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I.

Unter einem alten Holzbirnbaum, mitten im märkischen Roggenfeld, das hoch in Halmen stand, rasteten drei junge Menschen, der zwanzigjährige Wirtschaftseleve Ernst Starkeband vom Rittergut Schönermark, der fast gleichaltrige Seminarist Hugo Echtermann, der Sohn des Schönermarkschen Dorfschullehrers, und seine fünfzehnjährige Schwester Nettchen. Sie hatten eine kleine Wanderung nach dem benachbarten Gute Kerkow gemacht, wo der Eleve des Fräuleins Claudine von Dahlwitz, Herrin auf Schönermark, wegen Ankaufs von Zuchtkälbern beim Baron von Ramin zu tun gehabt. Seine Freunde, Hugo und Nettchen, hatten ihn begleitet.

Hugo, der die großen Ferien bei seinen Eltern zubrachte, schwatzte unaufhörlich von seiner Präparandenschule, von den lächerlichen oder unangenehmen Eigenschaften seiner Lehrer und seinem hervorragenden Talent, ihnen etwas vorzumachen. Ernst Starkeband lehnte an dem knorrigen Baumstamm, den zurückgebogenen Arm unter dem Kopf, und hörte nur mit halbem Ohr zu. Er blinzelte in den goldenen Feuerschein der sinkenden Sonne in einem Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachen. Das Feld stand in schwerer Reife, und von ihrem Platz an dem kleinen Graben sahen die Gefährten nichts als den Halmenwald und die scheinbar uferlos, sanft wogenden Ährenwellen. Darüber das trunkene Blau des Flachlandhimmels. Gras und Kraut dufteten scharf, an den wilden Blumen hingen Bienen und Schmetterlinge, und ein Chor tausendfältiger Stimmen klang zirpend und summend in die Abendstille.

Ernst war mit seinen Gedanken noch in Kerkow. Die Kinder des Hauses, Horst, Fred und Edith, hatten die ehemaligen Kindheitsgespielen, die in ihrem Alter waren, freundlich begrüßt und sie zu einer Tasse Kaffee in den Gartenpavillon geladen. Um so unbeholfener und verlegener Ernst sich im Anfang gefühlt, um so wohltuender und befreiender hatte die große Sicherheit und Zwanglosigkeit der drei Herrenkinder auf ihn gewirkt, so daß er sich später bei einer Kegelpartie im Park vortrefflich unterhielt. Das Spiel gab ihm Gelegenheit, sich auszuzeichnen, denn er hatte viel Geschick und konnte es sogar mit Horsts Meisterschaft aufnehmen, so daß er eine gute Figur dabei machte. Edith, der Nachkömmling der Familie, die mit vierzehn Jahren auf der Schwelle zwischen Kindheit und Backfischalter stand, war nur besuchsweise zu den großen Ferien aus einem Schweizer Pensionat daheim. Sie hatte heut eine Offenbarung holdesten Mädchentums für ihn bedeutet. Und wenn auch seine Bescheidenheit nichts als Anbetung aus respektvoller Ferne zuließ, so empfand er diesen Zustand doch wie ein berauschendes Glück, und im Sonnenflimmern über den Ähren tauchte ihr süßes Gesicht und goldenes Haar vor ihm auf wie eine lichte Vision.

Hugo machte jetzt eine Pause in seinen Schulgeschichten, Nettchen pflückte in der Nähe Blumen. Die Schatten wurden länger, und schriller zirpten die Grillen. Ein dunkler Harfenton schwirrte aus den Halmen – es mochten die Käfer und Hummeln sein – vielleicht war es das Lied der Roggenmuhme, die von Urzeiten her durch die Kornfelder geht. Der sterbende Sommertag wob seinen strahlenden Zauber um den alten, einsam stehenden Birnbaum.

Und plötzlich Hugos Stimme mit einem grollenden Unterton: »Donnerwetter, ist das ein Besitz, dieses Kerkow! Sind das Glückspilze, die Ramins! Verflucht, wozu gibt es Reiche und Arme? Warum hat einer alles und der andere nichts und muß schuften?«

Ernst Starkeband schrak auf. Das war ja das alte Problem, das er wie einen Schmerz in der Seele trug, seit seine arme Mutter im Elend zugrunde ging. Heute verletzte ihn Hugos Angriff auf die Kaste, zu der Edith gehörte.

»Das ist eine törichte Frage, es muß so sein,« sagte er schroff.

