Hermann Stegemann
Die als Opfer fallen
Hermann Stegemann

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VIII.

Im Gärtlein des Turmhauses blühten Krokus und Flieder. Die Krokusblüten waren schon welk, der Flieder strotzte noch von braunen Knospenbüscheln.

Kläre war lange nicht mehr bei Frau Eisenreiter gewesen. Heute mußte sie endlich den Besuch erwidern, den Frau Eisenreiter ihr nach Hansjürgens Genesung gemacht hatte. Wie das nach dem Flieder roch! Die Frühlingssonne vergoldete jedes Fleckchen, selbst die alten Wollappen, die an den Fenstern des Dachstockes zum Trocknen hingen, drüben in den verwahrlosten Armeleutehäuschen, glänzten blau und rot, in bunter Pracht und im Kehricht der Scherbengasse funkelten Diamanten, brannten Türkisen und Rubinen. Kläre säumte noch eine Weile, ehe sie die Schelle zog.

Keine Wolke; aufgelöst in satter Bläue stieg der Himmel über die schwarzen Dächer. Aus der Kleinkinderschule herüber klangen eintönige, plärrende Stimmen im Chor. Mußten die jetzt im Zimmer sitzen! Und auf dem Marktplatz in der Sonne kein Mensch, nur trippelnde Tauben, und das Wasser, das mit hellerem Gurgeln, zuweilen 235 übermütig über den Beckenrand spritzend im quellenden Drang in den Brunnentrog schoß. Da fielen einem ja die Augen zu! Kläre hätte beinahe laut hinausgejauchzt in den Tag, um die Stille, die tote Langeweile aufzuscheuchen, die überall schlief. Und unwillkürlich zuckte ihre Hand so hastig nach dem Griff der Klingel, daß es stürmend, schrill sich überschlagend, durch das Turmhaus klang. Kläre war schon die Wendeltreppe hinaufgehuscht, da zitterten immer noch die Klingeldrähte aufgeregt, und ein Schwirren des empörten Erzes kam hinter ihr drein.

»Um Gottes willen, liebste Frau Kolb, was ist denn passiert?« rief ihr Frau Eisenreiter entgegen. Sie war dem Besuche bis auf den Flur entgegengeeilt.

»Passiert! Ei, wissen Sie das noch nicht! Frühling ist's, Frau Eisenreiter. Denken Sie mal, richtiger Frühling!«

»Nein, wie jung Sie noch sind, ich dachte, es wäre wirklich was passiert.«

Da lachte Kläre und ärgerte sich doch über diese Antwort.

»Ach, Sie haben schon Besuch? Guten Tag, Herr Doktor, ich störe doch nicht?«

Frau Eisenreiter beteuerte, daß davon nicht die Rede sein könne, Doktor Ledermann schien etwas befangen, aber dann kamen sie in ein gleichgültiges Gespräch. Bis Frau Eisenreiter sich zu Ledermann hinüberneigte, ihm mit der Hand leise aufs Knie klopfte und sagte:

»Wissen Sie, lieber Doktor, Frau Direktor Kolb hat eigentlich ein Anrecht darauf, von Ihrem Geheimnis zu erfahren. Es ist auch schlau, wenn Sie sie dafür interessieren. Denken Sie mal, so ein Anwalt!«

236 »Was ist denn los?« platzte Kläre heraus, ganz Neugier und auch ein bißchen geschmeichelt.

Doktor Ledermanns rosiges Gesicht brannte einen Augenblick in dunkler Glut, dann straffte sich seine Gestalt, und er entgegnete:

»So ist es doch nicht ganz, verehrte Frau. Es handelt sich nur um einen Abschluß. Und ob das Frau Direktor interessiert?«

»O, mich interessiert alles – aber ich, ich bin Ihnen vielleicht – na, ich bin doch kein Kind mehr, oder glauben Sie, mir könnte man kein Vertrauen schenken?«

»Aber ich bitte, so war es nicht gemeint.«

Nun waren sie im Begriff, sich zu zanken. Da griff die alte Dame mit ihren feinen, welken Händen dazwischen.

»Wir sind doch hier so ein kleiner Kreis, wir haben doch hier so wenig Boden unter den Füßen, das heißt die meisten, daß wir uns unterstützen müssen. Und nun denken Sie, liebe Frau Kläre: hier unser Jüngster, der knapp zum wissenschaftlichen Hilfslehrer heranreicht, hat sich eine unglückliche Liebe zugezogen!«

»Verzeihung, das ist zu weiblich ausgedrückt,« unterbrach Ledermann die Sprecherin.

Kläre saß jetzt ganz still. Sie hörte, ohne zu folgen, wie Frau Eisenreiter ihre Worte verteidigte. Unglückliche Liebe, so ein dummes Wort, aber es war doch etwas darin, das zu dem Tage und zu ihrer Stimmung paßte, ein Sehnen, ein Lebenwollen, ein Aufwachen. Sie schrak auf.

»Wir langweilen Frau Kolb,« hatte Ledermann eben gesagt.

237 Sie stand auf, noch vor ihm, der sich nach seinem Hute bückte.

»Es ist gleich Mittag, Frau Eisenreiter, und ich wollte ja nur sehen, wie es Ihnen geht und Ihnen danken für Ihre freundliche Teilnahme, als mein Junge krank war. Bitte, Herr Doktor, nicht stören lassen. Ich trag nichts fort, ich weiß ja auch nichts.«

Aber Doktor Ledermann blieb dabei, seinen Besuch zu beenden.

Nebeneinander stiegen sie die Treppe hinab.

»Halten Sie sich nur gut fest auf dieser Schneckentreppe,« sagte Kläre, als er auf den schmalen Stufen der Wendel kaum Platz fand, den Fuß zu setzen.

»Ja, das muß man, sich festhalten,« versetzte er.

Da sah Kläre ihn prüfend an unten im Gärtchen.

»Sie haben sie wohl furchtbar lieb gehabt?« fragte sie leise.

Er mußte lächeln.

»Ich bin doch kein Primaner, gnädige Frau.«

»So meint' ich's auch nicht,« versetzte sie.

Ledermann verglich unwillkürlich ihre Züge mit denen jener andern. Es war noch das junge, lebendig alle Regungen spiegelnde Gesicht, das Kläre mitgebracht hatte nach Dornkirch. Nur etwas schmaler, die Linien fester, die Umrisse reifer. In den Augen, jetzt, da sie sich beobachtet wußte, ein dunkler Schimmer, ein leichtes Schielen, und die Lippen nur lose geschlossen, voll und weich. Den Mund und den perlmutterzarten Glanz der Haut, das hatten sie gemeinsam.

»Nun ja denn, ich glaube, es geht mir sehr nahe,« sagte er.

238 Sie erwiderte nichts, und er öffnete ihr das Gittertürchen des Gartens. Als er den Hut lüftete, um sich zu verabschieden, fragte sie:

»Wollen Sie mir sagen, was es ist? Bubi ist auf dem Wall. Vielleicht begleiten Sie mich?«

Er zauderte einen Augenblick, dann sagte er:

»Frau Eisenreiter sprach so hübsch vom sichern Port aus von gegenseitigem Vertrauen. Und ich werde es am Ende auch noch mit meinen Vorgesetzten zu tun kriegen, ich will nämlich fort von hier, da darf ich wohl auch Ihnen, gnädige Frau –«

»Bitte, kommen Sie,« unterbrach ihn Kläre leise.

