. Wie das letzte Mal. Und sie rief laut ins Stiegenhaus hinauf. »Monsieur Siegfried, macht auf, es kommt ein' Visite!« Die kräftige helle Stimme hallte durch das ganze Haus, aber Siegfried hatte noch nicht Zeit gehabt die Schublade des Waschtisches wieder zuzustoßen. Ein Blatt Papier hielt er noch in der Hand, er war im besten Lesen gewesen. Ein kurzer einzelner Knöchelstoß an die Glasscheibe, und Doktor Winghoff trat ins Zimmer.

»Mich haben Sie wohl nicht erwartet, trotz der Anmeldung der Person, was?«

Siegfried antwortete nicht. Auf dem Ofen sang die Teemaschine, das blaue Flämmchen tanzte und gaukelte im Luftzug.

Winghoff fuhr fort ohne ihm Zeit zu lassen, sich zurechtzufinden.

»Warum ich komme, werden Sie wissen. Sie sind wiederholt verwarnt worden. Wenn man Sie auch nicht dazu zwingen kann Ihre Gaben zu gebrauchen, Ihre Moral steht denn doch in unserer Gewalt. Sie werden demnächst mit der Konferenz Bekanntschaft schaffen. Was haben Sie mit dem Mädchen vorgehabt? Können 321 Sie etwas zu ihrer Verteidigung sagen, etwas anderes als Redereien? Tatsachen?«

»Vorgehabt, was vorgehabt!« keuchte der Jüngling gequält.

»Na, ich soll Ihnen wohl noch sagen, worin Ihr Verkehr mit dem Geschöpf bestanden hat!«

»Ich weiß ja gar nicht, was Sie wollen!«

»Das ist kostbar« – er trat dicht vor ihn hin – »Sie sind ein Simulant, ein Mensch mit schmutziger Phantasie! Sie lesen wohl hier Sachen, die in Pest gedruckt werden, was? Wir können das ja gleich mal sehen.«

Siegfried war vor dem Atem des anderen zurückgewichen. Jetzt schritt Winghoff auf den Schreibtisch zu und griff in den Bücherstapel. Siegfried stand blaß, mit brausenden Ohren am Ofen und sah ihm zu, wie er die Titel las und die Bücher wieder hinwarf. Plötzlich wandte sich Winghoff um.

»Was haben Sie da?« und nahm ihm, ehe Siegfried wußte, was jener wollte, das Blatt aus der Hand.

»Verse! Natürlich, Sie dichten ja! à la Zola, natürlich! Wie!«

Und ohne einen Blick auf das Papier zu werfen, steckte er es ein.

»Herr Doktor!« stammelte Siegfried.

»Es wird den Herrn Direktor interessieren, diese Flausen zu lesen,« versetzte Winghoff kühl.

Das verletzte Siegfried noch mehr, und auf einmal faßte er Winghoffs Hand und keuchte:

»Geben Sie her, Sie haben kein Recht, das ist meine Privatsache, Sie sind hier bei mir zu Hause!«

322 Über Winghoffs Gesicht glitt ein Zug der Befriedigung. Er hatte den Bengel fest, und aus dem herrischen Ton fallend, antwortete er ruhig mit der Gelassenheit des Erwachsenen gegenüber dem Unreifen:

»Lassen Sie das, bitte. Und machen Sie Ihre Situation nicht noch schlimmer. Haben Sie noch etwas von dem Mädchen hier, dann liefern Sie es aus.«

Siegfried stürzte an den Tisch und riß die Seifenschachtel hervor, mit zitternden Fingern wühlte er Bänder und Zöpfchen und das gläserne Medaillon heraus, in dem ihr Bild war, er hatte es früher unter dem Hemd auf der Brust getragen, und häufte alles auf den Tisch.

»Das ist alles, aber geben Sie mir das Gedicht wieder!«

»Ein Tauschhandel? Nein, aber Sie legen ja großen Wert auf das sogenannte Gedicht.«

Er zog das Papier wieder hervor und las den Titel.

Gierig streckte Siegfried die Hand aus danach.

