Hermann Stegemann
Die als Opfer fallen
Hermann Stegemann

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II.

»Der Laden geht mir heut auf die Nerven,« klagte die Frau und stand langsam auf. Die Ladenglocke hatte schon wieder geläutet, und ihr zitterten die Kniee von dem ewigen Hin- und Herlaufen, in die Küche, in die Stube, in den Laden, vom Herd zum Tisch und von den Gästen zu den Kunden, und das alles nach der Aufregung des Morgens mit dem Kirchgang und den ganzen embarras des Tauffestes.

»Allons, Frau, trink noch einen Schluck, dann lüpft's dir die Bein besser.«

»C'est ça, encore une goutte!« stimmte der Pfarrer von Aslach dem Hausherrn zu und goß ihr das Glas voll. Da antwortete Frau Amélie mit ihrem geduldigen Lächeln, das das magere Gesicht freundlich erhellte:

»Ja, ja, bei der Taufe, da sind die Männer immer dabei. Wenn die Weiber ihre Last haben, haben sie ihre Lust.«

»He, Amélie, verred's nicht! Hast du deine Lust nicht gehabt an deinen drei Buben und jetzt an dem Maidle?« wehrte sich ihr Mann, und der ganze Tisch lachte.

31 Sie verließ die Stube und ging in den Laden. Es war noch nicht Abendzeit, aber in dem niedrigen, langgestreckten Raume brannte schon das Gas. Von der Decke hingen allerlei Spielsachen, Pferdchen und Peitschen, Reifen und Trommeln und warfen lange seltsame Schatten. Auf den Regalen hinter dem Ladentisch glänzten Tintenfässer, Tassen und Kerzenstöcke. Darüber auf den obern Schäften lagen Schulhefte und Bücher, und zu oberst hingen ein paar Spiegel, noch in Kistenrahmen, damit die Goldleisten nicht Not litten. Die leuchteten geheimnisvoll im Zwielicht der schwachen, leise zirpenden Gasflamme.

»Ah, Ihr seid's, Mamsell Ernestine! Qu'y a-t-il à votre service?«

»Bonjour,, Madame Sinniger, ich derangier Euch gewiß bei Eurer fête, mais il me faut du savon.. Ich hab eine große noce beis Brunschwigs.«

»Tiens, tiens, Mamsell Ernestine! Auf die Hochzeit macht Ihr Euch heut schon schön! Eh bien, choisissez!«

Und Amélie öffnete das Glasschränkchen, das auf dem Ladentisch stand, gefüllt mit Seifen und Parfümerien.

Mamsell Ernestine aber zierte sich. Sie entschuldigte sich immer aufs neue, daß sie bei der Taufe gestört habe, und strich sich die drahtigen roten Haare, puffte mit den magern Fingern die Stirnlocken und ließ die billigen Ringe blitzen. Die große Judenhochzeit war erst morgen, elle le savait bien, aber sie mußte schon heut daran denken, sich parat zu machen.

»Toutes ces dames portent des robes créées par moi« wiederholte sie unzählige Male und lächelte, daß die hübschen Zähne den blassen Mund erhellten.

32 Amélie merkte bald, daß die kleine Schneiderin vor Neugier starb, wenn sie nicht einen Blick auf die Tauftafel werfen dürfte. Sie war die Zeitung von Dornkirch und arbeitete für alle Bürgerhäuser. Nur die Damen der Fabrikanten ließen in Paris schneidern, aber das war natürlich, daran fand niemand etwas zu mäkeln, Mamsell Ernestine am allerwenigsten.

»Amélie, wo steckst du denn?« rief's aus dem Hintergrunde des Ladens. Eine Türe ging auf, und helles Licht brach in den düstern Raum, daß die Schatten der aufgehängten Spielsachen plötzlich in langen, schmalen Strichen an den Wänden hinschossen.