Sie gingen durch das kleine Tor. Die Lindenzweige hatten spitzige, bräunliche Knöspchen angesetzt, über die Dächer der Vorstadt lief ein grüner Schimmer, und im Tal blinkten verstreute Teiche, die der Fluß im Frühlingsdrang in die Mulden ergossen hatte.

»Sehen Sie, daß es Frühling wird,« sagte Kläre.

»Ich habe nie daran gezweifelt,« erwiderte er ernst.

»Sie mokieren sich wohl über mich, Herr Doktor? Man könnte glauben, meinen Mann zu hören. So überlegen!«

»Verzeihung, so war's nicht gemeint. – Ah, da ist ja Hansjürgen,« setzte er rasch hinzu.

Das Salmele saß auf der Bank, vor ihm spielte der Kleine mit Kieseln und einem verfärbten, zerdrückten Unding, das einstmals ein Elefant aus schönem, grauem Tuch gewesen war.

Kläre schickte Salome nach Hause.

»Wir haben eine ganze Viertelstunde Zeit, Herr Ledermann, dann läutet's Mittag.«

239 Sie setzte sich. Er blieb vor ihr stehen.

»Ja, da muß ich wohl,« versuchte er zu scherzen. Doch, als sie abwehrend die Hand hob, fuhr er hastig fort: »Man soll zu den Jungen reden von so jungen Sachen. Es ist ganz richtig, die alte Dame im Turmhaus hat recht gehabt, mich an Sie zu weisen, aber ohne zu wissen, warum. Also, es ist ganz einfach. Einfach, wie eine alte Geschichte immer ist. Ich habe den beiden Töchtern des Herrn Haury Unterricht in der deutschen Literatur gegeben. Seit Weihnachten ungefähr. Es war von seiten des Vaters und der jungen Damen kein Ernst dabei. Ich wußte auch nicht recht wie und was. Und doch hab ich dabei die jüngere Schwester –« Er stockte.

Kläre atmete schwerer. Wie ein Land, das im Nebel versunken war und plötzlich wieder auftaucht, traten ihr auf einmal Dinge und Gestalten wieder vor die Augen, die sie vergessen geglaubt hatte. Sie blickte auf das blasse Kind zu ihren Füßen. Früher war Hansjürgen ihr Spiel für müßige Stunden, ihr Schild gegen den Vater und das Geschöpf ihrer Zärtlichkeit gewesen, das alle Küsse erntete, die sie zu säen hatte, jetzt, seit sie es dem Tode abgerungen hatten, war es ihre Sorge, ihre große Liebe geworden. An ihm bildete sie sich, lebte und atmete mit ihm, und wenn Georg plötzlich nachts aus dem Bett fuhr, weil der Junge hustete, sie hatte ihn angesteckt mit ihrer Sorge, dann neigten sie beide die Köpfe über das Bettchen, horchten, fühlten, fragten, teilten sich ihre Besorgnisse, ihre Hoffnungen mit, und waren eins in dem Kinde.

240 Noch ein tiefer Atemzug, dann ergänzte sie die abgebrochene Rede:

»Sie haben Fräulein Marthe, so heißt ja Fräulein Haury, lieben gelernt.«

»Ja, so ungefähr. Es ist eine Romanphrase, gnädige Frau, aber wir reden ja alle in unnatürlichen Worten von so was.«

»Und dann?«

»Es gibt nur einen Anfang und einen Schluß. Als wir uns einmal hinter den Portieren in die Arme geraten waren und uns geküßt hatten, war's entschieden. Ich bin nur noch einmal hin, um Herrn Haury zu sagen, daß das Pensum erledigt sei, daß ich keine Zeit mehr habe, und hab mich verabschiedet.«

»Und das ist das Ende?«

»Ja.«

»Und das Mädchen? Sie haben doch nur die Stunden aufgegeben?«

»Nein, alles.«

»Das arme Mädel!«

Ein Lächeln glitt über sein ernstes Gesicht.

»Gnädige Frau, Sie fühlen sich natürlich gleich solidarisch mit ihr. Aber sehen Sie, was war da zu machen? Eine Werbung? Haury hätte den Preußen, den Staatsbeamten, den Hungerleider, von seinem Portier hinausführen lassen. Das Mädchen für mich gewinnen, einen Zwang auf den Vater ausüben, Unsinn! Und angenommen, es wäre ein Wunder geschehen, wir hätten uns gekriegt, wie man zu sagen pflegt, was wäre daraus geworden! In dreißig Jahren mag das vielleicht hier gehen 241 und gelingen, daß ein Deutscher und eine Elsässerin aus unseren Kreisen eine Ehe abgeben. Heute! Nein, es geht nicht, es wäre ein Unglück geworden für beide. Ja, wenn wenigstens über alles andere weg von beiden Seiten ein Sichverstehen, ein Sichergänzen und Sichgenügen dagewesen wäre, aber das ist's ja auch nicht gewesen. Bei Heine und Geibel und Dreizehnlinden, was hat man da sich Persönliches sagen und abfühlen können! Gern gehabt, o ja, ich glaube, sie ist so warm und lieb in die Umarmung und in den Kuß hineingelaufen wie ich selbst. Aber es war ein Ende, kein Anfang. Das ist die ganze Geschichte. Sie sehen, gnädige Frau, das bißchen kann man nicht ›unglückliche Liebe‹ nennen.«

»Das kommt darauf an, das können Sie heute ja noch gar nicht wissen,« antwortete Kläre.

»Wenn Sie so wollen, bleibt's überhaupt dahingestellt.«

»Und eine Erklärung zwischen Ihnen und Marthe?«

»So was hat es nicht gegeben.«

Er lächelte wieder und bückte sich, um den Jungen aufzuheben, der hintenüber gefallen war.

»Sie wissen auch nicht, wie es dem Mädchen jetzt ums Herz ist?«

»Sie gehen in vierzehn Tagen nach Nancy,« antwortete er. »Aber, wenn ich auch überzeugt bin, daß alles nur ein Augenblick war, ich frag mich doch immer, ob ich es nicht zwischen uns beiden hätte zur Aussprache kommen lassen müssen.«

Da sagte Kläre entschieden:

»Nein, nur das nicht.«

»Sie meinen also?« fragte er unsicher geworden.

242 Kläre blickte an ihm vorbei in die Ferne, wo blau mit weißem Gipfel der Elsässer Belchen über den zarten Dunst der Hügel wuchs. Ihre Stimme klang jetzt weich.

»Nein, nein, Sie hatten ja ganz recht. Lassen Sie dem armen Mädel die Illusion, ich meine, daß es nie anders daran denkt als an jenen Augenblick ohne Worte. Das ist wie eine Phantasie, wie etwas Geträumtes. Es kann ihr vielleicht arg weh tun, daß es nur ein Traum war, aber wenn Sie jetzt hingingen und wollten ihr Gott weiß was sagen, dann würde das eine häßliche Wirklichkeit.«

»Ich danke Ihnen für diese Worte; gnädige Frau, und, bitte, verzeihen Sie die kindliche Beichte.«

»Adieu, Herr Doktor.«

Sie sah ihm nicht nach. Hansjürgen spielte eifrig. Und auf einmal ertappte sich Kläre darüber, daß sie Marthe Haury um jenen Kuß beneidete. Nicht, weil er von Doktor Ledermann kam, an den dachte sie ja gar nicht, sie beneidete sie um das volle, trunkene Gefühl, das in jenem Augenblick der Hingabe gestillt worden war. Nicht ganz, aber so weit es geschehen mußte und durfte, wenn das Mädchen die Erinnerung lächelnd durchs Leben tragen sollte. Freilich, auch sie hatte sich küssen lassen, aber heute wußte sie, daß keiner jener Küsse in ihr Inneres gedrungen war. Da lag heute noch alles unberührt. Und als sie das erwog, da sagte sie sich, daß sie ja auch Marthe Haury etwas zuschrieb, was nur sie selbst empfand. Auch der Kuß, den Marthe nach der Lektüre des ›Liebesfrühlings‹ oder der Heinegedichte mit dem blonden, rotbäckigen Doktor getauscht hatte, war sicher nur einer von jenen gewesen, die keine Spuren lassen.