»Unterm Rosenstrauch! Ach so, hinc illae lacrimae. – Was unterstehen Sie sich!«

In verzweifeltem Ansturm hatte ihm Siegfried das Papier aus den Händen gerissen, ein Stück wenigstens, und ballte es zusammen.

»Es ist mein Eigentum,« stieß er trotzig hervor.

»Sagen Sie doch gleich ›geistiges Eigentum‹,« witzelte Winghoff und lachte. Und wieder in seinen kalten Ton fallend, fuhr er fort:

»Diese Dinge da nehme ich mit. Daß Sie bei Ihrem Rendezvous gesehen worden sind, werden Sie ja wissen. Fehlt nur noch, daß man Sie in flagranti ertappt hätte! Ich werde die Sache vor die Konferenz bringen.«

323 Da schrie Siegfried:

»Aber das ist ja alles nicht wahr! Das ist ja alles ganz anders!«

»Ich hab Ihnen gleich gesagt, keine Redereien, keine Szenen. Bitte, Höpfner, je ruhiger Sie sich fügen, desto besser für Sie, wenn Sie Ihr Examen überhaupt noch machen wollen.«

Noch ein paar Mal hatte Siegfried versucht zu sprechen, aber der Unterkiefer zitterte ihm wie im Frost, er konnte nicht. Da, als Winghoff die Liebespfänder vom Tisch scharrte, und noch die blauen Heftchen von Violet aufgriff, die die Übersetzungen der Klassiker enthielten, dann mit gemessenen Sehritten, den Hut auf dem Kopf, auf die Türe zuging, da vertrat er ihm den Weg.

»Ich lasse Sie nicht hinaus.«

»Höpfner, besinnen Sie sich!«

»Ich lasse Sie nicht hinaus. Ich war immer allein hier oben, jetzt sind Sie gekommen und haben mir alles schmutzig gemacht,« schrie er auf.

Es klopfte.

»Bon soir. Das Rosele hat mir berichtet, es sei Visite da.«

Der alte Sütterlin stand unter der Türe. Hinter ihm im dunklen Flur atmete das Rosele, das an der Tür gehorcht hatte und in heller Angst ins Café gelaufen war, als es hörte, was vorging.

Und Siegfried packte die Hand Sütterlins und zog ihn herein.

»Sagt, ob ich schlecht bin; ob ich, ob ich schon einmal etwas gehabt hab mit einem Frauenzimmer! Und was ist mit dem Christinele! Sagt's ihm, Vater!«

324 Als er ihn Vater nannte, nickte der Alte mit einem ernsten Lächeln.

»Ruhig, Siegfried, voyons, mon ami, pas de folies! Und wenn der Herr da glaubt, Ihr seid ein schlechtes Kind, so kann er mir leid tun.«

»Herr Sütterlin, ich verbitte mir das. Daß bei Ihnen keine Schüler mehr wohnen dürfen, brauch ich Ihnen wohl nicht mehr zu sagen.«

Da sprach der Alte und seine Stimme hatte einen eigenen Klang:

»Nein, ich nehme auch keine mehr. Ich seh's alle Markttag, wie sie die Kälber an den Beinen schleifen. Was wisset Ihr überhaupt von so einem élève! Ja, ich weiß, Ihr traktiert einen wie den andern, Ihr macht sie gelehrt, daß sie nicht mehr grad laufen können vor Gelehrsamkeit, aber tenez, sonst wißt Ihr einen Dreck von ihnen. Wie wenn Ihr als Schulmeister auf die Welt gekommen wäret! Ihr sagt, der Siegfried ist ein Maidleschläfer und hockt ihm auf. Ja, mon cher monsieur, wenn Ihr in Eurem Collège so einem Menschenkind, das siebzehn Jahre alt ist, nicht sagt, was ist in der Welt und was der Herrgott treiben macht im Frühling, und sie hocken daheim und laufen umeinand wie Katz und Kätzin, was wollt Ihr ihnen denn hernach auf den Pelz schießen! Und der da, mon Dieu, der weiß vom Leben noch keinen Schnauf, der Siegfried.«

»Na, das wollen wir unerörtert lassen, ebenso Ihre drastischen Belehrungen. Und nun erlauben Sie wohl, daß ich gehe.«

Siegfried machte eine Bewegung auf Winghoff zu, Sütterlin hielt ihn zurück und trat beiseite.