Ernestine stieß einen kleinen Schrei aus, tat, als wäre sie beschämt und antwortete:

»Oh, Monsieur Sinniger, ich stirb vor malaise. So alles derangieren, il faut m'excuser. Geschwind, Madame Amélie, was kostet der savon!«

Sie hatte anscheinend wahllos ein Stück Seife genommen und hielt es der Frau mit spitzen Fingern hin.

Sinniger war näher gekommen. Sein Gesicht war gerötet, lustig zwinkerten die kecken Augen.

Und rasch nahm er seiner Frau die Seife aus der Hand. »Aber, Mademoiselle Ernestine, Ihr braucht doch keine Goudronseife, wo nach Schwefel schmeckt. Ihr mit Eurem Teint, so klar wie die zeitigen Traubenbeeren. Veigele, Rosen, muguets, sell ist doch expreß für Euch erfunden.«

Vergebens stieß ihn Amélie heimlich in die Seite, er ließ nicht nach, und die Schneiderin errötete vor Eitelkeit, nahm seine Schmeicheleien ernst und zierte sich noch 33 mehr. Ihr sommersprossiges Gesicht mit den wimperlosen grauen Augen und der großen fleischigen Nase war ganz verklärt. Als Sinniger sah, wie sie in dem kleinen Portemonnaie suchte und dann mit einem unterdrückten Seufzer fragte: »seize sous, n'est-ce pas, monsieur Sinniger,« da antwortete er: »Aber, mademoiselle Picard, was kommt Euch an! Wir haben Taufe heute, und Ihr werdet doch noch ein Stück Seife als Präsent nehmen von mir.«

Ernestine zögerte und suchte in Frau Amélies Gesicht zu lesen. Unterdessen ging er um den Ladentisch herum und bemühte sich, ihr die wohlriechende Seife in die Hand zu drücken.

Da sagte Amélie:

»Prenez, Ernestine, Ihr kennt ihn doch, wenn er ein jung's Maidle sieht, muß er ihm ein Präsent machen.«

Sie sprach's mit ihrem freundlichen, stillen Lächeln, gutmütig spottend, und verließ ruhig den Laden, um zu den Gästen zurückzukehren.

»Vous êtes bien amable, madame,« rief ihr Ernestine nach und ließ sich jetzt das Geschenk in die Hand drücken. »So, und jetzt müßt Ihr doch noch ein Glas Wein trinken und den nourriçon sehen, potz Wetter! En avant, votre bras, mademoiselle.«

Er hakte sich ein und ging mit ihr durch den Laden, ließ ihren Arm dann los, schob sie, mit beiden Händen ihre schlanke, festgeschnürte Taille umspannend, zwischen den vor der Stubentür aufgestapelten Kisten und Kasten hindurch und öffnete schnell die Türe zur Familienstube.

»Entrez, mademoiselle Ernestine!«

34 »Monsieur Ferdinand, Ihr seid ein Schlimmer,« flüsterte die kleine Schneiderin und atmete schwer, aber sie ließ ihn gewähren und stand plötzlich auf der Schwelle, zwinkernd mit den kurzsichtigen Augen, denn die Läden waren geschlossen und Lampen und Kerzen angezündet worden. Auf dem Tisch, am Klavier und auf der Konsole vor dem großen Spiegel brannten Lichter, und die hellen, flackernden Flämmlein blendeten sie, daß sie eine Zeit lang nur gelbe Ringe und schwarze Punkte sah.

Und schon tönte Sinnigers lustige Stimme an ihrer Seite:

»Wenn's Euch nichts macht, Herr Pfarrer, ein nettes Judenmaidle neben Euch zu haben, so setzen wir der Mamsell ihren Stuhl zu Euch zu.«

Der Pfarrer von Aslach, der immer noch die Serviette umgebunden hatte, obwohl schon lange abgegessen war, rückte mit der fleischigen Hand selbst den Stuhl.

»Wenn's der Mamsell nichts macht, an meiner Soutane hat sie nicht viel.«

Er schob ihr ein Glas hin und schenkte ihr von dem Pomard ein und dann sich selbst.