243 Hatte Georg sie eigentlich schon geküßt? Wahrhaftig, sie fragte es sich einen Augenblick. Aber dann jagte sie die Gedanken weg und hob das Kind zu sich auf die Bank. Es hatte zwölf Uhr geschlagen, das Geläute klang über die Stadt hin. Die Glocke des Gymnasiums bellte dazwischen, und jetzt tutete die Sirene in der Spinnerei.

Kläre klopfte Hansjürgen das Kleidchen ab und trat dann aus der Allee auf den Fahrdamm. Oben in der Wohnung standen alle Fenster offen, und als sie Salmeles Namen rief, tauchte die Magd an die Sonne und warf den Schlüssel mit dem krausen Bart herunter, der das Pförtchen aufschloß.

Hansjürgen hatte ihn aufheben dürfen. Da sah Kläre Siegfried vom großen Tor herkommen. Sie erinnerte sich an jene erste Begegnung, als sie ratlos hier gestanden hatte, und das gab ihrem Gruß eine Wärme, die sein Herz schneller schlagen ließ. Er ging so langsam, machte so kleine Schritte, daß er noch nicht vorbei war, als Kläre schon zweimal vergeblich gedrückt und gedreht hatte, der Krausbärtige wollte nicht öffnen. Und sie sah sich nach Siegfried um, und der trat herzu, wie wenn das hätte so sein müssen, und rüttelte und rackerte, bis das widerspenstige Schloß sich gab und aufsprang. »Danke schön, Herr Höpfner, heute haben wir's manierlicher gemacht. Was für ein Glück, daß Sie wieder zufällig vorbeikamen!«

Er wurde rot, er konnte ihr doch nicht sagen, daß es diesmal kein Zufall war, daß er seit jenem Tage stets diesen Weg ging, wenn er ihn auch im Kreise führte. 244 Und wie anders sie diesmal vor ihm stand, jetzt, als sie das Kind auf den Arm nahm und von der Schwelle noch einmal zurückblickte, ehe sie verschwand. Mit dem Kinde sah er sie jetzt immer in Gedanken, es war etwas Weihevolles um sie her, er dachte an die Maria im Dornhag. Aber da war ja der Schlüssel stecken geblieben. Er öffnete noch einmal, es ging ganz leicht, zog den Krausbart heraus und rief leise: »Gnädige Frau,« tat ein paar Schritte in den Gang und rief: »Frau Direktor,« und ehe er sich dessen versah, fuhr ein Wind durch das Dunkel und schlug hinter ihm die Pforte zu. Er machte sich am Schloß zu schaffen, aber von innen fand er keine Handhabe und tappte nun auf gut Glück den dunklen Gang entlang. Mit einem romantischen Spuk im Kopfe; sie war vor ihm hergeschritten, er atmete noch den Duft ihrer Person. Auch dann noch, als sich der häßliche Geruch überwinterter Kartoffeln dreinmengte. Da waren Lattenverschläge, er stolperte über Stufen, sah das Tageslicht, und plötzlich packten ihn zwei Fäuste und eine kräftige Stimme schrie:

»M'r haben ihn, Herr Direktor, jetzt strippst er uns keine Erdäpfel mehr, der Haderlump!«

Siegfried kam gar nicht zur Besinnung, Salmeles rote Hände zerrten ihn auf den Flur, und da kam auch schon Kolb die Treppe herab:

»Halt ihn fest, ich werde dem Halunken das Fell versohlen!«

Und dann eine andere helle Stimme:

»Ach Gott, Georg, tut ihm nichts, die paar Kartoffeln! Laßt ihn laufen, den armen Kerl!«

245 »Was, Madame, und wenn er Euch jetzt massakriert hätt, wo Ihr an ihm vorbei seid da unten!«

»Dummes Frauenzimmer,« schrie Siegfried wütend und riß sich los.

»Nanu, wen haben wir denn da!« rief Kolb und starrte ihn an, als traute er seinen Augen nicht.

»Jesses, der junge Herr!« krähte das Salmele.

Siegfried aber zog die Jacke glatt und bot Kläre, die mit dem Kind auf dem Arme verängstigt auf dem Treppenabsatz gestanden, mit linkischer Verbeugung den krampfhaft behüteten Schlüssel.

»Frau Direktor, Sie haben ihn stecken lassen,« sagte er und bemühte sich seine Stimme zu festigen.

Da lachte Kolb dröhnend auf, und das Salmele bekam einen roten Kopf.

Als aber Kolb zu ihr sagte: »Na, Salome, da hättest du gerade so gut deinen Schatz ans Licht ziehen können,« da fuhr es stumm, mit flammenden Backen die Treppe hinauf und ließ den Rahmtopf stehen, um den es in den Keller gegangen war.

Siegfried schnitt das Lachen tief ins Fleisch. Wie plump der Mann war, wie roh und lächerlich alles! Und sie stand rein, ruhig lächelnd, das Kind verlegen an die Brust ziehend, auf der Treppe, den hellen Tagesschein wie eine Glorie ums Haupt ergossen, und er rückte sich zusammen, antwortete ruhig auf Kolbs Fragen, woher und wohin und ging dann, von einem letzten Blick aus ihren Augen gestärkt, seines Weges.

»Sag mal, Kläre, der Bengel ist wohl verschossen in dich,« neckte Kolb seine Frau, als sie die Treppe 246 hinaufgingen, er mit dem Rahmtopf, sie den Jungen auf dem Arm.

»Wer weiß,« entgegnete sie leise, und ein zärtliches Gefühl zog durch ihre Brust, daß sie das Kind fester an sich drückte.

Da rief er halb im Ernst, halb im Scherz erbost:

»Du bist wohl verrückt!«

Und ein Rahmfleck sprang ihm auf die neue Krawatte und die schwarze Weste.

Sie waren schon in der Stube beim Mittagessen, als Kläre es bemerkte, und sie lief mit dem Serviettenzipfel hinzu:

»Aber, Schorschle, wie siehst du aus?«

Betroffen blickte er auf den Flecken und saß dann ganz still, ließ ihre schmalen Finger tupfen und reiben und sagte nur entschuldigend: »Wenn ich jetzt mein altes Zeug anhätte, wär's schnuppe. Das kommt davon, wenn du einem die zurechtgetragenen Sachen hinterm Rücken verklopfst und –«

»Du sahst zu greulich aus drin – so, jetzt ist er weg.«

Sie kehrte zu ihrem Platz zurück, zwischen ihnen stand ein Fliederstrauß. Er schob ihn jedesmal sachte beiseite, wenn er sich frisch aufschöpfte. Seit dem Tage, da Hansjürgen zu Ehren, der zum ersten Male wieder mitessen durfte, ein Strauß auf dem Tisch gestanden hatte, schwieg Kolb zu dem Flor und rückte bei jeder Mahlzeit mit einer gewissen Rücksicht die Vase wohl zehnmal hin und her, um sie nicht zu gefährden.

