Hermann Stegemann
Die als Opfer fallen
Hermann Stegemann

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IV.

Mit dem September war die Sonne gegangen. Düstere Regentage krochen ins Land und brauten über dem Städtchen. Es war noch stiller als sonst, alles Leben lag unter der Decke. Im Gymnasium brannte das Gas von morgens bis abends, in den Wirtsstuben flackerte es von abends bis in den grauen Morgen. Im Basar Sinniger zirpte das Flämmchen Tag und Nacht.

Sinniger stand mit geröteten Augen und überwachten Zügen hinter dem Ladentisch. Auf einer Warenkiste hockte ein halbwüchsiges Mädchen mit rosigem Gesicht und regenfeuchten, blonden Haaren.

»Eh bien, Christinele, es ist alles recht, was du mir erzählt hast, daß du jetzt zur Mamsell Ernestine kommst als couturière und der Rest, aber drück dich jetzt. Meinst, ich wüßte nicht, auf was du blangst.«

»Ich, Monsieur Sinniger!« kicherte es verlegen und wurde blutrot.

»Oui, oui, du bist dem Pfarrer früh aus der Lehre gegangen, kannst ja nicht erwarten, bis du den Zopf aufbindest und karessierst jetzt schon an allen Ecken.«

83 »Monsieur Ferdinand, Ihr sein ein insolent,« keuchte Christine und schoß wild von der hohen Kiste herab, daß ihr der Rock an einem Nagel hängen blieb und sie schier zu Fall gekommen wäre.

»Hopla,« lachte er und fing sie auf.

»Laßt mich los, Ihr seid mir auch der rechte,« fauchte es und riß sich aus seinen Armen. Sie schlug ihn hart auf die Hand, die noch an ihrer Brust lag.

In seinen Augen war es hell geworden. Er pfiff durch die Zähne.

»Tiens, tiens, da sind Tauben im Nest. Excusez, mademoiselle, je ne savais pas cela,« und sah sie mit ganz anderen Blicken an.

Christine antwortete nicht, zuckte die Achseln und fingerte an dem Dreiangel im Kleid.

»Bindet den Zopf auf, Christinele, und laßt das Kleid auf die Bottinen fallen, Ihr seid älter als fünfzehn.«

Sie warf ihm einen sprühenden Blick zu, nahm das Buch, das sie sich aus Sinnigers Leihbibliothek ausgesucht hatte und drehte sich auf dem Absatz. Ihr kurzer Rock flog.

»Bon soir,« sagte sie über die Schulter und ging zur Türe.

»Mais, attendez donc, voilà monsieur Siegfried,« rief der Caissier leise, und sie blieb verwirrt stehen, um gleich darauf von der Türe wegzutreten und eifrig in das Kästlein zu gucken, wo billige Schmuckwaren im schwachen Lichte wie pures Gold flimmerten.

Siegfried Höpfner kam aus dem Zwielicht der Straße in die ungewisse Helle und erkannte Christine nicht.

84 »Bon soir, Monsieur Sinniger, ich komm wegen den ›Mousquetaires.‹«

»Ja, jetzt sind sie da, Monsieur Siegfried, alle drei volumes. Aber pressiert doch nicht so, ich muß die Frau fragen, ich mein' als, sie hat eine Kommission für ins ›Lamm‹. Ihr seid doch so gut und besorgt sie?«

»Pour sûr, monsieur Sinniger.«

»Très bien, ich geh sie avisieren. Gardez-moi ce jeune homme, Christinele!«

Und mit listig arglosem Gesicht und wichtig tuendem Wesen verschwand er in der Tiefe des Ladens, pfiff, daß man die sich entfernenden Töne immer leiser werden hörte, bis die Türen klappten und die beiden jungen Leute allein waren.

Siegfried war rot geworden. Er fand nicht die ersten Worte. Da sagte Christine unbefangen:

»Bon soir, Siegfried, kennst mich nimmer?«

Sie stand jetzt im Licht. Das zirpende, zitternde Flämmchen huschte über ihr frisches Gesicht. Die Zähne glänzten unter den roten Lippen.

»Mais si; was fragst du so dumm?« stieß er unmutig hervor, und seine Augen irrten über sie weg. Er konnte ihr glattes, rotbackiges Gesicht nicht ansehen. Sie war ihm fremd geworden.

»Siegfried,« stammelte das Mädchen, »ich hab dir ein Dessin, ein Souvenir, tu sais.«

Und es fuhr in den Latz der Schürze und hielt ihm eine Pergamentrolle hin. Als er zögerte sie zu nehmen, kugelten plötzlich zwei Tränen über ihre runden Backen, aber ihre Hand hielt immer noch die Zeichnung, an der 85 sie tagelang gesessen hatte, ihrer Mutter zum Trotz, die laut auf sie einschalt, weil sie bei dem Glätten der Herrenhemden nicht half. Und jetzt schluchzte sie. Sie hatte es unterdrücken wollen, aber es war stärker als sie und brach sich in einem quiekenden Seufzer Bahn.

»Christinele,« flüsterte er verstört.

»Ja, ich seh's schon so, du hast mir schon lange keine Poesien mehr gemacht, seit der fête nicht mehr, und sehen tut man dich auch nicht mehr.«

Sie schluchzte jetzt leiser, melodischer und wischte die Tränen mit dem Rücken der Hand, die immer noch die Rolle krampfhaft festhielt.

Trotz und Verlegenheit und ein scheues Mitleid zerrten Siegfried hin und her. Und dann kam ihm das Mädel und die ganze Geschichte so dumm vor, er hätte sich am liebsten selbst geprügelt.

»Aber Christine, es ist doch gar nichts gegangen zwischen uns,« sprach er. Es klang barsch, schroff vor lauter Angst, sie möchte merken, wie elend ihm zumute war.

Da hörte sie plötzlich auf zu schluchzen.

»Hast du mir keine Poesien gemacht? Hast du mir nicht die Haar abgeschnitten hier im Laden? Und wo wir zusammen auf Aslach sind, und bei dem Gerber Rosele und der Adèle Simon vorbeigegangen sind, den beiden Drecknasen: weißt du das nimmer? Hein!«

»Und was noch, sag, sonst noch was!« zürnte er, und seine Stimme klang jetzt härter.

»Und mein Zopfbändel, wo du mir hinter der Kirche abgerissen hast, nach der Vesper, wo ich aus der 86 Maiandacht gekommen bin, daß uns der Abbé ums Haar noch verwitscht hätt!«

»Komm einem doch nicht mit so Dummheiten,« trotzte er verlegen.

»Meinst, weil meine Mutter nur ein' Glätterin ist? Und wie wir immer deine Hemden soigniert haben. Und dein Vater ist auch kein Millionär, tu sais!«

»Laß mein' Vater in Ruh, dumme Krott,« stieß er wild hervor.

»Was bin ich!« keuchte das Mädchen, und seine feuchten Backen glänzten purpurrot. »Dem Christinele sagt man nicht Mamsell, hat die Mutter dir gesagt, wo wir dir die Linge gebracht haben ins ›Schwarze Lamm‹ und du ein' mademoiselle betituliert hast, aber sell sag ich dir: Eine Krott bin ich noch lange nicht, mademoiselle Ernestine nimmt keine ›Krott‹ als élève, und wegen dem silberigen Herzle und den Poesien, wo du mir geschenkt hast, ist mir's erst recht nicht. Ich schlag sie dir zurück die Poesien, und –«

Eine Tür ging, es pfiff jemand, ihre Rede brach ab, und sie fuhren auseinander. Der Caissier kam geräuschvoll näher.

