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XX.

Für einen der letzten Novembertage hatte Claus eine Vorladung vor Gericht erhalten. Kriminalkommissare waren wiederholt bei ihm aus- und eingegangen, hatten ihn in peinliche Nachforschungen verwickelt und ihre Tätigkeit auf sein Gesinde und bis in das Dorf erstreckt, um die Wahrheit über das Verbrechen an den Tag zu bringen. Mehrere Tage lang wurde ein hervorragender Detektiv, Herr Gussow, von Pastor Wegerich beherbergt und von ihm in seinen Bemühungen unterstützt. Dabei kam auch Nettchen Echtermann zur Angabe ihrer Beobachtungen.

Als bei Gericht eine Klage von Irma Erdödy gegen Claus wegen Wortbruch und betrügerischer Vorspiegelungen nebst einer Forderung auf Entschädigung bis fünfzigtausend Mark einlief, begab sich der Detektiv sofort zu ihr und erfuhr alles, was er zu wissen wünschte. Er kehrte mit einem stark belastenden Material gegen den Erben von Schönermark zurück, nachdem sich ihm schon vorher die Überzeugung aufgedrängt hatte, daß die Anklage gegen den Inspektor auf Irrtum beruhe.

Claus hatte Horst von Ramin gebeten, ihn zu dem Termin zu begleiten, er befand sich in einem besorgniserregenden Zustand. Ein Schwächeanfall am Morgen beim Ankleiden zwang ihn zu den stärksten Mitteln Zuflucht zu nehmen, um sich aufrecht halten zu können.

Der alte Wienert, der sein Frühstück in Gesellschaft von Frau Kluge, der Wirtschafterin, einzunehmen pflegte, zeigte an diesem Morgen eine verstörte Miene und flüsterte aufgeregt mit seiner langjährigen Kollegin.

»Na, na, Wienert, seien Se um Jottes willen vorsichtig! Das is Sie doch woll nich möglich,« warnte die rundliche, gutmütige Frau, als sie ihm die zweite Tasse Kaffee einschenkte und die Butter zuschob.

»Klugen, Sie haben ihn nich jesehen heute nacht – und es war nich das erstemal – ich muß ja jetzt immer in dem kleinen Vorzimmer schlafen, auf die Scheeselonk – und da habe ich Nacht für Nacht was erlebt. Wenn er so sehr schrie im Traum, dann habe ich ihn geweckt. Ich mußte ihm allemal die Pulle Kognak bringen zur Beruhigung und die wurde leer bis auf den letzten Droppen. Aber heute nacht war er wie irre, er hielt mich für seine selige Tante. Nu frage ich Sie, Frau Klugen, kann mich ein gesunder Mensch mit 'nem juten Jewissen für seine Tante halten, die verjiftet jeworden is? Er stieß mir so vor den Magen, daß ich es jetzt noch spüre und schrie: ›Was willst du von mir? Du sollst mich nicht quälen, jetzt bist du tot und kannst mich nicht mehr enterben!‹ Ich redete ihm nun jut zu, und bei und bei erkannte er mir und sagte: ›Ach, Wienert, jut, daß Sie da sind, ich hatte einen schlechten Traum.‹ Und er war so in Schweiß jebadet, daß ick ihn abreiben und frische Wäsche holen mußte. Zuletzt kam wieder der Kognak dran.«

»Pst! pst!« warnte Frau Kluge, »die Auguste ist nebenan! Das neugierige Frauensmensch spitzt immer die Ohren und horcht.«

Die beiden Alten sprachen noch eine Weile leise und sehr erregt. Zuletzt beim Aufbruch erklärte Wienert sehr entschieden: »Ick jehe bei unseren Herrn Pastor und frage, was ich tun soll. Man will doch nich seine Herrschaft, der man so lange jedient hat, wat Böses anhängen und den juten Namen in Schande und Unehre bringen – was unser jnädiges Fräulein war, die drehte sich ja im Jrabe rum – aber daß unser Herr Inspektor, der so ein juter Mensch is, als Mörder verurteilt werden soll, das kann man auch nich ruhig mit ansehen.«

Und damit zeigte sich Frau Kluge einverstanden.

