Hermann Stegemann
Die als Opfer fallen
Hermann Stegemann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Kläre stand am Fenster des Studierzimmers und spähte hinunter. Nach Regentagen und wirbelnden Winden war der September noch einmal zu sommerlicher Hitze erwacht. Aber des Morgens und des Abends zog herbstliche Kühle erfrischend durch das Tal. Sie liebte dieses Wetter. Wenn sie es nur besser hätte nützen können! Nun war sie schon fast ein Vierteljahr in diesem Nest, aber warm geworden war sie noch nicht darin. Die Menschen kamen ihr gar nicht nahe. Es war ihr immer, als hätte sie einen Operngucker verkehrt vor den Augen. Alles schien ihr so klein, so weit entfernt.

»Kläre, vergiß nicht, daß du hier meine Frau bist,« sagte Georg alle Tage zu ihr. Eben hatte sie das Fenster öffnen und dem kleinen Oberlehrer Eisenreiter einen Gruß zurufen wollen, aber im letzten Augenblick war ihr eingefallen, daß das sich nicht schickt. In Ladenburg hätte kein Mensch etwas dabei gefunden. Nun ging Doktor Eisenreiter mit kurzen Schritten seiner kleinen Beine, die den mächtigen Oberleib kaum zu tragen vermochten, die Gasse hinunter. Der Zylinder, den er zu jeder Tages- und Jahreszeit trug, spiegelte den Sonnenglanz.

47 Bei Eisenreiters hatte es Kläre am besten gefallen. Da war sie rührend lieb empfangen worden. Sie wohnten in dem alten Ritterhause am kleinen Tor. Ein winziges, verwildertes Gärtchen, dann ein runder Turm, der als Stiegenhaus diente und einen drehkrank machte, wenn es immer so rundum die Wendeltreppe hinaufging, und oben kühle, dunkle Zimmer von riesiger Größe. Die beiden Leutchen verloren sich darin. Frau Eisenreiter war so klein wie ihr Mann, aber zierlich, ein liebes altes Frauchen. Wie Meißner Porzellan kam es Kläre vor, als sie Besuch gemacht hatten. Und sie lächelte so lieb mit den künstlichen kleinen Zähnen und bewegte die immer in Filet-Halbhandschuhen steckenden Hände in wunderbar ruhigen, sprechenden Gesten.

Als Kläre mit Georg einmal zum Abendbrot gebeten wurde bei Eisenreiters, fand sie die Erklärung für dieses anmutige Spiel der Hände.

»Wir sind zwei Kunstzigeuner, Frau Direktor,« sagte Eisenreiter mit seiner tiefen Baßstimme, die mächtig aus der breiten Brust kam. »Wir haben keine Kinder, aber einsam sind wir nicht. Minna hat den Flügel, und ich habe meine Flöte.«

Und dann hatten sie zuhören müssen, zwei lange Stunden. Georg kaute in stiller Verzweiflung eine Zigarre nach der andern, weil er sie nicht zu verpaffen wagte in dem hohen, mit Seidenrips dekorierten Zimmer, wo jeder Zug an der Zigarre eine Rauchwolke erzeugte, die unendlich lang um den mit Kerzen besteckten Kronleuchter schwebte. Kläre hatte anfangs mit Entzücken auf das Paar geblickt. Wie die kleine Dame mit dem 48 Spitzenhäubchen und der großen Emaillebrosche am Flügel saß und die Hände bewegte und Eisenreiter daneben stand, das schwere Haupt über die zierliche Flöte gebückt, das war ein Bild, das ihr gefiel. Dazu die feine Hausmusik. Lauter Sachen, die Kläre nur als Respektgrößen kannte, etwas von Haydn, von Mozart, und jedesmal hatte Frau Eisenreiter nur kurz gesagt: ›Jetzt ein Stücklein Haydn, jetzt ein Stücklein Mozart.‹ Alles klang gleich fein und leise, ohne großen Ton, mit zierlichen Stackati und langausgehaltenen Fermaten. Die Flöte kam immer etwas außer Atem, dann wartete das Klavier und die linke Hand wiederholte ausgleichend die letzten Akkorde, während die rechte ruhte.

Auf dem Heimweg hatte Kläre geschwärmt von den putzigen alten Leuten. Georg aber knurrte: »Ich bin ein musikalischer Analphabet, aber der Kuckuck soll mich holen, wenn der gute Eisenreiter nicht gerade so wenig Disziplin mit seiner Flöte hält wie mit seinen Schülern.«

»Aber Georg!«

»Ja, ja, ich weiß schon. Ein guter Mensch, aber ein schlechter Musikant!«

»Georg, die Eisenreiters haben mehr musikalisches Gefühl im kleinen Finger als ein ganzes Orchester,« hatte sie sich gewehrt für jenen.

Heute wußte sie, warum ihr Mann damals laut gelacht hatte, daß die Gasse widerhallte. Er hatte es anders gemeint gehabt. Eisenreiter war in der Schule ein schlechter Musikus, der sich trotz seiner Bärenstimme nicht in Respekt zu setzen verstand und vergebens den Donner herauskehrte. Die Jungen 49 wußten, daß es bei dem Donner blieb; kein Blitz zündete, im nächsten Augenblick war alles vergessen. Aber Eisenreiter wurde seinem Amte erhalten, er war in Dornkirch wohl gelitten. Er hatte im Waisenhaus zwei Freistellen aufgetan, ein wunderbares Fenster in die Wallfahrtskapelle gestiftet, der Karton stand im Musikzimmer zur Schau, und Frau Eisenreiter war ein Fräulein von Musbach und mit dem Bischof verwandt.

Aber das war doch nichts Schlimmes, Kläre verstand nicht, warum Georg das alles mit einer grimmigen Ironie aufzählte. Dafür konnten Eisenreiters doch nichts. Sie pochten auch gar nicht darauf. Man sah sie nirgends. Von der Schule ging er nach Hause und von Hause in die Schule. Und noch in die Kirche. Aber so war nun Georg. Weil dem Mann die Jungens nicht parierten, war er ihm im Wege, hätte er ihn am liebsten pensioniert, von heut auf morgen. Aber das konnte er nicht, wenn er auch damals gesagt hatte: »Die Leutchen haben Vermögen, die Pension bringt denen nur das Salz zum Tisch, warum also Rücksichten üben!« Und dann hatte er ihr gar noch nahe gelegt, sich mit Eisenreiters nicht zu befreunden, damit er in seinem dienstlichen Vorgehen nicht durch den freundschaftlichen Verkehr gehindert würde. So ein Unfug! Nun gerade nicht! Kläre war schon dreimal bei Frau Eisenreiter gewesen, die war die einzige, die sie nicht durch den Operngucker sah.

Und auf einmal überkam sie, wie sie so am Fenster stand, das unwiderstehliche Verlangen, zu der alten Dame hinüberzulaufen. Es war ja nur die Gasse hinunter und durch den Torwinkel. Die große Pause war vorbei, im 50 Hof der Lärm, das Getrappel auf den Treppen erstorben, und sie konnte ruhig gehen. Für Hansjürgen und das Essen sorgte Salmele, und bis zur Mittagszeit war sie längst wieder zurück.

Als sie die Treppe hinabsprang, begegnete ihr Siegfried Höpfner, der mit einer zusammengerollten Wandkarte aus einem Klassenzimmer ins andere ging. Er wurde rot und machte mit der Karte unter dem Arm einen linkischen Bückling. »Guten Tag, Herr Siegfried,« sagte Kläre lächelnd und huschte hinaus. Höpfner sah ihr nach, als sie schon verschwunden war. Sein Herz schlug stark, und er überließ sich eine Weile seinen wahnsinnigen Gedanken, dann raffte er sich auf und trat ins Klassenzimmer, wo Direktor Kolb über den Untergang des ostgotischen Reiches in Italien sprach. Da wußte Siegfried vor allen Bescheid, denn Dahns ›Kampf um Rom‹ hatte er manche Nacht unter dem Kopfkissen gehabt.