Siegfried stand blaß mit zitternden Lippen und blätterte wild in einem Buche. Das Mädchen aber warf den Kopf in den Nacken, daß der schwere blonde Zopf wie eine Schlange aufzuckte, und rief mit seiner hellen Stimme:

»Er ist noch da, Euer locataire aus dem ›Lamm‹, ich laß ihn Euch. Bon soir beisammen.«

Und schwenkte den kurzen Rock aus der Türe ins Dunkel der Gasse.

87 Siegfried versuchte sich eine unbefangene, weltmännische Haltung zu geben, aber er fühlte, daß es ihm nicht glückte.

Und Sinniger wiegte das Haupt, knallte mit der Zunge und sagte dann wie zu einem Großen:

»Ja, ja, so sind sie, die Frauenzimmer.«

Siegfried wußte nicht, wie er das Gespräch enden sollte und fragte in seiner Not nach dem Auftrag, den Frau Sinniger für ihn habe.

Ein erstaunter Blick des Caissier verriet ihm, daß jener nur einen Vorwand gesucht hatte, um ihn mit seinem Schulschätzchen allein zu lassen, und das brachte ihn vollends aus der Fassung. Aber gutmütig half ihm Sinniger aus der Verlegenheit.

»Ach so, das hätt ich schier vergessen. Die Frau kommt heut selbst noch zum Vater. Wenn Ihr ihm das sagen wollt, so wird's recht sein.«

Neben dem Seifenkästchen waren die Bücher der kleinen, schlecht gehaltenen Leihbibliothek aufgebaut. Ein paar deutsche und eine größere Anzahl französischer. Sinniger half Siegfried Dumas' ›Mousquetaires‹ suchen.

»Ah, les voilà, les gaillards, das ist ein Buch, sacré matin, das und der ›Comte de Monte Christo‹, da vergeht einem Essen und Schlafen.«

In das Lob hinein gellte die Ladenglocke. Sinniger schob Siegfried die Bände hin, reckte den Arm und drehte mit einem Ruck den Gashahn auf, daß die runde Flamme in Spitzen und Strahlen gespalten, mit lautem Knattern in die Höhe schoß. Das tat er nur in den äußersten Fällen.

88 Siegfried wurde von der flackernden Helle ganz geblendet, aber als ein leises Lachen an sein Ohr klang, da wurde er plötzlich sehend, und sein Herz schlug wie ein Hammer. Er fühlte, daß er hätte gehen müssen, aber er wagte nicht, sich zu rühren. Die Bücher unter den Arm gepreßt, stand er an den Ladentisch gelehnt und zerdrückte krampfhaft sein weiches Filzhütchen.

»Madame, bei dem miserablen Wetter! Aber ich hätte Ihnen ja die ganze Leihbibliothek ins Collège geschickt.«

Sinniger trat unruhig von dem einen Fuß auf den anderen. Sapristi, quelle femme! Ah, der Haury, der hatte zehntausend Mal recht. Die war mehr als charmant. Und wie sie mit einem sprach! Wenn man in der ihre Augen fiel, ertrank man, die waren bodenlos!

Kläre schüttelte die Regentropfen vom Schirm und schob das schwarze Spitzentuch zurück, aus dem ihr zartes Gesicht lächelnd hervorschaute.

»Lieber nicht, Monsieur Sinniger. Da könnten Bücher darunter sein, die nicht ins Collège passen.«

Das traf Siegfried, aber gerade als er hastig adieu sagen wollte, sah sie ihn an.

»Ach, Sie sind es, Herr Siegfried. Ich glaube gar, Sie schmökern auch! Dürfen Sie denn das eigentlich?«

Da er nicht gleich antwortete, ergriff Sinniger das Wort. Er war schon eifersüchtig. Der Blick, den Madame Claire dem garçon schenkte, war ihm verloren gegangen.

»Eigentlich nicht, Madame, aber es kümmert sich ja niemand drum.«

»Das werde ich aber meinem Manne sagen,« drohte Kläre scherzend.

89 Jetzt löste sich Siegfrieds Zunge. Eine zornige Wallung färbte sein Gesicht.

»Dann hab ich gar nichts mehr,« stieß er hastig hervor.

»Ja, es gibt doch eine Schulbibliothek, nicht wahr?«

»Was man da bekommt!« – er zuckte die Achseln – »mit Hoffmanns Kindergeschichten fängt's an und mit Scotts Ivanhoe hört's auf. Und dann ist noch ›Soll und Haben‹ da, aber da hat Herr Winghoff eine Anzahl Seiten zusammengeklebt, die darf man nicht lesen.«

Ein spöttisches Zucken gab seinem Gesicht mit dem schwarzen Bartschatten auf der Oberlippe etwas Überlegenes.

Kläre lachte und Sinniger lachte mit, aber er ärgerte sich heimlich, daß das Gespräch ihm entglitten war.

»Das ist freilich traurig. Aber was lesen Sie denn hier?« fragte Kläre.

»Er liest alles, Madame, alles von vorn bis hinten. ›Les trois Mousquetaires‹ und ›Germinal‹ und ›Han d'Island‹ und ›Le maître de forge‹ und –«

»Pardon, Frau Direktor, Herr Sinniger zählt bloß seinen Katalog auf,« unterbrach ihn Siegfried.

Und wieder der feine Spott, sie blickte ihn verwundert an, als sähe sie einen anderen. Der Drachentöter schien ihr männlicher geworden.

»Sie wohnen im ›Lamm‹, wie ich gehört habe. Sie haben doch auch Kameraden!«

»Kameraden?« Er schwieg einen Augenblick. »Was man so nennt, ja. Aber ich bin lieber allein.«

Sinniger beugte sich über den Ladentisch, daß seine Uhrkette klirrend aufschlug.

90 »Il est poète, madame,« flüsterte er.

Siegfried wurde blutrot, und seine Lippen zuckten nervös. Aber Kläre lachte nicht, tat nicht verwundert, sondern sagte nur leise:

»Das dachte ich mir.«

Und ein seltsamer Blick traf ihn, der ihm das Blut wieder aus den Wangen zum Herzen scheuchte. Er wandte den Kopf, und der Zorn über Sinnigers plumpe Bemerkung, die in sein Heiligstes gegriffen hatte, verrauchte.

Auch Kläre wandte sich ab.

»Bitte, geben Sie mir doch den ›maître de forge‹, Monsieur Sinniger, den les' ich gern noch einmal.«

Siegfried hatte das Buch eben noch in der Hand gehabt, er griff es mitten aus dem Haufen und reichte es Kläre hin. Ihre strahlenden Augen dankten ihm. Da kam es wie ein Rausch über ihn, er stammelte einen Gruß und ging hastig zur Türe, um sich zu retten.

»Schaffet nicht zu viel, Herr Siegfried,« schrie ihm der Caissier nach.

