Hermann Stegemann
Die als Opfer fallen
Hermann Stegemann

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IX.

Mit schmerzenden Augen, dicht an den schwarzen Stamm gepreßt, der ihn in seinen Schatten nahm, hatte Siegfried Höpfner zu den hellen Fenstern hinaufgeschaut. Der Nachtwind fingerte in den zartbelaubten Linden, es war ein Rauschen wie von feiner Seide, und weiche Lüfte streichelten Siegfrieds Backen.

Auf dem Bänklein hatten zwei gesessen, die Arme um die Hüften gespannt, Kopf an Kopf gedrängt, Küssen und Kichern, dann waren sie an ihm vorbeigegangen ohne ihn zu sehen, der Bursche trug das Mädchen fast, ihr brünstiger Atem hauchte durch die laue Nacht, in der sie untergingen, fortgeschleppt von der Finsternis.

Oben an den Fenstern waren dunkle Schatten vorbeigeglitten, erst langsam, weit sich lehnend aus dem hellen Rahmen, daß Siegfried die schlanke Gestalt der Frau und die breite Masse des Mannes unterschied, dann kam der Klang ihrer Stimmen aus der Höhe und wurde lauter, in heftigen Bewegungen tauchten die Schemen auf und nieder, und jetzt deutlich heißer Wortkampf, 269 schwarze, drohende Silhouetten, das Weinen eines Kindes und endlich der Wurf einer Türe. Flackernde Helle, und jäh erloschen die Fensteraugen, es war, als flögen schwarze Vögel hinaus in die nächtige Finsternis und erhöben erst weit in der zwitternden Ferne, wo die Himmelslichter dicht über der grauen Erde schwebten, ihre klagenden Stimmen.

Siegfried lauschte. Irgendwo in der purpurnen Höhe ruderten unsichtbare Geschwader mit dem Frühlingswind gen Norden. Die äfften seine erregten Sinne. Er löste sich von der Linde und tappte leise, seinen Füßen nicht trauend und verwirrt vom huschenden Spiel der wandernden Schatten, unter den Bäumen hin. Auf dem Tor klirrte die Wetterfahne. Am Kleinkinderplatz reckte ein Leiterwagen die Deichsel gespenstisch aus dem Dunkel, der Männelebrunnen sang so laut, daß es das Rosengäßlein heraufklang in tiefen, gurgelnden Tönen. Jetzt springt ein loser Stein unter Siegfried auf und hetzt in wilden Sätzen die stille Gasse hinab. Der Brunnen trinkt das dunkle Licht in sich hinein, zitternd schwimmt es auf seinem schwarzen Spiegel, in dem Siegfried den Nachthimmel bleifarben glänzen sieht.

Er tauchte die Hände hinein, leise, um den Brunnen nicht zu stören, und ging dann ins ›Lamm‹ hinüber. Ein kecker Lichtschein klemmte sich durch die Türe, schoß breit in die Nacht, als er öffnete, und zuckte ängstlich wieder zurück in den Flur, wo er auf den roten Backsteinfliesen von Blut träumte.

»Ah voilà, Monsieur Siegfried, der bringt dich heim, Amélie,« sagte Sütterlin.

270 Aber Amélie tat, als hätte sie die Aufforderung zu gehen nicht gehört.

»Und du kommst nicht, Vater?«

Er räumte die Gläser weg, die noch auf den Tischen standen. Die Magd war hinausgeschickt worden, als Amélie kam.

»Nein, für das nicht.«

»Vater, wo das Kind gestorben ist, warst du vor dem Doktor da!«

Da richtete er sich auf, und ohne auf Siegfried zu achten, der unschlüssig an der Türe stand, erwiderte er:

»Wenn's um meine Kinder geht, ja. Um ihn jamais. Keinen Schritt.«

»Aber Vater, es ist ja so gut um uns wie um ihn.«

Er schien zu überlegen, zu schwanken, Siegfried zog die Türe hinter sich zu und ging in die Küche, seinen Kerzenstock zu holen.

»Geh mit dem Siegfried, er tut's gern. Ich streck keinen Fuß unter seinen Tisch. Er hat mir die Tür gezeigt damals.«

»Aber Vater, ich kenne dich gar nicht. Wegen dem?«

Er faßte ihre Hand, und sein Kopf zitterte in greisenhafter Schwäche. Seine Stimme klang jetzt ganz ruhig.

»Eh bien, Amélie – es ist auch nicht deswegen! Aber ich will nicht sein wie du. Du hast ihm die Hände unter die Füße gelegt, du –«

»Ich« – schrie sie auf – »ich hab ihn geschlagen, Vater, mitten ins Gesicht!«

Und ihr schwerer Leib sank gegen ihn, daß er sie kaum zu halten vermochte. Ihr wildes Weinen schluchzte durch 271 die ganze Stube. Sütterlin hatte die Arme um sie gelegt.

»Tiens, tiens,« sagte er leise und starrte über ihre Schulter ins Leere. Und nach einer Weile, als sie ruhiger weinte:

»Das bringt ihm freilich Zinsen. Wenn du von ihm gegangen wärst, à la bonne heure. Ja, ich weiß, man scheidet nicht so schnell, und der Pfarrer macht dir die Hölle heiß, und da sind auch noch vier Kinder – aber jetzt hat er dich ganz, der Nandi. Du hast ihn geschlagen, das ist dir ärger als alles, was er dir tut. Jetzt kann er die Schuh abputzen an dir, du hältst ihm still. Dem Nandi hätte eine Frau gehört, die ihm den Meister gezeigt, das Phinele, par exemple, aber du, du trägst ihn wärmer im Schoß als seine Kinder. Und wer das Kind im eigenen Schoß schlägt, schlägt sich selber.«

Ihr Leib schüttelte sich immer noch im schluchzenden Weh.

»Voyons, Amélie, sitz ab, so kannst du nicht heim. Ich schicke dir das Rosele mit.«

»Nein, kein Fremdes.«

Ein leises, zärtliches Lachen kam aus seinem Bart.

»Pas bête, das Amélie! Kein Fremdes? Da bleibt nur der Vater.«

Schon sah sie voll Hoffnung zu ihm auf, da fuhr er kalt und hart fort:

»Wenn's dem Nandi ums Reden ist, soll er ins ›Lamm‹ kommen. Er hat noch ein paar Tage bis zum Maitag. Dann will der Bauer Geld ziehen von der Caisse und der Krämer auch. Sag ihm, daß er kommt. An meinem Tisch red ich mit ihm. Aber die Demission als Caissier 272 und als Gemeinderat legt er mir auf den Tisch, an den ich ihn sitzen mach. Oder er soll sich streichen über die Grenze, der Lump. Sag ihm das!«

»Vater, so kommt er dir nicht. Da macht er den Stolzen und wartet, bis es zu spät ist.«

»Tant pis, so päckelt ihn der Gendarm.«

Sie zuckte auf, mit schmerzendem Kreuz, und wandte sich zum Gehen.

»Bon soir, père.«

»Amélie!«

Die Hand auf der Klinke wandte sie sich um:

»Was ist?«

Er stand noch auf dem alten Fleck, seine Stimme war nicht lauter geworden, aber seine Augen lagen wie verlocht unter den Stirnhöhlen.

»Amélie, er ist ein Spieler, er hat das Geld der Caisse d'épargne verspekuliert, und auf dem Dach kracht's von Hypotheken. Seit heute wissen wir's beide. Was er mit den Weibsleuten gehabt hat, ist deine Sach. Aber das andere touchiert uns alle. Sag ihm, er soll herkommen mit dem Beding, den du weißt, sonst geh ich selbst aufs Gericht.«

»Gut, Vater, aber wenn er nicht will, wenn ich ihn nicht bring dazu, hernach helf ich ihm selbst über die Grenze.«

Einen Augenblick sahen sie sich an wie zwei Gegner, aus der Küche klang Kichern und Klirren, dann lachte Sütterlin wieder kurz und seltsam:

»Pas bête, Amélie, aber die Schwoben machen die Finger geschwinder krumm, als der Nandi denkt. Er zieht die 273 Schuhe nicht aus dem Dreck, da seilen sie ihm schon die Hände.«

Da sank die Frau langsam, mit einem Stöhnen, an der Tür in die Kniee. Er hob sie auf mit einer Kraft, die alle Sehnen seines mageren Leibes spannte.