»Hat dir Doktor Ledermann schon erzählt, Georg?«

»Nee, was denn?«

247 »Die Stunden bei den Fräulein sind zu Ende.«

Und nun erzählte sie, sie vergaß das Essen darüber. Es war wieder ein buntes Bild ihrer Phantasie, das aus Ledermanns kurzem Bericht aufstieg wie ein funkelnder Springbrunnen aus stillem Wasser. Sie merkte gar nicht, daß ihre Wangen sich röteten, ein heftiger Drang ihre Adern klopfen machte, und erschrak, als Georg ihr plötzlich ins Wort fiel.

»Hat er dir gesagt, du sollst mir das so wiedererzählen?«

»Nein, das nicht,« entgegnete sie erstaunt.

»Na, also, so 'ne Indiskretion! Das ist ja blöde, dir so was zu erzählen, aber daß du's auch gleich weiterbringen mußt!«

Er fand kein Ende, es war ihm unangenehm, daß er es erfahren hatte, er haßte das. In solchen Jugendsimpeleien, und das war es doch, da kannte er sich nicht mehr aus. Was mußte er nun für ein Gesicht machen, wenn Ledermann ihm damit kam! Was ging ihn überhaupt die Sache offiziell an! Und so weiter und so weiter!

Als er den Stuhl zurückstieß und ohne auf den Kaffee zu warten ins Studierzimmer hinüberging, saß Kläre immer noch fassungslos, verständnislos an ihrem Platz. Was hatte sie denn getan? Sie sah ihm nach, er kam jetzt viel stattlicher daher, nicht mehr so salopp, denn sie hatte in den Sorgenwochen, als Hansjürgen krank lag und Georg in seiner Zerstreutheit und Kümmernis manchmal sogar den Schlips vergaß, angefangen für ihn mitzusorgen und eine stille Befriedigung darin gefunden, ihn zu kleiden. Und da war auch er sorgfältiger geworden 248 und hatte angefangen, seine Haare zu bürsten, sich öfter zu rasieren, und jetzt begegnete er ihr wieder so. Gewiß, es war ja töricht, jetzt an diese Äußerlichkeiten zu denken, aber sie konnte nun mal nicht anders.

Und als die Tür hinter ihm ins Schloß fuhr und der Luftzug ihr den ganzen Duft des Fliederstraußes ins Gesicht warf, da kam ihr alles wie unsinnige Kasteiung vor, sie sprang auf und lief ans Fenster und streckte die Arme aus im Überschwang, als könnte sie die freie Luft greifen und starrte in die Ferne, wo die blauen Berge mit silbernen Kuppen aus zartem Duft in den leuchtenden Himmel ragten. Bis Hansjürgen hustete und sein piepsiges Stimmchen vom Tisch her nach ihr rief. Das traf sie und löschte alles andere aus.

Und da streckte auch schon Georg den Kopf herein und fragte: »Fehlt dem Jungen was?«

Sie schüttelte den Kopf.

Am Nachmittag mußte sich Kolb zur Aufmerksamkeit zwingen beim Unterricht. Die Fenster standen offen, und war's auch nur die Gasse, es kam doch etwas wie Frühlingsluft herein. Die Spatzen hofierten einander zwischen den Gossen, daß man sein eigenes Wort kaum verstand. Ob Kläre schon ausgefahren war mit dem Jungen? Der Höpfner hatte auch ein Gesicht, blaß wie gerahmte Milch. Die Hände lagen schmal und still auf der Tischplatte. Er guckte zum Fenster hinaus. Wie Kolb das auffiel! Aber er hatte auch mächtig gehamstert, der Bengel, es war ihm nichts geschenkt worden, die Nachhilfstunden waren ihm gut bekommen. Ein Anruf schreckte ihn aus seinen Träumen.

249 »Na, Höpfner, Sie dösen ja! Ich dachte, das hätten wir glücklich überwunden.«

Es klang fast wie ein Lob, aber Siegfried fand es bitter. Unwillkürlich hatte er sich zurechtgerückt, so ganz Spannung und Sammlung, daß es ihn beinahe wie körperlicher Schmerz durchfuhr, als läge er im Geschirr, ein müder Gaul, über dem plötzlich die Peitsche pfeift. Aber sein Ehrgeiz war geweckt, er wollte sich nicht treiben lassen, am wenigsten von Kolb, zu dem er langsam Vertrauen gefaßt hatte.

In der Pause hielt Kolb ihn zurück:

»Warum gehen Sie eigentlich Ostern nicht nach Hause, Höpfner?«

»Ich hab es Herrn Doktor Winghoff angezeigt, daß mein Vater gewünscht hat, ich möchte hier bleiben. Er hat gerade die große Tour wegen der Steuerrückstände und die Abrechnung. Und nur an den Feiertagen – das wollte er nicht.«

»So, aber das Zeugnis hat ihm doch Spaß gemacht, was?«

»Ich glaube, ja.«

»Also grüßen Sie mir Ihren alten Herrn. Schade, daß er nicht mal in die Stadt kommt. Kaisers Geburtstag wäre doch die richtige Gelegenheit gewesen.«

Siegfried verbiß ein Lächeln. Sein Alter und Kaisers Geburtstag feiern in Dornkirch! ›Ich werde ihnen was blasen, hier draußen, wo sie mich hingesetzt haben, da feiere ich auch den Tag, an dem man das Schlittengeschirr anhängt. Es klingt viel reiner, wenn ich allein Hurra schrei. Sie sollen mir meine Ruh lassen, der 250 Gendarm kann's ja aufschreiben, daß ich nicht dabei war. Dem Pfarrer seine geheimen Konduiten sind auch nicht besser.‹ So hatte der Rentmeister schon mehr als einmal raisoniert und die Einladung zum Kaiseressen als Fidibus benutzt.

Aber das konnte er Kolb doch nicht erzählen. So schwieg er.

»Noch eins, Höpfner. Wenn Sie memorieren, so tun Sie das bei dem Wetter in Gottes freier Natur. Bis Dunkelwerden ist jetzt lang hin. Aber keine Poussagen, das bitt ich mir aus.«

»Herr Direktor!«

»Lassen Sie's gut sein. Man hat mir mal was von einem Christinchen erzählt. Und Verse machen Sie doch auch, was?«

»Das ist ja alles schon lange vorbei,« stieß Höpfner gequält heraus.

»Gut, gut,« beschwichtigte ihn Kolb. Der junge Mensch hatte etwas so Flehendes in den Augen, als wollte er ihm Konfidenzen machen. Da brach er lieber rasch ab. Eine gewisse Distanz mußte man doch wahren.

Als Kolb nach der Pause in die Wohnung hinaufstieg und das Salmele nach Kläre fragte, wurde ihm Bescheid, daß die Frau mit dem Jungen ins Wäldchen gegangen sei. Da unterlag er in einem kurzen Kampfe mit dem Schulmeister und nutzte die freie Stunde, um sie zu suchen. Er fand sie auf dem Aussichtsbänkchen. Allein mit dem Kind.