»Bonjour, Monsieur le curé, bonjour la compagnie,« knixte artig die Schneiderin und setzte sich mit einer koketten Bewegung ihrer rauschenden Röcke.

Die Gesellschaft, die um den langen Tisch saß, auf dem viele Flaschen standen, langhalsige mit altem Riesling und dickbauchige aus Bordeaux, alle staubig und mit beschmutzten Etiketten, war in der heitersten Laune. Monsieur Schicklé, der Maire, klopfte seiner Cousine Amélie lachend auf die Schulter und neckte sie mit Ferdinands neuer 35 Kaprize, der kleinen Ernestine. Sie lächelte ruhig. Nein, nein, mit der couturière machte er nur Gesten, der ging er nicht ins Haus, aber sonst – mais oui – sie wußte es wohl, es war seine Natur. ›Il a la rage du jupon,‹ hatte ihr Vater gesagt, als Ferdinand um sie anhielt, und sie hatte ihn doch genommen. Und sie war nicht unglücklich geworden mit ihm. Er kam ihr ja immer wieder, honteux comme un chien mouillé, und sie konnte ihm nichts nachtragen. Und dann – sie war alt geworden, vier Kinder in acht Jahren, das rupft! Und das Geschäft, der Laden und die Buchbinderbutike, sie hätte zehn Hände haben sollen. Besonders an Markttagen, wenn der Ort gesteckt voll war von Vieh und von Menschen und jeder Bauer in den Laden trampte, um Tabak zu kaufen und Kalender und Kirchenkerzen, und die Schulmeister kamen und eine ganze Liste von Heften, Büchern und Schiefertafeln verlangten. Ferdinand ging allem aus dem Weg. Nun, er hatte seine caisse d'épargne du Haut-Rhin zu verwalten, und sie gab ihm zu tun. Gerade an den Markttagen, wenn die Viehjuden den Bauern die Katzen füllten, und auch sonst, an Zahltagen und auf den Ersten. Und er wußte sie zu nehmen, ›il est né banquier,‹ hatte der Delegierte gesagt, der vor drei Jahren aus Straßburg gekommen war, um die Kasse zu revidieren. ›Il fait des affaires comme un Rothschild.‹ Ferdinand aber hatte damals geantwortet, es war in diesem Zimmer beim Dessert, entre fromage et pore: ›A bah, ich hab's Vertrauen vom ganzen Städtle und ein wenig chance, voilà tout.

Schon wieder schellte die Ladenklingel. Amélie fuhr auf 36 und blickte bittend zu ihrem Manne hinüber. Er saß zwischen der Patin seines ältesten Buben, Madame Schicklé, und der Patin des Täuflings, Mamsell Josephine Mousson, und wisperte dem ernsten Mädchen just etwas ins Ohr. Und Josephine bog den schwarzhaarigen Kopf, als hätte er sie gekitzelt mit seinen Worten und blitzte ihn mit bösen Augen an, daß er kleinlaut um Pardon bat.

»Ferdinand, geh du einmal, oder beschick den Buchbinder, daß der in den Laden steht,« rief sie ihm zu, als er nicht Miene machte aufzustehen. Ihre Stimme ging im Lärm unter, da bat sie Schicklé um seinen Beistand.

»Allez donc, Ferdinand! Sitzest auf deinen Ohren oder hat dich das Phinele am Leitseil, alt genug wär's dazu,« schrie der Maire über den Tisch.

Draußen klopfte jemand hart auf den Ladentisch.

»Sapristi, das ist ein Ungattiger. Der hat auch noch keine Taufe gehalten,« schalt der Caissier. »Enfin, allons-y!«

Mit einem gemachten Seufzer erhob er sich. Im Vorbeigehen steckte er den Kopf zwischen den Pfarrer und Ernestine und fragte: »Unterhaltet er Euch gut, der parrain vom Phinele, Mamsell Ernestine?«

Der Pfarrer riß die Serviette ab und schlug nach ihm. Aber er war schon aus der Türe, und das Tuch fegte ins Leere und machte einen Wind, daß der Schneiderin die gebrannten Locken über die Augen fielen.