Kläre kam ganz schwindlig vom hastigen Aufstieg zu Frau Eisenreiter, die in der Wohnstube saß. Die Sonne spiegelte sich in dem dunklen Parkettboden, und das Holz knackte leise, als Kläre schnell darüberhinschritt, um die alte Frau nicht zum Aufstehen aus ihrem Lederfauteuil gelangen zu lassen.

»Bitte, Frau Eisenreiter, nicht aufstehen. Ich setze mich zu Ihnen, nur ein Viertelstündchen. Wissen Sie, ich helfe Ihnen die Namen in die Taschentücher sticken.«

Und sie kramte in dem geschnitzten Nähtisch nach Nadel und Faden.

»Nein, lassen Sie nur, Frau Kläre, das eilt ja nicht. Es ist lieb, daß Sie so zu uns alten Leutchen kommen. Wo 51 haben Sie denn Ihren Kleinen? Wollen Sie mir den nicht einmal herbringen?«

Kläre wurde einen Augenblick verlegen und guckte scheu zu der Fragerin empor.

»Gott, Frauchen, Sie schielen ja ganz allerliebst,« sagte diese lächelnd.

»Ach, liebe Frau Doktor, lassen Sie mich ein bißchen allein bei Ihnen hier. Es erinnert mich so an zu Hause, wo wir auch so große, stille Zimmer hatten im Seminar.«

»Fühlen Sie sich denn so fremd hier in Dornkirch?«

Kläre blickte sinnend vor sich hin. Endlich antwortete sie:

»Fremd? Ich weiß nicht recht. Ich hab nur nichts, wo mich so recht festhält. Ich meine, ich bin so unsicher. Wissen Sie, ich hab das Gefühl, als wehte einen eines Tages ein böser Wind nur so weg.«

»Was für Gedanken, Frau Kläre! Hier sitzt man fest. Sehen Sie, wir sind jetzt bald vierzehn Jahre hier.«

»Um Gottes willen!« stieß Kläre hervor.

Da lachte Frau Eisenreiter.

»Ja, und leben noch und sind nicht anders geworden als wir waren.«

»Das ist's ja gerade,« ereiferte sich Kläre. »Sie sind aber so, so – ich weiß nicht, wie ich's ausdrücken soll. Aber ich, ich brauch immer was anderes, was Neues.«

»Aber Liebchen, das hatten Sie doch in Ladenburg auch nicht!«

»Doch, das hatte ich. Da hab ich mit allen mitgelebt, hier will kein Mensch was von einem wissen. Nur Sie.«

52 Frau Eisenreiter strich ihr über das zarte Haar, das sich unter ihren Fingern kräuselte.

»Das kommt, kommt alles noch. Und dann haben Sie doch ihr Kindchen!«

»Gelt, das ist ein lieber Kerl!« erwiderte Kläre, und ihre Gedanken sprangen lustig auf andere Wege. Sie erzählte lachend Hansjürgens letzte Heldentaten. »Aber Schulmeister darf er nicht werden,« schloß sie mit gerunzelten Brauen.

»Nanu, warum denn so finster, Frau Klärchen?«

»Er soll Offizier werden,« trumpfte Kläre auf.

Die alte Frau lachte leise, dann blickte sie ernst und sorgenvoll.

»Bis der mal so weit ist, kann viel passiert sein. Es kann jeden Tag losgehen.«

»Krieg?« fragte Kläre ungläubig. Sie kümmerte sich gar nicht um Politik und horchte kaum hin, wenn Georg davon sprach. In der ›Täglichen Rundschau‹ las sie nur die Feuilletonbeilage und im ›Ladenburger Anzeiger‹ zuerst, was im Städtchen geschehen war und dann die Annoncen.

»Seit der Boulanger Kriegsminister ist, wird ja drüben wahnsinnig gerüstet und manövriert. Haben Sie noch nie in Belfort schießen hören?«

»Nein, hört man denn das hier, wir sind doch so weit weg!«

»Wenn sie Nachtmanöver halten, und das tun sie jetzt oft, hört man es ganz gut. Eisenreiter meint, sie täten das nur, um den Elsässern zuzurufen: Hört ihr uns, wir sind da, wir kommen bald, euch heimzuholen!«

53 »Das wollen wir erst abwarten,« trotzte Kläre und fühlte sich als deutsche Frau.

Da trat Eisenreiter ein, ein Schulheft in den Händen, die Brille hoch auf die Stirn geschoben.

»Minna, hör einmal zu, was der Höpfner, der Bengel, da schreibt, wieder ganz poetisch! Nächstens dichtet er seine Aufsätze in Hexametern.«

Und er wollte anfangen zu lesen.

»Aber Männe, wem willst du denn vorlesen?« antwortete seine Frau lachend.

Doch als er nur abwehrend mit der Hand winkte, ohne vom Heft aufzuschauen, faßte Kläre Frau Eisenreiters Arm und bedeutete ihr zu schweigen. Und Eisenreiter las drei, vier Seiten des Aufsatzes vor.

»Was sagst du nun dazu? Ist das ein verständiger, normaler Aufsatz!«

Er schlug ärgerlich mit dem Heft auf die flache Hand.

»Ich finde es wundervoll,« erwiderte Kläre mit schalkhaftem Ernst.

»Wer? Was? Sie sind's, verehrte Frau Direktor!«

Er eilte auf sie zu, so schnell die kurzen Beine es gestatteten und erging sich in Entschuldigungen.

Nun lachten sie alle drei. Dann kam Eisenreiter auf Höpfner zurück.

»Ja, das ist nun wohl wahr, der Junge hat Phantasie und schlägt mächtig mit den Flügeln. Aber was kann ihm das nützen! Das kann er doch später, in der Schule ist das nur von Schaden. Er liest zu viel.«

»Das kommt vielleicht daher, daß er allein hier ist. Er 54 ist doch in Pension. Bei Sütterlin im ›Schwarzen Lamm‹, nicht wahr, Männe?«

»Ja, ich glaube.«

»Ist denn das nicht gefährlich? In einem Gasthaus?« fragte Kläre.

»Hm, ja, wie man's nimmt. Aber wo soll der Junge denn hin? In einer Familie findet er keine Aufnahme, die fürchten die Staatsgewalt, die auch über der Schule schwebt und ihnen in den Kochtopf gucken könnte, und dann ist noch Kollege Rotenberger da, der hat aber zwei Brauersöhne aus Thann, die ihm ein schönes Stück Geld bringen. Der alte Höpfner ist ein armer Teufel, verbauert, versauert, da ist an ein Quartier bei Rotenberger nicht zu denken.«

»Ja, warum nehmen Sie ihn denn nicht auf, lieber Doktor, Sie haben doch so 'ne Masse Platz?« fragte Kläre unbefangen.

»Um Gottes willen!« rief Frau Mina und rückte ängstlich auf ihrem Sessel.

Eisenreiter aber fuchtelte erregt mit der Rechten in der Luft.

»Nein, nein, beste, verehrte Frau, davon kann gar keine Rede sein. Wir sind zwei alte stille Leute. Wir wollen unsere Ruhe haben und unser bißchen Häuslichkeit genießen. An der Schwelle des Progymnasiums hört für mich die Schule auf. Abgesehen von den Heften da. Hier bin ich Privatmann, Mensch. Und was sollte aus unserer Musik werden! Schon der Gedanke, daß neben mir irgendwo einer sitzt und Homer liest oder gar Allotria treibt, meinen Hausschlüssel nimmt und mir am Ende 55 gar leichtfertige Dinge ins Haus trägt, das würde mich um meine ganze Ruhe und Freude bringen. Nein, nein, hier bin ich Eisenreiter, einfach Eisenreiter, der Schulmeister bleibt vor der Tür.«

Frau Minna hatte ihrem Manne wiederholt beipflichtend zugenickt, jetzt streckte sie die Hand aus, und er faßte und streichelte sie, als wäre eine große Gefahr an ihnen vorübergegangen.