»Courage! Heiz ihm ein, so findet er den Weg ins ›Lamm‹.«

Aber sie war jetzt ganz mutlos, und erst als er wiederholte, daß er Ferdinand erwarte vor dem Maitag, an dem der Andrang auf die Kasse und die große Zins- und Kapitalbewegung alles ans Licht bringen mußte, was der Caissier heute seiner Frau enthüllt hatte, da sagte sie:

»Bist ordentlich mit ihm, mach's ihm leicht, er ist gestraft!«

»Rien que ça? Und ob ich überhaupt helfen kann, Amélie, das fragst du nicht?«

Das kam ihr so unerwartet, daß sie ein kalter Schrecken packte.

»Aber das gibt's ja gar nicht,« stammelte sie mit weißen Lippen.

Da brachte er es nicht über sich, ihr diesen Glauben zu nehmen, und entgegnete:

»Allons, lüpf dich nur, es wird schon recht kommen.«

Auf dem Flur stand Siegfried und wartete. Das Rosele strich um ihn her.

»Nein, Ihr seid ja noch collégien, bleibt nur. Mille fois merci. Der Vater kommt mit bis zum Eck,« wehrte Amélie, als er zu ihr trat.

Aber Siegfried ließ sich nicht abweisen. Daß er nur collégien sei und deshalb die arme Frau nicht 274 heimbegleiten dürfe nachts um elf Uhr, das hatte seinen empfindlichen Stolz verletzt. Jetzt gerade. Der alte Sütterlin spähte ihnen nach, aber er sah den Schatten Sinnigers nirgends auftauchen. Auch im Café Mousson bewegte sich nichts, da schloß er die Tür.

Frau Amélie atmete schwer. Sie hatte die Hand auf Siegfrieds Arm gelegt, er führte sie still und behutsam. Im Café brannte noch Licht. Als sie in die schwarze Finsternis der engen Gasse gekommen waren und die Häuser sich über ihnen zusammenschoben, blieb die Frau einen Augenblick stehen um Luft zu schöpfen. Nun schwiegen auch ihre Schritte und man hörte nur den schweren Atem gehen.

»Wie das warm macht, und erst April! Und wie still 's ist!« flüsterte sie in abgebrochenen Sätzen.

»Ja, man hört Dornkirch schlafen,« antwortete er.

»Der Veri sagt, wenn eins wach ist jetzt im Frühling in der Nacht, hört es die andern wachsen. Er hat's aus der Schule.«

»Da hat er was falsch verstanden,« versetzte Siegfried überlegen.

Und sie gingen weiter. Vor der Haustüre, an der das weiße Kassenschild bläßlich schimmerte, gab Amélie ihm die Hand.

»Merci vielmal,« und dann »Ihr seid ja wie aus unserer Freundschaft, dort unten im ›Lamm‹.«

Er verstand, was sie sagen wollte.

»Pour sûr, Madame Amélie, und der Wirt im ›Lamm‹ bringt einem alles an den rechten Ort.«

»Merci, Siegfried,« flüsterte sie noch einmal, und er 275 hörte, wie sie tief und getröstet aufatmete. Sie war nicht zum ersten Mal im ›Lamm‹ gewesen mit ihren Sorgen, seit er dort wohnte. Und er half ihr noch die schwerbewegliche Türe öffnen, dann ging er rasch den dunklen Weg zurück. Unruhiger als zuvor, ein Wispern und Weben um ihn her, ein dumpfes Drängen in seinem Kopf, überfließende Gefühle, die ihm die Brust engten, daß er den Atem wie ein Hungriger gierig einsog.

Der Hauswirt wartete auf ihn.

»Trinkt Ihr noch ein Glas, Siegfried?«

»Nein, merci.«

Es zog ihn in seine Kammer.

Da räusperte sich Sütterlin.

»Ist's wahr, Siegfried, daß Ihr's mit dem Christinele habt?«

»Wer sagt das?« fragte er unsicher zurück.

»Das Journal vivant von Dornkirch, bei dem die Christine schafft, d' Mamsell Ernestine. Und man hat Euch auch gesehen letzthin im Wäldle.«

»Es war kein rendez-vous.«

»Ich mach Euch keine Reprochen, Siegfried, Ihr habt wenig Stand, so einzig sans famille und könnt nicht immer mit Euch allein sein, aber prenez garde, wenn Ihr dem Maidle die Schürze abbindet –«

»Monsieur Sütterlin!« stieß er heiser hervor, rot und blaß, von Scham gepackt und doch zugleich von einem verlangenden Schauder überlaufen.

»Echauffiert Euch nicht. Tenez, ich weiß auch noch, daß einem im Frühling das Herz aus dem Hals springt, 276 und ihr seid beide jung. Nichts für ungut und gute Nacht.«

Siegfried kam ohne Atem in seinem Zimmer an, so war er die Treppe hinaufgerannt. Das Christinele hatte er vor einigen Monaten gehen heißen, vor jenem Abschied war er ihm nur mit Gedichten und kleinen Geschenken zu Gefallen gewesen, sie hatten noch nichts voneinander gewollt. Jetzt trieb ihn ein Verlangen zu ihrem Mund, und wenn es ihn mit zärtlichen Augen angelacht hatte, wo es ihm auch begegnete, da war's nicht mehr die wunschlose Seligkeit, die ihn im letzten Sommer bei ihrem Anblick erfüllt hatte, sondern ein Locken und Fürchten, das ihn in einen Wirbel riß. Und er hatte dem Direktor sein Wort, sein Ehrenwort gegeben, daß alles vorbei sei! Es war ja auch wahr gewesen, es war alles vorbei gewesen, und das, was seither geschehen war, das war etwas ganz anderes.

Das Christinele hatte ihn angelacht, und er war ihr begegnet draußen im Wäldchen am Sonntag morgen. Und da war er bei ihr stehen geblieben, und sie hatten miteinander gesprochen, er wußte nicht mehr was, er hatte nur immer ihre roten Lippen gesehen, und dann waren sie vom Weg unter die Bäume getreten, nicht dreißig Schritte weit, denn es kamen Leute, und die Sonne krauste ihr das blonde Haar, und da hatten sie sich bei den Händen gehalten, und er hatte sie geküßt, zweimal, erst blind und hastig, noch im Kampf mit sich selbst, und ihre Lippen fuhren schmal und gespannt unter den seinen weg, das zweite Mal schwollen sie ihm weich und voll entgegen, und er trank den Kuß und spürte, wie ihm das Herz langsam und 277 schwer gegen die Rippen schlug. Und dann hatten sie sich verstört losgelassen, das Christinele war hinunter auf den Weg, er in den Wald, wo die dürren Brombeerranken zerrten und das modernde Laub raschelte. Ihr farbiges Röcklein hatte ihm noch eine Zeitlang durch die grauen Stämme geleuchtet.

Es war ihm ein großes Geheimnis gewesen, und jetzt lief es durch die ganze Stadt. Und wenn sie ihm nun den Prozeß machten! Und wenn die Frau davon erfuhr, deren Namen er selbst in Gedanken wie etwas Heiliges nicht auszusprechen wagte!

Vielleicht wußte sie es schon, hatten sie heute abend um ihn gekämpft, der Mann gegen ihn, sie für ihn!

Ja, sie für ihn! Sie mußte ja wissen, daß er jetzt rein von ihr dachte, daß er sie nicht mehr zu berühren wagte mit törichten, mit unreinen Gedanken, daß er sie nicht mehr in seine Träume rief! Er ging zu ihrem Fenster wie zu einer Andacht. Er hatte sie lieb, aber anders. Ganz anders, er weinte nicht mehr um sie, er sah sie in den Wolken mit ihrem Bübchen und betete sie an.

»Stehst du, wie die Gottesmutter
In den Dornen stand,
Trägst dein Knäblein, heilst und segnest
Mich mit weißer Hand,

Und ich neige mich und küsse
Deines Kleides Saum,
O du süße, reine Fraue,
Gib mir, gib mir Raum, 278

Daß ich selig in den Dornen
Mich der Welt verschließ,
Die mit ihren Mörderhänden
Mich ins Elend stieß.«

In einem einzigen Strom war es ihm über die Lippen und in die Feder geflossen. Kraus, kaum leserlich stand es auf dem Papier, und er saß mit heißen Backen, und es tropfte ihm schwer von den Lidern. Die Lampe blakte, ein warmer Wind strich um die Ecke des Hauses und über seinen Schreibtisch. Als er die Verse zweimal laut mit überfließenden Augen vor sich hingesprochen hatte, wurde ihm leichter. Nur hätte jemand da sein müssen, dem er sie auch hätte vorlesen können, aber nur das Rosele gaukelte draußen auf dem Gang und machte sich an den Türen zu schaffen. Schon wollte er – aber dann packte ihn ein Zorn, und er stieß die Verse zu den andern, die er in der Schatulle unter den Hemden verborgen hatte. In der lagen nur die Gedichte an Sie. Was von dem Christinele übrig war, das hatte er schon lange herausgefischt und in den bebänderten Seifenkarton getan, den ihm Madame Sinniger zu Weihnachten geschenkt hatte. Er stand in der Lade des Schreibtisches, wo alles Mindere verwahrt wurde. Auch die Zeugnisse. Dann saß er noch eine Stunde in drangvoller Schularbeit.