Es dauerte eine Weile, dann klappte die Ladentür und die Schelle läutete aus, einmal, zweimal kurz hintereinander. Als der Caissier wieder ins Zimmer trat, machte er ein ärgerliches Gesicht.

37 »Joseph,« rief er dem Clerc zu, der am Klavier hockte und die Marseillaise mit dem Zeigefinger zusammensuchte, »mach einmal die Fenster auf, man verstickt ja da drin.« Amélie blickte auf. Es war wahr, eine Wolke von Tabaksrauch, Weindunst und Parfüm lagerte über dem Tisch, aber der Ärger, der in Ferdinands Stimme klang, hatte andere Ursache.

Der Clerc war vom Drehstuhl aufgestanden und riß die Vorhänge zurück. Als er die Fenster öffnete, drang silberne Dämmerung herein, die die Lichter matt erscheinen ließ. Frau Amélie erhob sich und löschte die Kerzen, die heftig flackerten. Dabei kam sie zu ihrem Mann herüber. »Was ist, Nandi, du bist aigriert?«

»Rien – die Präfektene ist dagewesen.«

»Madame de Wernecke, die Frau vom Kreisdirektor?« fragte Phinele, die die Worte aufgefangen hatte.

»Oui, die neunzackige,« antwortete er, »sonst niemand.« Das letzte setzte er hastig hinzu, als er einem forschenden, besorgten Blicke seiner Frau begegnete.

Einer Eingebung folgend, trat sie schnell ans Fenster und sah die Gasse hinauf. Dort ging die Frau des Kreisdirektors, in dem kurzgeschnittenen, glatten Kleid, ohne Tournüre. In den Elastikbottinen und dem Hut vom letzten Frühling. Ihre magere Figur hob sich scharf ab in dem silberigen Licht. Es hatte den ganzen Tag geregnet, jetzt kam die Abendsonne hinter den Wolken hervor und streute weißglänzende Strahlen über die schwarzen Dächer und in die Pfützen auf der Gasse.

Es war niemand weiter zu sehen, aber die Glocke der Apotheke hatte ihren schrillen Ton von sich gegeben, als Amélie 38 ans Fenster getreten war. Die Apotheke war gerade gegenüber, wo auf dem Trottoir die Blumenstöcke im Regen standen. Sie blieb am Fenster und wartete, kam kein Kunde heraus, so war Monsieur Risser, der Pharmacien, im Laden gewesen, und dann wußte sie, warum es Ferdinand in die Milch gedonnert hatte.

Der tat, als merkte er nichts von dem Tun seiner Frau, und sprach immer noch von Frau von Wernecke.

»Und immer dieselben Helgen, pas possible!« prustete der Pfarrer, und sein dickes Gesicht rötete sich über den blau rasierten Backen, so ergötzte ihn die Erzählung.

»So gewiß, als Ihr der Pfarrer Ditsch seid. Immer die nämlichen Bilder, das Porträt vom ersten Statthalter mit seiner dédication und eins, die entrée der Deutschen in Paris. Da ist Ihr Schwiegervater drauf, der General, der Name ist drunter geschrieben und sousligniert, dick wie ein Arm. Mais attendez donc: der Buchbinder bringt's Euch her.«

Er lief in den Laden und schrie durch das Sprachrohr ins Atelier hinauf: »Bring die Tableaux von der Präfektene, Jacques. Aber tummel dich.«

Frau Amélie wunderte sich im stillen, daß die Bilder schon den Weg ins Atelier hinaufgefunden hatten. Das blies ihren Verdacht aufs neue an, und sie wich nicht von ihrem Fensterplatz. Ferdinand hatte den Buchbinder nicht herabgerufen, als die Bilder gebracht worden waren, das hätte sie ja hören müssen mit ihrem immer auf den Laden achtenden geschärften Ohr. Er war also selbst in den ersten Stock hinauf. Um Madame Wernecke seinen 39 Eifer zu zeigen? Das konnte sie nicht glauben. Es war in einem hingegangen, er hatte halt noch etwas anderes oben zu tun gehabt und das war im Kontor gewesen, an der Caisse, die heute nachmittag für das Publikum geschlossen war.

