Hermann Stegemann
Die als Opfer fallen
Hermann Stegemann

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XI.

Mit dem Maitag war die Sonne wiedergekommen. Das Lenzgewitter hatte die Gassen und den Himmel blank gefegt. Die Dächer dampften, verwaschne Blütenblätter lagen zu Haufen geschwemmt in den Rinnsalen, gelb lief der Fluß, und grün blitzten Feld und Halde.

Bauernwagen mit zottigen Gäulen, Lehmklumpen an den haarigen Fesseln, Schweißstriemen am Bauch, klapperten über das Pflaster. Im Basar Sinniger war Kommen und Gehen, und Amélie saß hinter dem Ladentisch und strich das Geld in den Kasten. Ihre Füße waren seit ein paar Tagen dick angeschwollen, Teigkißlein schwappten um ihre Kniee, aber an der Kasse saß sie gut, wenn nur eine andere sprang und bediente. Auf der Stiege stampften schwere Schuhe, der Notar hockte hinter einem Verschlag und kontrollierte die Sparhefte, von denen abgehoben wurde. Ferdinand stand am Schalter und zählte das Geld auf. Heute abend kam einer aus Straßburg und löste ihn ab.

Als es zwölf Uhr schlug, schloß er die Kasse. Der Notar nahm die Schlüssel.

»In meiner Etude wird ein sauberer Haufen Klienten 336 sein,« sagte er, als er sich durch das Türlein in den Schalterraum zwängte.

Sinniger antwortete nicht.

»Ecoutez, Ferdinand, wollt Ihr's nicht allein machen heut nachmittag?«

»Nein.«

»So ruft Euren beau-père, ich sitz Euch nicht mehr auf den Daumen.«

Der Nandi lachte bitter.

»Tut Ihr's nicht, bleibt nur der Zettel an der Tür: La caisse est fermée. Dann rennen sie sie mit den Deichseln ein. Ihr müßt dabei sein. Morgen, wenn ich's ab hab, ist ander Wetter.«

»Ihr glöckelt mit dem Kopf, bis er Euch verspringt. Es ist ja alles regliert, Sapperlot!«

»Ja, regliert! – Ah, je m'en fiche. Ich emigrier. Meint Ihr, ich laß jetzt auf mir herumtrampen.«

»Ja, aber Nandi, es trampt ja keiner.«

»Nein, die an die Caisse kommen und das ganze Städtle nicht. Denen bin ich noch der Alte. Aber Ihr, der Schicklé, der Brunschwig und auch der, wo mir in die Suppe gespeit hat, der Haury!«

»Ferdinand, Ihr fallt jetzt wieder zum andern Loch hinaus. Wir sind alle keine Heiligen. Und es kann jeden einmal zwicken. Ihr habt die Frauenzimmer für Euch, das ist Eure force. Wartet noch mit dem Emigrieren. Sie kommen doch noch, die roten Hosen.«

»Schweigt mir von denen, wenn zu Paris nicht am letzten März der Krach gewesen wäre an der bourse, hätt ich heut eine fortune im Sack, und Ihr könntet mir –«

337 »Voyons, Nandi, trève de compliments,« gurgelte Ramspacher und schlurfte hinaus.

Unten im Flur begegnete er der Frau. Er klopfte ihr mit den speckigen Fingern auf die magere Backe.

»Ihr müßt Euch menagieren, Madame Amélie.«

Sie litt seine Liebkosung und verbarg die widrige Empfindung, die ihr seine Finger verursacht hatten. Aber lächeln konnte sie nicht. Seit der Notar dagewesen war und alles geordnet schien, ging sie wie taub und stumm einher, nur im Laden und bei den Kindern wurde sie noch lebendig. Sonst war's ihr, als fehlte ihr etwas. Die Angst und die Last waren ihr vom Herzen, aber jetzt kam sie sich unnütz vor und als hätte sie etwas verloren, das sie wiedergewinnen müßte.

Der Notar hatte das Haus verlassen, sie saßen am Mittagstisch. Die Buben lärmten in den Suppentellern, Amélie konnte nicht essen, Ferdinand wußte nicht, was er aß. Dann gingen die Kinder vom Tisch. Eine Zigarette rollend wiegte Ferdinand den Stuhl auf zwei Beinen und starrte ins Leere.

Da fragte sie leise:

»Gehst du nicht ins Café? du bist gestern schon nicht.«

»Ins Café, zu denen! Ich! Non.«

»Nandi, was ist denn? Du hast deine fortune und dein Frauengut verloren. Das gibt's alle Tage. Du bist ja kein Schelm. Die Caisse ist en règle. Die Depots sind ja alle da. Du hast vergessen, einzuschreiben – voilà tout.

Er verschüttete seinen Tabak und fragte unsicher, aber mit einem helleren Blick in den übernächtigen Augen:

338 »Comment? Vergessen? Ja, und das, was der Vater ihnen gesagt hat?«

»Der Vater! Daß du eine große perte gehabt hast. Wer spielt denn nicht an der Börse! Und wenn du chance gehabt hättest, was wäre dann gewesen!«

»Ich hab chance gehabt« – er schlug auf den Tisch – »drei, vier Jahre lang. Und der Ramspacher hat mich felizitiert und flattiert, und wir haben bezigue gespielt, ein Napoleon die Karte, der Apotheker und der Maire und der Haury! Nundedie, du hast recht, sie ist en règle, meine Kasse. Und ich fütier mich drum, was sie sagen! Der Cousin Schicklé, der nicht einmal die ›Fanfare‹ hat salvieren können, wo das Gouvernement ihr an den Kragen ist, der den Buckel krumm macht mit seinem Gemeinderat! Ah, den Gemeinderat, den bin ich los, das hat mir gewohlet! Und der Haury, der jeden Tag das Schuheisen putzt an der Kreisdirektion und ihnen eine Schwimmschule baut, der seinen Fabriklern das Blut abzapft und jetzt der kleinen Madame Kolb am Leintuch zieht! T'as raison, Amélie, es hat Jeder seinen Dreck am Stecken.«

Sie erschrak.