Und Kläre rief, als schon die Schelle anschlug:

»Adieu, Herr Siegfried, ich verrate Sie nicht.«

»Ich verrate Sie nicht,« flüsterte er leise vor sich hin, einmal und wieder und immer wieder. Die Luft war wolkig vom Regen, die spärlichen Laternen glommen rot durch die Trübe, und die Gassen lagen öde. Als Siegfried an der Metzgerei Bally vorbeikam, die mit ihren großen Fenstern die Gasse erleuchtete, begegnete ihm Winghoff. Er trug noch sein Wurstpaket in der Hand. Siegfried hielt sich an der anderen Seite im Dunkel, aber er fühlte, daß jener ihn fixierte, da empörte sich 91 etwas in ihm und er trat aus dem Schatten, blinzelte, als blendete ihn das Licht, und ging weiter. Winghoff rief ihn nicht an. Das tat er nie, aber am anderen Tage da pisakte er den Schüler, den er auf einem unerlaubten Ausgang ertappt zu haben glaubte, nach allen Regeln der Kunst. Sarkastisch, mit spitzen Nadelstichen, ohne ihn direkt zur Rede zu stellen. Einmal hatte Siegfried versucht, nach einer solchen Marterstunde eine Aussprache zu erzwingen. Er war zu Winghoff gegangen in der Pause und hatte bescheiden fragen und ihm Auskunft geben wollen, er konnte auch nichts dafür, daß seine ersten Worte ein wenig trotzig klangen, aus lauter Angst, er möchte weinerlich und demütig erscheinen. Aber Winghoffs Gesicht war unbewegt geblieben. Die Hände auf dem Rücken, mit durchgedrückten Knieen, stand er vor ihm, blickte ihn kalt an und sagte: »Ich habe keine Aufklärung gewünscht, Höpfner. Sie werden sich eben daran gewöhnen müssen, Ihre Pflicht zu tun. Auf Redereien gebe ich nichts.« Dann hatte er ihm schroff den Rücken gekehrt und ihn stehen lassen, und Siegfried war der kalte Schweiß auf die Stirn getreten, einen Augenblick hatte er den Schulhof wie ein Schiff auf und nieder stampfen sehen, dann zwang er die Schwäche und ging. Aber jedesmal, wenn ihm Winghoff seither begegnete, jedesmal, wenn er in der Klasse an seiner Bank stand, würgte ihn etwas. Ein Hauch aus Winghoffs Munde hatte ihn damals auf dem Schulhofe getroffen, als jener ihm das Wort Redereien hart ins Gesicht schlug, der wurde immer wieder lebendig und würgte ihn aufs neue. Aber heute rührte ihn die Begegnung nicht. Er ging 92 wie auf Wolken; schwebend, unruhiges Rauschen und Drängen in den Adern und allerlei rhythmische Klänge im Ohr, Worte, die sich banden und reimten und die er leise vor sich hin sprach.

Das ›schwarze Lamm‹ lag im Dunkel. Kaum sickerte ein matter Schein durch die dichten Vorhänge. Kein Fenster leuchtete die Gasse hinunter. Der Laufbrunnen vor dem Hause gurgelte eintönig, in den Stallungen schnaubte das Vieh. Siegfried fand den alten Sütterlin einsam in der großen, leeren Wirtsstube hocken, wo nur an Markttagen Leben herrschte. Der Alte sog an seiner kalten Pfeife. Der Tisch war gedeckt für ihn und Siegfried. Es war ein wortkarges Abendessen, dann ging Siegfried in sein Zimmer. Auf der Treppe knirschte der weiße Streusand unter seinen Schuhen.

Er zwang sich zur Arbeit. Es war neun Uhr geworden. Da schoß plötzlich das Rosele ins Zimmer, ohne anzuklopfen. »Monsieur Siegfried, der Herr schickt mich, der Direktor sei unterwegs.«

Wie der Wind war sie wieder draußen, und schon hörte man schwere Tritte, ein Lichtschein hüpfte die Treppe herauf, Siegfried sah ihn durch die Glasscheibe seiner Türe näher kommen.

»Guten Abend, Höpfner.«

Kolb war auf der Schwelle stehen geblieben. Die Brille war von der Nässe beschlagen, er blickte drüber hinweg. Sein Atem ging schwer.

Siegfried stand vor seinem Arbeitstisch. Der Homer lag aufgeschlagen, das Lexikon daneben, Stapel von Heften und Büchern flankierten das Tintenfaß. Die 93 kleine Lampe warf ihren Schein in den Spiegel über dem Waschtisch. Im Hintergrunde des Zimmers schwamm das weiße Bett im Zwielicht. Wie ein geheimnisvolles Auge aber glänzte etwas auf dem Porzellanofen in der Ecke.

Kolb ging darauf zu.

»Aha, 'ne Teemaschine! Wohl für den Grog zu brauen, was?« sagte er jovial und ließ sich auf die Chaiselongue nieder, eine Sprungfeder klirrte leise unter ihm.

Siegfried hatte nach der schuldigen Begrüßung kein Wort mehr gesprochen. Er wußte nicht, was der Alte wollte. Eine Menge unruhiger Gedanken schwirrten in seinem Kopfe.

»Ja, Höpfner, ich wollte mir mal Ihre Bude besehen, Ihre nicht allein. Der Vigilant war aber schon vor mir da und hat Sie gewarnt. Na ja, ist ja schon gut, Sie brauchen sich gar nicht zu entschuldigen. Das gehört doch dazu, Sie haben es wohl sehr schön still hier, was?«

»Jawohl, Herr Direktor.«

»Kommt Ihr Herr Vater zuweilen nach Dornkirch?«

»Nein, Herr Direktor, nie.«

Das klang kurz, gepreßt.

»So, na und Sie, Sie fahren doch' mal zu ihm hinaus?«

»Nein, er will es nicht haben. Er schreibt auch nicht.«

Kolb rückte die Brille und blickte den Jüngling forschend an.

»Setzen Sie sich doch, Höpfner.«

Siegfried machte eine Bewegung, es war wie eine halbe Verbeugung, und blieb stehen. Kolb begann sich zu ärgern. Der Junge wollte wohl den Vornehmen spielen und ihn fortgraulen. Von dem alten Höpfner wußte er 94 nichts, der lebte wie ein Heide, wie ein alter Knochen unter seinen Bauern, hatte Winghoff erzählt. Er könne nicht einmal mehr ein verständliches Deutsch reden. Der Junge sah diesem Bilde nicht ähnlich. Was der Bengel für ein feines Profil hatte! Aber verklammt und blaß, und merkwürdige zuckende Brauen. Der war verdöst, eingesponnen. Dem tat ein fester Griff gut.

Kolb stand auf und trat wuchtig vor ihn hin.

Siegfried machte unwillkürlich eine Bewegung, als wollte er etwas beiseite schieben.

»Lassen Sie ruhig alles liegen, ich stecke die Nase nicht in Ihre Sachen. Und nun hören Sie mich mal an, Höpfner. Sie sind ein begabter Mensch, aber Sie schlaksen. Heute geht's brillant, morgen ist der Kopf wie ausgeräumt. Das ist so ein Gemisch von Fleiß und Bummelei. Und das muß anders werden. Sie können, wenn Sie wollen. Sie müssen sich aber selbst ein bißchen an den Zügel nehmen. Mit so einem Schaukelsystem, bald oben, bald unten, machen Sie die Sache nur sich und uns schwer. So, das wollt ich Ihnen mal im Vertrauen sagen. Nun geben Sie mir die Hand auf den Spruch!«

Er hielt ihm die Hand hin.

»Herr Direktor,« entgegnete Siegfried ohne die Finger zu lösen, die er krampfhaft ineinandergeschlungen hatte. Er wollte ihm antworten, daß er selbst unter diesem ungleichen Arbeiten leide, daß er oft Dinge im Flug begreife, vor denen er an anderen Tagen wie ein Blöder saß, daß er manchmal Stunden hatte, in denen nichts in seinem Ohr haftete, andere, in denen er jede Minute voll ausnützte, aber er suchte noch nach den Worten.