Die Gäste achteten nicht auf die stille Frau, nur ihr Vater, der alte Sütterlin, drehte den Kopf nach ihr und sah sie unter den riesigen weißen Brauen hervor einmal forschend an, sagte aber nichts, sondern trank ruhig, schluckweise seinen Wein, die kurze Pfeife in der leise zitternden Hand und kaum ein Wort in die Unterhaltung streuend.

Gerade als der Caissier mit den Bildern unter dem Arm ins Zimmer trat, schrillte die Glocke der Apotheke. Es gab Amélie einen Schlag, ihre Blicke saugten sich an der Türe fest, beide Hände hatte sie um das Fensterkreuz geklammert. Da erschien Monsieur Risser auf der Schwelle; er stieß die Türe weit auf und stellte sich seinen Stuhl auf die Vortreppe, setzte sich und faltete den ›Temps‹ auseinander.

Jetzt wußte sie es. C'était lui. Nandi hatte wieder gespielt und – sie schaute sich um und ihm in die Augen – und verloren. Der Kumpan war dagewesen, um sein Geld zu fordern. Der Schlüssel zur Ladenkasse brannte ihr in der Tasche. Wie viel mochte es sein? Hatte er die ganze Kasse ausgeräumt und dann noch den Sekretär aufschließen müssen? Aber sie war so müde, daß sie sich nicht von der Stelle rühren konnte. Auf der Fensterbank sitzend, den Kopf ans Kreuz gelehnt, hörte sie auf die Reden ihres Mannes, der die Geschichte von den Tableaux 40 aus der Souspréfecture wie ein Moritatenverkünder erzählte. Er hatte Mamsell Mousson, ehe sie es wehren konnte, den langen Schildkrotpfeil aus dem Chignon gezogen und deutete damit erklärend auf die Bilder.

»Und das da ist der général de Wernecke, der Vater des Kreisdirektors. Vous voyez, er ist nicht der Dickste im Haufen, man kann sein Gesicht kaum erkennen, wie sie da am arc de triomphe herreiten . . . Und die Ulanen mit ihren Bratspießen, wie sie die Pariser zurücktreiben: ›Der Siegeszug in Paris.‹ Das und das andere bringt sie jedes Jahr, es ist heuer das dritte Mal. Dann muß ich einen neuen Rahmen drummachen. Einmal ist's ein goldener mit Rosetten in den Ecken, und dann ein schwarzer mit dorures, und so bekommen die beiden Helgen immer wieder ein neues Gewändlein. Warum? Eh bien, comme je vous disais: damit man sieht, was sie sind und vermögen. Der Statthalter Manteuffel schenkt ihnen sein Porträt avec signature, und der Vater hat Paris bombardiert. Das erste Mal hab ich den Statthalter zum Trocknen ein paar Tage auf den Abtritt gehängt, und der Gesell hat hinten auf den Pariser Helgen geschrieben: ›Vive la France!‹ Jetzt ist mir's eins. C'est trop ridicule, die Gesten, die sie macht, wenn sie sie bringt. Sie trägt sie selbst, unter jedem Arm eins, und dann macht sie die Kondition, daß ich sie in den Laden stell, wenn sie geleimt sind, bis sie abgeholt werden. Damit sie jeder sieht. Und Madame läßt sie da tagelang stehen und hängen, – n'est-ce pas, Amélie – und wenn's zwei Wochen dauert. Einmal hab ich ihr die Tableaux in die Präfektur geschickt, da ist sie hergeflitzt gekommen 41 und hat aufbegehrt: ›Ich wünsche das nicht, Herr Sinniger, nein, nein, nein. Die Bilder sind noch nicht trocken, und ich lasse sie abholen und bezahle sie sofort. Das wissen Sie, Herr Sinniger, sofort. Aber ich wünsche nicht, daß man sie mir ins Haus schickt.‹«

Der Pfarrer von Aslach, Schicklé und seine Frau, Josephine und der Clerc lachten Tränen über das karikierte Hochdeutsch Ferdinands. Ernestine, die die Geschichte kannte, benutzte den Spiegel, der ihr gegenüber hing, um sich zu beäugeln und ihr ungebärdiges Haar zu toupieren.