Kläre antwortete mit einem kleinen Seufzer:

»Ach Gott, mein Mann, der ist immer und überall Schulmeister.«

»Ja, es ist schwer, das auseinander zu halten,« entgegnete Eisenreiter mit einem gewissen Stolz, dann setzte er hastig hinzu: »Aber Ihr Herr Gemahl ist auch eine Kapazität. Der hat die Schule in der Hand. Und dazu Disziplin. Und Disziplin, sehen Sie, Frau Direktor, das ist die Hauptsache. Darauf muß gehalten werden.«

Er erregte sich und drückte die Brust heraus, die Hand seiner Frau immer noch fest in der Linken. Da läutete es draußen mit vollem Schall Mittag und Kläre fuhr in die Höhe.

Stürmisch nahm sie Abschied und stob die Treppe hinunter. In der Scherbengasse begegneten ihr die Schüler, der Probekandidat Doktor Ledermann, der tief den Hut zog und Doktor Winghoff, der Ordinarius der Obersekunda. Sein Gruß war militärisch steif, er hielt sich stramm und zuckte mit keiner Miene. Als Kläre den Hof überschritt, trat ihr Mann aus dem Tor des Nebengebäudes, wo die Vorschule untergebracht war.

»Kläre, woher kommst denn du?« sagte er unwirsch.

56 Daß sie ihm auch gerade in den Weg laufen mußte, er konnte diese Gänge über die Straße und barhaupt in den Tod nicht leiden. Sie versuchte ihm kindlich zu kommen, mit der ganzen naiven Fröhlichkeit und Lebenslust, die so oft ungestillt in ihr tätig war, aber er blieb bei herben Scheltworten. Da verstummte Kläre und ging schmollend vor ihm her in ihre Wohnung hinauf.

Bei Tisch sprachen sie kein Wort zusammen, alle Ansätze prallten an Georgs verbissenem Schweigen ab. Hansjürgen schlief. Erst am Tage darauf löste sich die Starrheit in Georgs Wesen, aber nun schmollte Kläre noch im Bewußtsein ihres Sieges und suchte seinen Freundlichkeiten auszuweichen. Er wurde weichmütig und zärtlich. Da gab sie langsam nach und kostete ihren Triumph, als er sie bittend umfaßte und den dichten Schnurrbart auf ihren Mund preßte. Und da wachte auf einmal die Erinnerung an den ersten Tag, den Tag ihrer Ankunft und des Patronsfestes in ihr auf, und in einem tollen, übermütigen Augenblick erzählte sie ihm, ohne daß sie sich eigentlich bewußt wurde, daß sie ihn reizte und eifersüchtig machte, die Geschichte von der Begegnung auf dem Kirchensteig. Sie schmückte die Szene aus, erfand Keckheiten, die jener ritterliche Pompier gar nicht begangen hatte und weidete sich an Georgs eifersüchtigem Grimm. Aber dann ließ sie sich seine Küsse lächelnd, mit geschlossenen Augen gefallen.

»Und weißt du, wer's war?« fragte sie und schlüpfte von ihm weg.

»Ich will's ja gar nicht wissen, sonst erwürg ich den Kerl,« stieß er schweratmend hervor.

57 »Nein, Schorschle, das tust du nicht. Ich hab's erst später erfahren, wie ich mal mit dem Bubi zu Sinniger ging einen Hampelmann kaufen. Monsieur Sinniger war's!«

»Sinniger! Natürlich! Der Filou!«

Kläre lachte hell auf, und Georg rannte wütend aus der Stube. Zwei Tage lang war Kläre wie ein Mäuschen, ging nicht aus dem Hause, trippelte um ihren Mann herum und ließ sich alle Verweise, alle Zärtlichkeiten gefallen. Das Salmele verbiß sich das Lachen, wenn es von ungefähr schwer auftretend in das Zimmer kam und der Herr polternd auf es losfuhr. Er kannte Madame Klärle immer noch nicht, der gute Jockel! Und am dritten Tage brachte Kläre ihr Anliegen vor. Sie saßen am Kaffeetisch, den die Sonne mit Gold gedeckt hatte. Hansjürgen stand zwischen Georgs Beinen und riß an der stählernen Uhrkette.

»Ich fahre heute mit Frau von Wernecke aus, Georg,« begann sie.

»Ja, ich weiß, unerhört. Sonst immer zehn Schritt vom Leib der heiligen Kaste wegen. Ganz Dornkirch wird auf dem Kopf stehen.«

»Nicht wahr, fein, feinfein!« frohlockte Kläre, »aber weißt du, Handschuhe, die muß ich mir noch schnell besorgen und einen Schleier. Bei Brunschwigs?«

»Meinetwegen beim Konditor,« antwortete Georg trocken.

»Dann bitte, Schorschle, gib mir Geld, du kannst mir gleich für alles andere mitgeben, gell!«

Sie war ihm näher gerückt und blinzelte ihn an.

Auf seiner Stirn braute ein Wetter.

58 »Ja, hast du denn dein Wirtschaftsgeld – ja zum Donnerwetter – es ist doch erst der neunzehnte!«

Er riß dem Kleinen die Uhr aus der Hand und fuhr sich wild durch das borstige Haar. Sein Kinn hatte sich gestrafft. Kläre kannte den harten Zug, aber unbekümmert fuhr sie fort:

»Weißt du, ich habe schon keins mehr seit vorgestern. Es reicht eben nicht.«

Er sprang auf, der Kleine saß mit einem Plumps auf der Diele und schrie los. In das Geschrei hinein rief Kolb:

»Du hast schon wieder dein Wirtschaftsgeld verplempert! Du weißt natürlich nicht, wo's geblieben ist, du pantschst nur so im vollen. Das ist ja um verrückt zu werden!«

Das Salmele kam ungerufen auf Hansjürgens Geschrei herein und hob ihn auf.

»Allons, schweig, Jürgi, schweig,« redete sie ihm zu und trug ihn ruhig aus dem Wetter.

»Ja, das ist es, rein, um verrückt zu werden,« erwiderte Kläre kläglich. »Aber diesmal habe ich alles aufgeschrieben, damit du nicht wieder so über mich herfällst. Wart, ich hol dir das Buch.«

Und sie rannte ins Nebenzimmer und riß ein Heft aus der Kommode. Eifrig mit dem genetzten Zeigefinger die Seiten blätternd, kehrte sie zurück.

Georg stand am offenen Fenster und starrte über die herbstlich gefärbten Linden ins Weite. Feiner Duft säumte das Gebirg, bunt blitzte das Tal in der Septembersonne. Kläre trat hinter ihn, aber er kehrte sich nicht um.

59 »Siehst du, Schorschle, da steht alles schwarz auf weiß.«

Sie hielt ihm das Heft hin mit einem bänglichen Gefühl und schielte lächelnd zu ihm auf. Denn, wenn er genau nachrechnete, wenn er fragte und verglich, dann wäre sie wohl um manche Auskunft verlegen gewesen.

»Na, nun sieh doch bloß hin. Höchstens stimmen die Pfennige nicht ganz, aber vertan hab ich nichts. Du kannst ja auch Salmele fragen.«

Ohne hinzublicken, die Augen immer noch in der Ferne, antwortete er rauh:

»Jetzt ist's das letzte Mal. Dann nehme ich die Kasse. Das werd ich ja wohl auch noch können, dann wird's schon reichen.«

Einen Augenblick war Kläre verblüfft, aber nur einen Augenblick. Er hatte in Ladenburg auch schon einmal so gesprochen. Als es auf den Abschied ging und von allen Seiten kleine Rechnungen ins Haus geflattert kamen.

Es war bei der Drohung geblieben.

