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XI.

An einem dieser dämmerblauen, milden Frühlingsabende saß Nettchen Echtermann, strahlend vor Wiedersehensfreude, mit Ernst Starkeband unter den blühenden Apfelbäumen im alten Küstergarten von Schönermark. Ihr Vater, im Schlafrock mit der langen Pfeife, wandelte, den Feierabend genießend, zwischen den Himbeerbüschen und Buchsbaumrabatten auf und ab, die Mutter saß vor der Küchentür und putzte Gemüse für den nächsten Tag. Das Dorf lag im tiefen Frieden, und über dem Kirchlein stand der Abendstern mit seinem heiligen weißen Licht.

Ernst Starkeband hatte am ersten April seine Stellung als Administrator bei Fräulein von Dahlwitz angetreten.

»Ich habe letzte Woche rasend zu tun gehabt, ich mußte die Toiletten für die beiden Bräute in Kerkow zu der großen Verlobungsfeier am Sonntag herrichten,« erzählte Nettchen. »Es hat mich zwei Nächte Arbeit gekostet, aber das macht nichts, ich bin so glücklich über meinen Erfolg und daß ich hier gleich so gute Kundschaft gefunden. Nicht nur bei den Bauern und Mägden, nein, es sind auf Fräulein Ediths Empfehlung schon verschiedene Damen aus der Nachbarschaft bei mir gewesen, und sie streiten sich förmlich, zu wem ich zuerst ins Haus zur Sommerschneiderei kommen soll. Fräulein Edith hat verbreitet, ich habe großstädtischen Schick, sie ist so lieb und nett zu mir. Siehst du, es war doch ein guter Gedanke, daß ich mich hier niedergelassen! Hier bin ich zu Hause, und in der herrlichen Landschaft werde ich gesund und kräftig. Ach nein, ich hätte es nicht ausgehalten, immer in den Stadtmauern zu sitzen und in dunklen Hinterzimmern bei Gasbeleuchtung zu schuften!«

»Wie ich mich freue! Wie froh ich bin, daß du hier bist! Du wirst dein Glück machen und bald uns alle in die Tasche stecken,« sagte Ernst Starkeband herzlich. Und dann fügte er nachdenklich, mit einem Schatten auf der Stirn hinzu: »Ist es denn möglich, daß sich Edith von Ramin mit Herrn von Dahlwitz verlobt hat? Es will mir gar nicht in den Sinn.«

Er war jetzt ein Mann geworden in der ersten, frischen Kraft der Reife. Seine Gestalt hatte sich noch gereckt zu stattlicher Höhe und seine Brust geweitet. Dazu immer noch der auffallend hübsche Kopf mit den braunen Augen seiner Mutter, voll Wärme und Zärtlichkeit, doch die weichen Linien des Knabengesichts jetzt fester und energischer gezeichnet.

»O, der ist jetzt ein sehr feiner, vornehmer Herr Assessor, und später wird er Herr auf Schönermark. Fräulein Edith ist eine glückliche Braut. Du glaubst nicht, wie entzückend sie aussah in einem ganz einfachen weißen Kleidchen von Florseide, das ich ihr schnell gemacht, mit einem dicken Kranz von frischen blauen Veilchen in ihren schönen goldblonden Haaren. Sie stellte alle in den Schatten, auch die Braut von unserem jungen Herrn. Was hat die mir zugesetzt mit ihrer Toilette, bis ihr alles recht war! Und mit ihrer Mama, der Exzellenz, hat sie gezankt. Dagegen ist Edith leicht zufriedenzustellen, sie gibt nicht so viel auf Kleider, hat es auch nicht nötig, und weil ich sie so lieb habe, bestand ich darauf, sie selber zu ihrem Verlobungsfest anzuziehen und zu schmücken, ich war auch erst im letzten Augenblick mit der Näherei fertig geworden. Wir hatten unseren Spaß dabei und haben so viel gelacht.«

»Und du meinst, Edith sei glücklich?« fragte Ernst Starkeband.