»Unsinn, das rede mir nicht ein. Ist es nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, wenn einer als Erbe von einem Rittergut oder einem großen Vermögen oder beidem geboren wird und ich als armer Schlucker, für den kein Tisch gedeckt ist? Das muß aus der Welt geschafft werden. Eigentum ist Diebstahl, sagt Erich Reimann, unser Primus.«

Nettchen blieb stehen und sah ihren Bruder erschrocken an.

»Aber, Hugo, wenn das Vater hörte!« rief sie vorwurfsvoll. Sie hatte ein unregelmäßiges Gesichtchen, farbloses Haar, von dem man nicht sagen konnte, ob es braun oder blond war, und eine noch unentwickelte, dürftige Gestalt, die durch das verwaschene, ausgewachsene Kattunkleidchen beeinträchtigt wurde. Doch sie besaß eine Schönheit, das waren ihre seelenvollen Augen, die unbewußt einen schmerzlichen Ausdruck hatten, selbst wenn sie lächelte. Als wäre etwas von dem großen Leiden der Welt in ihren Tiefen. Und diese Augen hatten einen silbernen Glanz.

»Das ist eine gemeine Gesinnung,« brauste Ernst auf. »Warum soll man nicht das besitzen, was die Väter und Vorfahren erworben haben?«

Nettchen ging Blumen suchend tiefer in das Feld.

»So, gemein nennst du das?« höhnte Hugo. »Du bist schön dumm! Du hast es gerade nötig, die Partei der Leute zu nehmen, die dich entrechtet haben!«

Ernst fand zum erstenmal das Sommersprossengesicht seines Kameraden unsympathisch.

»Kann ich sie verantwortlich machen für etwas, das so alt ist wie die Menschengeschichte?« fragte er mit überlegener Miene. Diese Überlegenheit reizte den angehenden Schulmeister heftig.

»Na, weißte, Mord und Diebstahl sind auch so alt wie die Menschen, und darum bleiben sie doch Verbrechen. Weißt du denn nicht, daß du von Rechts wegen der Herr auf Kerkow sein müßtest?«

Ernst richtete sich auf und starrte Hugo maßlos erstaunt an.

»Was redest du da? Was soll das heißen? Du bist wohl verrückt?«

»Weißt du gar nichts davon, daß der Baron Wichard von Ramin, der sich erschossen hat, dein Vater sein soll?«

»Mein Vater – – –?«

Hugo rückte näher an seinen Freund heran und sprach mit gedämpfter Stimme. Er hatte ein schlechtes Gewissen dabei, als täte er ihm ein Leid an, doch der Reiz, ein Geheimnis zu verraten, erwies sich stärker als die Rücksicht.

»Ja, er hat sich erschossen, weil seine Eltern und Standesvorurteile nicht zugaben, daß er deine Mutter heirate, die Köchin bei der Baronin gewesen. Ich habe es auch erst kürzlich erfahren – die Eltern dachten, ich schliefe, und sprachen von der ganzen Geschichte.«

»Aber – meine Mutter war doch verheiratet – – mein Vater ist ja der Kutscher Starkeband gewesen – wie wäre es denn möglich – –?« stammelte Ernst mit großen, verwunderten Augen.

»Du bist aber dumm! Sie hat eben vorher ein Verhältnis mit dem jungen Baron gehabt. Man sagt, seine Mutter habe es gewußt und ihren Mann veranlaßt, sie so schnell als möglich mit seinem Kutscher zu verheiraten, der dafür eine anständige Aussteuer und Zulage erhielt. Na, so etwas kommt ja oft vor, und die Herrschaften können sich das leisten. Aber in diesem Fall ging die Sache schief. Der junge Baron konnte es nicht ertragen, und als du geboren warst, hat er sich erschossen. Das soll deiner Mutter, die kaum aus dem Wochenbett war, in den Kopf gegangen sein. Sie nahm dich auf den Arm, ging zur Baronin und klagte sie an, sie sei schuld an dem Unglück. Natürlich wurde die Sache vertuscht, deine Mutter kam eine Zeitlang fort in eine Heilanstalt als unzurechnungsfähig. Doch als sie gesund heimkehrte, hat ihr Mann sie schlecht behandelt und sich dem Trunk ergeben. Da ist sie eines Tages mit dir auf und davon gegangen, und er hat sich bald darauf zu Tode gestürzt, in der Betrunkenheit, von einem durchgehenden Gefährt. Habe ich nun nicht recht, wenn ich sage, du müßtest von Rechts wegen der Herr auf Kerkow sein? Wäre nicht alles Unglück verhütet worden, wenn man den Baron deine Mutter heiraten ließ?«