95 »Höpfner, ich will keine Entschuldigung, die Hand sollen Sie mir geben,« schrie Kolb ungeduldig, da brach das ganze Gedankengerüst, an dem er fiebernd zimmerte, krachend zusammen, und aufschreckend legte er seine kalten Finger in Kolbs breite Hand.

»So, mein Sohn, nun setzen Sie sich wieder zu Ihrer Eselsbrücke, und dann gehen Sie beizeiten in die Klappe. Gute Nacht, Höpfner.«

»Gute Nacht Herr Direktor.«

Siegfried ergriff mechanisch die Lampe, um zu leuchten.

»Nein, lassen Sie nur, da draußen steht ja die Filia hospitalis oder wer das war, der Ihnen den Alten signalisiert hat, die wird mir wohl das Geleite geben.«

Er hatte seinen jovialen Ton wieder gefunden. Auf der Treppe mußte er schallend niesen, man hörte ihn etwas von verdammtem Wetter schimpfen, dann verlor sich das Geräusch der Schritte und der Lichtschein verschwand.

Auf der Schwelle blieb Kolb stehen und zündete sich eine Zigarre an, schlug den Mantelkragen in die Höhe und tappte in die graue, gestaltlose Finsternis hinein, die dicht und dunstig durch die Gassen wogte. Ein Frösteln lief ihm über den Nacken, ihn fror. Und unsicher ging er weiter, der Nebel äffte ihn, er kam sich wie verirrt vor in dem totenstillen Nest. Die Häuser hatten sich feindlich in Dunkel gehüllt, die Giebel wuchsen ins Unermessene, neigten sich hier über die schmalen Gassen, strebten dort in jäher Flucht auseinander, und üble Dünste krochen an den Mauern hin, hockten in den Kellerlöchern und erstickten ihm den Zigarrenrauch, daß ihm ein scharfer Nikotingeschmack auf der Zunge brannte.

96 Kolb hatte in die Vorstadt hinunterwollen, wo noch zwei Externe bei einer alten Jungfer hausten, über der der Pfarrer seine Hand hielt, aber nun verdroß ihn der Weg. Die traf er ja sicher daheim, die verdienten sich die Soutane, nach der sie strebten, vornweg mit Schanzen und schicklichem Lebenswandel, dickschädlige, zähe Gesellen, denen man die Kenntnisse mit Hammerschlägen in den Kopf pfropfen mußte, die aber still hielten wie die Klötze.

»Donnerwetter,« fluchte er plötzlich. Er war in einen Oleanderbaum geraten, der laubleer und frierend in seinem Kübel vor dem Café Mousson stand. Das Schienbein schmerzte Georg. »Verdammte Wirtschaft,« knurrte er und warf einen wütenden Blick auf das Haus. Aber dann besann er sich eines Bessern, tastete sich die Steinstufen hinauf und trat in den niedrigen Saal. Es war das Elsässer Café, in das sich sonst kein Deutscher verirrte, aber zum Teufel, ihn fror, und ihre Mäuler waren ihm wurscht.

Im Saal brannten nur zwei Flammen, eine über dem Kontor, wo Mamsell Phinele auf dem Ledersofa saß und strickte, umgeben von glänzenden Absinth und Likörkaraffen und eine andere über dem runden Ecktisch. Dort wurde es plötzlich still, als Kolb eintrat. Er schaute nicht hin, ging über die Brille schielend an dem Billard vorbei ans Büfett und bestellte einen Kognak.

»Der Direktor Kolb,« murmelte der Maire in sein Kaffeeglas, um den andern, die mit dem Rücken gegen die Türe saßen, den Weg zu weisen. Da rührte sich keiner, auch Sinniger nicht. Hier nicht.

97 Der Apotheker zog die Brauen in die Höhe, daß sie auf der kahlen Stirn verloren zu gehen drohten.

»Was will der Spion hier? Man wird doch noch den Figaro lesen dürfen,« flüsterte er über den Tisch.

Da stand Haury auf, legte seine kurze Pfeife neben das Kartenbrett und sagte: »Excusez ein' Moment. Der Maire gibt an.«

Und er schob Schiklé die Karten hin und ging ruhig durch den Saal auf das Kontor zu, wo Mamsell Mousson den schwarzen Kopf über das Schnapsgläschen neigte, um es sorgfältig bis zum Rande zu füllen.

»Sackerment, der Haury fängt Händel an,« pustete der dicke Notar und stützte die fetten Hände auf die Marmorplatte, um sich aufzurichten.

»Reste donc, animal,« antwortete der Caissier und zog ihn am Rock. Da saß er wieder fest auf dem ächzenden Stuhl.

Kolb griff gerade nach dem Glas, als Haury ihn anredete.

»Pardon, Herr Direktor, darf ich Sie inkommodieren? Mein Name ist Ernest Haury.«

Was wollte denn der Fabrikant von ihm? Mißtrauisch hielt Kolb sich zurück und deutete nur durch eine steife Verbeugung an, daß er bereit sei, zu hören.

»Ich möchte um die Permission bitten, Ihnen meine Visite zu machen. Meine Töchter wünschen Lektionen in der Littérature allemande und da wollt ich mir erlauben, Sie um Rat zu fragen.«

Er sprach ruhig und mit lauter Stimme, es klang durch den Saal. Das mattgetönte Gesicht mit der schmalen Nase, deren Flügel leise vibrierten, und dem weichen, 98 unter dem kleinen Schnurrbart voll hervortretenden Mund war von einem artigen Lächeln erhellt. Auf der weißen, vom kurzen Haar dicht umgebenen Stirn spielte der Schein der offenen Gasflamme.

»Ich erwarte Sie selbstverständlich mit Vergnügen, Herr Haury,« erwiderte Kolb mit höflicher Reserve im Ton.

Da verneigte sich der Fabrikant mit einer Leichtigkeit, die Kolbs Bückling nur noch schwerfälliger erscheinen ließ, murmelte ein »très aimable, monsieur« und kehrte zu seinen Kumpanen zurück. Kolb kippte den Kognak in die Kehle, bezahlte und ging. Diesmal mußte er grüßen.

Kaum war er aus der Türe, da erhob sich am runden Tisch lauter Lärm. Alle sprachen, schrieen auf Haury ein, aber der zuckte die Achseln und griff zu den Karten.

»Erst gib Bescheid, Ernest,« sprudelte der Notar. »Was paktierst du mit dem Schwoben. Hein! Und just im Moment, wo alle Tage der Tanz losgehen kann, wo die gloriosen, roten Hosen ins Städtle marschieren können, eh unsereiner die Hosen kehrt!«

»Tais-toi, das ist meine Sach, dünkt mich,« erwiderte Haury und schlug mit den Karten auf die Tischkante.

Aber der Notar fuhr mit der Hand nach der Klappe seines fettigen, schwarzen Rockes, in der ein rotes Schleifchen brannte und schrie:

»Nundedie noch einmal, wer zu den Schwoben läuft, der ist kein Patriot.«

Haury wurde blaß, seine Augenbrauen zuckten, da legte Sinniger die hohlen Hände an das Ohr des Notars und rief hinein:

»Du bist ein imbécile. Va chercher la femme!«

99 »Hein?« machte der Notar und ließ blöde die Unterlippe hängen. Am Kontor klirrten die Flaschen.

Als die anderen aber lachten und verständnisvoll mit den Augen zwinkerten, stand Haury plötzlich auf, warf die Karten auf den Tisch und sagte:

»Fichez-moi la paix, und du, Nandi, laß das Grinsen. C'est sale, tu comprends!«

Ferdinand Sinniger schnellte vom Stuhl.