Als Siegfried am andern Morgen zum Schulgang rüstete, sagte das Rosele:

»Im Café Mousson wird geschneidert. Wendet die Augen weg.«

279 Er gab keine Antwort.

»Wem steckt Ihr denn den Maien, Monsieur Siegfried?« fragte es weiter.

Aber er ging ohne zu antworten schnell aus dem Hause. In drei Tagen zog der Mai ins Land. Dann steckte der Bursch seinem Schatz in der Nacht einen Buchenzweig an die Türe, und nahm ihn das Mädchen am Morgen in seine Kammer, so war es ein Zeichen, daß es ihm gut war. Der Maienaltar im Münster aber und alle Wegkapellen mit der Gottesmutter in den Dornen standen vom ersten Mai bis zum letzten Tage des Maienmondes in grünem Laub. Es war der Marienmonat.

Siegfried schaute nicht auf, als er am Café Mousson vorbeikam, aber er hörte die Nähmaschine surren. Mamsell Ernestine saß am offenen Fenster und nähte, das Christinele zog Fäden aus. Um zwölf Uhr saßen sie noch über der Arbeit. Er tat wie am Morgen.

Da sah er um ein Uhr, als er vom Tisch aufstand, das Christinele mit dem Rosele vor der Haustür stehen. Er wollte in die Stube zurücktreten, aber die Magd sagte gerade: »Die Madame Kolb und Monsieur Haury? Christine, verbrennt Euch's Maul nicht, du und deine Meisterin, ich glaub's meiner Lebtag nicht.«

Siegfried fuhr zwischen beide.

»Wer hat das gerätscht! Wer? Du? Die Picard? Du nicht! Aber du trägst's umeinand!«

Er hatte das Christinele am Arm gepackt und geschüttelt, ihr die ängstlichen Beteuerungen vom Munde abgelesen, jetzt stieß er es zurück.

Da wurde es patzig.

280 »Und es ist doch so! Und von dir laß ich mich noch lang nicht verschütteln. Auf mich kannst warten ein ander Mal! Ich hab eineweg ein' Maien daheim,« streckte ihm die rote Zunge heraus und lief davon.

Das Rosele aber hielt ihn zurück.

»Laßt es laufen, Ihr hängt ihm doch kein Schloß ans Maul.« Und seinen Vorteil wahrnehmend und lüstern ihn zu quälen fuhr es fort:

»Jetzt habt Ihr Euren Maien feil, Monsieur Siegfried.«

Aber er trat von ihr weg, und es schlich unbefriedigt in die Küche, zauste die Zweitmagd, kuranzte den Knecht, und als der Gesell aus der Zuckerbäckerei Strohl ihr zulieb kam, wie alle Tage seit bald einem halben Jahr, und sein Glas Most trank, bot es ihm kaum Bescheid. Der Zuckerbäck saß und drehte sein Glas und sah ihr zu, wie sie so frank, mit hässigem Gesicht durch die Stube fuhr. Als sie allein waren und sie ihm ein frisches Glas hinstellte, faßte er sie um den Leib. Sie ließ es geschehen, aber plötzlich riß sie sich los und fauchte:

»Greif dein Scheitholz an und feur' den Backofen ein, mich wärmst du noch lang nicht.«

»Rosele, die ›Krone‹ in Aslach ist feil samt der Bäckerei. Mein Vater legt mir viertausend Livres auf den Laden, wenn du mit mir z'sammen in die Händ speist.«

»Bist sicher, ist's an dem, Jacqui?« fragte sie, und ihr Gesicht wurde ernst, rechnend. Als er wieder nach ihr langte, wehrte sie seine Hände nur matt von ihren Hüften, den Kopf noch schwer von der Krone, die er ihr täppisch aufgesetzt hatte. Das Spiel ihrer Glieder machte ihn toll. Er wollte sie auf die Bank reißen. 281 Aber jach schnellte sie auf und warf ihn selbst über den Haufen. Strauchelnd hielt er sich noch am Tischbein.

Da stand er auf, erhitzt, ein Dunst nach Mehl und Schweiß kam von ihm her, wischte mit dem Handrücken den bartlosen, dicklippigen Mund und sagte dann leise, damit es die Gäste, die gerade zur Tür hereintraten, nicht hörten:

»Sell sag ich dir, wenn dir ein anderer aufs Hemd kniet als ich –«

Das Rosele aber lachte laut und rief unbekümmert, ob die andern es hörten:

»Du hast meine Hemder nicht gesponnen und tust sie nicht schwenken, du Lappi.«

Da warf er fünf Sous auf den Tisch und blickte die andern, die dem Rosele verliebt mit den Augen Maß nahmen, herausfordernd an, drehte die starken, nackten Arme, daß der volle Tagesschein auf der weißen, prallen Haut tanzte und die Muskeln spielten, und schritt steif aus der Stube. Auf der Schwelle schaute er sich noch einmal um. Das Rosele hinter dem Schenkverschlag duckte sich schnell und verschüttete dabei den Wein. Aber sein lachendes, rundes Gesicht war dem Jacqui im Aug hängen geblieben, und er lüftete die Fäuste wieder und schritt freier davon. Kaum war er um die Ecke, stand das Rosele unter der Haustür, und als Siegfried an ihm vorbeiging, nahm es ihn kaum in acht. Das tat der Zuckerbäck und die ›Krone‹.

Diesmal bohrte Siegfried den Blick in das Saalfenster, wo die Schneiderinnen saßen. Ferdinand Sinniger stand hinter den beiden und steckte dem Christinele, das große 282 Fäden schlug, den Zeigefinger in den Nacken, daß es kichernd aufzuckte.

»Voyons, cousin, trink deinen Kaffee und laß die Maidle in Ruh,« klang die Stimme der Wirtin scharf, und Siegfried sah den Caissier gehorsam zurücktreten.

Das Christinele zog ein Mäulchen.

Da packte ihn ein Ekel, er fühlte, wie ihn der Mund brannte, der sie geküßt. Und ein wilder Schmerz, eine große Enttäuschung drückte ihn nieder. Wie ein Blinder tappte er ins collège, Winghoff faßte ihn in der Mathematikstunde hart an, und als ihm eine jener verwünschten Gleichungen vorgelegt wurde, deren er nie Herr geworden war, und jener zu ihm sagte: »Nun, wenn es Ihnen so schwer wird, so gehen Sie an die Tafel, lösen Sie die Sache mit der Kreide, aber bleiben Sie dabei auf dem Wege und geraten Sie mir nicht in die Büsche,« da sah er in dem kalten, grauen Gesicht, über dem ein dünner Haarbüschel zitterte, ein Lauern, ein Zucken der Lippen legte die gelben, schlechtgehaltenen Zähne bloß, und ihn überlief ein rauher Schauder, eine wilde Angst. Und auf einmal fiel alles in ihm in Starre.

»Nun, Höpfner, wollen Sie sich gefälligst aus der Bank bemühen?« Es klang ihm wie Spott und so von oben herab, und Winghoff streckte ihm mit spitzen Fingern die Kreide hin, als fürchtete er sich, ihm zu nahe zu kommen. Wie einen Pestkranken, das war das letzte, was Siegfried mit Bewußtsein und Überlegung dachte, dann antwortete er stumpf und klanglos:

»Verzeihung, Herr Doktor, ich kann's doch nicht.«

Und seine eigene Stimme schien ihm weither zu kommen. 283 Seine Hände waren von Eis, seine Augen Löcher, er sah und hörte durch einen grauen, lastenden Nebel. Nur sein Herz schlug laut, und ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit stieg wie ein Meer aus der Tiefe und trug ihn plötzlich hinweg.