Es hing schon ein hellgrüner Schleier an den Buchen, irgendwo blühten Veilchen, Kläre hatte die Hände voll 251 der blauen Büschel. In Haurys Park stand ein weißer Magnolienbaum in steifer fremdländischer Pracht, und drüben auf dem Brachland ging ein Bauer hinter dem Pflug. Der Frühling löste einem die Glieder. Kolb schleppte Blei an den Sohlen.

Kläre hatte seine Tritte nicht gehört auf dem weichen Waldboden. Sie dachte an Ledermann und was er ihr erzählt hatte und malte sich aus, wie es hätte kommen können, und suchte sich Marthe Haury, die sie nie in der Nähe gesehen hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Und da fühlte sie sich auf einmal wieder so untätig, so geführt und geschulmeistert, so abgetan und arm, nichts, was sie reizte, was ihr zeigte, daß sie auch lebte, – und fühlte doch ein Drängen und Dehnen in der Brust, wie früher, vor drei, vier Jahren, als sie noch in Ladenburg saß und der Vater und Onkel Georg stundenlang fachsimpelten und politisierten und sie allein durch den Seminargarten und von Tante zu Tante strich, ruhelos und so erwartungsvoll, mit klopfenden Pulsen, als müßte etwas Großes in ihr und um sie her geschehen; bis sie es gelernt hatte die Zeit verzetteln und vertun.

So weit ab war sie gewesen in ihren Gedanken, daß sie bei Kolbs Erscheinen, er stand plötzlich vor ihr, unwillkürlich dachte: ›wo kommt denn Onkel Georg auf einmal her?‹

Aber dann lachte sie leise, es war zu komisch gewesen, diese Verwechslung zwischen damals und heute, und blickte ihn an mit schwimmenden Augen und durstigen Lippen und spürte schon den Kuß, den sie von ihm erwartete. Ihre Schultern sanken zurück.

252 »Aber Kläre, wie lange sitzt ihr denn schon hier, es ist ja fürchterlich feucht. Das ist ja ein wahres Glück, daß ich dazwischen komme. Wenn der Junge sich nur noch nichts geholt hat. Du wirst auch nie gescheit.«

Als er sie von weitem gesehen hatte, da war er schneller und leiser ausgeschritten, er hatte sie überraschen, sie auf das süße Mäulchen küssen wollen, aber im Näherkommen war ihm das andere dazwischen geraten, und aus dem Kusse wurde eine Standrede.

Da sprang Kläre Kolb wie von Federn geschnellt in die Höhe.

»Schon wieder eine Predigt! Nun hab ich's aber satt, du, du Dickkopf du!«

Sprach's mit brennenden Lippen und schwarzen Augen, riß ihren Jungen in die Arme und lief an ihm vorbei den moorigen Pfad entlang, eine Wolke blauer Veilchen verschüttend, die dem verdutzten, mehr fassungslos erstaunten als in seiner Würde gekränkten Gemahl anmutig den Rückweg bestreuten. Jetzt kam er zu Atem und rief hinter ihr drein:

»Kläre, was bietest du mir! Kläre, so höre doch, das ist ja verrückt, so dahinzurasen, na, zum Donnerwetter, so laß mir wenigstens den Jungen da.«

Es fruchtete alles nichts. Schon schlugen die nackten Haselstauden zwischen ihr und ihm zusammen, und Hansjürgens jauchzendes Lachen über die lustige Flucht und Papas Dahintenbleiben klang ferner und schwächer durch den hellen, warmen Frühlingstag. Er hatte das Spiel verloren.

Als er nach Hause kam, war Klärens Zorn schon lange 253 verraucht, sie hatte über seine Blödheit lachen gelernt und machte sich sogar ein wenig Vorwürfe, denn es war wirklich leichtsinnig gewesen sich mit dem Kind ins Wäldchen zu setzen, aber Kolb war im ›Schwarzen Lamm‹ eingekehrt, hatte dort eine Stunde in sich hineingebrütet, einsam ein paar Gläser Riesling getrunken und biß sich nun in ein mürrisches Schweigen fest. Es war ein Rückfall, er wußte es genau, aber er brachte es nicht über sich, ihr freundlich zu begegnen oder ihr den Text zu lesen. Er hatte das fatale Gefühl, sich irgend eine Blöße gegeben zu haben. Nur über das Warum und Wieso war er sich noch nicht klar geworden. Als ihm beim Arbeiten das Schlipsende über das Papier strich, riß er das Band wütend ab. Verdammter Firlefanz, auch ein Opfer, das er der Frau gebracht hatte!

Am andern Tag erschien Doktor Ledermann bei ihm zu einer privaten Unterredung. Die verdarb ihm nun vollends die Stimmung, und als Kläre nach Tisch ein Billett von Frau von Wernecke erhielt, wagte sie es gar nicht zu zeigen. Und doch brannten ihr beim Lesen die Backen.

Sie hatte halb gefürchtet, halb gehofft, daß sie nichts mehr an Ernst Haury erinnern werde, aber trotzdem war es ihr immer gewesen, als suchte er nach einem Wege, sich ihr wieder zu nähern. Wenn sie ihm zufällig einmal begegnet war, hatte sie es aus seinem Gruße herausgefühlt, und als er sich nach Hansjürgens Befinden erkundigen kam, hatte sie ihn nicht angenommen, weil sie gerade damals so stark die Empfindung gehabt hatte, er käme nicht aus Teilnahme, sondern um sie wiederzusehen. Als er seinen Besuch Georg gegenüber damit begründet 254 hatte, daß er sich durch sein Dazwischentreten am Schlittenberglein mit engagiert fühle, da war ihr das nur noch peinlicher gewesen.

Eine Zeitlang drehte sie das Papier unruhig in den Händen. Endlich sagte sie:

»Georg, Frau von Wernecke hat geschrieben. Du erinnerst dich doch noch an die Geschichte mit der Badeanstalt? Und denk mal, Herr Haury hat den Kreisdirektor gebeten den Platz dafür hergeben zu dürfen. Und Frau von Wernecke und ich, wir sollen ihn morgen ansehen gehen.«

»Quatsch,« brummte Kolb und las weiter in der ›Täglichen Rundschau‹.

Da fuhr Kläre fort:

»Weißt du, eigentlich bin ich schuld an dem Quatsch. Aber jetzt werd ich wohl hingehen müssen, da Herr Haury uns ausdrücklich einladet.«

»Uns? Mich nicht! Du kannst ja gehen, hast überhaupt deinen Kopf für dich. Nur den Jungen läßt du mir hier, verstanden!«

Zweimal hatte sie ihm Haurys Namen hingeworfen, und geglaubt, er ahne, daß sie ihn reizen wolle, aber sein Phlegma verdroß sie noch mehr als seine Anspielungen. Das Kind, ja, das hatte er von ihr hegen gelernt, aber sie selbst –

»Also gut, ich werde dich bei den Herrschaften entschuldigen.«

Sie stand auf und ging hinaus.

Er starrte auf die Zeitung, wo alles durcheinanderlief. Nur ruhig bleiben, er konnte ihr doch nicht zeigen, daß 255 er sich nicht zu helfen wußte, seit sie selbständiger zu werden begann. Als er allein war, ließ er das Blatt sinken. Sie pochte wohl auf das gute Zeugnis, das ihr Habermeier vor zwei Monaten gegeben hatte! Er kannte das von der Schule her, da waren auch so Kerle, die glaubten, sich noch jahrelang allerlei erlauben zu dürfen, weil sie mal eine gute Zensur erwischt hatten. Wenn ihm der Junge damals gestorben wäre! Und ihr erst! Er hing ja an beiden, aber sie, sie war doch am Ende nur durch das Kind seine Frau.