»Gott verdammt, was ist das!«

»Du weißt, was ich mein', und jetzt Gut Nacht beisammen. A demain.«

Er steckte die Pfeife in die Seitentasche, warf die Pelerine um und setzte die Mütze auf. Sein Gesicht war wieder hell geworden, nur die Nasenflügel bebten noch hastig beim Atemholen.

Die anderen bemühten sich, Sinniger abzulenken und zu beruhigen, aber der klirrte mit dem Löffel im Absinthglas, so zitterte ihm die Hand vor Aufregung, und als Haury am Kontor mit dem Phinele noch ein paar Worte wechselte, da stieg ihm plötzlich eine rote Wolke in die Augen, er stieß das Glas auf den Tisch, daß der grüne Trank über die Karten spritzte und schrie:

»Phinele, nimmst du auch Lektionen? C'est à la mode aujourd'hui!«

Haury wandte sich mit einem Ruck um, Josephine war blaß geworden, aber geistesgegenwärtig nahm sie den Augenblick wahr und rief zurück:

»Mich dünkt, du hättest eine Lektion nötiger als ich, Cousin Sinniger.«

Und dann leise zu Haury:

100 »Laissez-le, Ernest, je vous prie!«

Am runden Tisch lachten sie, lachten um so geräuschvoller, weil sie dadurch die Spannung zu verscheuchen glaubten. Schicklé hielt Ferdinand fest, daß er sich nicht rühren konnte.

Haury aber verließ langsam den Saal. An der Türe grüßte er noch unbefangen, als ob nichts geschehen sei, die Freunde am runden Tisch.

Auf der Gasse lachte er kurz auf. Der Nandi und er! Der Nandi, der hinter jedem Jupon her war, ob der von Seide war oder Wolle, wenn nur ein Frauenzimmer ihn schwenkte, und er, das war ja zum Lachen! Aber cré nom de nom, wenn der nigaud noch einmal seine Geschichte ausmünzte von der Embrassade auf dem Kirchensteig am Patronsfest, dann schlug er ihm die Zähne in den Hals. Er schüttelte sich vor Grimm in seinem Mantel, die höfliche Gelassenheit war ihm abhanden gekommen, eine wilde Sucht, in groben Worten und brutalen Reden sich auszutoben, würgte ihn im Schreiten durch die Nebel, die jetzt in langen, windgepeitschten Schwaden über die Felder jagten und das Städtchen mit seltsamen Gestalten füllten.

Als Haury durch das Gittertor in den Park trat, begann es in der Höhe hell zu werden. Der Mond riß sich aus dem Gewölk, und die Sterne blinzelten scheu durch den Flor. Da blieb er einen Augenblick stehen. »Ma foi, je deviens sentimental!« murmelte er und ging weiter mit festen, federnden Schritten. Was er lange gesucht hatte, einen Vorwand, sich ihr zu nähern, das hatte ihm ein kecker Einfall in den Schoß 101 geworfen. Und jetzt ging er seinen Weg, et gare à celui, qui . . . .

Er wartete zwei Tage, dann sagte er seinen Töchtern, daß er wünschte, sie möchten ein paar Lektionen über deutsche Literatur hören, schob alle ihre Einwände beiseite, schwieg zu ihren entrüsteten Fragen und ließ anspannen, um Kolb den angekündeten Besuch zu machen. Einen Augenblick überlegte er, ob er Marthe oder Cécile mitnehmen sollte, verwarf den Gedanken und fuhr allein.

Er ließ das Coupé an der Scherbengasse halten und ging die letzten Schritte zu Fuß. Es war kurz vor zwölf Uhr. Im Schulhof wischte der Pedell das welke Laub zusammen. Haury kannte den Weg, nickte nur zu dem erstaunten Gruße und stieg die Treppe hinauf. Als das Collège noch von den ehrwürdigen Vätern geleitet wurde, hatte er auch seine Bänke gedrückt. An der Korridortür des Direktors blinkte das Namensschild. ›Kolb‹ stand in das gelbe Metall gegraben, sonst nichts. Kaum zog Haury die Klingel, da riß das Salmele schon die Tür auf. Er fragte nach dem Herrn Direktor.

»Der Herr hat noch Stund, aber will der Herr nicht hereinspazieren? Es läutet im Augenblick.«

»Bien merci, aber ich störe am Ende,« erwiderte er laut und heftete den Blick auf die Türe, die sich dort im Dunkel des Flurs bewegt hatte.

»O, das gibt's nicht, es warten als noch andere,« versetzte das Salmele eifrig, indem es an den aufgestreiften Ärmeln zerrte.

»Also gut, montrez moi le chemin, ma fille.«

Er ging aber selbst rasch voraus und legte die Hand auf 102 die Klinke der Türe. Von innen schien jemand den Griff festgehalten zu haben, denn er sprang ihm plötzlich in die Hand.

Das Salmele war unschlüssig, es hatte den Besuch ins Studierzimmer führen wollen, aber enfin, das war ja gehüpft wie gesprungen.

»So spaziert doch hinein,« ermunterte es ihn und schickte sich an, die Türe zu öffnen. Da trat er schnell über die Schwelle in das Wohnzimmer.

Kläre stand am Fenster.

Er ging rasch auf sie zu.

»Ich bitte um Verzeihung, Madame. Ich glaubte die Türe, die man mir gewiesen hat, führe zu Ihrem Herrn Gemahl. Je me retire à l'instant.«

Sie ließ die Hand von den Brustschleifen ihres Kleides und suchte nach ein paar höflichen, gleichgültigen Worten, sie konnte ihn doch nicht wieder hinausgehen lassen wie einen abgewiesenen Bettler. Aber schon hatte er die Hand ergriffen, tat, als wäre sie ihm entgegengestreckt worden und führte sie an die Lippen. Einen Augenblick sah sie auf sein geneigtes Haupt, das noch volles, schwarzes Haar umgab, dann ließ er ihre Finger los und trat zurück.

»Aber mein Mann muß ja jeden Moment kommen,« sagte sie nun und suchte ihre Haltung wieder zu gewinnen.

»Die schöne Aussicht, die Sie hier haben, Madame!«

Unwillkürlich wich sie tiefer in die Nische und duldete es, daß er neben sie an das offene Fenster trat.

»Ja, man sieht weit hier oben,« sprach sie leise.

103 Sie standen dicht nebeneinander. Ein herber Wind, der kleine Federwolken über die Berge nach Süden jagte, kühlte ihnen die Wangen. Die Linden starrten kahl, aber hell blitzte der Fluß und rot stach die Ackerkrume aus den bereiften Wiesen.

»Dort ist die Stelle, wo ich Sie kennen gelernt habe, gnädige Frau. Ich hatte Sie gesehen im Wagen, und mein Direktor sagte mir, wer die Dame war. Wissen Sie noch, es sind jetzt bald sechs Wochen?«

»Ja, als wir die Badeanstalt planten,« erwiderte sie befangen lächelnd.

»Die Badeanstalt? Pardon, ich verstehe nicht recht?«

Da wurde Kläre verlegen, aber dann lachte sie fröhlich auf und sah ihn unbefangen an.

»Ach Gott, jetzt hab ich was Nettes angerichtet! Frau von Wernecke wird schön bös sein!«

Und dann erzählte sie ihm von dem Plane.