»Er fällt um!«

Das hörte er noch, sein Bankgenosse hatte es gerufen, und dann eine Weile nichts mehr. Als er wieder zu sich kam, führten ihn gerade zwei Kameraden über den Flur. Die Glieder taten den Dienst schon wieder, er war nur einen Augenblick in die Bank getaumelt, aber es ging noch eine Zeitlang, bis er die Gedanken zusammenlesen und sprechen konnte. Noch ein Gefühl der Schwäche, die Beine wie Teig, auf der Stirn eine kalte Feuchte und ein feines Singen in den Ohren, aber sein Hirn war jetzt geschäftiger als zuvor. Es quirlte darin, Rhythmen wogten, Worte flogen, feierliche Klänge schwebten einher.

»Du sollst heimgehen,« hat der ›Schmecki‹ gesagt, »da ist deine Kappe.«

Er nahm die Mütze, nickte den beiden zu mit einem schattenhaften Lächeln in dem totenblassen Gesicht und ging.

Er war zu Hause. In seinem Zimmer funkelte die Mittagssonne. Und dann lag er drei Stunden in bleiernem Schlaf.

»Was ist Euch arriviert, Siegfried? Der Veri hat's aus der Schul gebracht und mir wieder erzählt,« fragte Sütterlin bei dem Abendessen.

Siegfried hatte den Jungen noch aus der Tür schießen sehen, als er zum Abendessen herabkam.

284 »O nichts, eine faiblesse,« erwiderte er verlegen.

»Ja, ja, der Frühling! Jetzt trinkt Ihr mir aber einmal ein recht's Glas Wein!«

Sütterlin schenkte ihm ein, und er trank gehorsam.

»Habt Ihr meinen Tochtermann gesehen,« fragte der Alte nach einer Weile.

»En passant, ja, im Café.«

»Das toupet,« murmelte Sütterlin und schwieg.

Amélie hatte ihm sagen lassen, daß sie dem Nandi angelegen sei, er solle ins ›Lamm‹ zum Vater, und den um Hilfe angehen, er werde ihn anhören. Aber sie wisse noch nicht, ob der Nandi den Weg fände ins ›Lamm‹.

Er hatte ihn noch nicht gefunden. Aber tant pis, keine Stunde später würde das Licht gelöscht und der Riegel geschoben.

Das Rosele trug dem Herrn einen Stuhl hinaus. Die Mauer war noch warm von der Sonne, es lag schon Staub auf der Landstraße. Als Haurys Wagen vom Bahnhof herkam, stieg eine Wolke unter den Rädern auf. Der Nandi zeigte sich nicht. Der Brunschwig, der in Hemdärmeln durch die Gassen spazierte, blieb vor Sütterlin stehen.

»Nun, wie ist, machen wir eine Partie Pikett miteinander?«

»Non, Sali, du kannst auch so sagen, was du willst.«

»Wie heißt: sagen was du willst! Reden wir vom Wetter, vom Boulanger.«

»Sali, du hast immer noch keine festen Preise. Eh bien, was ist? Ich hab dich ein Jahr nicht im ›Lamm‹ gesehen. Was bringt dich heute her?«

285 Der Jude blinzelte und trat von einem Fuß auf den andern. Sütterlin hatte die Pfeife ausgeklopft und stand auf.

»Also komm, aber wenn der Ferdinand kommt, motus

»Der Nandi!« tat erstaunt der Salomon.

»Oui, justement. Oder meinst, er fänd den Weg nicht, so lang 's noch Zeit ist?«

Da warf der Jude die Arme in die Höhe.

»Xavier, ich hab nix gesagt. Aß ich soll gehen kapores, wenn ich hab gesagt nur ein einziges Wort!«

»Allons, komm nur, dem Salomon Brunschwig seine Nase hat's geschmeckt, wo's der Nandi selber noch nicht gewußt hat, wie's um ihn steht. Für das kenn ich dich doch und deine ganze mécanique.«

Jetzt schwieg der Brunschwig, strich die Manschetten glatt und ging hinter dem Alten her in die Stube.

Kaum waren sie im Flur, da kam der Nandi die Gasse herab auf das ›Lamm‹ zu. Aber im Café Mousson flammte gerade das Gas auf, ein Zögern und Stocken, das Phinele erschien am Fenster und ließ die Rouleaux herab, und er schwenkte ins Café.

»Schon wieder, Cousin! Tu vas te coucher sur le billard à la fin!«

»Auf dem Billard, ça jamais. Aber dort oben, Phinele, avec plaisir.«

Es war noch niemand da, die Schneiderin schon gegangen. Sie waren allein. Er hatte mit dem Finger auf die Türe gezeigt, die in die Küche und in Josephinens Zimmer führte.

286 Das Lächeln in Phineles Gesicht war weggewischt. Ihre starken schwarzen Brauen zogen sich zusammen. Sie trat dicht vor ihn.

»Et pour moi - avec dégoût. Hast du mich verstanden, Ferdinand.«

Er versuchte zu lachen, aber es mißglückte ihm und dann plötzlich leidenschaftlich:

»Dégoût hast du gesagt! Vor mir! Ja, was bin ich denn, daß mich das Phinele Mousson dégoûtant schimpft! Meinst du, ich wär zu einer andern, wenn ich dich hätt! Voyons, sag's, daß das nicht serios war mit dem dégoût. Du weißt ja, daß ich dir nicht am Leintuch zupf. Nicht einmal sagen hab ich's dürfen, daß ich dich –«

»Schweig, imbécile. Wenn du noch ein Wort redest, jetzt, im Moment, wo's Amélie zwischen einem Toten und einem Lebendigen vor dir steht, hernach bist du nicht besser als einer, wo vom Galgen herkommt.«

Schroff wandte sie ihm den Rücken und begab sich hinter das Büfett, umschanzt von den funkelnden Karaffen und spiegelnden Tablettes.

Er ging ihr nach.

»Was nimmst du? Kaffee?« fragte sie ruhig und zündete die Spiritusflamme an.

Von dem erhöhten Platz sah sie auf ihn herab. Ihr Gesicht war kalt, aber ihre Brust atmete heftig.

»Voyons, Josephine, du mußt auch G'spaß verstehen,« sagte er kleinlaut.

»So, G'spaß! Also nicht einmal Ernst war's dir mit dem, was du gesagt hast! 287 Ah, c'est comme ça! Eh bien, cousin, pas de passion, pas d'excuse, tu comprends?«

»Aber, Phinele,« rief er verzweifelt, »so hab ich's ja auch nicht gemeint. Je t'aime, mais tu le sais bien, comme tu m'imposes!«

»Tais-toi!« schnitt sie ihm das Wort ab, füllte den Kaffee ins Glas und trug es ihm an den runden Tisch.

»Tu me pardonnes? Sag, daß du's tust,« bat er und hielt ihre Hand fest.

Sie schwieg.

»Voyons, Phinele, ich hab so schon Sorgen genug.«

»Sorgen, der Nandi Sorgen!«

Sie lachte und entzog ihm die Hand.

»Ja,« fuhr er unruhig fort, die Augen auf die Tür geheftet, als fürchtete er unterbrochen zu werden. »Ich hab große Perten gehabt, Unglück mit der Caisse. Im Anfang hat's rouliert, ds bénéfices énormes, dann bin ich in die großen Affären gegangen und hab die Fonds genommen, wo ich sie gefunden hab, la caisse, tu comprends, und es ist auch ein paar Mal alles wieder en règle gewesen, mais à la fin . . . . ich bin am End, morgen schellen sie mich aus.«

»Fallit?« fragte sie leise und starrte ihn entgeistert an.

Einen Augenblick zögerte er, dann stieß er tonlos hervor:

»Mehr als das, Phinele. Ich und die Caisse, beide. Die Depots sind noch da, die Einlagen, – tu comprends – die Einlagen – ich, ich –«

Er machte eine wilde Bewegung mit den Armen und schluckte krampfhaft.

»Herrgott im Himmel! Das ist nicht wahr! Nandi, 288 red keine Narrheiten! Du machst wieder einen von deinen dummen G'spaß, voyons, so red doch, ich weiß ja, daß du ein courreur bist, und leicht wie keiner, aber das – non, non, c'est impossible.«

Sie hatte seine Hände ergriffen und wiederholte immer wieder: »Sag's, daß es nicht wahr ist.«

»Siebenundachtzigtausend Livres, morgen kommt's aus, wenn – wenn der Vater nicht hilft,« erwiderte er heiser und drückte ihre Finger in seinen kalten Händen, daß ihr die Ringe ins Fleisch schnitten.

Ein Schatten erschien an der Türe.

»Sitz ab oder nimm die Queue,« flüsterte sie rasch, zog die Hände fort und reckte sich, um die Gasflamme zu regulieren.