Sein Blick ging über den Tisch. Da lag die ›Gartenlaube‹. Kläre las die Romane wie nur eine, aber er wußte, daß sie auch ernstere Sachen las, sie hatte ja treffliche Anlagen, es flog ihr nur alles so an, wenn sie nur nicht wie Wasser gewesen wäre in seinen Händen, das zwischen den Fingern wieder herausfließt. Eine unverstandene Frau? Unsinn! Es war etwas anderes. Sie liebte ihn nicht, er war zu alt, nun ja, es war ja eine Verrücktheit gewesen, – nein, dreimal nein, es war keine Verrücktheit, er sprang auf – und ging ans Fenster. Der Pariser Expreß kam wieder aus der Senke, schwarz mit einem tollen, weißen Rauchwirbel über der Lokomotive. Der kugelte sich noch lange auf den Gleisen, als der Zug schon die Kurve vor dem Niveauübergang der Kerzener Straße genommen hatte und hinter den Häusern der Vorstadt verschwunden war.

Die Frühlingsluft schlug herein. In der Nacht war ein Regen niedergegangen, und doch war gestern und heute Sonne, Regen aus heiterem Himmel. Da waren die Blättchen aus den Linden gesprungen, die Hecken grün 256 geworden, und in den Rebgärten waren die Pfirsichbäume rosig aufgeblüht. Ein schmutziger Kastenwagen kam die Straße herab, hinterher trottete der Fuhrmann, eine Hucke auf dem Rücken. Zuweilen platschte ein brauner Schutt aus dem randvollen Gefährt auf den Boden. Kolb riß schnell die Fensterflügel zusammen bei dem Stank, aber Teufel noch mal, auch das gehörte dazu – es war Frühling draußen, und er, er war ein Esel, daß er die Kläre gestern nicht fest auf den Mund geküßt hatte, statt ihr eine Rede zu halten, draußen im knospenden Walde.

Er ging ihr nach, aber sie stand bei dem Salmele in der Küche und tat, als bemerkte sie ihn nicht. Da rief er ihr zu: »Also geh nur zu dem Dings da und macht meinetwegen einen Badkasten zurecht, so klein ihr wollt, ich brauch ja nicht drin zu baden, wenn's nicht befohlen wird! In unsrer Waschküche ist's auch ganz nett. Was, Kläre?«

Aber sein jovialer Ton fand kein Echo, nur ein zartes Rot lief ihr über den Hals, als er von der Waschküche sprach. Weil er immer Wache stehen mußte, bis sie gebadet hatte in dem dunklen Gewölbe, aus Furcht, es könnte ihr etwas geschehen dort unten.

So ging sie denn am andern Tage allein in die Präfektur und dann mit dem Kreisdirektor und Frau von Wernecke durch das Tor, wo der alte Vogel Posten stand und sich den Buckel wärmte in der Sonne und zum Erbarmen hinfällig aussah in der schlotternden Uniform. Zwischen den Hecken hinab auf dem Richtweg, der vom Lindenwall in die Vorstadt und an die alte Brücke führte, 257 kam Kläre in Schuß und lief und war die erste unten auf der Aslacher Straße.

»Sie können's wohl nicht erwarten, Frau Direktor,« scherzte Wernecke.

Da wurde sie verlegen.

»Mir ist nur der Frühling in die Beine gekommen,« entgegnete sie.

Frau von Wernecke zuckte ein wenig bei den Worten.

Wernecke aber lachte.

»Wie wird Ihnen da erst am Maitag zumute werden, wenn dort drüben im ›Rosengarten‹ getanzt wird?«

Er wies über die Brücke die Kerzener Straße hinaus. Durch das wellige Land lief sie von der Eisenbahn überquert auf ein Hügelchen zu, das grün umbuscht den Wirtshof ›Zum Rosengarten‹ versteckte. Man sah nur etwas dunkles Massiges im lichten Gesprenkel von Gold und Grün.

»Ach ja, das muß herrlich sein. Da ist ja alles draußen, nicht wahr?«

»Eine alte Sitte, und ansehen müssen Sie sich's jedenfalls. Wer am Maitag im Rosengarten tanzt und tut einen Sou in den Strumpf, der hat Geld das ganze Jahr, sagen die Dornkircher.«

»Einen Sou in den Strumpf?«

Kläre freute sich darüber.

Frau von Wernecke machte längere Schritte.

»Es wird auch sehr ausgelassen spät in der Nacht,« sagte sie nach einer Weile, als sie schon an der Fabrik vorbeigingen.

»Herr Haury,« mahnte Wernecke leise und grüßte.

258 Haury hatte am Hoftor gewartet. Nun gingen sie die Straße entlang, bis sie ins Freie kamen. Vom Berg zu ihrer Linken stiegen die Obstbäume herab, mit Knospen dicht besteckt, ein paar hatten schon angefangen zu blühen.

»Haben die Damen sich vorgesehen? Die Wiese ist sehr feucht,« fragte Haury.

Frau von Wernecke hob die Säume kaum und schritt ruhig ins perlende Gras. Kläre machte ein unglückliches Gesicht, sie hatte ihre leichtesten Schuhe an. Die Herren sahen lächelnd auf ihre kleinen Füße. Als sie mutig in die Feuchte treten wollte, hielt Haury sie zurück.

»Pardon, Madame, meine Töchter, die sich sehr freuen, die Damen später bei uns zu begrüßen, haben daran gedacht. Eigentlich hätte ich Sie vorher müssen aufmerksam machen. Mais mieux vaut tard que jamais.«

Und er winkte dem Diener, der mit einem Paket hinter ihnen hergeschritten war, und brachte daraus ein paar Galoschen hervor, die er vor Kläre auf den Straßenbord stellte.

Frau von Wernecke stand schon mitten in der Wiese. Beide Herren aber bemühten sich Kläre in die Gummischuhe zu helfen, und erst als Wernecke seine Frau stumm, mit einem ironischen Lächeln im Gras stehen sah, kam ihm sein Versäumnis zu Bewußtsein.

»Aber Lisbeth, du wirst dich erkälten! Erlaube mal rasch!«

Er riß dem Diener das zweite Paar aus der Hand.

Frau von Wernecke aber schüttelte immer noch lächelnd den Kopf.

»Nein, laß nur, Fritz, ich habe ordentliches 259 Schuhzeug angezogen, und die Dinger sind mir ja doch zu klein.«

Das sagte sie so einfach, daß Kläre sich fast schämte und nun hastig weg zu ihr hinlief.

Der Fabrikant war von ausgezeichneter Höflichkeit, selbst Lisbeths reservierte und beobachtende Haltung verlor allgemach an Schärfe der Linien. Und mit unbegrenztem Entgegenkommen stellte er Wasser und Land zur Verfügung. Er wollte das Kanalbett verbreitern lassen, wenn es nötig sei, und hatte sogar schon Pläne in der Tasche, die von einem Zimmermeister entworfen waren.