»Tu's doch, Georg, dann bin ich die furchtbare Sorge los mit dem Geld,« erwiderte sie und knüllte das Heft zusammen, um es rasch in die Tasche zu schieben.

Da fuhr er herum.

»Ja, das tät dir passen, Mamsell. Zu dem ganzen Schulkram auch noch den Haushalt. Da bist du schief gewickelt. Lieber hol ich das Dienstmädchen ran, verstanden!«

Sie hatte die Hände über dem Tändelschürzchen gefaltet, unter dem das Haushaltungsheft hervorguckte, und sah ihn mit groß aufgeschlagenen Augen an.

»Ja, Schorschle,« antwortete sie leise, ergeben.

60 Er funkelte sie durch die Brillengläser an, aber nicht imstande, länger in ihr duldendes Gesicht zu blicken, aus dem ihre feuchten Augen ihn demütig ansahen, ging er langsam in sein Studierzimmer hinüber und suchte aus der kleinen, eisernen Kassette einen Hundertmarkschein heraus.

Kläre war leise hinter ihm hergehuscht. Als er sich umwandte, lächelte sie ihn an und griff mit spitzen Fingern nach dem Schein.

»Ich bin ja ein armes kleines Pferdchen, das keinen Hafer mitgebracht hat in die neue Krippe,« schmeichelte sie.

»Ja, an der Krippe ist keins von uns geboren,« antwortete er in bitterem Ton.

Sie lächelte schon wieder, das Grübchen verriet ihren Übermut.

»Ach, wenn wir doch eine Kasse hätten wie Monsieur Sinniger, Georg, das wäre fein, was!«

Bei diesem Namen furchte sich Kolbs Stirn tiefer.

»Verfluchter Kindskopf!« schrie er sie heftig an, drängte sie mit einem Schub über die Schwelle und schlug die Türe zu. Er hörte sie davonrascheln und vergrub sich in seine Arbeit. Aber dazwischen versuchte er auf einem Heftdeckel zu rechnen, ohne zu einem Ziel zu kommen. Sie hatte nichts gehabt, er hatte noch Schulden bezahlen müssen für Brettschneider, der ein paar Jahre von einem Bad ins andere geschlichen war ohne aufzukommen, und nun fraß ihm der Haushalt, die Lebensversicherung und dies und das den Gehalt, er wußte selbst nicht wie.

Kläre war, den blauen Geldzettel schwenkend, in die Küche gerannt.

61 »So, Salmele, jetzt zieh dir deinen Lohn ab und dann –«

»Dann bezahlen wir den Bäck und den Confiseur und die Modistin, und hernach sind wir wieder ausgezogen bis auf die Strumpfbändel,« ergänzte die Magd den Satz und schüttelte die roten Hände unmutig im heißen Geschirrwasser.

Da hockte sich Kläre auf den Küchenschemel, zog den Jungen, der ihr auf die kleinen Glanzlederschuhchen trat, auf den Schoß und saß eine Weile ganz still.

Das Salmele lärmte mit dem Geschirr, als müßte alles in Stücke gehen. Endlich rieb es die nassen Arme am Tellertuch ab, nahm den Hundertmarkschein und maulte:

»Ich gehe wechseln, und den Bäck, den müssen wir zahlen, sonst verschimpft er einen bis dorthinaus. Mit meinem Lohn, das hat Zeit, der läuft mir nicht fort.«

Kläre guckte hinter ihr drein, wie sie über den Flur ging, und preßte Hansjürgen fester an sich, küßte ihn mit heißen Lippen, daß er kicherte und schrie, und eilte ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Schleier und Handschuhe fehlten, und Kläre wartete ungeduldig auf Salmeles Rückkehr.

»Endlich!« rief sie ihr entgegen, nahm zwei Taler in die Hand, warf das übrige in die oberste Kommodeschublade und schritt im Sturm durch die Scherbengasse. Am ›Ochsen‹ begegnete ihr der Amtsrichter und grüßte mit einem zuckrigen Lächeln. Er blieb sogar auf der Vortreppe stehen und schaute ihr unauffällig nach. Sie fühlte es mehr, als sie es bei einem flüchtigen Blick über die Schulter gesehen hatte. Unwillkürlich machte sie eine 62 Bewegung, als müßte sie ein lästiges Insekt abwehren, er war ihr unsympathisch mit seinem fetten Lächeln auf dem geröteten Gesicht. ›Ein altes Kalb‹ hatte sie patzig zu Georg gesagt, als der Amtsrichter Kolbs Besuch erwidernd im Kloster erschienen war. Georg hatte den alten Hagestolz verteidigt. »Der Mann sitzt hier solo, hat den Anschluß verpaßt. Nun muß er sich durchfressen, wie's eben geht, wenn man in einem Nest ist, wo absolut kein Verkehr mit den Eingesessenen möglich ist. In Deutschland hätte er bei den Honoratioren sein warmes, bevorzugtes Plätzchen. Hier rennt er gegen eine Wand an. Die paar Beamten und Lehrer! Die Elsässer schließen sich doch gegen uns Eindringlinge hermetisch ab. Na, und unter uns, da ist doch der verfluchte Kastengeist, und von intimem, zwanglosem Verkehr in den Familien ist auch keine Rede. Was bleibt also: der Stammtisch und was drum und dran hängt.«

Georgs Rechtfertigung kam ihr in den Sinn, als sich die Kellnerin aus dem Fenster des ›Ochsen‹ lehnte und den Amtsrichter anrief. Aber sympathischer war er ihr nicht geworden. Sie hatte nun einmal ein heftiges Gefühl für und wider gewisse Menschen, andere waren ihr gleichgültig und mit denen kam sie eigentlich am besten aus.

Ferdinand Sinniger stand unter der Türe, als Kläre in das Brunschwigsche Geschäft trat.

»Amélie,« rief er in den Laden, »vite, ein paar Augen voll, elle est charmante.«

Frau Amélie hatte ihr Jüngstes auf dem Arm und zählte Heiligenbildchen ab.

63 »Laß doch die Helgen, die laufen ja nicht fort, und schau dir die kleine Madame Kolb an. Voilà une petite Sainte, die tät ich allen gedruckten préferieren,« ereiferte sich der Caissier.

»Nandi, verbrenn dir den Schnabel nicht,« antwortete die Frau ruhig und kam näher.

»Wenn ich bedenke, daß ich sie embrassiert hab, Nundefudder, ich spür's heute noch. Weißt du, Alte, sie scheint nur mager, sie ist heimlich feist.«

Er war die Stufen hinuntergetreten und stand am Rand des Trottoirs.

»T'es cochon, Nandi,« sprach Amélie mit gepreßter, trauriger Stimme und drückte das Bündel mit dem kleinen Phinele fester an sich.

Ein Wagen rollte aus dem Tor der Kreisdirektion und kam mit lautem Lärm die stille Gasse herauf.

»Aha, Nandi, voilà madame de Wernecke. Mach dein compliment, du bist gut postiert an deinem Platz.«

Der Spott ärgerte den Caissier, aber er blieb stehen, denn soeben trat Kläre aus dem Laden, den Schleier am Hut und die Glacéhandschuhe an den Händen. Als sie den Wagen erblickte, stieß sie einen kleinen Schrei aus und winkte mit ihrem Sonnenschirm. Der Kutscher hielt die Pferde an.