»Bon soir, Monsieur Schicklé,« rief sie dem Eintretenden entgegen und dann zu Ferdinand, der sich am Billardständer zu schaffen machte:

»Da kommt ein Partner, Cousin.«

Ferdinand Sinniger hatte einen Stock ergriffen und begann die herrenlosen Bälle zu schieben. Eine Serie von fünf, weiter kam er nicht.

»Pas de chance,« sagte Schicklé, der ihm zugesehen hatte.

»Hein?« schreckte Ferdinand auf.

Aber der Maire war ans Büfett gegangen und begann mit Josephine zu plaudern. Und jetzt kam der Apotheker, dann der Notar, und endlich Haury. Ferdinand legte die Queue hin und trank stehend seinen kalten Kaffee. Er machte noch ein paar Worte, ziemlich gefaßt, nur das breite, grinsende Gesicht Ramspachers ging ihm auf die Nerven.

289 »Ihr geht schon?« fragte der Apotheker.

»Ja, er wird ein Ofenhocker, der Nandi, seit drei Wochen ist er ein modèle von einem mari,« sagte Schicklé.

Und der Notar lachte und quakte, Ferdinand hörte einen Spott heraus.

Da kam ihm das Phinele zu Hilfe.

»Einen Gruß ans Amélie, ich komm noch nach ihr lugen. Sie soll nur Sorg haben zu sich.«

Plaudernd schritt sie mit ihm zur Türe. Auf der Schwelle flüsterte sie hastig:

»Geh zum Vater ins ›Lamm‹, Nandi. Er muß helfen. Und wenn's dir was nutzt, ich geb dir, was ich hab. Aber den Caissier zieh aus, der hat dich ins Unglück gebracht.«

»Kommst du mir auch mit dem? Noch zwei Tag, da kann viel ablaufen. Ich lieg noch nicht auf dem Haberstroh.«

Die am runden Tisch hatten ihn gestachelt, er trug den Kopf wieder höher.

»Eh bien, va! Setz deine Frau und die Kinder in die Schand und geh den Preußen ins Prison und nimm die Reputation vom ganzen Städtle mit, misérable!«

Ihre Augen brannten, sie riß ihm die Hand weg, die er bei ihren verdammenden Worten gefaßt hatte, und drückte die Türe ins Schloß.

»Tiens, 's Phinele ist bonne amie mit dem Nandi,« neckte sie der Maire.

»Muß man dazu Permission haben von der Mairie?« gab sie zurück und ging wieder hinter das Büfett.

Da erhob sich Haury und schlenderte zu ihr hin.

290 »Phinele, sei raisonabel und laß mich's endlich reglieren,« flüsterte er leise, nachdem er laut einen Kirsch bestellt hatte.

»Reglieren, Ernest? Es ist regliert gewesen an dem Tag, wo du mir den congé gegeben hast wie einem Fabrikmaidle.«

»T'es folle!«

»Nein, ich bin's gewesen. Vier, fünf Jahre lang, geh jetzt, laß mich. Ich hab keinem was nachzufragen und du mir nicht.«

»Josephine, pense à ta mère! Und wenn dich die zwanzigtausend Livres brennen, so sag's, und ich geb sie ins Armenhaus.«

Er griff nach dem Gläschen und spielte damit zum Schein. Sie antwortete nicht auf seine letzten Worte.

»Phinele!«

Plötzlich straffte sich ihre Gestalt, ein heller Schein lief über ihr Gesicht.

»Du hast recht. Gib die zwanzigtausend Franken, ich nehm sie an, et après –«

»Nous restons amis,« schloß er den Satz, und sie lächelte kalt dazu.

»Morgen früh schick ich's dir,« warf er noch hastig hin, sie riefen ihn am runden Tisch.

»Nein, heut noch, faut payer comptant comme moi,« erwiderte sie, und ein wildes, schmerzliches Zucken schnitt um ihren Mund, aber sie raffte sich zusammen und hielt dem verwunderten Blick Haurys stand.

»Gut, in einer Stunde, ich hab's parat.«

Das klang kalt, fast verächtlich. Die Bewegung, mit der 291 er das leere Gläschen hinstellte, war lässiger als sonst. Noch einmal blickte er sie an, als hätte er sie noch nie gesehen, zuckte unmerklich die Achseln und ging. Er war frei, die Rechnung ausgeglichen, sie hatte sich nur zum Schein gewehrt, die Summe getrieben, jetzt griff sie zu, pressierte aus Furcht, es könnte ihn reuen. Und er schüttelte sich. Eine wie die andere.

Josephine Mousson saß aufrecht hinter dem Marmortisch. Ihr schönes, schwarzes Haar stand in Löckchen über den glänzenden Augen, der Jettbesatz ihres Kragens warf dunkle Lichter, und sie lächelte so ruhig, machte die Wirtin mit einer Anmut, daß der Notar die andern anstieß und sagte:

»Das ist ein stolzes Frauenzimmer. Wenn einem nicht die Zähne ausgefallen wären – sacré mâtin, es wäre ums probieren.«

Um zehn Uhr standen sie auf und gingen heim. Josephine begleitete den Maire, der den Schluß machte, an die Türe. Dann löschte sie die Flammen bis auf eine. Durch die offene Tür strich der warme Abendwind und trug einen Geruch von frischem Brot herein. Im ›Lamm‹ wurden die Läden geschlossen, nur aus dem Eckzimmer hoch oben schauten helle Feueraugen in das Dunkel.

Ein Licht wanderte die Treppe hinauf, die Gangfenster blitzten. Xavier Sütterlin ging zu Bett.

Josephine sah die Lichter wandern.

»Bon soir, Phinele,« keuchte es plötzlich hinter ihr.

»Mon Dieu, du bist's, Amélie!«

»Ich hab's nicht können erwarten, hast du den Nandi gesehen?«

Josephine faßte sie am Arm.

292 »Er ist gewiß schon daheim. Lug dort, dein Vater löscht 's Licht.«

Eine Zeitlang starrten sie schweigend auf das dunkle Haus, in dem nur noch Siegfrieds Fenster leuchtete.

»Phinele, weißt du's? Aber nein, es kann, es darf's ja keiner wissen: Phinele, du magst ihn leiden – nein widerred's nicht – on sait cela, und es macht mir nichts aus, aber wenn du das erfährst . . .«

»Still, Amélie, geh heim oder komm ins Café.«

Sie suchte die Fassungslose zu beruhigen und lauschte dabei angestrengt in die Nacht. Die zwanzigtausend Livres waren noch nicht gezahlt.

Da kamen Schritte von der Kreuzgasse her, eilig, wie gehetzt, und schon von weitem rief eine ängstliche Knaben stimme:

»Mutter, geschwind, der Vater ist daheim.«

»Der Verele, ich hab's ihm gesagt, er soll mich holen.«

Amélies Stimme klang auf einmal viel stärker, sie preßte Phineles Hände und flüsterte ihr ins Ohr, daß der Bube es nicht hörte:

»Er ist beim Vater gewesen, jetzt ist alles gut.«

Und wieder Schritte, diesmal vom ›Lamm‹ her, Josephine erkannte Haury am Gang.

»Ja, ja, und wenn's nicht langt, ich geb auch noch dazu.«

»Jesus, was redest du da? Was willst du sagen?« stammelte die Frau.

»Alles, Amélie. Er hat's mir selber gestanden. Aber Jetzt geh, je t'en prie.«

»Dir hat er's gesagt?« klang's eifersüchtig und gequält zurück. »Und ich weiß es erst seit gestern!«

293 »Heut abend ist er bei mir gewesen. Es ist keine Stunde.«

Da stöhnte Amélie tief auf.

»Dann kommt er jetzt nicht aus dem ›Lamm‹.«

Und ohne Gruß, schwerfällig, den Knaben, den die Dunkelheit der leeren Gassen verwirrte, an den Röcken, schlich sie den Weg zurück, den schmerzenden Rücken mit der Hand stützend, so gut es ging.

Im Laden zirpte das Flämmchen, die Spiegel glänzten, lange Schatten fuhren an den Wänden hin. Der Verele kroch ins Bett.

Nun waren sie allein.

Die Frau hatte sich gesetzt, die Beine trugen sie nicht mehr. Ferdinand stand am Fenster und starrte auf die Gasse. Bei Brunschwigs brannte noch die große Hängelampe, er sah den Salomon in Hemdärmeln auf und nieder schreiten und die Arme werfen.

»Nandi, was hat der Vater gesagt?« fragte Amélie leise.

Er gab keine Antwort.

»Hast du ihm gesagt, daß die Depots alle da sind?«

Endlich drehte er sich um.