»Nandi, du trumpierst dich. Voyons, Nandi, so hab ich's nicht gemeint.«

Er war aufgestanden, hörte nicht und warf den Arm in die Höhe, reckte die Brust und rief:

»Sie sollen's doch probieren! Sie sollen's ausschellen lassen im Städtle, was gilt's, es geht keiner dem Nandi Sinniger ins Gras. Präsident der ›Fanfare‹ wär ich heut, und morgen bin ich Pompierkommandant, ich brauch 339 nur zu niesen. Und der Vogel, dem ich hundert Mark gegeben hab und die Hypotheken, wo ich ihnen auf ihre Baracken gestellt hab, und das Geld, das ich der Caisse nach Straßburg hinuntergeschickt! ›Des affaires comme un Rotschild‹ hat er gesagt, ah, sacré nom de nom, sie sollen's doch probieren! Und emigrieren soll ich! Ah nenni, que diable!«

»Wer sagt das!« stieß sie angstvoll hervor.

»Wer? der Ramspacher, der Lackel! Sie sollen mir in die Schuh blasen! J'y suis, j'y reste.«

Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte, schenkte sich dann das Glas voll und stürzte es hinunter.

»Nandi, du blaguierst wieder,« sprach die Frau leise, aber er achtete nicht darauf.

»Ich geh ins Café, um zwei mach ich die Caisse auf, au revoir.«

Als er schon die Klinke in der Hand hatte, hielt ihn ihre Stimme noch einmal fest.

»Und mit dem Phinele, Ferdinand, mit dem hast auch noch nicht geredet.«

»Mit dem Phinele!« stotterte er und stand unschlüssig.

»Ja, wegen den zwanzigtausend Livres. Du mußt ihm doch merci sagen. Die Caisse war leer, wenn du sie nicht drin hättest.«

Er schmeckte die Bitterkeit nicht aus ihren Worten und fuhr sich ratlos durch die Haare.

»Ja, das Phinele,« murmelte er.

»Hast Angst vor ihm oder schämt's dich an, daß du das Geld hast von ihm?« fragte sie.

Er zuckte zusammen.

340 »Angst, allez donc!«

Auf die zweite Frage antwortete er nicht. Plötzlich öffnete er die Tür.

»Also, ich geh.«

Amélie war am Tisch sitzen geblieben. Durchs Hoffenster fiel das Licht in fahlem Glanz und entfärbte ihre Züge. Emigrieren! Ja, wenn der Nandi ein anderer gewesen wäre und sie nicht und die Kinder! Aber dem Nandi fehlte die Zucht. Er hatte keine Wurzeln tief im Grund, aber er warf sie nach allen Seiten und saugte auf, was er fand. Draußen war härterer Boden, da saßen keine Vettern und Basen, da lagen sie ihm nicht in den Ohren wie daheim, da wäre er schnell zu Rebholz zerhackt worden. Und sie? Mit ihren Kindern! Und ohne ihn! Nein, nein, nein, sie hockten hier und verdarben hier.

Den Kopf in die Hände gestützt, saß sie da und sann. Die Ladenklingel rief, sie hörte sie nicht. Und dann tat es einen Riß in ihrem Leib, ein Ziehen und Zerren, und plötzlich sank ihr ein Stein in den Schoß.

Da wischte sie die feuchten Haare aus der Stirn und stand auf, rief dem Verele und schickte ihn zu Josephine Mousson und zur mère Laugel. Eine Stunde saß sie noch im Laden. Ferdinand war an der Tür vorübergegangen, und nach ihm war Ramspacher gekommen. Es war ein Trampen und Scharren auf der Treppe von vielen Füßen, und im Basar feilschten sie um Strohhüte und Rosenkränze, kauften Kirchenkerzen und Tabakspfeifen.

Als die Hebamme kam, stieg Amélie ins Schlafzimmer hinauf. So fand sie das Phinele.

341 »Mon Dieu, Amélie, ist's schon an dem!«

Die mère Laugel hielt die Kaffeeschale in den Händen und schüttelte den dicken Kopf.

»Aber nein, ein wenig gerupft hat's. Sie hat nicht Sorg zu sich, sie meint, sie merkt's nimmer, weil sie schon vier gehabt hat. Wenn ein's geschwollene Füß hat, muß es abliegen. Aber nein, immer auf den Beinen und d' Nase im Suppenhafen oder in der Ladenkasse. Zuletzt geht sie noch in den Rosengarten heut nacht. So eine ist sie.«

»Ja, so eine bin ich,« erwiderte Amélie lächelnd.

Und die Hebamme löffelte ihren Kaffee und verwandte keinen Blick von den beiden. Sie schob die Haube ein wenig hinter das rechte Ohr, auf dem sie besser hörte, aber sie konnte trotzdem nicht verstehen, was die Frauen sprachen. Da stand sie beleidigt auf und machte ein großes Wesen, um hinauszugehen in die Küche.

»Gleich, gleich mère Laugel, es sind nur ein paar Kommissionen für Mamsell Mousson,« rief ihr Amélie begütigend nach.

»Ich hab's Rosele eingestellt für ein paar Minuten, aber im ›Lamm‹ hocken sie auch aufeinander wie die Traubenbeeren,« begann Josephine.

Amélie saß im Sessel und strich mechanisch das Kleid glatt über den Knieen. Und jetzt blickte sie auf, in ihrem Gesicht standen die Augen groß und klar.

»Es ist schnell gesagt, Josephine. Es ist wegen dem Nandi.«

»Wegen dir nicht, Amélie, sell weiß ich, der Nandi und die Buben, das treibt dich um.«

342 »Und du, Phinele, wem hast du die zwanzigtausend Livres gegeben?« fragte sie, und ihre Stimme zitterte.

Josephines Gesicht wurde finster.

»Ich hab sie einem zu Leid gegeben – jetzt weißt du's,« stieß sie heftig hervor.

»Tiens,« kam es erstaunt über Amélies Lippen, und sie schwiegen beide.

Nach einer Weile begann Josephine abermals:

»Ich hab sie von einem, du weißt's ja, von wem. Und ihm zu Leid und expreß dem Nandi.«

Da zog Amélie sie an den Händen zu sich herab.