Er hörte ihr zu, scheinbar unbefangen, aber er mußte sich zwingen, ihren Worten zu folgen, er sah nur ihre strahlenden Augen, die opalfarbenen Wangen und den roten, vollen Mund, der sich so anmutig öffnete und schloß. Sie trug ein Tuchkleid, das den Hals frei ließ, und nun spielte in dem Grübchen ihrer Kehle die Sonne. Fest stützte er die Hand auf das Gesims, um der Versuchung zu widerstehen und sie nicht an sich zu reißen.

»Eine Badeanstalt am Kanal, wo wir den Fluß haben, c'est drôle,« sagte er und erschrak über seine klanglose Stimme.

Da wurde Kläre wieder verlegen. Plötzlich stand jenes Bad im Flusse vor ihren Augen, und eine heiße Röte 104 färbte ihr Gesicht. Und als sie ihn unsicher anschaute und eine wilde Zärtlichkeit unverhüllt aus seinen Blicken brechen sah, da lehnte sie sich auf einmal kraftlos an die Fensterbank und fühlte, wie ihr ein Rauschen in die Ohren schoß und die Fingerspitzen stachen und brannten. Ihre Hand fuhr unsicher über das Gesims und tastete nach einem Halt. Schon hatte er den Handschuh abgerissen und ergriff ihre zuckenden Finger. Aber nur ein Berühren war's, dann gab er sie frei, wieder Herr seiner selbst.

»Madame,« sprach er leise, »ich habe das Wort nicht vergessen zu suchen. Als ich Ihnen von dem Wasser in meinem Kanal erzählte, vous vous souvenez? Aber Sie hatten unrecht. Wie weiß man, wo Gaukeleien – des fantaisies –anfangen, wo aufhören! Il y a des illusions, qui sont plus réelles, plus solides, plus chères que la réalité.«

»Sie philosophieren, Monsieur Haury,« entgegnete sie und versuchte sich zu wehren gegen seine Blicke, seine Worte. Es waren keine Unziemlichkeiten, aber es war ein Werben darin, das ihr das Blut aufpeitschte.

Er zuckte die Achseln und lächelte seltsam, nur seine Augen blieben dunkel.

»Nein, Madame, das Philosophieren ist nicht meine Sache, ich bin zu sehr homme d'action.«

Jetzt machte sich Kläre mit einem Ruck frei von ihrer Schwäche.

»Homme d'action? In Dornkirch!« fragte sie spöttisch und bemühte sich an ihm vorbei ins Weite zu blicken.

Er zuckte zusammen.

105 »Oui, madame,« antwortete er trocken.

Ein kaltes Schweigen entstand, die Fäden, die sich zwischen ihnen und um sie her zu einem Netz gesponnen hatten wie Nervenenden, die zueinanderstreben, waren jählings abgerissen.

Eine Weile noch standen sie am Fenster, durch das der Wind seine frischen, herben Wellen trieb, dann sprach Kläre in kühlem, artigem Tone:

»Bitte, nehmen Sie doch Platz, Herr Haury. Und mich entschuldigen Sie vielleicht. Es muß ja gleich Mittag läuten.«

Er trat zwei Schritte zurück und verbeugte sich. An ihm vorbei verließ sie das Zimmer. Ein harter Zug lag um ihren Mund. An der Türe wandte sie sich noch einmal und neigte mit herausforderndem Stolz das Haupt. Sie haßte ihn in diesem Augenblick.

Die Schulglocke gellte schrill durch das Haus, da atmete sie wie erlöst. Und schon kam ihr Mann die Treppe herauf.

»Georg, Herr Haury ist da und wünscht dich zu sprechen,« sagte sie laut, bevor er noch die Korridortüre geschlossen hatte, und öffnete die Türe zu seinem Studierzimmer. Dann rief sie wie im Triumph in die Küche:

»Salmele, führ den Herrn zum Herrn Direktor hinüber.«

Haury hörte den Befehl trotz des Lärms, den das Getrappel und Geschwätz der Knaben auf Flur und Hof verursachte.

»Attendez, madame Claire,« sprach er leise vor sich hin, »attendez, belle boudeuse.«

106 Und er wartete, bis die Magd ihn aufforderte, ihr zu folgen.

Kläre war verschwunden, er sah sie nicht wieder. Mit ruhiger Sicherheit bat er Georg Kolb, ihm einen Lehrer für seine Töchter zu empfehlen.

»Sehen Sie, Herr Direktor, meine Töchter stehen jetzt zwischen dem Pensionat und ihrer Entrée in die Gesellschaft. In einem Jahr, vielleicht schon früher, werden sie nach Mülhausen oder Nancy zu Verwandten gehen, und bis dahin muß ich ihnen hier Unterhaltung schaffen und ihre Ausbildung pflegen. Die Musik traktiert meine Schwester, elle est musicienne accomplie, nur fehlt mir noch ein wenig Literatur.«

Kolb nahm sein Amt ernst.

»Ja, wie ich Ihnen sagte, Herr Haury, ich könnte Ihnen Herrn Eisenreiter empfehlen, aber ich fürchte, er wird ablehnen. Er ist ein älterer Herr und nicht darauf angewiesen. Dann wäre noch Herr Winghoff da, aber dessen Fach ist es eigentlich nicht. Bliebe noch unser Probekandidat. Der hat die facultas für Deutsch und Literaturgeschichte, es ist ein artiger, bescheidener Mensch, aber noch sehr jung. Das wäre wohl nicht ganz schicklich.«

Eine hochmütige Gebärde Haurys, die nur durch ihre elegante Lässigkeit gemildert erschien, begegnete Kolbs letztem Einwand.

»O, das tut nichts, Herr Direktor. Der junge Mann wird mir willkommen sein, das Honorar werde ich mir erlauben, nach meinen Verhältnissen festzusetzen.«

»Gut, so werde ich Herrn Doktor Ledermann Bescheid 107 sagen, und ich zweifle nicht, daß er gern zu Ihrer Verfügung stehen wird, Herr Haury.«

Da hob Haury die Hand und erwiderte mit dem Ausdruck der Bitte:

»Vorausgesetzt, daß Sie nicht selbst – ce serait un grand honneur pour moi –«

»Verzeihung, das ist unmöglich,« schnitt ihm Kolb bestimmt und beinahe unhöflich kurz die Rede ab.

Haurys Brauen zogen sich zusammen, aber er bemeisterte sich.

»Alors, c'est réglé, monsieur,« entgegnete er, »ich danke Ihnen sehr und bitte Sie mich zu entschuldigen.«

Georg blickte fragend auf.

»Ich habe Madame Kolb derangiert. J'espère que madame me pardonne.«

Darauf wußte Kolb nichts zu erwidern, die Floskeln verdrossen ihn, er murmelte etwas Unverständliches in den buschigen Schnurrbart und gab seinem Besuch das Geleite.

Auf dem Flur schoß ihnen Hansjürgen, der dem Salmele entwischt war, zwischen die Beine.

»Ah, Ihr kleiner garçon, Herr Direktor,« sagte Haury. Sein Blick fuhr prüfend über den Kleinen, der an seinem Vater in die Höhe strebte. Er glich der Mutter mit den großen, blauen Augen und den feinen Haaren, die ihm in wilden Ringeln über das zarte Gesicht flogen. Und in einem jähen Ruck bückte sich Haury und küßte ihn auf den Scheitel.

Kolb machte ein wütendes Gesicht, das er nur mühsam zu verbergen verstand. Er konnte die verfluchte Küsserei, 108 wie sie die Franzosen und nach ihnen die Elsässer übten, nicht ausstehen. Was hatte der Kerl seinen Jungen zu küssen! Der Teufel über die Leckerei!