»Ja, vollkommen. Sie war so vergnügt. Wir machten Pläne für die Zukunft. Wenn sie erst Herrin in Schönermark ist, will sie mir ein Schneideratelier im Schloß einrichten, und ich soll alles für sie machen. Auch ihre Brauttoilette dürfe kein anderer herstellen.«

»Ich mag nun einmal diesen Claus von Dahlwitz nicht!« Ernst sagte es mit einem fast heftigen Widerwillen.

»Ich auch nicht. Er hat mir einmal nachgestellt auf der Straße und mir einen sehr häßlichen Antrag gemacht. Damals – nach der Begegnung in Potsdam. Ich habe dir nichts davon gesagt, weil ich Angst hatte, du könntest Händel mit ihm bekommen.«

»Ja, das sieht ihm ganz ähnlich. Mir tut es leid um Edith.«

»Nun, vielleicht hat er sich geändert. Sie scheinen doch recht gut zueinander zu passen. O, was war das für eine schöne Festtafel und eine große, vornehme Gesellschaft! So etwas hatte man in Kerkow lange nicht gesehen! Die beiden Brautpaare saßen sich gegenüber, und Pastor Wegerich hielt eine wunderschöne Rede. Und nachher wurde getanzt. Ich habe alles durch die Türspalte aus dem Nebenzimmer mit angesehen.«

Ernst Starkeband stützte in schwerem Sinnen den Kopf in die Hand.

»Wenn ich nur wüßte, ob es wahr ist!«

»Was denn?«

»Daß der junge Baron von Ramin mein Vater ist – du weißt – der sich erschossen hat.«

»Laß doch die alten Geschichten! Es macht dich nur unglücklich und kann dir nichts nutzen.«

»Ja, du hast recht, und ich war auch ganz fertig damit. Aber seitdem ich von dieser Verlobung hörte, läßt mich der Gedanke nicht los, daß ich hätte Herr auf Kerkow werden können und von Gottes und Rechts wegen hätte werden müssen, und dann – o, dann wäre sie mein geworden!«

Jetzt wurde Nettchen ganz böse. Sie hielt ihm eine ordentliche, kleine Strafpredigt. Wie er als verständiger Mann sich mit solchen Hirngespinnsten abgeben könne! Das sei doch Unsinn. Dann wäre eben alles anders gekommen. Und selbst, wenn es so eingetroffen wäre, wie er es sich denke und wünsche, bliebe doch die Frage offen und es sei gar nicht gewiß, ob Edith ihn gemocht hätte.

»Mich nicht gemocht?« Er reckte seine prächtige Gestalt mit einem Lächeln auf.

»Edith ist sehr stolz. Und deine Mutter war immerhin eine Köchin. Es ist sicher sehr viel besser für dich und dein Glück so, wie es gekommen. Man hätte dich doch nicht als gleichberechtigt in jenen Kreisen genommen, und du wärst immer in einer schiefen Stellung geblieben.«

»Ja, ja, Mütterchen, du hast wie immer recht. Schilt nur deinen großen, dummen Jungen ordentlich aus. Ich will suchen, mir die ganze Sache aus dem Sinn zu schlagen, Arbeit gibt es genug für mich in Schönermark, um alles andere zu vergessen, es ist keine Kleinigkeit, diese rückständige Wirtschaft auf die Höhe ihrer Ertragsfähigkeit und zeitgemäßer Ansprüche zu bringen. Zum Glück ist Fräulein von Dahlwitz eine Prinzipalin, wie man sie sich nicht besser und angenehmer wünschen kann. Sie schenkt mir Vertrauen und läßt mir freie Hand. Bis jetzt ist sie allen meinen Vorschlägen in liebevollster Weise entgegengekommen.«

»Sie hält viel auf dich, und du wirst ja ihr Vertrauen rechtfertigen.« Nettchen sagte es mit einem Blick unbedingter liebevoller Zuversicht.