»Der Nandi ist dein, du brauchst ihm nur aufzumachen. Sag, Phinele, tätst du ihn nehmen, wenn ich, tu sais, es gibt chance und malchance, wenn ich keine chance hab?«

»Amélie, was fällt dir ein!« rief Josephine und faßte sie an den Schultern.

Aber sie schüttelte lächelnd den Kopf und antwortete, indem sie ihre Schmerzen unterdrückte:

»Nein, nein, es hat mehr als gerupft. Und den Ferdinand, den will ich noch versorgen. Sag, nimmst du ihn?«

Das Mädchen preßte die Lippen zusammen, und auf einmal versetzte es wild: »Ich will das Geld retour.«

»Voyons, Phinele, das geht nicht. Meinst, ich denke, du hast ihn fangen wollen mit dem?«

»Und wenn er's behält, und ich – ich – wie steh ich hernach da! Aber es ist ja alles verrückt, was wir da reden. Bleib, ich schick dir die Laugel.«

Aber Amélies Hände hatten ihr Kleid gefaßt.

343 »Ich laß dich nicht, eh du mir sagst, ob du mir den Nandi hältst, wenn ich mich kehren muß. Voyons, Phinele, er ist nicht so schlimm, und du wärmst ihm das Bett und stellst ihn zurecht, wenn's sein muß. Dir geht er nicht weiter, als du willst. Du kannst ihn am Seil ablassen, ich hab keine Hände gehabt, ihn zu halten.«

»Weil du ihn zu gern gehabt hast.«

»Peut-être.«

Sie schwiegen wieder, nebenan lärmten die Knaben.

Da flüsterte die Mutter: »Hörst du sie, Phinele? Das ist der Gustele und der Jacques. Der Verele, der ist wie der Nandi. Er folgt nicht aufs Wort, aber auf den ersten Streich. Der Gustele gleicht der Mutter selig, man muß ihn weich anfassen, aber Sorg haben, daß er's nicht merkt. Und der Jacqui, der Kneckes, den mußt du noch reglieren, der geht noch nach allen Winden. Und gesund sind sie alle.«

»Amélie,« bat Josephine und wollte ihr den Mund zuhalten.

Da zog sie sich in die Höhe und schob den Arm des Mädchens unter ihren Rücken, um eine Stütze zu haben, sie konnte nicht mehr sitzen, die große Unruhe war schon in ihr. Hin und her gingen sie in der großen Stube, und sie sprach in abgebrochenen Sätzen von ihren Kindern und von dem Laden, und wie man es einteilen müßte und wie alles liefe in ihrem Hause. Und Josephine wehrte nicht mehr ab. Sie fängt an zu fragen, sie beraten, sie legen die Zukunft auseinander, und draußen schlagen die Türen, trampen viele Schuhe, bellt die 344 Ladenklingel, häufelt der Caissier das Geld und kruxt der Notar über den Büchern.

Und dann fragt das Phinele auf einmal:

»Und das, wo unterwegs ist?«

Amélie ist stehen geblieben, tastet nach dem Sessel und setzt sich schwer. Eine Zeitlang kann sie nicht antworten, als es einen Augenblick schweigt in ihr, hebt sie das zerquälte Gesicht.

»Vielleicht nehm ich's mit. Dann braucht ihr mir die Schuh nicht anzulegen im Totenbaum, damit ich nach ihm sehen komm'. Nein, ich nehm's mit. Es kommt ja vor der Zeit. Und du, du hättest auch gar viel embarras!«

Da versuchte das Phinele zu lachen, um nicht zu weinen:

»Was reden wir denn für Bêtisen! Ich halt's dir ja übers Taufbecken, wie das letzte Mal.«

Aber Amélie schüttelte den Kopf und erwiderte ruhig:

»Nein, nein, ich glaub's nicht. Das letzte hat den Weg gezeigt. Und –« fügte sie nach einem Atemholen hinzu – »'s ist besser so.«

Dann wurden die Schmerzen stärker als ihr Wille.

Josephine rief die Hebamme.

»'s ist noch nicht an dem! Aber man kann ja den Doktor fragen,« sagte sie, als sie der Frau ins Gesicht sah, und machte dabei über den Kopf der Kranken hin ihre ernsteste Miene, die Unterlippe nach außen gewulstet und das Kinn hinaufziehend.

»Ich geh ihn prévenieren, en passant,« hastete Josephine.

Da öffnete Amélie die Augen und streckte die Hand aus nach ihr.

»Eh bien, Phinele, gilt's?« keuchte sie leise.

345 Und Josephine griff nach einem kurzen Augenblick die kalte Hand und antwortete fest:

»Ja. – Aber –«

»Das Aber ist mein Sach,« entgegnete die Frau und zuckte mit den Fingern, um sie zu sich herabzuziehen.

Josephine Mousson war schneller als ihr Wunsch, lag schon vor ihr und küßte sie mit ihrem heißen roten Mund auf die bleichen Lippen.

»Er kriegt's gut, der Nandi,« murmelte da die Frau und schloß die Augen. Das Phinele ging.

Als die Kasse gestürzt war, traf Ferdinand auf Monsieur Hornecker, der sich gerade mit dem Stock die Treppe hinunterfühlte.

»Ihr, Doktor, ist's am End mit meiner Frau schon so weit?«

»Nein, das nicht, aber sonst ist nicht alles, wie's sein soll. Mit den Nieren und ein schwaches Herz. Ihr müßt sie recht pflegen.«

Sinniger atmete auf.

»Also nichts Gefährliches, Monsieur Hornecker. Sie macht sich zu viel böses Blut, ich hab's ja immer gesagt.«

Der kleine, alte Herr hatte den Zylinder abgenommen und glänzte ihn im Zwielicht mit den dicken Brillengläsern an.

»Daß keine Gefahr sei, hab ich nicht gesagt. Au contraire, elle est mal, bien mal.«

»Herr Doktor!«

»Bien mal, ich komme morgen beizeiten. Schicket eine Schwester holen, Monsieur Ferdinand.«

Und er setzte den Hut wieder auf, grub das glatte, faltige 346 Kinn in sein weißes Halstuch und fühlte sich mit dem Stock weiter die Treppe hinunter.