Unwirsch drückte er hinter ihm die Gangtüre ins Schloß. Als er sich an den Tisch setzte, den Kläre mit den letzten Astern geschmückt hatte, saß ihm der Ärger über diese Liebkosung noch auf der Zunge.

»Diese verdammte Abküsserei!« knurrte er, und Kläres fragenden Blick bemerkend, fuhr er gereizt fort. »Nun ja doch, küßt mir der Protz den Jungen auf die Haare, wie wenn das zum täglichen Brot gehörte. Diese infamen elsässischen Moden! Was soll überhaupt dieses ganze Komödiespielen, dieser Formelkram, da steckt ja doch nichts dahinter.«

Und er zog die Suppenschüssel heran. Dabei stieß er an die Blumenvase, und die Astern badeten ihre Köpfe in Kläres Teller. Sie stieß einen kleinen Schrei aus. Weil ihre Gedanken bei dem Kusse geweilt hatten, den jener ihrem Kind ins Haar gehaucht hatte, war sie um so ärger erschrocken.

»Das ist auch so ein Firlefanz, die Blumen auf dem Eßtisch,« wetterte Kolb, »Gemüse und Salat ja, aber mit diesem Riechzeug bleib mir endlich vom Hals. Überhaupt diese Geschirrparade.«

Ein geringschätziger Blick flog über den hübsch gedeckten Tisch, auf dem das feine Porzellan und die geschliffenen Gläser glänzten. Auf dem schön gemusterten Tafeltuch zog das verschüttete Wasser dunkle Kreise.

»Du weißt, daß ich es nicht anders mag, ich kann's nun einmal nicht ohne ein bißchen Geschmack machen, 109 oder Firlefanz oder wie du es nennst,« erwiderte Kläre, und ihre Augen erschienen schwarz ob der Kränkung, die er ihr gerade in dieser Stunde antun mußte.

Hansjürgen saß ganz still und ließ die kalten Wetterschläge vorübergehen. Da riß ihn Kläre plötzlich in die Höhe und eilte mit ihm aus der Stube ins Schlafzimmer.

Kolb blieb erst überrascht sitzen, den Löffel in der Schwebe haltend. Dann warf er ihn klirrend hin, schleuderte die Serviette beiseite und stürzte ihr nach. Aber der Riegel war vorgeschoben. Er rief, er wetterte. Sie antwortete nicht, hockte mit dem Bübchen auf dem Bettrand und preßte die Wange an seinen Kopf. Da lenkte Kolb ein und rief: »Mach keine Dummheiten! Bei der Wirtschaft soll einer nicht rabiat werden. Ich habe gerade genug Ärger in den Klassen.«

Aber als sie sich immer noch nicht rührte, drückte er gegen die Türe, daß sie knackte, und schrie: »Das wird ja immer schlimmer mit dir. Du meinst wohl, du könntest mir auf der Nase tanzen wie deinem Vater.«

Kläre hatte ganz still gesessen, die Backe auf Hansjürgens Haar gedrückt, die Augen mit einem halb ärgerlichen, halb neugierigen Blick auf die Tür geheftet. Bei seinen letzten Worten ging ein Zucken wie von einem jähen Schmerz über ihr Gesicht. Und als er rief: »Mach auf, oder ich mach auf,« da hatte sie statt der Wange den Mund auf Hansjürgens weiches Haar gepreßt und hielt so still, ein Vibrieren, ein gesteigertes, köstliches Gefühl in den tastenden Lippen und trunkene Schwere in den Gliedern.

110 Wie aus weiter Ferne klang Salmeles Stimme zu ihr, das draußen den Herrn ruhig beiseite geschoben hatte und nun durchs Schlüsselloch sprach:

»Allons, Madame, seid heimelig. D' Suppe wird kalt und der Herr hat Hunger.«

Und das Salmele rückte Kolb den Stuhl hin und sagte zu ihm:

»Sitzet nur ab, Herr, sie macht grad auf.«

Die Dielen schütterten unter den Tritten der Magd, als sie die Stube verließ, und dann erhob sich Kläre und öffnete.

Georg blickte nicht auf, und sie saß wie im Traum. Es war ein schweigsames Mal, bis Hansjürgen über dem Griesauflauf lebendig wurde. Der Friede schien geschlossen, als auch Kolb wieder von diesem und jenem zu reden begann, aber Kläre war nicht aufzurütteln. Georg gähnte verstohlen. Eine Zeitlang kämpfte er wohl gegen die Schläfrigkeit, die ihn befiel, denn gerade heute dünkte sie ihn beschämend, aber sein Wehren war umsonst.

Kläre sah es mit einer kleinen, boshaften Genugtuung, dann sagte sie freundlich, mit betonter Nachsicht:

»Warum legst du dich nicht hin, Schorschle?« Und schaute ihm mit einem prüfenden Blicke nach, als er in seinem bequemen, vertragenen Rock und den Schaftstiefeln, die sich unter der Hose deutlich abzeichneten, hinausging, um auf dem Ledersofa im Studierzimmer eine halbe Stunde zu schlafen und zu schnarchen. Auch Hansjürgen wurde zur Ruhe gelegt und Kläre saß allein, hörte die Uhr ticken, den Kanarienvogel rastlos hin und 111 herhüpfen und dann und wann Schritte, die unten vom Lindenwall herauftönten. Und ihr war, als hätte sie schon zwanzig Jahre hier gesessen und hörte nun die Zeit Korn um Korn aus dem Stundenglas rinnen. Ein Frösteln lief ihr den Nacken hinab.

Einige Tage später saß sie wieder allein und sah die Zeiger schleichen, da schellte es leise, und dann kam Salome und brachte ein wundervolles Blumenbukett aus dem Treibhause der Villa Haury. Auf einer Visitenkarte stand: ›Hommage respectueux.

Im ersten Augenblick freute sie sich kindlich und schmiegte die Wange an die kühlen, duftenden Blumen. Auf die Freude aber folgte ein Gefühl der Unsicherheit, und sie war im Begriff, das Geschenk zurückzuweisen, doch sie fand den Mut zum Entschlusse nicht, und wieder überkamen sie die Erinnerungen an das Seminar in Ladenburg, wo sie als eine kleine Königin gehaust hatte, verwöhnt von dem Vater, der sie schon seit langen Jahren allein aufgezogen hatte, verzärtelt von Verwandten und Bekannten und angeschwärmt von den Zöglingen, die ihr lose Blumen und ungefüge Sträuße durch das Fenster ihres Zimmerchens warfen, Gedichte sandten und mit heißen Blicken die Mützen schwenkten. Und einmal, da war sie in der Laube eingeschlafen in ihrem Faulenzer und war plötzlich wach geworden, hatte noch Schritte knirschen hören und hatte ein seltsames süßes Gefühl auf ihren Lippen, ihre Brüste lagen so voll an ihrem Mieder, daß sie nach den Nesteln tastete um Raum zu gewinnen. Und auf einmal hatte sie gewußt, daß sie jemand geküßt hatte im Schlaf. Wer, hatte sie nie erfahren. Hinter der Färberei am Kanal 112 war sie von Leutnant von Erdmann, der damals zum Bezirkskommando in Ladenburg kommandiert war, auch geküßt worden, zweimal war sie zum Stelldichein gekommen, dann war der flüchtige Rausch, der ihr nur die Lippen genetzt hatte, verflogen, und ein halbes Jahr später war der Seminardirektor Brettschneider gestorben. Sie wurde Georgs Frau. Sie war Georgs Frau. Und hier in Dornkirch. Ihre Hände griffen so tief in das Bukett, daß ein Regen von farbigen Blättern von ihrem Schoß stäubte. Hastig erhob sie sich und gab dem Salmele Befehl, keine Blumen mehr anzunehmen und dem Herrn von diesen hier nichts zu sagen.