Jetzt kam der alte Echtermann, um den Rat des jungen Mannes einzuholen in betreff der einträglichsten Bebauung eines Stücks Gartenland, und Ernst ging mit ihm, um das Terrain zu besichtigen.

Am folgenden Tage kam das Brautpaar Horst und Adrienne mit Edith zu einem Besuch nach Schönermark. Tante Claudine hatte das ihrige getan zu einem glanzvollen Empfang, ihr ganzes Herz gehörte der Verlobten ihres Neffen, ihrer künftigen Nachfolgerin. Adrienne fand das Schönermarker Haus unvergleichlich viel schöner und standesgemäßer als das Kerkower, was ihren Entschluß befestigte, einen Neubau zu verlangen. Wenn Edith in einem Schloß leben sollte, würde sie nicht mit einer alten Scheune fürlieb nehmen!

»Verzeih, das verstehst du nicht, unser Kerkower Haus stammt aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und ist historisch. Die architektonische Einfachheit des großen Steinbaus entspricht der Armut der damaligen Zeit. Solch ein alter Kasten, in dem Gustav Adolf mal mit dem Hauptquartier gelegen haben soll, und in dessen Mauern noch schwedische Kugeln stecken, ist doch ungleich wertvoller und interessanter als der pompöseste Prachtbau von heute, wie du ihn dir wünschst,« erklärte Horst gekränkt, aber dafür besaß Adrienne kein Verständnis.

Zum Abendessen war selbstverständlich der Hausfreund, Pastor Wegerich, geladen, mit seinem Pflegesohn, dem jetzigen Administrator Ernst Starkeband, der erst vor wenigen Tagen eingetroffen. Claus und Ernst waren sich hier nach Jahren zum erstenmal wieder begegnet, und zwar sehr gegen den Wunsch und die Neigung des Assessors, dem es gar nicht paßte, Ernst fortan als rechte Hand und Faktotum seiner Tante in stetem Zusammenleben mit ihr zu wissen. Die alte Rivalität und Eifersucht erwachten. Auch hatte er es Ernst damals persönlich übelgenommen, daß seine erbetene Vermittlung bei seinem Pflegevater zwecks Majoratsstiftung nicht zum Ziele führte. Er schob beiden die Schuld zu und verdächtigte sie wegen Intrige. Leider war er jetzt nicht in der Lage, bestimmenden Einfluß auf seine Tante auszuüben, sonst hätte er es mit allen Mitteln und um jeden Preis verhindert, daß sie diesen »Günstling« in eine solche Vertrauensstellung berief.

Die Persönlichkeit des »Kutschersohnes«, wie er ihn gern nannte, fiel ihm jetzt mehr denn je auf die Nerven. Verdammt! daß der ihm hier wieder in der Sonne stehen mußte! Es hieß jedoch jetzt die größten Rücksichten auf seine Tante nehmen nach dem schweren Stoß, den er ihrem Vertrauen versetzt. So begegnete er Ernst gönnerhaft, doch er war entschlossen, von vornherein eine scharfe Linie zu ziehen zwischen dem künftigen Herrn und dem Angestellten.

Als nun Edith heute kurz vor der Abendtafel zum erstenmal wieder mit Ernst, dem alten Spiel- und Sportkameraden, zusammentraf, begrüßte sie ihn mit lebhafter Freude, und ebenso, ja fast stürmisch, bewillkommnete ihn Horst. Claus verzog das Gesicht und wurde um so steifer. Als die Begrüßung und die Erinnerungen gar kein Ende nehmen wollten, führte er seine Braut etwas gewaltsam fort.

»Wie kommst du denn zu dieser Intimität mit Tantens Inspektor?« fragte er mit scharfer Mißbilligung. Und zum erstenmal schlug er einen unliebenswürdigen Ton an. Edith lachte ihn aus.