325 »Die Wirtsstube ist pour tout le monde und ist im Erdgeschoß. Hier oben ist mein Privatlogis, Monsieur. Und der Knab ist bei mir zu Gast. Wenn Ihr wieder einmal Visite macht, so kehrt erst bei mir an, s'il vous plaît. Rosele, zeig dem Herrn den Weg aus dem ›Lamm‹.«

Stumm schoß Winghoff hinaus.

»Geht nur zuerst: drei Stapfeln, dann rechts um ein Eck,« ermunterte die Magd den Besucher und ging hinter ihm drein, so dicht, daß er sich umwandte.

»Sie treten mir ja die Hacken ab, das ist wohl Absicht!« schnaubte er ihr ins Gesicht.

»Jesus-Maria, Euch hab ich schon einmal in der Nase gehabt,« entgegnete das Rosele und schnellte hastig den Kopf zurück.

»Dummes Frauenzimmer,« murmelte er und ging rascher die Treppe hinab, ohne sich umzusehen, und dann die Rosengasse hinauf.

In der Wirtsstube saß der Zuckerbäck und wartete auf das Rosele.

»He, Jacqui, geschwind, komm daher,« rief es hinein und riß ihn am Arm auf die Schwelle.

»Wo brennt's?« murrte er.

»Bei dir hat's brennt. Aber lug, der saubere Mossiö, wenn du dem einmal z' Nacht den Kittel ausklopfst, so schleck ich dich ab, wie ein' Nougatstengel.«

»Den! Das ist ein Herr,« zögerte er mißtrauisch.

»Ja justament. Wo ich heim bin die Nacht, ist er auf mich geschossen und hat mir schier die Brust abgedrückt. Und auch sonst hat er's verdient, der Sporenpeter.«

Da stierte der Jacqui dem breit Dahinschreitenden mit einem grimmigen Schnaufer nach.

326 »Gott verdammi, so ein Schwobenseckel!«

Oben aber sagte Sütterlin zu Siegfried:

»Allons, allons, hintersinnt Euch nicht, Siegfried. Ich geh mit dem Direktor reden, der ist ein rechter Mann.«

Dann ließ er ihn allein und ging wieder ins Café Mousson hinüber.

»Da bin ich wieder, und jetzt finissons, Monsieur Haury.«

Er hatte sich an den Tisch gesetzt, neben den Notar, der unruhig auf dem Stuhl rückte.

Sie waren allein. Josephine saß hinter dem Büfett und hatte das Gesicht auf ihre Broderie geneigt, um besser lauschen zu können.

Haury rührte in seinem Absinth und gab keine Antwort.

»Ja, und wer ist denn mir gut für meine zehntausend Livres,« fragte auf einmal der Notar.

Sütterlin hörte auf, seine Pfeife zu stopfen und sah ihn an:

»Entre nous c'est réglé, Maître Ramspacher. Auf dem ›Lamm‹ haben Eure zehntausend Livres auch noch Platz.«

Und dann zu Haury:

»Eh bien, sagt ja.«

»Nein, ich zahl nicht in dem Nandi seinen Sack.«

»So, so,« erwiderte Sütterlin leise und traurig, »belle revanche, va.«

Sie schwiegen. Nach einer Weile richtete sich der Alte auf und deutete mit dem Pfeifenstiel auf Haurys Rockklappe.

»Und das da, Monsieur Ernest?« fragte er.

Haury blickte überrascht auf das rote Bändchen.

327 »Wo wollt Ihr hinaus, Sütterlin?«

La legion d'honneur. Wenn Ihr's dem Nandi nicht tut, so tut's der Caisse. Und für unsere Reputation. Zwanzigtausend Livres, une bagatelle pour vous.«

Das Phinele kam und stellte dem Notar ein frisches Glas Bier hin.

Haury zuckte die Achseln.

»Nein, und jetzt macht ein End Sütterlin. Ihr wißt, wenn ich nicht will, will ich nicht. Keinen Sou für den Nandi Sinniger.«

Ramspacher hüstelte und stieß ihn mit den Knieen an, denn das Phinele stand noch am Tisch.