Auch Edith von Ramin befand sich am Tage des Termins in einer ihr selbst unheimlichen Aufregung. Ihre Nerven lagen auf der Folter. Vergeblich suchte sie sich selbst zu beschwichtigen mit dem Einwand: was könne denn geschehen? Es läge ja gar kein Grund vor zu einer Beunruhigung wegen der nochmaligen Vernehmung von Claus, der selbstverständlich als Hauptzeuge gelten mußte – es wollte ihr nicht gelingen, ihr seelisches Gleichgewicht zu finden. Ihr Bruder Horst war früh aufgebrochen, um Claus abzuholen, wie er versprochen, sie sah ihn mit einem eigentümlichen Gefühl vom Hof fahren, nachdem sie ihm auf die Seele gebunden, Claus vom Termin direkt zu ihr zu bringen und sich nicht mit ihm länger in der Stadt aufzuhalten als nötig sei.

Am Vormittag war Nettchen mit dem Brautkleid zur Anprobe gekommen. Edith hatte keinem anderen als ihr diese wichtige Arbeit anvertrauen wollen und behauptet, sie zöge sie jedem Hofschneider vor, niemand sonst verfüge über einen so eigenartigen künstlerischen Geschmack, verbunden mit der Kunst, die große Toilette so bequem wie einen Schlafrock herzustellen. Aber sie sprach jetzt nur noch geschäftlich mit ihr, in freundlichem, doch zurückhaltendem Ton. Und Nettchen besaß den nötigen Takt, die gezogene Schranke zu achten.

Auch die Anprobe konnte heute Ediths Stimmung nicht verbessern. Als sie sich in dem weißen Schleierkleid in ihrem Ankleidespiegel sah, erschrak sie vor sich selbst. »Ich sehe aus wie ein Geist!« rief sie, und nun war es ihr nicht recht, daß Nettchen dazu schwieg und nicht ein aufmunterndes, tröstliches Wort sagte, wie sie es früher getan haben würde. Warum mußte ihr auch gerade jetzt Tante Claudines Brauttoilette, die wohlverwahrt und eingemottet in einer Schönermarker Truhe eingesargt lag und die ihr die Tante in einer vertrauten, wehmütigen Stunde gezeigt? Die ganze Melancholie und Tragik dieses Brautkleides, das seinen Zweck verfehlte, stieg bei dem Gedanken noch einmal aus dem Kasten und legte sich ihr beklemmend aufs Herz. Ihre stille Trauung im engsten Familienkreis sollte in acht Tagen stattfinden, es war alles dazu vorbereitet, die Abreise und Reiseroute des jungen Paares festgesetzt. Ägypten mit seinen Pyramiden und dem geheimnisvollen Reiz der Wüste sollte das Ziel sein, entsprechend dem Wunsch des Bräutigams, der mit nervöser Unrast in die fernste Ferne strebte. Und auch Edith teilte das Verlangen, einmal von allen unliebsamen Erinnerungen und Erlebnissen gänzlich loszukommen.

Ruhelos ging sie im Zimmer umher, von einem Fenster zum anderen, den Weg hinunterspähend, auf dem sie die Heimkehrenden erwartete. Durch das große Hoftor konnte sie des Wagens schon auf der Landstraße ansichtig werden. Ihre Mutter saß mit vollkommener Ruhe und Gelassenheit auf ihrem Lieblingsplatz, der ihr den Überblick über den ausgedehnten Wirtschaftshof mit seinem regen Arbeitstreiben gestattete. Sie sprachen von Claus. »Er ist krank, sein Benehmen ist nicht mehr normal,« sagte Edith mit einer finsteren Falte auf der Stirn. »Du glaubst nicht, wie er mich gestern noch gequält hat mit seiner unerträglichen Reizbarkeit.«

»Kann dich das wundern?« entgegnete Frau von Ramin, die Besorgnisse gern von sich schob. »Es wäre anormal, nicht aus dem seelischen Gleichgewicht zu kommen, wenn man so Furchtbares erlebt. Laß nur diesen Termin erst vorüber sein, er wird sich beruhigen, sobald die Sache aufgeklärt ist. Die Hochzeitsreise nach Ägypten, nach einem anderen Erdteil, wo niemand etwas von der unseligen Begebenheit weiß und Fragen an euch stellt, ist gerade das Passende für eure überreizten Nerven, denn, nimm es mir nicht übel, du bist beinah ebenso körperlich und seelisch herunter wie er. Bleibt nur so lange dort, bis ihr euch gründlich erholt habt und wieder die Alten seid. Horst und ich werden schon in Schönermark nach dem Rechten sehen.«

»Da kommen sie!« rief Edith mit erleichtertem Aufatmen vom Fenster her. Sie erblickte eben in der Fernperspektive der Landschaft den hochräderigen Kutschierwagen ihres Bruders in einem ungewöhnlichen, fast rasenden Tempo auftauchen und sich nähern.