»Du bist wohl komisch! Unser guter, alter Kamerad!«

»Nun, in Zukunft wirst du doch wohl etwas zurückhaltender sein müssen, und es wäre besser, jetzt schon die nötige Distance zu markieren. Ich begreife deinen Bruder nicht! Man verkehrt doch nicht mit einem Inspektor wie mit seinesgleichen!«

»Aber das ist doch in diesem Fall ganz etwas anderes. Er ist Pastor Wegerichs Pflegesohn und unser Jugendfreund.«

»Es ist hier nicht Ort und Zeit dazu, ich werde dir jedoch nächstens mal meine Ansichten über Euren ›Jugendfreund‹ auseinandersetzen. Du wirst dann vielleicht auch vorsichtiger in der Wahl Deiner Freunde werden.«

»Ich verstehe dich nicht! Ich weiß, daß Tante Claudine ungeheuer viel von Ernst Starkeband hält.«

»Allerdings. Und vielleicht gerade darum habe ich Ursache zur Vorsicht.«

Edith schüttelte verwundert den Kopf dazu, sie erklärte, sein Mißtrauen müsse auf einem Irrtum beruhen, sie könne und wolle ihren alten Kameraden nicht so ohne weiteres fallen lassen. Claus merkte, daß sie sich ihm gegenüber völlig unabhängig fühlte und an eine souveräne Stellung gewöhnt war. Er biß sich auf die Lippen und schwieg, doch er dachte: Warte nur, Kleine, in der Ehe bin ich der Herr, und du wirst es bald lernen müssen, dich zu fügen.

Für Ernst war das Wiedersehen mit Horst und Edith, die ihm so herzlich begegneten, eine große Freude, die nur einen bitteren Beigeschmack hatte. Alles in ihm empörte sich gegen die Tatsache, daß sein angebetetes Jugendideal diesem ihm fatalen Claus von Dahlwitz fortan gehören sollte. Es schien ihm fast undenkbar, er wunderte sich über ihren Geschmack und hätte für sein Leben gern gewußt, ob er nur eine konventionale gute Partie für sie sei, oder ob sie ihn aus Neigung gewählt? Freilich, sie war immer noch ebenso wie früher »regierende Königin«, und man konnte sie sich nicht anders vorstellen. Kein Schatten schien ihre Seele zu trüben, vielleicht bedeutete die Liebe für sie Nebensache, aber – – war das möglich? – – Und blendend schön, noch viel schöner als er erwartet, war sie geworden! Ihr Anblick tat ihm heute eigentümlich weh, und ein alter Stachel bohrte in seinem Herzen. Daß Claus gelegentlich über ihn wegsah als [ob] er Luft wäre, kümmerte ihn wenig, er wußte längst, daß eine Freundschaft zwischen ihnen nicht möglich sei.

Horst lud ihn für den kommenden Sonntag ein, doch er lehnte ab, unter dem Vorwand eines unaufschiebbaren Geschäftsbesuchs in der Stadt. Es handelte sich um den Bauplan zu einer Spiritusbrennerei, für die nächsten Wochen sei er derartig mit Arbeit überhäuft, daß er auf alles andere verzichten müsse. Die Einstellung der Wirtschaft auf eine neue Betriebsmethode erfordere seine ganze Person.

Horst sah das wohl ein, doch er war enttäuscht. Und Ernst saß am Sonntag abend wieder mit Nettchen unter den Apfelbäumen im Küstergarten. Er redete sich das Herz frei über sein Wiedersehen mit Edith und den Eindruck, den ihre Brautschaft ihm gemacht. Ja, wenn man wüßte, daß sie Aussicht hätte, glücklich zu werden! Aber Claus sei kein guter Mensch, sie würde bittere Erfahrungen machen. Er sei ihrer nicht wert. Und so lange er ihn bei jedem Besuch in Kerkow träfe, ginge er lieber nicht hin.