Als er mit Frau von Wernecke, die nun ganz in Eifer geraten war, voranschritt, sagte der Kreisdirektor zu Kläre:

»Ich kenne den Mann gar nicht wieder. Oder ich habe ihn vielmehr noch gar nicht gekannt. Der geht ja mächtig ins Zeug. Und notabene für uns. Denn ihm ist's eigentlich egal. Er baut gerade dort drüben beim Güterschuppen sechs neue Arbeiterhäuser, ist überhaupt ein sehr praktischer Geschäftsmann, aber daß er's für uns tut und pour le roi de Prusse, das ist neu.«

Wernecke hatte etwas laut gesprochen, denn sie waren am Ausfluß des Kanals angelangt, und das Wasser brauste. Haury hatte die französischen, hart betonten Worte aufgefangen. Auch Lisbeth hatte sie verstanden.

Da wandte er sich um.

»Ich glaube, Sie wundern sich, daß ich das pour le roi de Prusse tue, Herr Kreisdirektor?«

»Bitte, ich bewundere, Herr Haury.«

»Nein, nein, so ist es nicht. Madame Kolb hat mir einmal davon erzählt, das hat mich engagiert, und es 260 kommt doch allen zugut. Ich nehme mir die Freiheit und mache die Damen zu Patronessen.«

Daraufhin mußten ihm Lisbeth und Kläre die Hand geben. Das ging nicht anders. Sie schritten über den Steg und durch den wilden Garten, den der Verwalter der Spinnerei am Ufer angelegt hatte, und kamen in den Fabrikhof. Hier stand die Kutsche, und Madame Elvire, Haurys Schwester erhob sich aus den Kissen und bat die Damen, sie zu einer Tasse Tee in die Villa Haury zu begleiten.

Frau von Wernecke fragte ihren Mann mit den Augen, was zu tun sei, aber sie hatten beide das Gefühl, daß Ablehnen jetzt nicht mehr ging. So stiegen sie ein. Die Herren verabschiedeten sich.

Am Abend kam Kläre mit roten Backen nach Hause.

Georg saß bei seinem Jungen und sagte gerade: »Na, nun noch mal hoch,« und Hansjürgen hatte ein leeres Glas in der Hand und hielt es krampfhaft in die Höhe und schrie ›Hoch‹, als Kläre ins Zimmer trat.

»Das hat lange gedauert,« begrüßte Kolb seine Frau. Es war diesmal kein Vorwurf, nur eine harmlose Feststellung, aber Kläre, noch umfangen von der Stimmung des Tages, spürte einen Tadel, wo keiner war, und gab keine andere Antwort als ein Ja. Sie erzählte auch nichts, und er mußte fragen, was er wissen wollte. Und sie, der sonst die Einbildungskraft von selbst gehorchte, fand keine Worte. Was sie sagte, war nur das Notdürftigste. Daß Kläre bei den Damen Haurys gewesen war, verdroß Kolb, aber er ließ es sich nicht merken.

Kläre brachte Hansjürgen zu Bett. Das Schlafzimmer, 261 wo sie mit dem Kind noch immer allein schlief, kam ihr fremd und leer vor, so ärmlich alles, und hart klang ihr Schritt auf der nackten Diele. Sie schlief schlecht, der süße Wein, den sie auf den Tee getrunken hatten im Wintergarten unter den Azaleen, gaukelte in ihrem Blut, und als sie noch einmal aufstand, um das Fenster zu öffnen und ein lauer Regen ihren blanken Arm streifte, war's ihr wie das Streicheln einer fremden Hand. Es war eine Nacht der Träume.

Die nächsten Tage trieb Kläre in lebhaftem Wirbel. Hansjürgen war mit dem Frühling rundlicher geworden, der Lebertran war verabschiedet, der Husten verschwand, er füllte ihre Gedanken nicht mehr aus. Frau von Wernecke holte sie ab, Haury sandte ihr Pläne und Blumen. Wo es galt Praktisches festzulegen, entschied Frau von Wernecke, Kläre tat den Schmuck dazu. Und immer näher kam sie den Bewohnern der Villa, sie sah sich in einem bewegten Leben, sie galt etwas, selbst Frau von Wernecke trat hinter ihr zurück. Ihre Empfänglichkeit, ihre hingebende Natur schwelgten in den ungewohnten Reizen, die, so klein sie auch waren, ihr ganzes Wesen erfüllten. Haury hielt sich in den gesellschaftlichen Grenzen, aber sie fühlte, daß er sich Gewalt antat, und die Herrschaft, die sie über ihn ausübte, gab ihr etwas Freies und Kühnes.

Drei Tage hatten Wind und Wolken sich im Tal getummelt, dann ruhte wieder der blaue Himmel auf den Bergen, und die Kirschblüten schwebten vom Rücken des Hügels herab auf das Städtchen.

Georg Kolb sah seine Frau sich immer weiter entfernen. 262 Sie hatte nicht mehr Zeit für ihn, sie war zerstreut, blieb kalt, wenn ihn wieder einmal der Schulmeisterkoller packte, schürzte die Lippen und übersah ihn. Als er sie eines Abends fragte, ob sie über die Feiertage nach Ladenburg fahren wolle, hatte sie leichthin abgelehnt. Und dabei hatte er sich den Kopf zerbrochen, womit er sie wieder an sich reißen könne, und es war ihm nichts eingefallen als diese Reise nach Ladenburg. Das Salmele kam zu ihm, wenn es Geld brauchte. Die Madame schicke es. Da gab er stillschweigend. Aber einmal kam Frau Eisenreiter und fand Kläre nicht zu Hause. Kolb war ihr bisher immer ausgewichen, denn er hatte sich fest vorgenommen, Eisenreiter die Pensionierung nahezulegen, aber diesmal trieb es ihn zu ihr. Und er sagte ihr, daß seine Frau sehr bedauern werde, nicht zu Hause gewesen zu sein. Aber als die alte Dame antwortete: »Gott, lieber Herr Direktor, eine junge Frau kann doch nicht immer zu Hause sitzen, lassen Sie ihr nur den Frühling,« da war er wütend nach kurzem Abschied in sein Zimmer gerannt. Und dann von einem Zimmer ins andere. Er suchte Kläre in allen Räumen, wieder kam ihm der wahnsinnige Gedanke, sie sei fort, für immer fort, und er nahm seinen Hut und lief ins Freie. Osterferientage, aber sie freuten ihn nicht. Wenn er nachts im Bett lag, warf er seine Gedanken wild durcheinander.

Da kam auch noch Winghoff, der sich sonst so einspann, der in seinem Junggesellenheim hockte und die Welt nur durchs Fenster sah, und teilte ihm mit, daß Siegfried Höpfner mit einem Mädel gesehen worden sei im Wäldchen.

263 »Ich dachte mir, daß es nicht hielte, Herr Direktor, der junge Mensch hat keine Grundsätze, er verdirbt uns die ganze Schule. In so einem Nest, und wie stehen wir der Kirche gegenüber da! Die Spatzen pfeifen es von den Dächern.«

»Es wird viel geschwätzt, und dann, daß er spazieren gehen soll, hab ich ihm selbst gesagt. Ich glaub's nicht recht. Aber Sie können ihm ja ein bißchen auf den Weg passen.«

»Ja, ich glaube, das wird angezeigt sein. Wir wollen nicht vergessen, daß jetzt Liebe und Triebe sich von selbst reimt. Solvitur acris hiems grata vice veris et favoni.«

Die Verse des Horaz liefen Kolb den ganzen Tag nach, und als es Abend wurde, Hansjürgen schlafen gegangen war, sagte er zu Kläre, die über einem Roman saß:

»Komm, wir machen noch einen Spaziergang.«

»Und dein Stammtisch?«

»Den kann ich alle Tage haben.«

,.Der heilige Stammtisch?«

»Kläre, was soll das?«

»Was denn, Georg?«

»Kläre, ich bitte dich.«

Er war auf sie zugetreten, sie bog sich zurück, entwand sich ihm und stand auf.