Ein kalter Schrecken schlug dem Nandi in die Magengrube, er eilte in das Zimmer der Frau. Die Hebamme saß an ihrem Bett und wärmte die Hände an einer frischen Kaffeeschale. Amélie aber wurde rot, als er auf sie zuschoß und sich über sie bückte.

»Ich bin zu viel umeinandergeweibelt, Nandi. Aber es kommt schon wieder besser. Bist du en règle mit dem Maizins?«

Da fiel dem Mann die Angst von der Brust. Rote Backen hatte die Frau und lag so ruhig im Bett wie eine Katze auf der Ofenbank. Der Hornecker wurde alt. Sechsundsiebzig, und setzte kaum noch einen Fuß vor den andern. Hockte daheim und schnitt seine Coupons ab – der alte renard. Und beruhigt ging er wieder.

Auf der Gasse verlor sich der Lärm. Die Ställe leerten sich, auf allen Wegen trabten die Gäule, und die Käs- und die Kuchenstände auf dem Kleinkinderplatz begannen einzupacken. Die Sonne brannte langsam auf den Bergen nieder, und in ihrem roten Schein glänzten Dächer und Fenster, und die Luft wallte wärmer in den stillen Gassen als zur Mittagszeit.

Ferdinand war unter die Ladentür getreten. Von der Scherbengasse her kam Siegfried Höpfner.

»He, bonsoir,« rief er ihm freundlich zu.

Aber Siegfried schrak auf wie ein Schlafender und wußte kaum, was er antwortete, machte sich mit den Büchern zu schaffen, die er unter dem Arm trug, und schritt hastig weiter.

347 »Ihr geht doch auch, wenn's finster ist,« rief Sinniger ihm nach, ehe ihn seine Schritte vorübertrugen.

»Nein,« gab er trotzig zurück und lief mehr als er ging die Rosengasse hinab.

Nach Hause, nicht unter Menschen. Es war ihm, als stände es ihm an der Stirne geschrieben, was in dieser Nacht geschehen war. In der Schule hatte er fiebernd gesessen, jeden Augenblick bereit, angepackt zu werden. Aber Winghoff strafte ihn mit Verachtung, und Kolb war wie sonst.

Nur Eisenreiter hatte gesagt, als er ihm seinen Aufsatz zurückgab: »Sie sehen nicht gut aus, fehlt Ihnen was?« und war ein paar Schritte zurückgetreten; und dann mit mächtiger Stimme: »Sie haben eine andere Disposition gemacht als die besprochene, ich kann Ihnen daher nur eine Zwei geben. Ich verlange, daß man sich an meine Disposition hält. Ja, das verlange ich.«

Es war ihm ganz gleichgültig geblieben. Apathisch, erdrückt von dem, was geschehen war, saß er in der Bank, und jetzt stahl er sich heim. Aber als er das ›Lamm‹ vor sich sah mit den grünen Läden und den spiegelnden Scheiben und der Fliederduft wieder die Römerstraße herkam, fuhr ihm Feuer in die Adern. Im Flur traf er auf das Rosele. Es sah ihn scheu, demütig an, mit einem weichen Lächeln. Er fühlte eine dumpfe Wut in sich aufsteigen, und als sie leise ›bonsoir‹ sagte, da gab er keine Antwort und stieg die Treppe hinauf, ohne es anzusehen. Sein Zimmer kam ihm fremd vor. Auf dem Tische stand noch die leere Kartonschachtel. Als er sie wegschob, stieß er auf die Streichhölzchen, und als er 348 aufsprang, klirrte die Lampenglocke auf dem Waschtisch, und auf dem Bett, das heute so breit ins Zimmer ragte, lag ein Sonnenbalken quer über den weißen Kissen.

Die Küchenmagd kam, Wasser in den Wasserkrug zu füllen. Sonst tat es das Rosele, und das wurmte ihn. Und dann kam er sich wieder so schlecht vor, so erbärmlich, und lief verstört im Zimmer auf und ab. Seine Hände brannten und waren doch kalt, in den Schultern Stiche, das Herz schwer und träge.

Von der Gasse tönte plötzlich Musik. Mit einem schmetternden Schlag und Trommel und Pauke hatte sie eingesetzt, er war wild aufgefahren. Und nun zogen die Musikanten das Rosengäßlein hinauf und durch die Kreuzgasse, zum kleinen Tor hinaus nach dem Rosengarten. Die Kinder liefen, unter den Türen standen sie in Hemdärmeln, aus den Fenstern nickten Mädchenköpfe mit Papilloten in den Haaren, und immer ferner, immer leiser und lockender klang die Musik, als zögen die Töne an goldenen Fäden alles hinter sich her. Die Sonne streute noch eine Handvoll Rosen über den Himmel, ehe sie ganz erlosch. Und wieder kam der Frühlingsabend herauf mit seinen Düften und Lichtern, und vom Kamin des Café Mousson warf die Amsel ihre Strophe in die Luft, in blindem Rausch kamen die Maikäfer geflogen und stießen an die weiße Wand und an das Schild mit dem schwarzen Lamm, daß es tönte.

»Siegfried, Monsieur Siegfried,« rief's die Treppe herauf. Das Rosele lud zum Nachtessen. Ihm zitterte das Herz bei dem Klang ihrer Stimme. Heute mittag hatten sie im Saal gesessen, ihrer dreißig. Jetzt aßen sie wieder 349 allein er und der Alte. Er zögerte. Aber als er Tritte hörte auf der Treppe, überwand er sich und ging. Es war zu spät, gerade auf dem Vorplatz zwischen ihren beiden Türen traf er mit ihr zusammen.

»Der Herr schickt mich, Ihr sollt zum Essen kommen,« sprach die Magd, noch atemlos vom Steigen, und stand vor ihm und wartete, daß er ihr ein gutes Wort gebe.

»Ich komme,« stieß er heftig hervor und schob sie beiseite, aber fast ohne sie zu berühren, mit einem groben Stoß.

Da klagte es leise:

»Siegfried, warum seid Ihr so zu mir!« und drängte sich an ihn.