»Ich bin nicht – ich kann nicht – lieber verrecken!«

Sie fuhr nicht auf, sie schrie nicht, jammerte nicht und beschwor ihn nicht. Aber als sie nun mühsam aufstand, blaß, mit verwüstetem Gesicht, den gesegneten Leib zur Tür schleppend, streckte er die Hände nach ihr aus.

»Amélie, ich kann's nicht – er erspart mir kein Wort – er würgt mir das Hinterste hervor, und wie soll er sie schaffen, die vielen tausend Livres!«

An der Tür wandte sie sich um.

294 »Lâche!«

»Amélie!« keuchte er und stürzte ihr nach mit erhobenem Arm.

»Schlag zu, aber hart, und dort drin, Nandi, liegen noch drei!«

Traurig, eintönig, von Tränen schwer kamen die Worte aus ihrem Mund, sie war ihm einen Schritt entgegengetreten, um ihm den Weg zu sparen.

Er tappte rückwärts, wollte lachen, lachte auch, aber so lacht einer, der nicht heulen will, und fiel auf den nächsten Stuhl. Die Fäuste ins Haar gewühlt, von einem Nervenzucken geschüttelt, hockte er und konnte den Speichel nicht meistern, der ihm in den Mundwinkeln klebte.

Zwei magere, blaugeäderte Hände legten sich auf seine Schultern.

»Sag, Nandi, soll ich mit dir gehen? Er steigt gewiß aus dem Bett.«

»Non, geh du ins Bett, ich geh allein.«

Es schlug elf Uhr, als er das Haus verließ. Die Torlaterne war gelöscht, im Kalender stand Mondschein. Am Himmel aber trieb feines, weißes Gewölk, das silbern glänzte im Widerschein der unsichtbaren Scheibe. Der Wind wehte das Rosengäßlein herauf. Ein widriger Geruch schlich hinter ihm drein und kroch beizend am Boden hin. An der Ecke der Bretzelgasse kam ein grauer Schwaden auf Ferdinand zu.

»Nundedie, was ist das!«

Und da sah er ein rotes Fünklein unten in der Bretzelgasse aus einem schwarzen Giebel steigen. Er sah es steigen, erst 295 langsam, dann tolle Wirbel drehen und mit dem Wind über die Dächer streifen, bis es jäh erlosch.

»Fürio!« schrie der Nandi, vergaß alles, rannte zurück, die Treppe hinauf, ins Kontor, riß Helm und Beilgurt, Horn und Rock vom Haken und wieder fort.

»Es brennt, aber weit ab, bleib ruhig liegen,« rief er ins Schlafzimmer, und schon plärrte das Hörnle in der Kreuzgasse und die Rosengasse hinab, und als der erste, rote Funkenschwarm aus dem Giebelloch flog, schlug Ferdinand unten schon mit dem Beil an die Jalousieläden der Zuckerbäckerei, und da und dort klappte eine Tür, sprang ein Fenster auf, gaukelten Lichter, rannten sie hemdärmlig und im Unterrock herzu, und jetzt klang vom Kleinkinderplatz her auch das Clairon, und das Spritzenwägelchen polterte mehr geschleift als gefahren die Gasse herab.

»Strohl, mach auf, es brennt dir ja unterm Hosenboden weg,« schrie Sinniger, aber die Haustüre blieb geschlossen, der Riegel lag vor. Da lüpften ihn zwei Mann, und er klammerte sich an das Ladengesims und drückte das Fenster ein im ersten Stock und sprang, fiel ins Schlafzimmer.

Ein schriller Schrei, wildes Fechten und Fegen im Alkoven, und schon reckte eine Leiter ihre Zähne, tauchte ein zweiter Pompier auf, und das rußige Licht seiner Gürtellampe zwitterte in das dunkle Zimmer. Aber Ferdinand kannte den Weg.

»Sacré tonnerre, der ist doch sonst in der Ecke gestanden,« schrie er, als er an den Tisch stieß und die Karaffe scherbelte, und rannte zur Türe, hart an dem Mann vorbei, der auf dem Bettrand saß und mit den 296 Hosen focht. Und als er die Klinke gefunden hatte, rief er der Louise Strohl, die im Alkoven hinter den Gardinen hockte und jammerte, ohne zu wissen, was eigentlich vorging, lustig zu:

»Ihr liegt bigoscht im Nest, bis euch die Matratze brennt unterm –«

Ein Schwall braunen Qualms schlug zur Tür herein und erstickte das letzte Wort. Sinniger packte das Treppengeländer und strebte zum Dachstock hinauf, hinter ihm der andere mit der Laterne. Der Bäckerbursch tappte schon oben herum, blind, hustend und fluchend und stieß mit einem Bohnenstecken in die prasselnden Reisigwellen, die neben dem Kamin Feuer gefangen hatten. Feurige Balkenränder glänzten im Dunkel; aus der Ecke, wo die leeren Mehlsäcke lagen, wälzte sich ein gelber Rauchwurm und reckte zischend hundert Hälse. Die Stiege hinunter, zwischen den Schindeln durch, unter den Ziegeln hin und zum Dachloch hinaus kröpften sie gierig, und ein Schwarm feuriger Bienen flog um sie her, zückte den Stachel und wirbelte knisternd in die blaue Nacht.

»Zum Loch, auf die Gaß mit dem Plunder und Wasser auf den Stuhl,« krächzte der Nandi, und schon trappelten neue Füße auf der Treppe, und jetzt flog das erste Reisigbündel im Schwung aus der Luke.

Unten kreischten sie auf, da schlug es schon aufs Pflaster, und der Feuereimer spie hinein.

Der Mond hatte das Gewölk gemeistert und goß sein Licht herab auf die spitzen Dächer. Die Gassen glänzten hell, von allen Seiten kam das Volk gelaufen, und in 297 der Bretzelgasse stand alles Kopf an Kopf. Wenn ein Pompier gerannt kam, sah man seinen Messinghelm von weitem sprühen und leuchten. Das Clairon war jetzt in der Vorstadt, sein Signal klang aus der Ferne in langen Schwingungen über die Dächer.

Bündel auf Bündel flog aufs Pflaster. Im ganzen Haus liefen die Lichter, ein Schlauch krümmte sich die Treppe hinauf, und nun fingen sie an mit den Handspritzlein Wasser zu saugen. Springbrunnen schossen als feine Silberfädlein aus dem schadhaften Rohr, und die Frauenzimmer, die im Jupon und Nachtkamisol mit baumelndem Zopf und in der Schlafhaube auf die Brandstatt gebeinelt waren, gicksten laut, wenn ihnen ein kaltes Brünnlein an die nackten Beine sprang.

Auf dem Dach waren die Flämmlein, die gierig zwischen den Ziegeln gezüngelt hatten, erloschen. Die Säcke kamen wie große, rauchende Fleischklumpen aus der Höhe, als würde dort oben der Brunstdrachen zerstückt. Unten das Volk wich immer weiter zurück.

»Himmelsakrament, der Strohl hat die Pestilenz in seinen Mehlsäcken hocken, das stinkt ja den Teufel zur Höll' hinaus,« schrie einer, und ein lautes Gelächter stieg in die Nacht, und als plötzlich ein armdicker Wasserstrahl, der das Ziel verfehlt hatte, aus dem Dachfenster schoß, einen Augenblick im Mondlicht funkelte und dann in rauschendem Guß über die Köpfe der Gaffer sich entleerte, da lief und schrie und jauchzte alles durcheinander.

Immer noch schlorrten einzelne Pompiers herzu, und jeder mußte Spießruten laufen.

»Eh, bonjour, Dissele, auch schon verwacht! He, 298 Xaveri, wo ist dein casque, du hast ja den ›Potschambre‹ verwitscht!«

»Achtung, Achtung, gardez-vous, die Stadtspritze kommt!«

Und ein brausendes Geschrei begrüßte die große Feuerspritze, die von der Schmiede herkam, zwei Gäule vorgespannt, eine wehende Petrolfackel am Kolben, keuchende Mannen an beiden Seiten. Mit Donnern und Klirren rollte sie die schmale Gasse herauf.