Sütterlin aber sagte:

»Laßt das Kniespiel, Ramspacher, das Phinele ist in der Freundschaft und bringt es nicht aus.«

»Nein, gewiß nicht. Ich hab noch kein Geheimnis ausgeschwätzt.«

Die Männer blickten auf. Josephine stand hinter Ramspachers Stuhl. Als er sich zurücklehnte, fühlte er ihre Hände zwischen der Lehne und seinem speckigen Rücken gefangen, und seine Lippen bewegten sich schmatzend. Phinele aber sah kühl, mit einem harten Blick auf Haury und wandte sich dann an Sütterlin.

»Ich geb Euch die zwanzigtausend Livres, die noch fehlen, Onkel.«

»Du, Phinele?«

»Vous!« rief der Notar und richtete sich auf.

Sie zog die Hände fort und lächelte.

»Ja, ja, ich bin heimlich feist. J'ai 20 000 livres en caisse. Ich hab sie extra parat für den Nandi.«

328 »Josephine!« stieß Haury hervor und sprang auf.

»Was beliebt, Monsieur Haury?« fragte sie, und ihr Gesicht wurde blaß und hart. Die schwarzen Brauen zogen sich zusammen, wie ein rotes Mal brannte ihr zuckender Mund.

Einen Augenblick standen sie Aug in Auge, dann griff Haury mit einer nervösen Bewegung nach seinem Glas und trank aus.

Als er das Café verließ, warf Josephine den Kopf zurück und atmete tief auf.

Sütterlin hatte kein Wort mehr gesagt, nicht einmal aufgeblickt. Die Pfeife im Mund starrte er still vor sich hin in die grauen Tabakswolken. Der Notar rückte noch ein paar Mal hin und her und brach dann ebenfalls auf. Josephine ging mit ihm zur Türe und drückte sie hinter ihm zu.

Da stand auch Sütterlin auf. Sie kam ihm halben Wegs entgegen. Er nahm die Pfeife aus dem Munde: Bon soir, Phinele, und merci vielmal.«

Sie hielt ihm die Backen hin. Er fuhr darüber mit dem verräucherten Bart. An der Tür hielt sie ihn zurück.

»Es ist sein Geld, Onkel, ich hab's für das – enfin – es ist vorbei, es hat schon lang ein End. Das Geld hab ich seit gestern.«

»Ich weiß es, Phinele,« antwortete er, und es klang ruhig und ruhebringend: »Red nicht davon, du brauchst dich vor niemand zu exkusieren.«

Als er auf die Gasse trat, warfen die Giebel schon lange Schatten. Im ›Lamm‹ sprühte Gold aus den Fenstern. Ein weicher Wind strich die Römerstraße herab, und über den Kapellenberg stiegen bauschige Wolken in die Höhe, 329 die sich langsam in Reihen ordneten. Die Gaststube lag verlassen, heute am Tag vor dem Maitanz tropfte kein Hahnen. Das Rosele hatte die Fenster geöffnet und wischte die Tische.

»Was macht der Siegfried?« fragte Sütterlin.

»Er ist daheim,« antwortete die Magd verwundert.

Sütterlin schickte sie hinauf, sie solle zu erforschen suchen, was er treibe. Das Rosele zog die Schuhe ab und schlich an Siegfrieds Tür. Als es wieder herunterkam, sagte es:

»Er sitzt am Tisch, ich weiß nicht, schafft er oder was er macht.«

Und der Alte nickte.

Es wurde dunkel, das Gewölk umzog den ganzen Himmel und senkte sich tiefer. Die Sonne war hinter die Hügel geglitten und richtete von dort ihre Scheinwerfer auf die heranwandelnden Scharen. In blauen Gewändern, an denen goldene Säume glänzten, schritten sie einher und der Wald begann leise zu rauschen. Die zarten Buchenblätter flirrten, auf der Römerstraße drehte der Wind kleine Staubtrichter. Die Fliederbüsche, die in allen Gärten glänzten, strömten ihre Düfte aus, und von den Wiesen her schwoll die erste Mahd.