Er konnte nicht antworten. An seiner Kehle saß eine fremde Faust, und dann wuchs in ihm wieder ein Sehnen auf wie gestern. Er suchte sie, aber bei der ersten heißen Berührung ihres Mundes, ihres Leibes brach er in sich zusammen. Nicht im Fall, nur wie wenn ihm einer plötzlich alles Leben, alles Lebendige aus dem Leib gerissen hätte, und er hing schwer und stumpf in ihren Armen. Da warf sie sich zurück und stand ihm gegenüber, blaß, mit rotem Mund und federnden Gliedern.

Langsam stieg er die Treppe hinab, ohne sie anzusehen, die Hand schlaff am Geländer. Sie stand still in die Ecke gedrückt und rührte sich nicht, bis unten die Tür schlug.

Und als er wieder hinaufstieg, hatte er das Schreiben gefunden, das ihn vor die Konferenz zitierte. Es lag auf seinem Teller. Auf dem Gang, vor dem Gewehrschrank stand er still. Er versuchte sich am Schloß. Dabei mußte er die Zähne zusammenpressen, damit sie nicht 350 schlugen. So trocken im Hals, er schluckte mühsam. Es kam jemand, er ließ ab und ging in sein Zimmer.

Nun war es Nacht geworden. Er machte Licht, er saß am Fenster und hatte den Kopf auf die Arme gelegt. Unten gingen sie zum Maitanz. Er sah die weißen Kleider leuchten, er hörte Lachen und laute Worte. In der Höhe, wo noch ein opalfarbener Glanz am Himmel zitterte, flogen die Schwalben, die nicht zu Neste finden konnten. Und er hatte ein Klingen in den Ohren, er hörte plötzlich Winghoffs Stimme und den Riß, mit dem das Papier in zwei Stücke gesprungen war. ›Unterm Rosenstrauch.‹ Die beiden ersten Strophen waren in der fremden Hand geblieben. Er wollte aufstehen und suchen, was noch übrig war, aber er hatte ja unreine Hände, er blieb sitzen. Es hatte ja doch keinen Zweck mehr. Jetzt tanzten sie draußen. Vor einem Jahr war er dort gewesen, heimlich, keine halbe Stunde, und hatte zugeschaut. Dort war das Christinele ihm in den Weg gelaufen, es ging mit seiner Mutter. Frau von Wernecke war dort gewesen, und am andern Tage hatten sie im Basar erzählt, niemand hätte gefehlt. Er wollte hingehen und sehen, ob sie dort war. Am Ende hatte man ihr das Gedicht gezeigt, die abgerissenen Strophen, und sie hatte sich darüber entrüstet, gelacht vielleicht. Nein, sie nicht. Er dachte jetzt ganz anders von ihr. Und der Vater, der kam mit der Faust über ihn, und er konnte sich nicht mehr wehren, es war alles vergebens. Sie hatten ihn gehetzt, getrieben, und dann gestern! – und die Nacht mit ihrer Qual. War's das, was sie einem brachte, war das das Geheimnis? Dann war ja alles nicht wahr, 351 was er gelesen hatte, was er empfunden, was ihn in seinen Träumen betrogen hatte! Aber da draußen, da tanzten sie jetzt, und eine wilde Sehnsucht peitschte ihn auf und sprengte den Reif, der um seine Schläfen geschmiedet lag.

Er stand auf und nahm seinen Hut. An der Lampe spielten kleine Mücken, als er sie auslöschen wollte, schlug die Flamme zurück, da ließ er sie brennen. In einer Stunde war er ja wieder da, dann fand sich alles.

Die Gassen waren finster, im Café Mousson brannte kein Licht. Der Brunschwig saß vor der Türe und rauchte. Das Turmhaus war erleuchtet, Klavier und Flöte klangen zu den offenen Fenstern heraus. Im kleinen Tor schaukelte die Laterne, und jetzt glänzte weit in der Talsenke ein Trüpplein Lichter eng auf einen Haufen gedrängt aus buschigem Dunkel: Der Rosengartenhof. Näher leuchtete ein anderes Sternbild in der Tiefe, mit festen, weißen Scheiben ins Feld gestellt, das war die Gleisanlage des Bahnhofs. Und dann noch ein einsames, rotes Licht, wo die Schienen die Kerzener Straße schnitten.

Siegfried bog unter den Linden in den Richtweg ein zwischen den schwarzen Hecken und rannte hinunter. In der Vorstadt war alles still, der Fluß strudelte unter der Brücke. Siegfried ging immer schneller. Die Straße, die spitz in die Dunkelheit hineinführte, ohne Ende, immer aufs neue ins Weite schießend, zog ihn nach. Die Füße liefen von selbst. Die weißen Schrankenbalken der Bahnsperre ragten über ihm, das rote Licht im Wärterhaus blinzelte hinter ihm drein.

Die Musik klang mit dem Wind, wurde heller wie die 352 Lichter auch, zuckte und schmetterte und wiegte sich wieder sanft auf den Geigen. Er sah Menschen, hörte Lachen und Gläserklirren, sah, daß sie tanzten in dem Viereck, um das die bunten Lampions ihre schaukelnde Kette zogen, und dann strich er an der Hecke hin und kam durch das Gemüseland in den Garten. Der lief mit verschlungenen Wegen um ihn her. Siegfried wußte einen Platz, von dem aus er den Tanzboden übersehen konnte. Ein Hügelchen, auf dem ein Tisch stand unter verhutzelten Tannen. So weit trug niemand Wein noch Bretzel, alles klumpte sich am Podium zusammen und saß im Haus, das selbst tönte und klirrte von Menschen und Gläsern, als ginge das so fort ohn' Anfang und Ende. Nur die Büsche standen unbewegt, und die Tannen hielten sich stumm. Das junge Buchenlaub wisperte vor sich hin, und immer noch zogen die Maikäfer fadengerade und plump durch die Luft. Um den Giebel, wo die Fahne schlug, huschte die Fledermaus in zitternden Kreisen.

Die Tische vor dem Tanzplatz waren schwarz von Menschen.