Aber das Feuerlein war schon gelöscht. Das Wasser rann vom Dach, und die Kändel sprudelten, als hätte es gewettert. Im Oberstock brannten alle Lampen. Treppauf und ab drängten sich die Pompiers, es mußte doch jeder wenigstens hineingespuckt haben in die Brunst. Über den Hügel, die buckligen Gassen herab und von der Brücke her die rue de gare herauf, im Bogen um das Städtlein, kamen jetzt erst die Vorstädtler getrabt und reckten die Hälse. Die kleine Taverne ›Zum Tannenzapfen‹, die der Confiserie gerade gegenüberlag, war geöffnet. Brandnacht ist Freinacht, und schon hockten Mannsleut und Frauenzimmer vergnügt auf den abgeschliffenen Bänken und tranken den sauren Wein, den der Zapfenmatthis sonst den Bauern am Jahrmarkt aufstellte, mit Behagen.

Ferdinand Sinniger hatte den Helm ein wenig aufs Ohr gerückt. Er stand in Strohls Wohnstube, der Maire war da, der Brandmeister und ein paar Nachbarn. Sie waren guter Dinge, übermütig neckten sie die Strohlin, die jetzt in den Kleidern rauschte. Die blonden Haare wirr durcheinandergesteckt, ging sie unruhig von einem zum andern 299 und bot ihnen Wein. Ihre blaßroten Lippen lächelten zu den Scherzen und Anspielungen, aber ihre Backen brannten. Schon ein paar Mal hatte sie dem Nandi etwas zuflüstern wollen, aber sie brachte es nicht zu Ende.

»Ja, sell ist gewiß, hätt der Nandi den Weg nicht gewußt, die Brunst hätte das Dach abgelüpft und ein paar Giebel gefressen,« sagte der Maire und machte ein pfiffiges Gesicht.

»Ja, der Strohl hat einen gesunden Schlaf,« antwortete Ferdinand lachend.

»Und wie er dreinlugt, als wär er gerade aus dem Mehlkasten gestiegen,« spottete der Brandmeister und blinzelte über sein Glas weg nach der Türe.

»He, Strohl, salut confiseur! Assekuriert bist du ja, eh bien vive la joie, das Hemd auf dem Leib ist noch heil!«

Sie drängten zu ihm hin. Er stand in seinem Feierabendrock, mit Hemd und Kragen, Uhrkette und Krawatte, auf dem geschorenen Kopf die kleine, graue Bäckerkappe, wie hingehext auf der Schwelle. Sein Atem ging rasch, an seinem mageren Hals waren die Adern geschwollen. Mechanisch nahm er das Glas, das der Maire ihm hinhielt. Aber er trank nicht, sondern suchte nach Worten.

Da flüsterte es an Nandis Ohr:

»Ferdinand, um Gottes willen, hilf mir sie geschweigen, der Strohl ist ja –«

Aber sie wurde unterbrochen. Der Zuckerbäck war zu Atem gekommen und sprudelte:

»Herrgott, Ninive. Jetzt wär einem die boutique schier 300 beim Absinth abbrannt. Der Kaiben-Clairon hat in der Vorstadt erst geblasen, wo schon die Katz aus dem Sack war. Grad mit der großen Spritz bin ich noch hergekommen aus der ›Alten Bruck‹.«

Einen Augenblick war es totenstill, der Lärm der Gassen klang herauf, auf der Treppe gurgelte das Wasser aus dem abgeschraubten Schlauch.

Der Bäcker starrte von einem zum andern. Einer hatte unwillkürlich durch die Zähne gepfiffen.

»Ja, was ist denn? Was macht ihr denn für kuriose Gesichter?« stotterte der Confiseur.

»Nandi!«

Sinniger hatte den Hauch ihres Mundes im Nacken gespürt. Die andern suchten sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie tranken und durcheinanderschwatzten.

Da rief Ferdinand:

»Weißt du, Strohl, was dir heut nacht arriviert ist?«

»Mon Dieu, Nandi, tais-toi!« flüsterte Louise.

Aber er tat, als hörte er die leise Stimme nicht, als sähe er die erstarrten Gesichter der andern nicht, die ihn zu beschwören schienen, und wiegte sich auf den Füßen, daß der Helm ihm noch kecker aufs Ohr rutschte.

»Das greift ein Blinder. Der Kamin hat gezündet, und ihr habt mir das ganze Haus mit Wasser versaut,« erwiderte der Zuckerbäcker.

»Und du bist in der ›Bruck‹ gesessen! Ja, aber noch eins: es ist einer in der Schlafstube gewesen, bei deiner Frau!«

»Nandi, was fallt dir ein!« schrie Schicklé.

Das Glas, das der Confiseur in der Hand hielt, zitterte 301 so heftig, daß ihm der Wein über die Finger und in den Ärmel lief. Sein faltiges, mageres Gesicht zuckte und färbte sich rot. Ein scheuer Blick, wie der eines mißhandelten Hundes, irrte zu der Frau hinüber, die hinter dem Caissier am Büfett lehnte, ein starres Lächeln in den feuchten Mundwinkeln. Aber Sinniger zuckte die Achseln und wehrte den Maire ab, der ihm in die Rede fallen wollte.

»So laßt einen doch reden, nom de pipe! Also, daß du's weißt, Strohl, es ist einer bei deiner Frau gewesen. Zum Fenster ist er herein und hat dir's Nähtischle über den Haufen geschossen!«

»Wer? Zum Fenster? Ja –.« Der Zuckerbäck rieb sich die Stirn, wie einer, der nicht weiß, ob er wacht oder träumt.

»Ja, und hintennach ist gleich noch einer eingestiegen. Das kommt davon, wenn der Mann in die ›Bruck‹ sitzt und sein warmes Nest leer läßt. Im Dach glostet die Brunst, und im Bett wiegt die Frau die leeren Kissen.«

Der Maire fing an zu lachen, der Brandmeister prustete in seinen Wein, und Sinniger ging auf Strohl zu und stieß sein Glas an jenes, aus dem der Confiseur die Dielen netzte.

»Voyons, Strohl, geh zu deiner Frau, du kannst heillos froh sein, daß sie dir nicht verbrennt ist mit dem ganzen Krempel. Wenn ich's nicht im Rosengäßle geschmeckt hätt auf dem Weg ins ›Lamm‹ und sie mir nicht zum Fenster hinauf und in deine Schlafstube geholfen hätten, läg am End jetzt alles im Dreck.«

Da leuchtete das Gesicht des Zuckerbäckers auf.

302 »Sackerment, Nandi, das ist wieder einer von deinem verdammten G'spaß.«

Und als der andere ihm einen Stoß gab, schoß er auf seine Frau zu, und sie ließ es geschehen, daß er sie umarmte, und als er ihren weichen Leib unter den Händen spürte, und spürte, wie sie sich hingab, da fiel ihm das Glas, das er immer noch vor sich hergetragen hatte, aus den Fingern und glitt in den Falten ihres Kleides unversehrt zur Erde. Und er stammelte:

»O Louise, wenn du mir verbrennt wärst mit der ganzen War, quel malheur!«

Madame Strohl aber blickte mit blanken Augen über seine Schultern zu den andern hinüber, zog ein Mäulchen und sagte:

»Ja, der Nandi Sinniger, das ist einer! Jetzt gibt's wieder schöne Rätschereien im Städtle. Zuletzt heißt's doch noch, ich hätt einen Schatz bei mir gehabt zur Nacht.«

»Ihr habt ihn ja im Arm,« antwortete ihr der Maire lachend, und dann schoben sie sich aus der Stube und ließen den Confiseur allein mit seiner Frau.

Als sie aus dem Haus traten, waren die Fackeln niedergebrannt. Im Mondschein schimmerten die Messingbeschläge der Spritzen. Es war stiller geworden. Türen wurden geschlossen, Läden geworfen, in der Ferne jauchzten ein paar trunkene Kehlen, daß die Gassen hallten, und da und dort schlichen zwei Arm in Arm, Kopf an Kopf im Schatten hin. Der Brodem der Brunst ertrank im Fliederduft, der aus den Gärten an der Römerstraße quoll und von einem sanften Wind über das Städtchen getrieben wurde.

303 Als Ferdinand Sinniger am Café Mousson vorbeiging, bewegte sich im ersten Stock noch ein Laden, der Saal lag dunkel. Im ›Lamm‹ aber brannte Licht und fiel durch die offene Tür auf die Gasse. Zu allen Fenstern schlug es hell heraus. Hinter dem Nandi her stoben eilige Tritte.

»Kreuz und Dorn, es hat Leut bei uns!« keuchte das Rosele, das um die große Spritze gestrichen war, bis es den Gesellen des Zuckerbäckers rüstig und gesund hatte im Hausflur stehen sehen.

Es rannte, daß ihm der Rock flog und unter dem roten Nachthemd die Brüste sprangen. An Sinniger vorbei und ihm voraus schoß es aufs Haus zu.