»Es kommt zu regnen, die dort oben leeren aus,« sagte Sütterlin und wies auf die Wolken, die mit segnenden Gebärden über das Tal hinschwebten, die schweren Leiber feierlich bewegend. Und schon sternten große Tropfen die gelbe Straße, flitterte ein weißer Blütenfall von dem alten Birnbaum, der sich drüben im Gärtlein der mère Laugel über das Staket bog. Aber der Regen setzte 330 wieder aus, es wurde dunkler, die Wolken sanken auf die Erde, ohne sich zu öffnen. Es war so still, daß der Brunnen lauter sang als in der schlafenden Nacht.

Xavier Sütterlin saß allein beim Abendessen. Er hatte Siegfried nicht rufen lassen. Der mußte sich erst ausbluten.

»Bring ihm ein rechtes Glas Wein, und dann könnt ihr Feierabend machen, heut ist stille Zeit,« sagte er zu der Magd und ging dem Amélie Bescheid zu bringen und mit dem Nandi zu paktieren. Heute schon hatte die Sparkasse viele hundert Livres ausgezahlt, morgen rollten Tausende, und übermorgen kam der Direktor der Caisse d'épargne, an den er geschrieben hatte, aus Straßburg her, um hinein zu leuchten in den Tresor.

»Geht schlafen, der Knecht auch. Dreh den Schlüssel und stoß den Riegel nicht. Ich komme spät.«

»Ist's an dem mit der Frau?« fragte die Magd und deutete auf das Häuslein der Hebamme jenseit der Straße.

»Nein, sell nicht,« antwortete er und ging.

Das Rosele stand noch eine Weile unter der Türe. Der Jacqui kam nicht mehr. Der knetete Pasteten und Bretzel. Es war dunkel, und doch schimmerte der blühende Baum im Garten der Hebamme zum Greifen nahe, dem Rosele stieg das Herz in den Hals, der warme Wind hauchte es mit schweren Düften an. Im Stall klirrte der Gaul mit der Kette. Die Schwalben waren da. Sie strichen dicht an den Wänden hin und fuhren unter das Dach, ihre weißen Vorhemdlein blitzten hell im Dunkel.

Dem Siegfried den Wein! Und etwas zum Nagen! Es hätte es schier vergessen, aber die Füße waren ihm 331 so schwer, die Brüste spannten, sein Blut gaukelte wie junger Wein. Im Keller lief ihm ein Schauer über den warmen Leib, kaum kam es die Treppe wieder hinauf. Und noch zwei Stiegen, es schleppte seine Füße kaum.

»Ihr seid noch im Finstern?« sagte es und trat dann leise auf, als wäre es bei einem Kranken. »Da, der Herr denkt, daß Ihr nicht von der Kraft kommt,« fuhr es fort und schob ihm den Wein und das Schinkenbein hin. »Servez-vous, ich mach grad hell.«

In den Fenstern lag noch ein lichter Schein, das Zimmer war dunkel. Siegfried hatte den Kopf aus den Händen gehoben und rückte das Tablett beiseite.

»Nehmt's nur wieder mit.«

Das Rosele stand dicht neben ihm.

»Aber Monsieur Siegfried, probiert's nur auf einen Zahn,« redete es ihm zu und suchte nach den Zündhölzchen, die sonst immer auf dem Tische neben dem Tintengeschirr lagen.

Als es sich weiter vorbückte, strich sein Arm über Siegfrieds Haar, und ihre rechte Brust lag einen Augenblick an seinem Ohr.

»Ja, wo habt Ihr sie denn, die Ripser?« stotterte es und fuhr hastig zurück und stand neben seinem Stuhl, ohne sich zu rühren. Eine Weile waren sie beide wie erstarrt, dann tastete Siegfried nach dem Schächtelchen, das bei der Plünderung des Tisches unter das Schreibzeug geraten war. Als er das Hölzchen anstrich, blinzelten sie verwirrt in das helle Feuer.

»Aber die Lampe, die ist ja noch auf dem Waschtisch,« rief das Rosele eifrig und trat von ihm weg. Er stand 332 hinter ihr und hielt das Hölzchen, bis sie Glocke und Zylinder abgenommen hatte. Das Haar in ihrem Nacken glänzte im flackernden Licht.