»Ach, wie schön,« flüsterte Kläre und drückte unwillkürlich Georgs Arm fester. Aber gleich darauf ließ sie ihn ganz los.

Er holte ihre Hand nicht zurück.

Sie hatte schon viel getanzt, aber immer unruhiger, immer fahriger. Georg tanzte nicht. Er ging ernst, mit einer freundlichen Gelassenheit, tat, als freute er sich des Festes, und jedesmal, wenn Kläre atemlos zu ihm zurückkam, bald aus diesem, bald aus jenem Arm, sagte er sich: es geht nicht so weiter. Was tu ich eigentlich hier? 353 Warum nehme ich nicht meinen Hut und schlag mich nach Hause! Sie bebt ja vor Leben, sie ist mir ja schon lang aus der Hand geflogen. Und wer ist sie überhaupt? Sie lügt mich an, ich weiß ja gar nichts von ihr. Und jetzt stemmte sie sich nicht einmal mehr. Sie nahm ihn so gleichgültig und brauchte ihn gar nicht. Nun, heute wollte er ihr wenigstens nichts verleiden. Sie sollte ihre Freiheit haben, dann brauchte sie auch nicht zu lügen. Zweimal hatte er schon zu einer Ermahnung angesetzt, sich besonnen und geschwiegen.

Als sie wieder von ihm forttanzte mit dem Assessor, da kam Habermeier.

»Servus, Direktor! Ich hab meine Chaise draußen stehen. Ich komme grad von Kerzen, schwere Amputation. Ihre kleine Frau ist aber lieb. Wissen's noch vor zwei Monaten, wie sie ihren Buben rausgerissen hat! Ja, die Weiber, die Weiber. Die müssen doch alles aus Lieb' tun, und deswegen geratet's ihnen auch so gut. Wir haben dafür auch was Rechts, die Pflicht, ja, Schnecken, Prost, Direktor, der Deixel hol die Pflicht!«

»Verzeihung, Doktor, meine Frau,« erwiderte Kolb hastig und drängte sich durch die Menschen. Nur von ihm fort. Wo Kläre war, hatte er gar nicht gesehen, er traf auf Ledermann.

»Ich sitz' etwas abseits, meinem Rad zulieb. Jetzt fahr ich schon ganz firm mit der Laterne.«

Georg machte sich wiederum los und setzte sich schließlich an einen Tisch, mitten unter die Elsässer.

Warum hatte er seine Schüler in der Gewalt, warum fand und verstand er sich mit den Kollegen, selbst mit 354 Winghoff, der ihm sonst so unangenehm war, nur mit seiner Frau nicht! Gott, er hatte doch auch mal ein paar Poussagen gehabt, in Leipzig, und später, als er in Straßburg vikarierte! Der Habermeier mit seinem Kohl. . . . Und wenn sie nun auseinandergingen, na ja, der Junge. Freilich. Aber es ging ja gar nicht, sie waren doch verheiratet. Wie kam er auch auf so verrückte Ideen! Sie war ja seine Frau, das heißt, war sie's eigentlich. So aus Liebe! Auch wieder so eine verrückte Frage. Man ist's eben und damit basta. Und ›Prosit‹ rief er über den Tisch und nahm der Kellnerin das Seidel ab, und sie lachten über den ernsten Ton, indem er sogar das sagte, und riefen lustig »à la votre!« Kläre tanzte.

»Fein, wie, gnädige Frau? Famose Sache, dieser Rosengartentanz, und ganz anständige Gesellschaft, am Sonntag kommt dann Krethi und Plethi, da ist's weniger schön.«

Kläre hörte kaum, was Drexler in ruhigeren Momenten sagte, sie tanzte mit voller Hingebung, die Augen blickten groß und dunkel in die kreisende Welt. Einmal war es ihr, als hätte sie Georg unter den Bäumen an der Einfriedigung stehen sehen, aber dann trug sie der Tanz hinweg. In ihrem Gürtel steckten zerdrückte Rosen aus dem Wintergarten und dufteten schwül. Die Musik brach ab.

Aufatmend hielten sie an, sie schloß einen Augenblick die Lider, noch im süßen Taumel, buntes Farbenspiel blieb hinter den Wimpern gefangen.

Erst als Assessor Drexler, der den Direktor nirgends fand, seine Tänzerin zu Werneckes führte, wich der Rausch ihrer 355 Sinne. Da trat Ernst Haury zu ihnen, um sie um einen neuen Tanz zu bitten. Wo nur Georg war? Aber sie hatte schon zugesagt, unwillkürlich fast.

»Wenn wir keinen Wetter-Rückfall haben, werden wir in einigen Wochen auch ein kleines Fest halten, zur Einweihung des Bades,« sagte Haury zu den Damen. Und mit einer leisen Ironie setzte er zu Wernecke gewendet hinzu:

»Mit Ihrer Permission natürlich, Herr Kreisdirektor.«

Wernecke nahm den Stich gelassen hin.

»Im Freien bis nachts ein Uhr, wie hier,« entgegnete er ruhig.

»Ach ja, ein bal champêtre,« versetzte Kläre.

»Warum nicht gleich im Wasser,« lachte Drexler.

Da sagte Frau von Wernecke:

»Ich glaube, es wird Zeit für uns, es muß ja Mitternacht sein.«

Ihr frostiger Ton tötete die Stimmung. Kläre war's, als hätte sie eine kalte Hand angefaßt, und das haßte sie so. Mit einer gewissen Koketterie nahm sie Haurys Arm, um zum Tanz zu gehen.

Doktor Ledermann erreichte sie noch vor dem Betreten des Podiums und bat um den nächsten Walzer und fügte bei, er könne die gnädige Frau dann zu ihrem Herrn Gemahl begleiten, der dort hinten unter den Einheimischen sitze und Dialektstudien treibe.

Und sie tanzten unter dem bunten Volke, und ein Wind, der über den buschigen Hügel flog, rauschte in dem jungen Laub und schaukelte die Lichter, wehte die Würze der Mainacht über sie hin, und ein feiner, goldener Staub 356 stieg auf von den Dielen, die hundert Füße traten, und der warme Duft der Leiber und der Odem des Weins mischte sich darein und eine Wolke zog hin über die tanzenden Paare und löste die Glieder, und wenn die Klarinette kreischte und die Geigen schwirrten, lief ihnen ein Schauer über den Nacken, und der Atem ging stärker aus ihrem Mund, die Lippen brannten und in den Ohren sang und gaukelte das Blut.