Nettchen redete dagegen. Man müsse abwarten, vielleicht entwickele sich Herr von Dahlwitz zu einem besseren Ehemann als er dächte. Eine glückliche Ehe habe schon manchen von Torheiten kuriert. Doch Ernst schüttelte den Kopf dazu, er glaubte nicht daran. Sein Jugendideal schien ihm entweiht. Nettchen litt unter seiner Verstimmung. Heimlich weinte sie nachts manche Träne in ihr Kissen, daß es nicht in ihrer Macht stände, ihn glücklich zu machen. Wie hatte sie sich auf das Zusammensein mit ihm in der alten Heimat gefreut! Seinen liebevollen, herzlichen Briefen nach wünschte er sich gar nichts anderes, und nun Edith verlobt war und er außerdem alt genug, über Kindertorheiten hinweg zu sein, die er als gänzlich unhaltbar und unberechtigt erkannt haben mußte, hatte sie es für unmöglich gehalten, daß die alte Schwärmerei ihm noch zu schaffen machen und von neuem störend zwischen sie treten könne. Wie selig und hochgespannt waren ihre Hoffnungen gewesen, als er ihr in einem der letzten Briefe schrieb: Du stehst mir von allen Menschen am nächsten, ohne dich wäre ich einsam und verlassen. Und keine andere kann mein Mütterchen aus meinem Herzen verdrängen, wir gehören nun mal beide zusammen.

Ach, warum war er nun nicht glücklich an ihrer Seite in dieser wonnigen Frühlingszeit? Der Traum langer Jahre hatte sich erfüllt, – sie saßen wieder unter den Blütenbäumen des alten Gartens in der Heimat beim Feierabendläuten, fern dem verworrenen und verwirrenden Gebrause der unheimlichen großen Welt, das Dorf mit seinem Kirchlein, das sie von ihrem Dachgarten sehnsüchtig in der Ferne gesucht, im Duft und Dämmerfrieden um sie her. Warum konnte er nicht restlos glücklich sein?

Doch sie ließ nichts von ihrer Enttäuschung merken. Wie immer, zeigte sie ihm ein freundliches Gesicht und warme Teilnahme. Sie redete ihm gut und klug zu, es bedeutete eine große Erleichterung für ihn, mit ihr über alles reden zu können und Verständnis zu finden.

Mit einer wahren Leidenschaft stürzte er sich in die Arbeit. Hier fand er eine Aufgabe, die sein ganzes Können erforderte. Fräulein von Dahlwitz besaß genügend Urteil, um nach kurzer Zeit zu wissen, daß ihre Sache in guten Händen sei, darum schenkte sie ihm unbedingtes Vertrauen und gewährte ihm uneingeschränkte Selbständigkeit. Zwischen beiden entwickelte sich ein Ausnahmeverhältnis; sie konnte die Schranke zwischen Herrin und Angestellten fallen lassen, weil er den Takt besaß, den Respekt nie zu verletzen. Und wieder erwachte das heimliche Muttergefühl für ihn, das sie von jeher besessen und gewann Macht über sie. Sie erschrak oft, so sehr erinnerte er sie an den verlorenen, einzigen Mann, den sie je geliebt. Wenn er auch seiner Mutter ähnlich sah, so war doch, wie es oft der Fall ist, der Typ zweier Familien in ihm vereint. Jetzt in der Vollreife glich er in Gestalt, Haltung und Gang dem unglücklichen Wichard von Ramin, ja, die Stimme und sein Lachen waren wie aus dem Grabe aufgeweckt, so daß es ihr oft seltsam durch alle Nerven ging. Und wenn auch schmerzhaft, so regte sich doch ein tiefes Glücksgefühl in ihrer vereinsamten Seele, den Verstorbenen in seinem Sohn wiedergeschenkt zu erhalten und mit ihm eine Stütze, die sie so sehr bisher entbehrt.

Claus sah mit wachsender Eifersucht die Vertrauensstellung, die Ernst in kurzer Zeit gewann, und seiner Wachsamkeit konnte es nicht entgehen, daß seine Tante ein besonderes Gefühl für ihren jungen Administrator hegte. Selbstverständlich kannte er alle Überlieferungen von seiner zweifelhaften Geburt und was damit zusammenhing, er hielt es jedoch für geraten, sie als ganz gemeinen Dorfklatsch abzutun. Nach wie vor liebte er es, Ernst den Titel »Kutschersohn« zu geben und ihn in Gegenwart seiner Tante zu betonen.