»Jetzt geschwind!«

Aber er war ungeschickt, gerade als er das Stümpchen an den Docht hielt, drohte es zu löschen.

»Herrschaft nein, sind Ihr ein Zipfel,« sagte das Rosele und schlug schnell die Hand über seine Finger und führte das Flämmlein, das schon an den Nägeln zuckte, an den Docht. Da losch es aus.

Das Mädchen hielt in der einen Hand den Zylinder, die andere lag warm auf Siegfrieds kalten Fingern. Sie standen so dicht beieinander, daß sie ihren Atem spürten. Und auf einmal standen sie Brust an Brust gedrängt, und ihre Lippen suchten sich tastend, bis sie sich gefunden hatten. Er nistete sich an ihr fest, noch ein Schluchzen in der Kehle, und spürte die Wärme und den Duft ihres Leibes, und das Mädchen hatte den Arm um seinen Rücken gelegt und drückte ihn an sich. Und zwischen jedem Kusse, jeder Bewegung flüsterte es leise mit einem Seufzer:

»Das Lampenglas, gib acht, das Lampenglas!« und hielt die rechte Hand steif von sich ab.

Von den Fenstern kam ein Knistern, ein toller Wind war jählings aufgewacht und schleuderte den Staub an die scharfe Hausecke, und ein weißes Feuer sprang in die Nacht, ein tiefes, brummendes Lachen erschütterte die Wolkenleiber, und jetzt öffneten sich ihre schweren Gewänder, und ein Regen wie Blut so warm rauschte aus ihren Falten und brauste in den Lüften.

333 »Jesus, Maria, ich hab alle Fenster offen,« stammelte das Rosele und richtete sich erschreckt auf.

Im Blitzfeuer glänzten ihre Gesichter, sie küßten sich noch einmal.

»Komm wieder, Rosele,« bat er leise.

Die Magd stob aus dem Zimmer. Als sie in die Wirtsstube trat, gab es einen Knack und ein Klingeln. Das Lampenglas, das es noch immer in der Hand hielt, war an das Schloß gestoßen und in Stücke gesprungen.

Siegfried hatte das Fenster aufgerissen. In Silberbächen stürzte der Schwall von den Dächern, wie weiße Taubenschwärme rauschte der Regen die Straße herab, vom Wind getrieben. Der Himmel glänzte von blauen Feuern, der Donner rollte schläfrig hinterdrein, und war oft mehr ein wollüstiges Stöhnen, das brünstig über die dampfende Erde flog. Und immer seltener, immer heimlicher lief das Feuer in krausen Linien über den Himmel, der Donner wühlte sich nur noch müde aus den getürmten Wolkenbetten, in sanftem Fall rieselte der Regen, dunkel und still lagen die Gassen, vom Münsterturm fiel ein einzelner Glockenschlag in das wispernde Schweigen. . . .

Da ging ein Luftzug vom Fenster zur Tür.

»Habt Ihr noch kein Licht? Ich will nur das Geschirr holen,« sprach das Rosele laut, aber über den Worten erschrak es vor seiner eigenen Stimme und endete in einem Flüstern. Sie war an der Tür stehen geblieben. Als er sie hereinzog, ungeschickt, ängstlich und kühn zugleich, mit zitternden Fingern nach ihr langte, da wehrte sie sich nicht und tat ihm seinen und ihren Willen.

Spät war's in der Nacht. Sie hörten unten die 334 Haustüre zufallen, der Riegel kreischte, Sütterlin war heim gekommen. Da warf sich Siegfried wild, in horchender Angst, in die Höhe. Sie lag ganz still. Ein Lichtschein fuhr an der Türscheibe hin, und dann wurde unten die Stubentür ins Schloß gedrückt. Das Herz stach Siegfried in der Brust, mit einem rauhen Schluchzen bäumte er sich plötzlich empor, aber sie zog ihn sanft zu sich herab, und er lag zwischen ihren Brüsten und schluchzte krampfhaft, die kraftlosen Arme an ihrem Hals. Ihre Brust atmete ruhig, mit gelösten Gliedern hielt sie ihn im Schoß und wartete, bis er schlief. 335

 


 


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