»Gut, dann können wir pünktlich essen,« bemerkte Frau von Ramin gelassen.

Ohne sich zu rühren, starrte Edith dem Fuhrwerk entgegen, dessen Eile ihr einen ahnungsvollen Schauer durch alle Nerven jagte.

»Er ist allein – ohne Claus – warum nur?« rief sie plötzlich erschrocken.

»Nun, Claus wird noch in der Stadt zu tun haben; wir werden ja gleich hören,« sagte die Mutter, ohne von ihrer Häkelarbeit aufzusehen.

Der Wagen flog durch das Hoftor auf die Rampe.

»Es ist etwas geschehen – ein Unglück – etwas Furchtbares – die Pferde dampfen –« schrie Edith auf und wollte dem Bruder entgegenstürzen, doch schon hörte sie seinen Schritt auf der Treppe, der mehrere Stufen auf einmal nahm. Wie erstarrt blieb sie stehen.

Horst trat ein und mit ihm das dunkel geahnte Unglück.

»Es tut mir leid, euch so zu erschrecken – es ist keine Zeit für Worte – schnell, mach dich fertig, arme Schwester – du mußt mit mir nach der Stadt – sofort – Claus liegt schwerkrank im Hospital – es scheint ein Nervenschlag – –«

»Ist er tot?« schrie Edith auf.

»Nein – noch nicht, aber – –«

Sie flog zur Tür, um sich fertig zu machen, wandte sich aber auf der Schwelle um: »Bitte, einen geschlossenen Wagen!«

»Ich gab bereits Befehl.«

Als sie hinaus war, wandte sich Horst zur Mutter.

»Es ist furchtbar – ich weiß kaum, wie ich es ihr beibringen soll – er liegt im Sterben und in seiner Todesangst gestand er, der Mörder seiner Tante zu sein. Das Verhör hatte ihn bereits so in Widersprüche verwickelt und bloßgestellt, daß er fast überführt war. Er brach zusammen, der Arzt sagt Mißbrauch von Morphium – er war von vornherein den Ansprüchen der Vernehmung körperlich und geistig nicht gewachsen – großer Gott, welch ein Skandal, welch ein Unglück!«

Frau von Ramin fiel in einen Sessel und schlug die Hände vor das Gesicht.

Edith kam in zitternder Eile zurück, schon im Mantel und tief verschleiert. Ein geschlossenes Coupé fuhr auf die Rampe. Ohne ein weiteres Wort führte Horst seine Schwester hinunter und stieg mit ihr in den Wagen.

Frau von Ramin wankte an das Fenster und sah ihnen nach. Ihr Herz krampfte sich zusammen in namenloser Qual. Ihr geliebtes, ihr schönes, stolzes Kind fuhr dort dem Jammer und der Schande entgegen! Das Kind, dem sie die Hände unter die Füße gebreitet!

Mit einem dumpfen Wehelaut brach sie in die Knie und vergrub den Kopf in den gerungenen Händen.

Nach einigen Stunden kehrten die Geschwister zurück. Horst trug Edith die Treppen hinauf in ihr Zimmer.

»Er ist tot,« hatte er seiner Mutter gesagt, und Frau von Ramin atmete auf.

»Edith hat sich großartig benommen,« erzählte er ihr später. »Er lebte noch eine Stunde und starb in ihren Armen. Mit tiefem Erbarmen stand sie ihm bei bis zum letzten Atemzug, sie nahm mit ihm das Heilige Abendmahl. Arme, unglückliche Schwester!«

Schwarz und finster war der Abend dieses ereignisschweren Tages, der Regen prasselte gegen Nettchen Echtermanns hölzerne Fensterläden, und der Wind heulte im Schlot.

Sie hatte den ganzen Tag mit fieberhaftem Eifer gearbeitet, um Ediths Brauttoilette die letzte und höchste Vollendung zu verleihen. Jetzt lag das zarte Gebilde in Seidenpapier verpackt im Karton, um morgen in aller Frühe abgeliefert zu werden. Nun hätte sie ausruhen können nach ihrem Tagewerk, doch die Folter heimlicher Unruhe und Angst trieb sie rastlos im Zimmer umher und auf und ab.

Was würde der heutige Termin ergeben?