»Gnädige Frau, entschuldigen Sie! Ach Gott, wenn ich Sie verfehlt hätte!«

Frau von Wernecke hob die Lorgnette und blickte auf Kläre, die in einer Verlegenheit, die sie köstlich kleidete, am Wagenschlag stand. Die hochmütigen Linien, die um 64 den schmalen Mund zuckten, verliefen sich, und mit einem blassen Lächeln antwortete sie:

»Sie sparen dem Kutscher den Weg über das gräßliche Pflaster der Scherbengasse. Bitte, steigen Sie ein, liebe Frau Kolb.«

Etwas störte Kläre in dieser Antwort, sie wußte nur nicht schnell genug was, aber dann erwiderte sie kleinlaut:

»Eigentlich sollte ich noch mal nach Haus.« Doch als Frau von Wernecke die Augenbrauen hob, setzte sie hastig hinzu: »Ach nein, es ist nicht nötig. Ich darf also einsteigen?«

Und sie versuchte den Schlag zu öffnen, der eisern widerstand. Da stürzte Ferdinand Sinniger in Hemdärmeln herbei, griff mit nerviger Hand die Klinke und riß den Wagenschlag auf, daß es klirrte.

»Vous permettez, madame,« sagte er mit ritterlichem Anstand, und auf seine Faust gestützt stieg Kläre in den Landauer, in dem Frau von Wernecke steif, mit fest geschlossenen Lippen auf dem Ehrenplatz lehnte.

»Merci bien, monsieur Sinniger,« rief Kläre, als sie saß.

»Oh, madame, il n'a pas de quoi, toujours à votre service,« entgegnete er. Ihr französischer Dank hatte, weil er von einer Deutschen kam, ihm doppelt wohl getan und erst noch von Madame Kolb. Der kleine Fuß in dem eleganten Molièreschuh, ein Stückchen des durchbrochenen Strumpfes und ein froufrou von seidenen Jupons. Beim Einsteigen hatte er sie gemustert. Ah voilà und dame! Die war ja so gut wie eine von ihnen!

65 Als der Kutscher schon die Pferde drehte, stand Sinniger immer noch so nahe neben dem Schlag, daß ihn die Räder gefährdeten. Da rief Frau von Wernecke, die während des Zwischenfalles kein Wort gesprochen hatte, indem sie die Lorgnette an die Augen führte und die Auslage des Basars Sinniger musterte:

»Sagen Sie doch, bitte, wo haben Sie meine Bilder? Ich sehe sie ja nicht, die müssen doch zum Trocknen ins Schaufenster.«

Sinniger fiel aus allen Himmeln, und als er seine Frau, die die lauten, scharf betonten Worte gehört hatte, mit einem unterdrückten Lachen ins Dunkel des Ladens zurückweichen sah, da stieg ihm der Ärger in die Kehle. Aber er bezwang sich, schluckte und entgegnete, langsam neben dem Schlag hergehend:

»Pardon, Madame, aber sie machen jedesmal mehr Arbeit, wenn man's nicht subtil anfängt, so reißt das Papier.« Und sich an Kläre wendend setzte er französisch hinzu: »Vous savez, madame, ce sont des vieux tableaux, ça ne colle plus.«

»Fritz, fahren Sie zu! Nach Aslach!« schnitt ihm Frau von Wernecke die letzten Worte ab und blickte starr geradeaus, seinen Gruß, den Kläre mit einem befangenen Lächeln erwiderte, unbeachtet lassend.

An den Fenstern in der Kreuzgasse bewegten sich die Vorhänge, der Apotheker und die Ochsenwirtin erschienen unter den Türen, der Amtsrichter schaute über die Schulter der Kellnerin, und wild stoben die Tauben auf vor den trabenden Pferden. Auf dem Balkon der ehemaligen Unterpräfektur erschien der Kreisdirektor und grüßte 66 verbindlich in den vorüberrollenden Wagen. Im Torschatten stand Vogel und wischte den Schweiß von dem kahlen Kopf. Er stülpte die Mütze auf und hielt den Atem an, steif wie ein krummer Rebstock, so lange er Kläres Schleier wehen sah.

Rasch rollte der Wagen die Straße hinunter, am Lindenwall entlang und an der Schmiede vorbei über die Brücke. Kläre hatte einmal scheu zu den Fenstern ihrer Wohnung emporgeblickt, aber die waren weit geöffnet, und niemand war zu sehen.

Frau von Wernecke hatte gewartet, bis die Landstraße erreicht war, im Schatten der Platanenallee fuhren sie nun flußaufwärts. Jetzt räusperte sie sich:

»Sie müssen mir das nicht übel nehmen, verehrte Frau Direktor, aber ich glaube, es ist nicht klug, wenn man den Leuten auf ihren gräßlichen Mischmasch von Dialekt und Französisch auf französisch antwortet.«

»Ach Gott, gnädige Frau, daran habe ich noch nie gedacht. Wenn mich jemand so anspricht, antworte ich immer so. Ganz von selbst.«

»Das dachte ich mir. Ganz ohne Absicht tun Sie das. Sie sind jung und unerfahren und fremd hier. Ich begreife das vollkommen. Sie sollen an mir stets eine Stütze finden.«

Kläre murmelte unsicher ein »Sehr gütig«. Der Ton, in dem Frau von Wernecke gesprochen, war durchaus kühl gewesen, ihr farbloses Gesicht unbewegt, aber die hellblauen Augen, in denen die Farbe auszugehen schien, blickten sie so klar und beinahe warnend an, daß Kläre verlegen wurde.

67 Der Kutscher ließ die Braunen langsamer gehen. Es war ein Herbsttag voll kräftiger Farben von einer Sommersonne überstrahlt. Jetzt kamen sie am Gewerbekanal und an der Spinnerei vorbei. Das Wasser brauste und die Spinnmaschinen dröhnten. Ein Reiter hielt in der Toreinfahrt und gab einem Beamten Befehle. Als der Wagen vorüberfuhr, drückte er den Gaul herum und grüßte mit eisiger Reserve. Aber als Kläre neugierig zurückschaute, traf sie auf sein Auge, das sich in ihrem Blick verfing. Es war, als wollte er sich noch einmal im Sattel verneigen. Sie wandte verwirrt den Kopf.

»Wer war das?« fragte sie mit heißen Backen.

»Herr Haury, der Fabrikant, Dornkircher Pair,« versetzte Frau von Wernecke.

Und dann erzählte sie kurz, sachlich, das Haury Witwer sei und mit seinen beiden erwachsenen Töchtern die Villa an der Römerstraße bewohne. Seine Schwester mache die Honneurs.

»Er sieht noch sehr jung aus,« warf Kläre ein.

»Finden Sie?« entgegnete die Erzählerin kühl. »Stilisiert, konserviert, wie ein Franzose, das scheint mir alles zu sein.«

»Sie mögen ihn nicht?« fragte Kläre leise.

Frau von Wernecke antwortete nicht sofort. In langsamem Trab fuhr der Wagen zwischen Wiesen und Obstbäumen an der Berglehne hin. Der Fluß zog sich in einem weiten Bogen durch das Tal, stille Altwasser blinkten unter Weidengestrüpp, und bunter Laubwald stieg von den Hügeln herab. Die Herbstzeitlosen blühten, aber goldener Staub wolkte unter den Hufen und die 68 Grillen zirpten im tauigen, in der Sonne flimmernden Gras. Kläre schreckte auf, als Frau von Wernecke das Schweigen brach.

»Wir haben ihm als Notablen alle Avancen gemacht und Rücksichten erwiesen, die man in Straßburg empfahl. Er hat genommen, was ihm dienlich war, aber auch nicht einen Deut für uns getan. Mein Mann weiß, daß die Jagdfreunde, die sich Herr Haury aus Frankreich verschreibt, ganz andere Zwecke verfolgen, als Hasen und Hühner zu schießen.«

»Stehen Sie in gesellschaftlichem Verkehr? Georg wollte nicht Besuch machen bei – in der Villa.«

»Nein. Ihr Herr Gemahl hat vollständig recht. Die Leute gehören nicht zu uns.«

Auf die scharfen Worte folgte tiefes Schweigen. Nach einer Weile fragte Frau von Wernecke nach Hansjürgen.