Es war draußen noch heller geworden, ein rosenroter Schein lief über den Himmel, und auf den Pfützen trieb Schaumgold. Die Frau am Fenster hatte ihr Gesicht abgewandt und starrte auf die Gasse. Sie hätte nicht mitlachen können. Als es einen Augenblick still wurde, hörte sie oben im Schlafzimmer das Bébé schreien und dann die Stimme der nourrice, die es in Schlaf sang: ›Schlaf, Kindle, schlaf, dein Vatter ist ein Graf,‹ klang's zum offenen Fenster hinaus.

»Das ist eine Geschichte für unsern Kalender,« rief der Pfarrer, »es fehlt mir just noch eine Anekdote.«

»Das laßt Ihr fein bleiben,« antwortete Sinniger, »da käm mir das ganze Gouvernement über den Hals. Laßt Euch lieber von der Ernestine ein lustiges Judenstückle verzählen und salbt das in den Kalender.«

»Ah, c'est vous, der Kalendermacher, monsieur le curé?« piepte die Schneiderin.

»Gewesen, Mamsell, gewesen,« antwortete der Aslacher.

»So sagt er jedes Jahr, aber im stillen b'langt er schon 42 auf den Druck. Was gilt's, er hat's Manuskript schon im Sack!«

Der Caissier hatte der marraine den Pfeil galant in die Haare gesteckt, während er mit dem Pfarrer scharmutzierte.

Da bückte sich dieser, hob die Soutane an der rechten Seite auf, wo die Schneiderin saß, die mit ängstlichen Augen ein wenig von ihm abrückte und brachte aus einer verborgenen Tasche eine Lage beschriebener Blätter hervor.

»Voilà le manuscrit, faites imprimer, mon éditeur, heut ist der letzte Augst,« sagte er trocken und reichte dem andern das Paket.

Der machte ein so verdutztes Gesicht, daß alle lachten, selbst Amélie konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, aber dann drückte sie die Angst umso stärker. Das lustige Durcheinander benutzend, erhob sie sich und ging zur Türe. Hinauf wollte sie, zu den Kindern, hinaus aus dem Dunst, in dem die Lampen schwach glommen und das Feuer des Himmels mit der Glut des Weins gemischt auf den Gesichtern zitterte.

»Wenn Ihr das Kleine noch sehen wollet, Ernestine,« sagte sie zu der Schneiderin im Vorbeigehen.

»Avec plaisir, madame.«

Sie waren schon auf dem Korridor, da schwenkte Ferdinand Sinniger die Türe und stand mit einem Sprung neben seiner Frau. Er faßte sie am Arm.

»Montez, Ernestine, Ihr wißt ja den Weg,« rief Amélie dem Mädchen hastig zu. »Ich komm im Augenblick.«

43 Sie lehnte am Treppengeländer, die Hände auf dem kalten Holz, vornübergebückt, mit eingezogenem Leib, als wühlte ihr ein heftiger Schmerz im Schoß.

»Voyons, Amélie, was ist? Du machst ein Gesicht wie der Christ!«

Es klang barsch, aber sie kannte den Ton.

»Gib dir keine Mühe, Nandi. Ich hab Augen, und es ist ja nicht das erste Mal.«

»Wegen dem Phinele? Bêtisen!« lachte er trotzig.