Sie hatte in letzter Zeit angefangen ein wenig Hoffnung zu schöpfen. Die Stimmung in Kerkow und Schönermark war zu Ernst Starkebands Gunsten umgeschlagen. Der Ortsschulze von Schönermark hatte zum Herrn Pastor gesagt: Ebensogut könne man ihn zum Mörder machen wie den jungen Herrn Inspektor, – und der Ortsschulze war der angesehenste Mann im Dorf. Sein Wort machte großen Eindruck. Ebenso war es allgemeine Überzeugung, daß Herr Gussow, der Detektiv, eine neue Spur gefunden habe und Ernst Starkeband nicht für den Täter hielt. Man wußte nicht recht, wie das unter die Leute gekommen, aber es sprach sich weiter und weiter herum.

Doch wer war der Schuldige?

Das furchtbare Geheimnis geisterte wie ein Gespenst in allen Häusern, es lauerte in allen Ecken und Winkeln und traute sich nur schattenhaft auf die offene Straße. Man flüsterte und murmelte davon mit verstörten Mienen, aber keiner wagte, es laut bei Namen zu nennen.

Und jetzt in dieser Stunde befiel Nettchen wieder die ganze, alte Angst.

Großer Gott, die Tatsachen waren ja gegen ihn! Wenn er nun doch schuldig gesprochen würde? Das Gericht kennt nur Tatsachen.

Sie rang die Hände und brach ächzend auf ihrem kleinen Kattunsofa zusammen. Der Wind heulte so unheimlich, und das Gurgeln des Regens in der Dachrinne klang wie Schluchzen und klagendes Weinen.

Plötzlich schellte es laut an der Haustür. Die alte Frau, bei der sie wohnte, schlurfte über die backsteinerne Diele und fragte nach dem Begehr. Und dann – allbarmherziger Gott! eine Stimme – ein starker, eilender Schritt – ihre Tür flog auf – –

»Ernst!« – – –

»Nettchen, da bin ich – frei, frei!«

Sie lag in den Armen des geliebten Mannes, sprechen konnte keiner von beiden.

Die alte Frau Klempin, die geleuchtet, wischte sich die Augen, schneuzte sich laut und zog die Tür sachte hinter sich zu.

Und dann führte Ernst Nettchen zu dem kleinen, harten Sofa, kniete vor ihr und bedeckte ihre Hände mit Küssen.

»Nettchen, in der tiefen Not meines Unglücks habe ich dich erkannt und dich geliebt, wie ich noch nie ein Weib liebte. Willst du mein sein, bis der Tod uns scheidet?«

Es bedurfte keiner Worte, sie waren eins, sie fühlten, daß es nie anders gewesen und nicht anders sein konnte. Sie fragte kaum nach dem Schuldigen, es gab in dieser Stunde nichts für sie auf der Welt als ihr Glück.

Sie sprachen lachend von einer sonnengoldnen Zukunft. Er würde ein Gut kaufen oder pachten und oh, wie würden sie zusammen arbeiten und fröhlich sein!

»Komm zu den Eltern,« sagte Nettchen. Und sie gingen durch Sturm und Regen, als sei es ein lachender Frühlingsabend.

Das Gerücht war ihnen vorausgeflogen, das Elternhaus fanden sie hell, das halbe Dorf lief bereits dort zusammen. Das gab einen Jubel, ein Gratulieren und Fragen! Und der Dorfschulz ließ sich einladen zum Abendschmaus.

»Mutter,« sagte Edith von Ramin an demselben Abend beim Gutenachtkuß, »morgen melde ich mich zum Eintritt in das Diakonissenhaus; es ist mein fester Entschluß!«

»Schlafe nur erst darüber,« war die weinende Antwort. Als Frau von Ramin später ihrem Sohn Horst mit bitteren Tränen Ediths Absicht mitteilte, entgegnete er zu ihrer großen Beruhigung: »Laß sie nur jetzt dabei, wir wollen ihr nicht widersprechen, doch ich werde mit dem Sanitätsrat reden, daß er energisch auf der Auslandsreise zu ihrer Erholung vor der Ausführung ihrer Absicht besteht. Er muß ihr klarmachen, daß sie in dem jetzigen Zustand auf keinen Fall den schweren Beruf der Diakonissin auf sich nehmen darf. Natürlich mußt du nun die Reise in den Süden mit ihr machen. Sie wird sich dort körperlich und damit seelisch erholen. Sei nur ruhig, ich kenne meine Schwester ganz genau; ihre jetzige Depression ist verständlich, aber es gehört noch keine Prophetengabe dazu, um mit Sicherheit vorauszusagen, daß sie viel eher mal eine Grafenkrone als die Schwesternhaube tragen wird. Der Schlag, den sie erlitten, ist schwer, aber nicht tödlich, und Zeit heilt Wunden.«

 

Ende.

 


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