Kurz vor seiner Abreise mußte er es erleben, daß sie in seiner Anwesenheit Ernst eine weitgehende Vollmacht für Abschlüsse im Brennereibau und für einige große Wirtschaftseinkäufe erteilte. Er selbst saß scheinbar in eine Zeitung vertieft in einem Klubsessel und beobachtete scharf hinter dem Blatt hervor, wie sie vor dem Sekretär ihres Vaters sitzend, während Ernst über sie gebeugt daneben stand, im Ton zwangloser Vertraulichkeit mit ihm verhandelte. Einmal lachten sie zusammen, und sie gab ihm einen kleinen Klaps auf die Hand. Und dann fing er noch einen hellen Funken warmer Herzlichkeit in dem Blick auf, den sie Ernst nachsandte, als er das Zimmer verließ. Ein grüner Neid hob das Natternhaupt aus der dunkelsten Tiefe seines Gemüts. Verdammt, dieser Rivale in der Gunst der Erbtante! Der hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt; Horst und Edith waren ja ebenfalls in lächerlicher Weise in ihn vernarrt! Wo hatte der Kerl diese Figur und Haltung her, wenn nicht von den Ramins?

Er erhob sich und ging langsam im Zimmer auf und nieder, während die Tante noch rechnete und im Schreibtisch kramte. Endlich begann er vorsichtig nach reiflicher Überlegung:

»Verzeih, liebste Tante, schenkst du deinem Inspektor nicht ein unerhört weitgehendes Vertrauen mit dieser Vollmacht?«

»Ja, aber nicht zu weit. Darüber kannst du beruhigt sein,« lautete die selbstsichere Antwort, die ablehnend und in kühlem Ton gehalten war.

»Kennst du ihn wirklich so genau? Du hast ihn jahrelang nicht gesehen?«

»Ich will meine Hand ins Feuer legen für seine Zuverlässigkeit.«

»Er ist der Sohn einer Köchin, die ja wohl als Dirne endete, und eines Säufers. Ich bin überzeugt, für die Nachkommenschaft solchen Gesindels kann kein Mensch gut sagen.«

»Du vergißt immer, daß er von klein auf Pastor Wegerichs Pflegesohn gewesen und unter unseren Augen aufgewachsen ist.«

»Das Blut ist immerhin entscheidend, daran ändert ein Pflegevater nichts.«

»Das hätte sich nun längst geltend machen müssen. Ich kenne ihn, es ist kein Falsch in ihm.«

»Verzeih noch einmal, verehrteste Tante, aber eine Dame wie du, die immer hinter schützenden Mauern gelebt, kennt weder die Welt noch die Männer ganz und vollständig. Sie wäre sonst keine Dame und Gott behüte sie davor. Ich muß dich nun leider in diesem Fall ein bißchen aufklären, denn ich sehe, deine Blindheit bedeutet eine Gefahr für dich. Du erinnerst dich, daß ich das erste Wintersemester unserer Studien mit Starkeband zusammen in Berlin verlebte. Da lernte ich ihn näher kennen als mir lieb war, und von keiner vertrauenerweckenden Seite. Er hatte ein intimes Verhältnis mit der kleinen Schulmeisterstochter von hier. Gut und schön, dagegen will ich nichts sagen. Sie war zwar noch ein halbes Kind, doch ehrlich in ihn verliebt. Jedenfalls mißbrauchte er ihre Unerfahrenheit, denn er unterhielt zu gleicher Zeit ein Verhältnis zu einem Bühnenstern eindeutigster Sorte, einer verteufelt hübschen Person, die sich von einem Großkonfektionär aus der Leipziger Straße aushalten ließ. Der gab das Portemonnaie her für das edle Paar, das sich keinerlei Einschränkungen auferlegte. Pfui Teufel, diese Zuhälterrolle ging mir doch etwas zu weit! Als ich ihm eines Tages meine Meinung unverblümt zu wissen gab, spielte er sich auf den Unerfahrenen, der getäuscht worden wäre. Er ging so weit, mir Vorwürfe zu machen, daß ich ihn nicht sofort aufgeklärt, wofür ich diesen ›reinen Toren‹ natürlich auslachte. Nun frage ich dich, ob man einem Menschen, der einer solchen Schmutzerei fähig ist, unbedingt trauen darf? Es tut mir ja leid, dir eine Illusion zerstören zu müssen, aber ich mußte dich warnen, nicht zu blindgläubig zu sein.«