Da tauchte eine Gestalt aus dem Schatten am Eck und fing die Magd, die blind für alles auf die Tür zueilte, in den Armen. Das Rosele stieß einen Schrei aus und wehrte sich gegen die gierigen Hände.

Als Ferdinand näher kam, ließ der Angreifer los und bog eilig um die Ecke ins Dunkel.

»So ein Lauskaib,« keuchte das Maidle und wischte ins Haus und die Treppe hinauf, sich anzuziehen.

In der Wirtsstube saßen Pompiers und alte Krauter, die den Schlaf noch nicht finden konnten. Die Küchenmagd lief mit den Gläsern. Sütterlin ging um die Tische. Ferdinand schielte in die Stube und ging dann langsam die Treppe hinauf. Als das Rosele wieder hinunterkam, sagte er ihm, es solle dem Vater ausrichten, daß er oben auf ihn warte.

Die Türe zur Schlafstube war geschlossen, auch der große Saal, wo an den Jahrmarktstagen, wenn die Gasse voll 304 Bauernwagen stand, gegessen wurde; er ließ vergebens die Klinke spielen und wartete nun auf dem dunklen Flur. Der Mond geisterte herein, auf den weißen Dielen glitzerte der Streusand. Nandi hatte den schweren Helm abgenommen und starrte in den Gewehrschrank.

»Du bist doch ein Malefizkerl,« hatte der Maire auf der Treppe beim Strohl gesagt. »Daß du zuerst am Platz warst, ist chance, aber wie du dem piepsigen, tollen Huhn, der Strohlin, aus den Nesseln geholfen hast, das ist mirakulos. Sie changiert ihre amants alle Jahr. Weißt du, wer an der Reih ist?«

»Nein, aber es ist besser so. Es sind so viele im Haus umeinandergeschossen, daß es keiner wissen kann. Und mit der chance, Vetter, ist's so eine Sach, man kann dran versticken.«

Da hatte der Maire gelacht und war gegangen.

Jetzt scharrten unten in der Stube die Schuhe, die ersten brachen auf, und dann hörte er die Stimme des Alten, der Feierabend bot.

Den Helm im Arm stand er am Fenster und wartete. Als sie sich in der Schlafstube gegenübersaßen, war Ferdinands trotzige Laune, die der Rausch der Tätigkeit mit Horn und Beil geboren hatte, schon wieder im Abscheiden. Der Vater sprach lange Zeit kein Wort, aber sein Schweigen lockte ihm Stück für Stück die Bekenntnisse ab, die ihn so bitter ankamen. Endlich stand Sütterlin auf und ging zum Schreibtisch, brachte die Geldlade herbei und stellte sie auf den Tisch. Unwillkürlich war auch Ferdinand aufgestanden, als er sah, daß der Vater sich nicht wieder setzte. Hinter dem Alten wölbte sich 305 der altfränkische Betthimmel wie ein Baldachin. Er stützte sich mit dem Arm auf die Bettpfosten und hob die andere Hand gegen den Nandi.

»Ich hab mit deinem Vater Freundschaft gehabt, Nandi, und du bist mein Tochtermann geworden. Das Amélie hat sich an dich gehängt, du bist's gegen meinen Rat geworden. Aber die Mutter und das Kind sind gegen mich gestanden, und ihr habt's gezwungen. Nicht, wenn ich nicht gewollt hätt, aber ich hab geglaubt, das Kind tät dich fester halten. Und es ist vernarrt gewesen in dich. Jetzt ist's mit dir verschimpft.«

»Vater!«

»Laß mich reden . . . Ein Weiberhaar ist stärker als ein Glockenseil, ja, ja, aber die deine Frau auf dem Kopf hat, haben dich nicht gebunden. Die Sinniger hocken in fremde Nester, das ist ein alter Spruch, aber jetzt greifen sie auch in fremde Kassen.«

»Vater, haltet's Maul, sag ich oder . . . . .!«

Er stieß den Helm vom Tisch, daß er auf die Diele kesselte und riß den Beilgurt herum.

»Laß stecken, Nandi, ich red auch noch aus dem Grab.«

Und auf einmal erschienen seine Augen wie erloschen unter den buschigen Brauen, er hielt den Arm steif gestreckt, ein greisenhaftes Zittern bewegte sein Haupt, und so stand er eine Weile und starrte blicklos ins Leere, als wäre der Nandi Luft und die Wand von Glas.

Ferdinand raffte mechanisch den Helm auf und stellte ihn klirrend vor sich hin, aber der Alte zuckte nicht und stand wie Stein. Da grauste dem Nandi, und plötzlich brach alles, was noch an Trotz und hohler Eitelkeit in ihm 306 war, zusammen, und er ergriff die gegen ihn zeugende Hand des Vaters und schluchzte rauh:

»Red nur, Vater, ich verwehr dir's nicht. Ich bin ja so ein schlechter Hund!«

Als seine Hand ergriffen wurde, wachte der Alte auf aus seiner Starre und atmete tief.

»Es sind siebenundachtzigtausend Livres,« sagte er ruhig, »die fehlen in der Caisse. Übermorgen müssen sie drin liegen. Deine Kaution macht zwanzigtausend, mein Depot und was ich vermag dreizehntausend, der Salomon Brunschwig gibt zwanzigtausend, der Schicklé muß fünftausend legen, der Notar zehntausend, und Ernest Haury deckt, was noch fehlt.«

Bei jeder Zahl war Ferdinand zusammengezuckt, als Haurys Name genannt wurde, lachte er wild auf:

»Vater, dir rappelt's! Du verteilst den Speck, daß es kracht! Der Brunschwig! Der Maire! Der Notar! Und was der comble ist, der Haury! Der speit mir noch drein, der rückt keinen Sou. Und ich nehm keinen, eher verrecken!«

Ein schattenhaftes Lächeln, gewebt aus Mitleid und Verachtung, huschte über Sütterlins Gesicht.

»Wenn's dir so ist, daß du ein End machen willst, tant pis. Aber erst die Caisse! Ist sie en règle, hast du den Zinstag hinter dir, so mach mit dir, was du willst.«

»Sie zahlen's ja nicht, der Brunschwig, der Ramspacher, der Haury, ein sacrifice von zehn-, zwanzigtausend Livres! Bêtisen!«

»Der Sali Brunschwig hat mir's in die Hand versprochen, zwanzigtausend mit fünf vom hundert. Der Maire ist 307 dein Cousin, der Notar hat dir Jahr und Tag Prozente und Provisionen aus dem Sack gezogen, du bist mit in seinem Speck, und er hat dich hingehen sehen ins Wasser und geschwiegen: der Ramspacher zahlt. Der Haury muß es tun, er hat's und vermag's, und das obligiert. Oder meinst du, der Schwob soll uns dürfen nachsagen, die Sparkassen seien nicht mehr sicher im Elsaß! Darum zahlt, wer's vermag, und es hängt keiner der Katz die Schelle an, du kannst bleiben oder dich ins Frankreich streichen.«

»Aber sie wissen's, und ich bin auch so foutu, kein Hund bellt mich mehr an.«

Darauf gab der Alte keine Antwort. Er kramte in der Lade und holte die Titel heraus.

Ferdinand bewegte eine Zeitlang die Lippen, ohne zu sprechen, dann fragte er heiser:

»Und wer geht sie drum an?«

»Ich,« erwiderte Sütterlin, »und mir sagen sie nicht nein.«

Da stürzte Nandi zu ihm hin, aber er wehrte ihn von sich, und plötzlich wieder ins Leere starrend, in die Nacht horchend, sagte er mit tonloser Stimme:

»Nandi geh heim, geh heim zu deiner Frau.«

Und als Ferdinand hastig nach dem Helm griff, wie erlöst, schon wieder mit einem Anflug von Leichtsinn, keck stand ihm der blitzende Schmuck, fuhr Sütterlin fort:

»Halt sie, wenn du kannst, daß sie dir nicht ins Grab tritt. In ihren Schoß schüttet dir der Jud die zwanzigtausend Livres, und was ich tu, tu ich nicht für dich.«

308 Und der Nandi wischte mit der Rechten durch die Luft, als wollte er eine Hand fangen, die ihn ins Gesicht geschlagen hatte, und verließ in blindem Taumel die Stube. Hinter ihm schritt der Alte mit der tropfenden Kerze, aber schon stach das Flämmlein fahl ins Zwielicht, das über den Dächern graute, und als der Vater unten die Türe aufschloß, rief vom Kamin auf dem Café Mousson tagkündend die Amsel. 309

 


 


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