Haury preßte Kläre fester an sich, und als der Tanz zu Ende war, zog er ihren Arm durch den seinen und trat durch den kleinen Seitenausgang des Gerüstes mit ihr unter die Bäume. Kläre ließ sich führen. Warum kümmerte sich Georg auch nicht um sie! Dialektstudien! Lächerlich! Natürlich, der Schulmeister! Aber sie brauchte ihn ja gar nicht, und sie warf den Kopf zurück und schielte zu dem schlanken, schwarzbärtigen Manne empor, der stumm, mit Wangen, die vom Tanz erblaßt waren, neben ihr herschritt. Er atmete schwer, sie hatte sein Gesicht kennen gelernt, er kämpfte irgend etwas nieder. Und sie lächelte, und ein Triumph schwellte ihr die Brust. Sie brauchte nur zu sagen: Führen Sie mich zu meinem Mann, dann war alles vorbei, dann ging er gehorsam neben ihr und küßte ihr die Hand, mit heißen, demütigen Lippen. Nur zu wollen brauchte sie, aber ihr Wille war schwach, sie ging wie im Traum.

Es wurde einsam um sie her, die Büsche schoben sich näher, eine Hecke lief hinter ihnen zusammen, das Zwielicht wurde aufgeschlürft von einer weichen, warmen Finsternis, eine einzelne Laterne warf noch ihren Schein über ihre Gesichter, und nun hockten große Klumpen 357 wie gewaltige Kröten vor ihnen im Gras, zu einem Hügelchen getürmt, auf dem schwarze Tannen mit starren Silhouetten in den Himmel wuchsen. Im Gras war ein Brummen und Wispern, leise rauschte das zarte Laub über ihren Häuptern, vom Tanzplatz brandete der Festlärm in das Schweigen.

Da raffte Kläre sich auf, und gewiß, daß er gehorchen werde, sagte sie sorglos:

»Bitte, kehren wir um!«

Sein Arm zog sie weiter fort, und als sie erstaunt stehen blieb, faßte er plötzlich ihre Hände:

»Madame Claire, wir sind zu weit, um umzukehren. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich gewartet hab auf diese Stunde. Attendu patiemment. Ah, vous le savez bien que je vous aime, que je vous adore.«

»Herr Haury,« stammelte sie.

Aber er bog ihre Hände, die sich strafften, nieder und zog sie an sich, und die Worte kamen wie Flammen aus seinem Mund, deutsch und französisch, Schlacken und Glut, und der unverhüllte Wunsch, sie zu besitzen, die Gewißheit, daß sie sich hingeben werde, machte ihn herrisch und brutal.

»C'est pour vous, tout ce que j'ai fait, ces bains ridicules, ma candidature, ces leçons de littérature, des bêtises, des folies, des choses enfin, qu'on ne peut pas dire! Claire, voyons, Claire, pas de coquetterie, je t'en prie. Du bist anders wie die andern. Tu as de sang dans les veines, de sang comme moi. Va, je t'emporte sur mes bras!«

Er riß sie in die Arme, da, als sie schon lag an seiner 358 Brust, von ihrem Willen, von ihren Sinnen noch einmal verraten und die Glieder gelähmt von der schleichenden Lust der Frühlingsnacht, da kam eine wilde, wahnsinnige Angst über sie, da rüttelte sie in der Tiefe ihres Wesens, wo die Wurzeln verborgen lagen ihrer Seele, ein Sturm, der aufbrausend einen rauhen Schrei von ihrem Munde riß und in die Nacht schleuderte. Aber sie lag noch an seiner Brust, in einer tollen Verblendung ihrer Sinne war's ihr, als hielten Georgs Arme sie so, drängte er so seine Kraft gegen ihren zuckenden Leib. Da peitschte jählings grelles, schluchzendes Gelächter sie auseinander, und ein totenblasses Knabengesicht gespenstete im Flackerschein über ihren Häuptern und warf ihr, ihr allein die wildesten, grausamsten Worte ins Gesicht, Worte, die ihr die Kleider vom Leibe rissen und sie auf die Gasse stießen, zusammen mit Dirnen und H . . . . Und als Haury mit einem Fluch gegen ihn ansprang, packte der dort oben einen Felsbrocken und keuchte:

»Kommen Sie doch, komm doch herauf, du Hund!«

Da tappten eilige Schritte, und »Frau Direktor, Frau Kolb, haben Sie gerufen?« rief eine Stimme, das war Ledermann, sie erkannte ihn, und aus ihrer Erstarrung erwachend, schlug sie mit einem zweiten Schrei, der in einem Wimmern unterging, die Hände vor's Gesicht und stürzte davon, ihm entgegen.

»Um Gottes willen, gnädige Frau!«

Sie war ihm blind in die Arme gerannt, aber schon schrie sie:

»Lassen Sie mich, rühren Sie mich nicht an!«

Und Ledermann prallte zurück.

359 Plötzlich rauschten neben ihm die Büsche, er sah eine schmächtige Gestalt und war mit einem Satz hinter ihr her.

»Höpfner!«

Aber seiner Hand, die in der Überraschung seine Schulter losgelassen, entglitt der Knabe und brach durch die Büsche ins Freie. Sonst war niemand da, er wollte noch ein paar Schritte weitergehen, wo er etwas zu sehen glaubte, aber plötzlich, dicht vor dem schwarzen Schatten, der dort unbeweglich stand, drehte er sich und nahm stumm den Arm der Frau, die von einem Frost geschüttelt, ein Wimmern zwischen den Lippen verbeißend, neben ihm herschritt.

»Wohin befehlen Sie, gnädige Frau?« fragte er sanft, als sie in den Lichtkreis kamen. Am ersten, einsamen Tisch, weit ab noch von den Tafelnden und Tanzenden, lehnte sein Rad.