Da ließ er ab von ihr und ging auf sein Zimmer. Immer wieder die Verse! Höpfner hatte gerade diese Ode so flott übersetzt in deutsche Strophen, er hatte die Übersetzung irgendwo hier liegen und machte sich daran, sie zu suchen, nur um etwas zu tun zu haben. Das 264 Kontokorrentbüchlein auf die Caisse d'épargne du Haut-Rhin fiel ihm in die Hände – noch fünfhundertsechzig Mark – er warf es beiseite. Die Photographie Kläres mit dem Jungen, kurz nach der Krankheit. Das reine Madonnenbildchen. Er suchte nicht weiter. Das Kind glich der Mutter, nur die Stirn und die Augenbrauen, die waren von Brettschneider. »Ja, die Kläre, das ist ein richtiges Frauenzimmer, oberflächlich, wenn man in sie hineinsieht, und tritt man dann ins Wasser, schlägt's einem über dem Kopf zusammen.« Wo der Mann die Weisheit hergehabt hatte! Oberfläche alles, glänzende, spiegelnde Fläche, das mit dem Jungen, das war ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen, kein Verdienst. Solange es um Leben und Sterben ging, war es ihr bang gewesen, jetzt lag alles hinter ihr.

Auf einmal stand er auf und ging wieder hinüber. Sie war im Schlafzimmer und flocht sich das Haar. Er rief sie heraus.

»Was willst du? Ich habe eine halbe Stunde gewartet auf dich. Jetzt ist's mir zu spät geworden.«

Sie hatte gewartet? Aber er blieb bei seinem Vorhaben, setzte sich und zog sie an den Händen heran. So hatte er es sich ausgedacht.

»Kläre, nun wollen wir mal ganz vernünftig reden. Sieh mal, als ich das Kommissariat hier bekam, da waren wir beide froh. Du warst ein bißchen stolz auf die Beförderung und maltest dir das Dornkirch in allen Farben aus, ich sah etwas zu schaffen vor mir, und ich war froh, dich dort fortzukriegen. Und dann der Junge! Nun sag mir mal, aber aufrichtig, Kläre, warum stemmst 265 du dich gegen mich? Ich mach's dir doch nicht schwer, ich halt ja deiner Jugend so viel zugute, ich hab ja nur meinen Beruf und euch beide. Aber das sind doch Pflichten. Ich bin doch verantwortlich für euch mit.«

»Ja, was willst du denn eigentlich?«

Endlich war sie zu Wort gekommen, aber etwas anderes wußte sie nicht zu sagen, nur dumpf im Innern ein Trotz, ein Wehren, das noch nicht laut werden konnte.

Georg Kolb hielt ihre kalten Finger krampfhaft fest. Den Zwischenruf ließ er unbeachtet.

»Warum stemmst du dich gegen mich?« wiederholte er hartnäckig.

Kläre, mit ihren Zöpfen und im weißen Unterrock, wie ein Schulmädchen, wußte noch immer nicht, warum das alles. Sie hatte vorhin schon sagen wollen, ich stemm mich doch gar nicht, aber als er sie wie ein Inquisitor anfunkelte mit den Brillengläsern und sie vor sich stehen ließ wie ein Schulfratz, da glaubte sie auf einmal selbst, daß sie sich stemmte, stemmen müßte, und sah, daß er alt war, machte ihn noch älter, vergaß, daß sie ihm das Kind geboren hatte und sich schon manchmal an seine Brust gekuschelt hatte, und antwortete trotzig:

»Weil du mir alles verleidest.«

»Ich, was tu ich?«

Weg war der Schulmeister, die Überlegenheit und Güte, er hatte ihre Hände losgelassen und war aufgesprungen. Und plötzlich mit einem Griff die Brille abreißend, daß seine kurzsichtigen Augen wie durch einen Schleier blickten, Gesicht gegen Gesicht, packte er sie an den Schultern und flüsterte heiser noch einmal: »Was tu ich dir?«

266 »Du verleidest mir alles, du gehst mit mir um, wie wenn ich ein Schulkind wär. Du hast gar keine Frau, ein Ding hast du, das du schleifst und polierst, mein Schulmeister bist du, so, jetzt weißt du's.«

»Und du, du lügst mich an? Nicht einmal haushalten kannst du!«

»Ja, ich lüg dich an. Das tun die Schulkinder alle. Das ist Notwehr.«

»Kläre!«

»Schlagen willst du mich!«

Als er die Hand gehoben hatte im blinden, wütenden Schmerz, da war sie weiß wie ihr Kleid zurückgeprallt, und jetzt lachte sie wild heraus.

»Schlagen!« und wie der Wind war sie hinüber ins Schlafzimmer, riß Hansjürgen aus dem Bett, warf die Decke um ihn und kam wieder zurück.

»Kläre, wo willst du hin?«

Und wieder hob er die Hand.

Das Kind blickte aufgestört um sich, als es den Vater die Hand heben sah, streckte es verängstigt, gelehrig sein kleines Ärmchen auch in die Höhe und schrie einmal, zweimal, unaufhörlich das Sprüchlein, das er ihm eingetrichtert hatte: »Hoch, Bimack hoch, Bimack hoch!«

Da fuhr ein kalter Schrecken durch Kolbs erhitztes Hirn. Die erhobene Hand fiel ihm herab, er starrte auf das verängstigte Kind auf dem Arm der blassen Frau, und aus dem Heil auf Bismarck, das da verstümmelt klang, tönte ihm etwas entgegen, das ihn verstummen ließ und verurteilte.

Unwillkürlich wich er zur Seite.

267 Kläre wollte zur Türe gehen und wollte doch nicht. Als sie den Schrecken, die Qual in Georgs Gesicht, in den glänzenden Augen gesehen hatte, war sie unsicher geworden. Und jetzt faßte sie Hansjürgens erhobenen Arm und zog ihn herab und sagte leise:

»Ja, ja, du kannst's ja. Papa ist ja ganz lieb. Hör auf, nicht mehr, hör jetzt auf.«

Da fing das Kind an zu weinen.

»Dodo machen, Bubi Dodo machen,« schluchzte er.

Und Kläre drehte sich um und trug ihn zurück in sein warmes Bett. Die Türe blieb offen. Als der Kleine aufhörte zu schluchzen, ging Kolb leise in sein Zimmer. Er horchte die halbe Nacht. Aber Kläre verließ die Wohnung nicht. Sie lag in den Unterkleidern auf dem Bett, und das Salmele hatte sich auf das Sofa im Wohnzimmer betten müssen. Als Kolb um ein Uhr hinüberschlich, um zu sehen, wie es ging und stand, erfüllte die Magd das Zimmer mit ihrem Schnarchen. Da fuhr er erschreckt zurück, Kläre war noch da, aber sie hatte Schutz gesucht vor ihm. Das war das Ende. 268

 


 


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