Der Strauß verblich in der Schrankkammer, wohin er verbannt worden war, aber sein Duft zog schwer, im Welken noch schwül und betäubend durch die Zimmer; sie roch ihn, wo sie ging und stand.

Doch als eine Woche und eine zweite vergangen war und das Salmele gar keine Gelegenheit fand, ein Bukett zurückzuweisen, da wurde Kläre unruhig und gereizt, und das Salmele und die Schneiderin hatten böse Stunden. Mit ihrem Mann war sie heute lieb und kindlich heiter, morgen riß sie wieder ein Zank auseinander, Hansjürgen, ihren Jungen, aber überschüttete, erstickte sie fast mit ihren Zärtlichkeiten, und ihre Hände, die von Geld und Geldeswert so wenig verstanden, schleppten ihm aus Sinnigers Basar Spielsachen herbei bis zur Übersättigung. Kolb hatte es aufgegeben, dagegen zu eifern, er ermüdete im Vernunftpredigen und ließ sie gewähren.

Die Schule nahm ihn jetzt so in Anspruch, daß alles andere notleiden mußte. Nur dem Stammtisch blieb er 113 unverbrüchlich treu. Aber auch hier trieb in den Tabakswolken graue Sorge ihr Spiel.

»Wir kriegen sie zuerst auf die Hucke,« sagte der Amtsrichter eines Abends.

»Ach was, so saudumm wird der Boulanger nicht sein, dem sein Gaul ist nur für die Parade dressiert, und so'n Krieg is ung'sund,« erwiderte der Kreisarzt. »Und wenn er kommt, hau'n m'r ihm halt eine 'nauf, daß er die Engeln im Himmel pfeifen hört.«

»Vor dem Frühling ist nicht an so was zu denken, das erlaubt die Jahreszeit nicht. Da sind militärische Operationen, wie sie zu Beginn eines Feldzuges notwendig sind, einfach ausgeschlossen.«

Der Kreisassessor fuhr sich bei diesen Worten in den Kragen, als trüge er seine Offiziersuniform und müßte die Binde lockern.

»Ja, Herr Assessor, das ist alles recht schön,« erwiderte der Amtsrichter, »aber es kommt manchmal anders. Glauben Sie mir, die Sache ist brenzlig. Ich habe einen Termin nach dem andern wegen groben Unfugs und aufrührerischer Rufe, und es sollte mich wundern, wenn sie das auf der Kreisdirektion nicht auch spürten.«

»Rührt uns nicht,« sagte Assessor Drexler und stieß die Zigarre in den Aschenbecher.

»Was sagen Sie dazu, Direktor?« wandte sich der Amtsrichter an Kolb.

»Ich, gar nichts. Ich halte Schule, bis sie mir mit Massenquartieren belegt wird oder das Genfer Kreuz darüber weht. Das weitere besorgt uns der Bismarck.«

114 »Bravo, Direktor,« rief der Kreisarzt und schlug ihn auf den Schenkel, daß es knallte. »Ja, ja, wir zwei, wir haben so 'ne kupferne Medaille von Anno dazumal am Bändel, und Kreuz Türken, wenn's sein muß, schnüren wir noch einmal den Bauch zusammen und pfeffern die roten Hosen.«

Den angegrauten Bart voll Bierschaum saß er da, und seine Augen brannten, daß ihm das Wasser hineinschoß.

Da hob Kolb in einer mächtigen Erregung das Glas und rief:

»Prosit, Habermeier, und Hurra für Kaiser und Reich.«

Er riß sie alle von den Stühlen, sie hielten die Seidel einen Augenblick vor sich hin und tranken sie dann langsam aus. Die Gasflammen über ihren Köpfen standen unbeweglich in den Kugeln und beleuchteten ihre Gesichter und aus allen sprach etwas, das sie von dem Stammtisch und dem Klatsch und den Sorgen des gemeinen Lebens hinweg in reinere Lüfte trug. Der Assessor in seiner erkünstelt steifen Haltung, der Bayer mit der offenstehenden Weste, Rotenberger schlotternd in seinen weiten Kleidern, der Amtsrichter mit den von bläulichen Äderchen zerrissenen Backen und dem kahlen Kopf und Kolb, über dessen gefurchter Stirn das buschige Haar wild durcheinanderlag, sie alle fühlten, wie ihnen etwas die Brust weitete und die Kehle schnürte, und im Takt schlugen sie die Gläser auf den Tisch, daß es schallte, und standen eine Zeitlang schweigend aufrecht, als spräche jeder ein Gelübde in sich hinein. Graue Tabaksschwaden zogen ihre Kreise und flatterten erschreckt auseinander, 115 und die Kellnerin fuhr schlaftrunken von ihrem Stuhl und rannte eifrig, die Gläser zu füllen.

Als sie aufbrachen, war es elf Uhr geworden. Die Gassen lagen totenstill, kalte Sterne glitzerten, und nur zuweilen kam ein schwacher Windstoß die Kreuzgasse herauf und lockte die Flamme aus der Laterne vor der Apotheke.

»Kommen Sie noch ein paar Schritte mit, Direktor, wir gehen über den Wall, das treibt uns den Qualm aus den Röcken,« sagte der Physikus. Kolb ging mit.

Sie schritten schweigend die Gasse hinab. Im Torbogen begegnete ihnen Vogel, der auf dem Heimweg war. Auf dem Wall wehte der Wind stetiger. Er kam von Westen.

»Wir kriegen Regen oder Schnee,« brummte Kolb.

»Ja, mein Rheuma behauptet's auch,« pflichtete Habermeier bei.

Plötzlich blieb Georg stehen.

»Was ist denn das? Wir kriegen doch kein Gewitter im Dezember?«

Sie horchten und schauten forschend in die blasse Finsternis, die das Tal ins Unendliche streckte. Ein dumpfer Schlag, jäh aufpuffend und in einem Grollen endend und wieder einer und dann in kurzen Pausen immer neue Schläge tönten durch die Nacht. Nirgends ein Feuerschein, keine Wolke am Himmel, glitzernde Sterne, über die im Westen ein feiner Schleier fiel, und unten in der Tiefe das Rauschen des Wehrs am Kanal. In der Vorstadt am Fluß blinkte kein Licht mehr, die schwarzen Dächer drängten sich eng zusammen und hockten klumpig in Grau.

116 »Sie schießen in Belfort,« sagte Habermeier, und unwillkürlich dämpfte er die Stimme, als könnte ein lautes Wort die kriegerischen Wetter, die dort in der Ferne brüllten, über das schlafende Land heraufbeschwören.

Eine Weile standen sie noch unter den Linden und lauschten auf den Donner der Festungsgeschütze, der jetzt als ein ununterbrochenes dumpfes Grollen über die Felder lief, das Tal füllend und Boten sendend nach Osten ins elsässische Land hinein.

Dann gaben sie sich die Hand zum Abschied und drückten sie fester als gewöhnlich, wie zwei gute Kameraden, so wenig sie sonst gemein hatten.

»Bange machen gilt nicht,« sagte Kolb ruhig. »Gute Nacht, Doktor.«

Und Habermeier antwortete:

»Pfüet Gott, und die da« – er wies nach Westen – »die können mich lausen!« 117

 


 


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