In Claudinens Gesicht hatte sich Erstaunen und Bestürzung gemalt, doch zum Schluß schüttelte sie zweifelnd den Kopf.

»Solltest du die Sache nicht falsch beurteilt haben? Er war damals sehr jung und auf diesem Gebiet sicher ganz unerfahren. Er kann von einer raffinierten Person tatsächlich getäuscht worden sein. Sein Verhältnis zu Nettchen Echtermann beruht auf einer Kinderfreundschaft. Etwas anderes ist zwischen beiden auch heute noch nicht, das weiß ich ganz genau. Wenn solch ein grüner, frischer Junge in die Großstadt und zum erstenmal in die Welt hinaus kommt, wird es ihm kaum erspart bleiben, Lehrgeld zahlen zu müssen, ehe er sicher auf seinen Füßen stehen lernt. Nein, Claus, sieh ihn dir doch an in seiner gesunden Kraft, mit dem hübschen, offnen Gesicht und seinem ehrlichen, geraden Blick – ich frage dich, kann so ein abgefeimter Lump aussehen, wie du ihn hinstellst, der so ziemlich das tiefste Niveau erreicht hat, auf das ein Mann sinken kann? Das ist doch völlig unglaubhaft!«

Claus biß sich auf die Lippen.

»Nun, ich habe meine Pflicht getan und dich gewarnt, das weitere muß ich dir überlassen. Gerade weil ich dein Faible kenne für diesen Kutschersohn, aus dem du gern ein Ideal machst, mußte ich reden, obgleich es mir widerstrebt, in solchen Dingen den Angeber zu spielen. Gewöhnlich kennen wir Männer uns untereinander besser als Ihr Frauen uns beurteilen könnt.«

Er ging und Claudine blieb beunruhigt zurück. Sie beobachtete von diesem Tage an Ernst scharf und kontrollierte seine Tätigkeit und seine Lebensweise mehr als er ahnte. Sie erfuhr auch, daß er seine Feierabende häufig bei Echtermanns zubrachte. Schließlich suchte sie Beruhigung in einer Aussprache mit seinem Pflegevater. Sie sagte dem Pastor alles, ohne den Namen ihres Neffen zu nennen. Pastor Wegerich hatte nur ein ruhiges Lächeln für die häßliche Beschuldigung gegen seinen Adoptivsohn. Er versprach volle Aufklärung, er wußte, Ernst würde ihn nicht belügen. So erfuhr er alles, den ganzen Sachverhalt, an dem er keinen Augenblick zweifelte. Und im Zusammensein einer vertraulichen Stunde unter vier Augen, erzählte Ernst selbst Fräulein von Dahlwitz den ersten kleinen Roman seines Lebens. Er schilderte in warmen, lebhaften Farben, deren Echtheit unverkennbar war, jenen ersten Rausch mit dem darauffolgenden moralischen Kater, und er verschwieg keinesfalls die Rolle, die Nettchen dabei gespielt. Der Dachgarten kam zur Sprache, wie auch der verunglückte Besuch Alla Alfadas, dem er heute seine humoristische Seite abgewinnen konnte, so daß seine Zuhörerin Tränen lachte. Und so wunderhübsch malte er Nettchens Dachgarten, daß sie förmlich ergriffen und gerührt war von diesem Stückchen Poesie, das sich die beiden heimwehkranken Kinder geschaffen.

Claus hatte das Gegenteil seiner Absicht mit seiner Verleumdung erreicht.


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