»Hüten Sie ihn gut, den Kleinen, ich weiß, was es heißt Kinder zu verlieren.«

Kläre tastete nach der Hand, die die Lorgnette krampfhaft umfaßt hielt. Es zog sie nichts zu der kühl blicken den Frau, aber in den Worten hatte ein nagender Schmerz gezittert. Sie entsann sich, daß Frau Eisenreiter ihr erzählt hatte, Frau von Wernecke hätte vor zehn Jahren zwei Kinder an Diphtheritis verloren.

»Liebe Frau von Wernecke,« flüsterte sie voll Mitgefühl.

»Ja, ein Jahr vor unserer Versetzung nach Dornkirch. Willy und Hannchen, im Leben waren sie zwei Jahr auseinander, gestorben sind sie in einer Woche. Wir haben keine mehr bekommen.«

Das sagte sie ohne merkbare Bewegung, ruhig, als 69 berichtete sie Alltägliches. Bei dem Gespräch über Haury war sie erregter gewesen. Aber Kläre hielt eine frostkalte, magere Hand in ihren warmen Fingern. Sie fühlte, daß hier jedes Wort zu viel war, und so fuhren sie schweigend weiter auf der blanken Straße. Kein Mensch kam des Weges, die Felder waren leer, nur weit in der Ferne wuchsen dunkle Dächer über das Gebüsch, und vom Kalkberg, der jenseits des Flusses und des Bahndammes seinen kahlen Rücken in die Höhe krümmte, schollen dumpfe Detonationen aus den Steinbrüchen, Dornkirch war hinter den Hügel gesunken, den die Straße umschlang. Heiß brannte die Sonne durch Kläres hellen Schirm. Frau von Wernecke atmete schwer in ihrem dunklen, fest geschlossenen Kleid.

»Wollen wir ein paar Schritte gehen, gnädige Frau?« fragte Kläre zaghaft und deutete auf einen Weg, der unter alten Weidenbäumen hinlief und dem Flusse zustrebte. Ein Gehölz von Pappeln und Erlen und Weidenbüschen umschloß das Wasser und lockte mit kühlem Schatten.

»Gewiß, gern.«

Sie stiegen aus und gingen den grünüberwachsenen Weg.

»Sie müssen sehr jung geheiratet haben, Frau Kolb,« sagte Frau von Wernecke, aber ohne zudringliche Neugier. Es war mehr eine laut geäußerte Reflexion.

»Ich war schon zweiundzwanzig Jahr alt.«

Ein Schein von Heiterkeit erhellte das unbewegliche Gesicht der Älteren.

»Schon, sagen Sie. Und sehen heute noch aus wie neunzehn.«

70 »Ja, und denken Sie nur, als ich fünfzehn war, sagte Papa auch schon immer, Kind, dich hält man für neunzehn.«

»Es gibt so Naturen, ich könnte Ihre Mutter sein – dem Aussehen nach!«

Das letzte klang frostig; wie über sich selbst erstaunt und erzürnt, schloß die Frau die dünnen Lippen fest und ging schneller.

Kläre betrachtete Frau von Wernecke einmal prüfend von der Seite. Die Frau hatte recht, sie sah aus wie eine Vierzigerin, und Herr von Wernecke erschien jünger, ein hochgewachsener, blondbärtiger Mann mit hellen Augen.

Plötzlich blieb Frau von Wernecke stehen. Sie waren im Ufergebüsch angekommen. Die Sonne schüttete grüngoldene Lichter hinein, und die Pappelblätter glänzten in bläulichen Tönen. Aber die Frau sah nicht in das Farbenspiel, sie hatte die Augen halb geschlossen und neigte sich vor und lauschte.

»Hören Sie nichts?« fragte sie.

»Doch, das sind Mädchenstimmen,« erwiderte Kläre und lief schnell weiter, das Wasser blitzte herüber, jetzt sah sie durch die Weidenstrünke über den Fluß. Mit geröteten Wangen rief sie der langsam schreitenden Frau entgegen, ohne die Stimme zu erheben:

»Badende Mädchen! Man möchte gleich mitmachen.«

»Was, badende Mädchen, hier am offenen Wasser, das ist ja unglaublich!«

Kläre achtete gar nicht auf den Ton der Entrüstung und fuhr fort:

»Wie ein Bild! Sehen Sie nur, gnädige Frau! Ach, wenn ich doch –«

71 Frau von Wernecke räusperte sich so laut, daß Kläre erschrocken abbrach, aber nur aus Furcht, sie könnten gehört worden sein.

Eine Anzahl junger Mädchen, fünf oder sechs, badeten im klaren Wasser, das hier in breitem Zuge über blanke Kiesel floß. Eine stand bis an die Kniee in den Wellen, die an dem weißen, nassen Hemd zupften. Eine zweite schwamm drüben am andern Ufer. wo die Strömung lief, eifrig flußauf, die anderen trieben fröhliche Kurzweil, nur eine lag träg auf dem Sand, den Kopf in die Hände gestützt, mit blanken Beinen in die Sonne strampelnd.

»Nein, und die Kostüme!« flüsterte Frau von Wernecke empört, und die Lorgnette zitterte in ihrer Hand.

»Ja, es ist zu niedlich,« antwortete Kläre unbefangen, »und so praktisch. Einfach in ihren Hemden. Die dummen Anzüg sind ja auch nachher gar nicht mehr runterzukriegen. Aber, sehen Sie nur, das ist eigentlich das Wahre!«

Kläre wies mit der Spitze des Sonnenschirms auf die Schwimmerin, die jetzt im seichten Wasser Stand gewann und schlank aus der Flut tauchte. Glänzende Schultern und Brüste, schimmerndes Lichterspiel auf Hüften und Schenkeln, nackt stand sie einen Augenblick in der Sonne, dann stieß sie einen fröhlichen Jauchzer aus und warf sich mit ausgebreiteten Armen wieder in die dunkle Strömung, die sie rasch davontrug.

Kläre wäre ihr am liebsten nachgesprungen, aber eine Hand legte sich fest auf ihren Arm und zog sie fort. Einen Augenblick wollte sie sich sträuben, dann folgte sie gehorsam, und durch das Gesträuch gingen sie zurück 72 auf den Feldweg, hastig, als wäre eine Gefahr hinter ihnen. Frau von Wernecke war verstummt, ihre Lippen waren fest aufeinander gepreßt, die Augenlider zuckten nervös. Da wagte Kläre kein Wort zu sagen, lieber Himmel, was machte die Frau für ein Gesicht! Was hatte sie nur! Sie waren doch keine Jungen, die über den Zaun geguckt hatten! Da war doch gar nichts dabei! Wenn Frau von Wernecke nicht mit gewesen wäre, wahrhaftig, sie hätte sich aus den Kleidern geschüttelt und wäre in ihrem Batisthemd ins Wasser gestiegen. Oder auch ohne. Um es nicht naß auf dem Leib zu tragen. Unwillkürlich lachte sie laut vor sich hin.

Da wandte Frau von Wernecke den Kopf:

»Verzeihen Sie, Frau Kolb, aber ich habe diese grenzenlose Schamlosigkeit der Mädchen keineswegs lächerlich gefunden. Traurig, tief traurig!«

»Aber, Frau von Wernecke, ich verstehe das einfach nicht,« erwiderte Kläre empört.

Auf einmal flammte es in ihr auf, und auf den hochmütigen Blick antwortend, fuhr sie fort: »Was ist denn da dabei! Die Mädels dürfen doch baden, sie sind ja ganz unter sich! Das ist doch mindestens so schicklich wie in Ostende. Und kein Kostüm ist überhaupt das einzig richtige. Wenn die Sonne ihre Freude daran hat, natürlich nur.«

»Frau Direktor, diese Anschauung ist mir fremd,« entgegnete Frau von Wernecke eisig.

Durch die Breite des Feldweges getrennt, der zwischen ihnen seine tiefen, übergrünten Geleise hindurchtrieb, kehrten sie zu dem Wagen zurück.