»Mein Mann,« schluchzte sie und glitt auf die Bank. Er ging ihn zu holen.

»Herr Direktor, Ihre Frau Gemahlin ist nicht ganz wohl und wünscht Sie, vielleicht nehmen Sie Habermeiers Chaise.«

Georg fuhr auf.

»Die verdammte Tanzerei!«

»Bitte, keine Vorwürfe,« flüsterte ihm Ledermann zu, als sie hingingen.

Er schämte sich vor dem Jüngern und murmelte:

»Sie haben recht.«

Als er sie sah, erstarb ihm das Wort im Munde. Sie blickte ihn an, als wollte er sie schlagen. Aber es war ein anderer Blick als in jener Nacht, ein verwüstetes Gesicht, nichts mehr von der zürnenden, gekränkten Frau.

360 »Komm,« sagte er sanft, und sie stand auf und Doktor Ledermann ging neben ihnen, das Rad führend. Aber sie wollte nicht fahren, strebte weiter fort von dem leuchtenden Fest, die weiße Straße entlang, die spitz ins Dunkel schoß.

Und Ledermann, der Kolbs Fragen fürchtete, stieg auf und fuhr voran, ein Lichtschein hüpfte vor ihm her. Zwei weiße Striche in der Mulde, daneben ein rotes Auge, das Bahngleis. Aber zwischen ihm und der Bahn lief ein Schatten, das war Höpfner. Er trat fester und brauchte die Glocke. Aber der andere hetzte wie ein Wahnsinniger. Nun war er ihm so nahe, daß er ihm zurufen konnte:

»Ruhig, ich tu Ihnen ja nichts.«

Da wandte sich jener und schrie:

»Das ist mir egal,« und rannte weiter.

Und als er ihn fast eingeholt hatte, dicht an dem Übergang, er mußte bremsen, die Schranke war geschlossen, rief er:

»Ich weiß ja, daß Sie ihr nichts getan haben. Nehmen Sie doch Vernunft an.«

Die letzten Worte verschlang ein greller Pfiff. Drüben auf der andern Seite schwenkte der Bahnwärter seine Laterne.

Da warf Siegfried Höpfner sich plötzlich über die Barriere, und ein Schatten flog vor der vorüberdonnernden Maschine des Pariser Expreß weg in die Hecke. Die Wagen klappten und sprangen, eine Feuerlinie zuckte vorbei, und ein kalter Luftzug wirbelte hinten nach. Langsam stiegen die Schranken in die Höhe, die Musik klang wieder durch die Nacht.

361 Ledermanns Hände zitterten so, daß er das Rad kaum an den Straßenrand führen konnte. Der Wärter schlurfte näher. Er hatte nichts gesehen. Sie fanden Siegfried an der Böschung gegen die Hecke geworfen.

»Sie hat ihn nicht wollen, er lebt am End noch,« sagte der Wärter.

Als sie ihn in die Blechbaracke trugen und auf die Pritsche legten, begann der Mann zu schimpfen.

»Man könnt bigoscht meinen, er hätt's expreß getan, über die Barriere, wo er ihn schon gesehen hat kommen!«

»Unsinn! Jugendlicher Übermut!« schnitt ihm Ledermann barsch das Wort ab. »Machen Sie die Türe zu und holen Sie den Doktor Habermeier, er ist im Rosengarten.«

»Das braucht's nicht,« murrte der Alte. »Luget ihn doch einmal an.«

Siegfried Höpfner lag wie ein Schlafender. Das Gesicht unverletzt, aber der Kopf hintenübergefallen, die Augäpfel und die Zähne glänzten, zwei feine rote Fäden krusteten schon in den Mundwinkeln. Der rechte Ärmel war zerfetzt; mit der linken Hand hatte er in ein Grasbüschel gegriffen, das verstreute nun seine schwarzen Erdklümpchen von den feinen Wurzeln.

Da rief's draußen.

»Ledermann, was machen Sie denn dadrin? Ich sah doch so was. Ist Ihnen was passiert?«

Rasch trat er vor die Tür, die der Wärter vergessen hatte zu schließen.

»Nein, nichts, ich wollte nur – bitte nicht!«

Aber schon war Kolb herangetreten.

362 »Meine Frau scheint nicht mehr zu können. Hat der Mann 'ne Sitzgelegenheit?«

Ein Schrei, er fühlte seinen Arm losgelassen, an ihm vorbei stürzte Kläre, und jetzt sah auch er den Knaben, und dann lag sie neben der Pritsche auf dem Boden und fühlte und griff und entsetzte sich vor dem erstarrenden Leib und hörte nicht, was Ledermann sagte, und plötzlich schüttelte sie ein furchtbares Weinen, und sie hockte in den Knieen zusammengekauert, die Hände an den Schläfen, den Dielenschmutz mit dem weißen Kleide fegend. Und vor ihr lag das stille Gesicht, das schon zu Wachs verblich, klein und jünger aussehend, wie das eines Knaben, der noch nicht mannbar ist, in der ungestörten Ruhe des Todes auf dem speckigen Polster.

Doktor Ledermann ging den Arzt holen, der Wärter schlurfte das Gleis entlang, seine Meldung zu machen, und Georg Kolb blieb mit seiner Frau allein bei dem Toten. Georg Kolb sah in dem Toten seine pädagogische Unfehlbarkeit zertrümmert, und vor ihm hockte die Frau, die er auch nicht hatte halten können, nicht verknüpfen können mit seinem Leben. Er hatte geglaubt, die wären offene Bücher, in denen er blätterte, in die er hineinschrieb, auf daß Leben daraus werde. Und nun lagen sieben Siegel auf diesen Büchern, war ihm ihr Inhalt, ihr Wesen verschlossen geblieben bis auf diesen Tag.

Auf einmal verstummte Kläre und hob langsam den Kopf und sagte zu ihm mit einer leisen, seltsamen Stimme:

»Schorschle, der Siegfried weiß etwas von mir . . . .. ich bin's schuld.«

363 Da raffte er sich zusammen und zog sie in die Höhe und antwortete sanft:

»Komm, Kläre, das erzählst du mir ein ander Mal, schuld sind wir alle.« 364

 


 


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