»Oh non, das nicht, das ist dir geschenkt,« antwortete sie resigniert den Kopf schüttelnd. »Du weißt ganz gut, was ich meine.«

Und sich plötzlich aufrichtend, legte sie dem eine Stufe tiefer Stehenden die Hände auf die Schulter und hauchte tonlos, Auge in Auge:

»Tu as joué. Ja, gespielt, um Fünffrankentaler und Napoléons. Der Pharmacien, der Notar, Monsieur Haury et toi! Sag nein, wenn du den Lug vermagst.«

Seine Finger waren von ihrem Arm gesunken, ihre Hände drückten schwer auf seinen Schultern. Er konnte die Augen nicht abwenden, ihre Blicke hielten ihn fest, und das Gasflämmchen, unter dem sie standen, leuchtete zitternd in ihr blasses ältliches Gesicht, das nur noch Spuren einer madonnenhaften Zartheit zeigte. Nur das braune Haar lag noch voll um ihre Schläfen. Endlich zwang er die Lippen zur Antwort.

»Eh bien, oui. Ich hab wieder gemischlet. Mais c'est réglé. Die perte ist nicht groß.«

Ruckweise kam es über seine Zunge.

»Und die Caisse, Nandi?«

44 Er fühlte, wie ihre Finger sich in das schwarze Tuch seines Rockes gruben.

»Quelle caisse?« fragte er und machte sich frei, indem er ihre Gelenke umspannte und ihre Hände von den Schultern hob.

»Die im Laden, naturellement!«

Da lachte er leise und atmete auf, bemüht, den Schrecken wegzujagen, der ihm in den Nacken gefallen war.

Aber gerade dieses Lachen zündete in Amélies fieberndem Hirn.

»Ferdinand, was ist mit der caisse, nicht mit meiner Ladenkasse, jetzt mein' ich die andere, die, wo nicht mein und nicht dein ist!«

Ihre Worte hallten durch den Flur, und eine Angst hatte sie gepackt, daß sie ein Wimmern ausstieß, das geisterhaft nachzitterte.

»Amélie tais-toi, t'es folle!« flüsterte er heiser und schüttelte ihre Arme.

»Sag's, sag die Wahrheit, Nandi!«

»Meine Caisse, c'est-à-dire la Caisse d'Epargne, stimmt,« antwortete er kurz.

»Und das ist die Wahrheit?«

»Hab ich dir schon einmal mit einem Lug wehgetan, Amélie?« fragte er. Er sah, er fühlte, wie die Spannung in ihrem Wesen sich löste, er hatte gewonnen.

Da schoß die Frau im Unterliegen noch einmal zurück, denn sie fühlte, daß sie ihm glauben mußte, weil sie ihm glauben wollte.

»Wehgetan schon oft, Nandi, aber mit einem Lug noch nicht, die waren immer süß.«

45 »Red keine bêtisen, Frau,« stieß er leise hervor und zog sie an sich, preßte ihr die Lippen auf die Backen und den zuckenden, blassen Mund, und sie wurde schwach in seinen Armen.

»laisse-moi, allons, bist doch vernünftig,« stöhnte sie, als er nicht nachließ und an ihrer Brust tastete, trunken vom Wein, von der Aufregung und von seinem Sieg. Aber sie hätte ihm alles erlaubt, wären nicht oben Stimmen laut geworden. Die drei Buben kamen wie das Wetter die Stiege herabgefahren. Da riß sie sich los, und sie hingen sich wild an ihre Röcke. Sie hatte auf einmal Riesenkräfte, hob den dreijährigen, der sitzlings die Staffeln herabgerutscht war, auf den Arm, und die beiden andern rechts und links an sich ziehend, stieg sie hastig die Treppe hinauf.

»Haltet sie nur fest, eure Mutter, ihr Knäckes,« rief der Mann laut hinter ihnen drein, dann hörte sie ihn die Türe aufstoßen, den Lärm der Gäste, und war allein mit den Kindern, die schwer an ihr hingen. Doch mächtig, mit erstarkten Knieen strebte sie die Treppe empor und ließ den Lärm hinter sich, der ihr den Mann verschlungen hatte. 46

 


 


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