73 Als sie heimwärts fuhren, begann Kläre zu überlegen. Am Ende hatte sie doch unrecht, und nun wurde sie unsicher. Bei dem Gedanken, es hätte sie jemand beobachten können, wenn sie wie jene Schwimmerin in der Sonne gestanden hätte, wurde ihr jetzt doch heiß. Frau von Wernecke saß aufrecht, die Hände im Schoß gefaltet und verzog keine Miene. Das Schweigen wurde Kläre so peinlich, daß sie zu sprechen begann, erst vom Wetter, dann vom Spazierenfahren und von der Verlassenheit, in der man in Dornkirch dahinlebte. Und endlich kam sie auf das Bad im Fluß zurück.

»In Ladenburg hatten wir es nicht so gut. In der Lade floß das halbe Jahr kein Wasser. Sie sperrten sie immer ab, um den Kanal zu füllen. An dem haben die Ladenburger dann eine Badeanstalt gebaut. Papa hat da viel mitgeholfen, der Seminaristen wegen, die konnten doch nicht alle Tage mit der Bahn zwei Stunden weit an den Rhein fahren. Im Rhein, da war es herrlich, ach, wie das einen so mitriß in dem grünen Wasser! Und nachher war man kühl wie ein Fisch. Im Kanal war das Wasser das reine Öl. Und mehr als zehn konnten überhaupt nicht zu gleicher Zeit baden, wenn man überhaupt schwimmen wollte.«

In Frau von Werneckes steinernes Gesicht war langsam wieder Leben gekommen. Sie nickte sogar einmal lebhaft, und jetzt unterbrach sie Kläres Geplauder mit einer entschiedenen Bewegung.

»Das ist ein guter Gedanke. Sie bringen mich da auf eine Idee, die muß sofort verwirklicht werden. Ein Bad am Kanal, damit schaffen wir das Ärgernis aus der 74 Welt. Das wird auch meinem Manne Freude machen. Das ist etwas, was einen Fortschritt zeigt in unserer Verwaltung. Sehen Sie, meine liebe Frau Direktor, so gefallen Sie mir! Ich werde die Sache heute noch anregen. Wir müssen sehen, wie wir das Geld zusammenbekommen. Im Frühling wird gebaut.«

Kläre wußte nicht wie ihr geschah, aber eigentlich war sie doch froh, daß die Spannung sich löste.

»Dort können wird bauen.«

Frau von Wernecke wies auf den Gewerbekanal, der vom Fluß in einem schnurgeraden Bett auf die Fabrik zuführte. Der erhöhte Damm lief grünumbuscht durch die abgeernteten Felder.

»Ja, dort können wir bauen,« stimmte Kläre leise ein, wie ein Schulkind, das beflissen die Worte der Lehrerin wiederholt, und dabei kroch ihr ein Schauder über die Haut, denn sie dachte an den Schlamm und die Egel und Schnecken, die in dem dunklen Wasser zu Hause waren. Ach, du lieber Himmel, da hatte sie wieder was Schönes angerichtet in ihrem unbedachten Sinn. Sie wandte unwillkürlich den Kopf und blickte zurück. Wo die feinen, silbernen Düfte aus den Wiesen aufstiegen und das Gehölz sich mit buschigen Kronen und schlanken Wipfeln zusammendrängte, dort tauchten irgendwo die Mädchen in die klare Flut, niemand sah sie, niemand störte sie, und nun wurde dort eine Warnungstafel hingepflanzt und hier an dem dunklen Graben schlugen sie eine Hütte auf und zäunten sie ein, und die Badeanstalt von Dornkirch war fertig. Aber Kläre faßte noch einmal Mut.

75 »Könnte man denn nicht hier oder näher bei der Stadt ein Flußbad errichten?«

»Aber der Fluß macht ja einen riesigen Bogen, und dort läuft doch die Bahn entlang. Und näher der Stadt zu ist er tief eingeschnitten, das kostete ja Tausende. Und die Überschwemmungen, eines Tages ist die Anstalt weggewaschen und ein ander Mal sitzt man auf dem Trockenen! Nein, nein die erste Wahl ist die beste. Es bleibt dabei.«

Kläre seufzte, und auf einmal ballte sie die Fäuste, daß der neue Glacéhandschuh, den sie an der Linken trug, unheimlich knirschte, und sie mußte sich Gewalt antun, um nicht aufzufahren und laut von Unsinn und Prüderie und einem Gänseteich zu reden, Worte, die ihr alle zugleich auf der Zunge lagen.

»Wir haben ja noch Zeit. Wie wäre es, wenn wir gleich hingingen und uns die Sache ansähen!«

Und schon rief Frau von Wernecke dem Kutscher halt zu und stieg aus. Kläre blieb eine Zeitlang trotzig sitzen und warf die Lippen auf. Da streckte sich ihr eine schmale Hand im Filethandschuh entgegen, um ihr behilflich zu sein. Sie tat, als sähe sie die Bewegung nicht, raffte das Kleid und tastete mit dem Fuß nach dem Wagentritt. In Frau von Werneckes Gesicht kam wieder ein starrer Zug. Sie hatte den glänzenden Schuh und den durchbrochenen Strumpf gesehen, und als Kläres Röcke rauschten beim Absprung, da sagte sie in spitzem Tadelton:

»Sie lieben wohl das Pariser Genre in der Toilette, Frau Direktor.«

76 »Oh, ich hab alles gern, was hübsch ist,« entgegnete Kläre fröhlich und lächelte mit allerliebstem Schielen.

Nun hatte sie ihre Rache geübt, und in einem Nu war die Kampfstimmung verflogen, sie lief sogar voran, die Böschung hinab und in einer hartgetretenen Furche hin, sich geschmeidig in den Hüften wiegend, mit dem Bewußtsein, daß ihr Frau von Wernecke mit kritischen Blicken folgte.

Bald standen sie auf der Böschung des Kanals im Nesselkraut und wanderten nun den Pfad entlang. Frau von Wernecke sprach verständig über die Anlage des Bades, und Kläre hörte zu. Langsam kamen sie der Fabrik näher. Eine Hecke schob sich zwischen sie und das Wasser, aber ein Brücklein, roh aus Holz gezimmert, verband die Ufer, und der Pfad setzte sich auf der andern Seite fort. Mitten auf dem Steg hielt Frau von Wernecke Umschau. Das Wasser lief glatt und dunkel zwischen geteerten Bohlenwänden, sie schätzten Tiefe und Breite.

»Es geht mir bis ans Kinn,« meinte Kläre. »Und dann geht es meinem Mann bis zur Brust.«

»Und breit genug ist es auch,« setzte Frau von Wernecke hinzu und maß mit langen Schritten die Brücke ab.

»Sechs Schritte,« rief sie. »Nur müssen wir dem Fluß näher bleiben, aber die Breite ist ja überall dieselbe.«

Die Augen mit den Schirmen vor der schrägscheinenden Sonne schützend, blickten sie über das spiegelnde Wasser.

Da rauschte hinter ihnen das harte Kraut der Pestwurz, das hier seine zersetzten Blätter ausbreitete.

Kläre schaute sich ängstlich um. Sie standen am Ende des Brückenstegs, an das Geländer gelehnt.

77 Monsieur Haury lüftete die Mütze und trat näher.

»Ich bitte um Verzeihung, mesdames, aber ich warne Sie, das Geländer ist ein wenig usé.«

Frau von Wernecke war errötet, kleine Flecke waren auf ihren Backenknochen erschienen, aber sie hatte sich in der Gewalt.

»Besten Dank für die Warnung, Herr Haury, wir werden die gefährliche Stelle sogleich verlassen.«

Es klang ein wenig ironisch.

Kläre sagte kein Wort, obgleich Haurys Augen sie fragend ansahen. Über sein Gesicht flog ein schnell unterdrücktes sarkastisches Zucken bei den Worten, die Frau von Wernecke sprach, und als sie sich anschickte über die Brücke zurückzugehen, trat er mit einer um Erlaubnis bittenden Verbeugung rasch auf den Steg und bot erst ihr und, da sie kühl ablehnte, Kläre die Hand.

»Erlauben Sie, daß ich Sie bis an meine Grenze zurückführe, meine Damen,« sagte er artig.

Frau von Wernecke neigte stumm den Kopf und ging voraus. Einen Augenblick hatte Kläre gezögert, aber dann gehorchte ihm ihre Hand, ohne daß sie es wußte, und er umschloß die Finger, die im Handschuh brannten, und schritt neben ihr her über die leise schwankende Brücke. Seine Sporen klirrten.

Kläre wagte nicht aufzuschauen. Vorhin hatte sie gar nicht bemerkt, daß nur an einer Seite ein Geländer angebracht war und daß der Steg fühlbar schwankte. Und wie rasch das Wasser in rastlosem Zuge zwischen den schwarzen Wänden hindrängte. Dann ging Haury neben ihnen her durch das Gras, achtlos in die Nesseln tretend und ein höfliches Alltagsgespräch unterhaltend.

78 »Es ist nicht viel zu sehen an unserm Kanal, nur für jemand, der wie Madame Kolb noch fremd ist, hat es einen Reiz, sich hier umzusehen. Mein Vater hat den Kanal vor dreißig Jahren gegraben, als die Fabrik die neuen Maschinen aufstellte.«

»Also gehört der Kanal Ihnen, Herr Haury?« fragte Frau von Wernecke unangenehm überrascht.

»Comme vous dites, madame. Ah pardon, aber ich falle immer in die französische Sprache. Das Terrain ist mein Eigentum.« Er beschrieb mit einer Hand einen Bogen, der den Kanal und seine Ufer bis hart an die Straße und weit ins Feld dem Fluß zu einschloß.

Frau von Wernecke warf Kläre einen Blick zu, der sagen sollte: das macht unsern ganzen Plan zu Schanden.

»Das wußte ich nicht,« sagte sie laut.

Er sah, daß es ihr unangenehm war, und erwiderte:

»Aber ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie vertrieben habe. C'est un honneur pour moi de voir ces dames sur le bord de mon pauvre ruisseau. Ich schätze ihn nur nach Pferdekräften, mais je comprends parfaitement le goût d'une femme, qui aime la nature. Et l'eau courante est comme un miroir des fées, wie ein Spiegel, der – wie sagt man doch deutsch – ach, der zaubern kann. Man sieht sich darin immer wechselnd. Les yeux rient, la bouche sourit, tout s'efface et reparaît, und dann kann es sein, daß das Gesicht seriös ist, la bouche se crispe, les yeux sont tristes – ganz wie in einem conte de fées.«

Und nach einer Pause setzte er leise hinzu, wie wenn die Worte nur für Kläre bestimmt wären:

79 »Vous ne répondez pas, madame?«

Da lachte Frau von Wernecke. Es war ein gezwungenes Lachen, obgleich sie sich bemühte, es natürlich erscheinen zu lassen.

»Ei, Herr Haury, Sie machen aus Ihrem Kanal ja ein Zauberwasser. Da kann man wohl die Zukunft drin lesen! Wie im Marienbrunnen auf dem Markt am Ostermorgen?«

»Qui sait, madame!« antwortete er und stimmte in ihr Lachen ein, sein Blick aber suchte ernst und fragend Kläres Gesicht. Und als sie schwieg, sagte er zu ihr gewendet:

»Sie schweigen noch, Madame?«

Das sollte heiter und leicht tönen, aber es war ein verhaltener, leidenschaftlicher Klang darin, der sie verwirrte.

Sie festigte ihre Stimme und erwiderte:

»Das sind niedliche Gaukeleien, Herr Haury.«

»Gaukeleien?« wiederholte er unsicher. »Pardon, Madame, ich kenne das Wort nicht gut, ça veut dire...?«

Er wartete auf Antwort.

Aber sie hatten die Landstraße erreicht. Der Wagen kam ihnen entgegen, und Haury fühlte, daß seine Zeit um war. Er öffnete den Schlag und ließ Frau von Wernecke einsteigen. Als Kläre ihr folgte, sagte er schnell:

»Ich werde zu Hause im Dictionnaire meiner Töchter nachschlagen, wie man ›Gaukeleien‹ schön übersetzen kann.«

Und dann nahm er Abschied.

Die Pferde zogen an, der Wagen rollte dem Städtchen zu, an der Fabrik vorbei.

Frau von Wernecke war untröstlich.

80 »Samtpfötchen, liebe Frau Kolb. Ich kenne das. Sobald mein Mann ihn fragt, sagt er nein. Der bringt kein Opfer. Und doch muß es sein, es ist im Interesse der Moral.«

Kläre war zerstreut. Die Pferde gingen im Schritt, denn die Steigung hatte begonnen. Ein Reiter trabte vorbei und grüßte. Es war Haury. Ein Kind rannte ihm in den Weg, aber er bog gewandt aus und winkte abwehrend der Mutter, die von ihrem Waschzuber weg auf das Kind zulief, um es zu züchtigen. Da packte Kläre auf einmal eine wilde Sehnsucht nach Hansjürgen, die war so stark, daß ihr das Herz flog und ein Schluchzen die Brust erschütterte. Nach Hause, zu dem Jungen! Sie sah und hörte nichts mehr. Als der Wagen am kleinen Tor vorbeifuhr, bat sie hier aussteigen zu dürfen. Es geschah wie im Traum.

Mechanisch nahm sie Abschied, wechselte Worte, deren Sinn ihr gar nicht zum Bewußtsein kam und eilte durch die dunkle Pforte, den Winkel und die Scherbengasse, als läge Hansjürgen todkrank. Sie flog die Treppe hinauf.

»Bubi, wo ist Bubi,« keuchte sie und stand mitten in der Stube, mit großen, angsterfüllten Augen um sich schauend.

Kolb war bei dem Lärm der Klingel aus seinem Zimmer herübergekommen.

»Nanu, was ist denn mit dir, du siehst ja ganz erhitzt aus!«

Aber sie hörte nicht, und als die Tür sich öffnete und Hansjürgen hereintrottelte, da rannte sie mit einem Schrei 81 auf ihn zu und riß ihn an sich und ließ sich von ihm zausen und liebkosen, und nistete sich mit ihm auf dem Schoß in die Sofaecke, das Gesicht fest an seine Schulter gedrückt, wo das Hälschen blank lag unter ihren Küssen.

»Aber Kläre, du bist ja nicht gescheit,« rief Georg und suchte ihr das Kind wegzunehmen. »Das ist doch keine Erziehung.«

Da richtete sie sich auf und schrie ihm wild entgegen:

»Laß mich, hörst du, das Kind ist mein.«

»Ja, das soll wohl sein,« entgegnete er mit breitem Lachen und bückte sich über sie.

Aber sie stampfte mit dem Fuß auf. Ihre Augen blickten abweisend, ihre Lippen zitterten, kein Ton kam aus ihrem Munde. Es war etwas in ihren Zügen, das ihn erschreckte. Eine grausame Kälte, wie wenn sie ein Ekel schüttelte, so ging ein tödliches Erblassen über ihr Gesicht.

Betrossen trat er zurück, rückte die Brille, zog die abgenutzte Weste glatt, die sich bei der Arbeit über den starken Leib hinaufgeschoben hatte und verließ das Zimmer, indem er mit gezwungener Ruhe und Unbefangenheit sagte.

»Du bist wieder mal nervös. Irrlichterst ein bißchen.«

Sie erwiderte nichts. Das Kind glitt von ihren Knieen und vergnügte sich im Spiel. Lange saß sie, die Hände kraftlos im Schoß und sah die Dämmerung ins Zimmer schleichen. 82

 


 


 << zurück weiter >>