»Wer bürgt dafür, daß die Geschichte wahr ist? Vielleicht ist alles nur Klatsch. Wenn etwas Wahres daran wäre, hätten wohl mehr Leute davon erfahren. Ich habe gehört, der junge Baron sei an seiner Spielleidenschaft zugrunde gegangen. Und meine Mutter? Sie hielt es nicht aus mit ihrem Mann, weil er ein Säufer geworden, das ist doch begreiflich. Woher wollen denn deine Eltern das alles wissen?«

»Pst, pst, da kommt Nettchen, sie braucht es nicht zu hören. Du kannst natürlich glauben, was du willst, aber meine Mutter ist keine Klatsche. Sie hat die Geschichte von Fieken Kröger, der alten Näherin, die kommt so in den Häusern herum und hört manches. Beweisen kann niemand etwas, die Ramins haben schon dafür gesorgt, daß alles geheim gehalten wurde, und deine Eltern hatten ja das meiste Interesse daran, zu schweigen.«

»Hugo!« rief Nettchen jetzt von weitem, »ein Nest! Dort im Brombeerstrauch ist ein Nest mit fünf Vögelchen, komm doch mal schnell!«

»Donnerwetter, das muß ich sehen!« rief Hugo und sprang mit langen Sätzen der Schwester nach.

Regungslos blieb Ernst zurück, wie betäubt von dem Gehörten. Die Sonne sank jetzt in das Kornfeld und zog eine breite purpurne Straße durch die Ährenwellen; ein paar kleine Wolkenstreifen segelten wie goldene Kähne in der rosigen Glut des Abendhimmels. Seine Gedanken wanderten tief in die Vergangenheit und suchten nach Erinnerungen. Sie begannen für ihn erst in einer hübschen, kleinen Berliner Wohnung, wo er mit der Mutter allein gelebt. Schmerzlich deutlich lebte die tote Mutter vor ihm auf. Mit heiß aufwallender Liebe dachte er, wie sie stets bemüht gewesen, sein Leben heiter und froh zu gestalten und bis zu dem letzten Zusammenbruch alles fernzuhalten, was ihn betrüben könnte. Er wurde stets wie etwas Besonderes gehalten, so daß sich ihm von klein auf der Eindruck aufprägte, er bilde eine Ausnahme von den Kindern seines Standes. Die Tochter einer Nachbarin, einer verarmten Dame, war sein einziger Verkehr, nie ließ ihn die Mutter auf der Straße mit den Kindern des Proletariats spielen und verkehren. Auf diese Weise kam kein Klatsch an ihn heran.

Und da war Onkel Nante! Er hatte ihn sehr gern gehabt, den netten, freundlichen Mann, der bei ihnen aus- und einging und so gut zu ihm und der Mutter gewesen. Sein Andenken verwob sich mit schönen Geschenken, gutem Essen, Näschereien, Spazierfahrten und Ausflügen. Aber diese heiteren Bilder verdunkelten sich, Onkel Nante verschwand, das gute Leben hörte auf. Sie zogen in ein ärmlich möbliertes Zimmer, und die Mutter verwandelte sich in eine hart arbeitende Frau. Dann wurde sie krank, und es kam das bittere Ende, die schreckliche Reise mit der Schwerleidenden nach Kerkow und ihr qualvolles Sterben in dem Hinterstübchen der alten Bauersfrau. Bis zum letzten Atemzug sorgte sie sich um ihn – ein heißer, wilder Schmerz bäumte sich in ihm auf um ihr geopfertes Leben. Sollte es wahr sein, was Hugo ihm verraten? – – –

Seltsam, seine innere Überzeugung sprach dafür, es half nichts, sich dagegen zu wehren. Es stimmte so manches. Warum hatte sie ihn immer wie ein Herrenkind gehalten? Warum hatte sie nie von dem Kutscher Starkeband als von seinem Vater gesprochen? Und da war eins. Wie mit Blitzlicht erleuchtet, tauchte ein Bild vor ihm auf, das von den Schleiern der Vergangenheit verdeckt gewesen. Er sah sich mit der Mutter auf einem Kirchhof an einem Grabe knien – es war ein prächtiges Grab – ein hohes, weißes Kreuz ragte unter blühenden Rosen – weiter wußte er nichts mehr – doch unvergeßlich blieb ihm, daß sie seine Hände mit den ihren gefaltet – sie hatte wohl gebetet – und ihm war so, als hätte sie bitterlich geweint. Das Grab des Kutschers war es schwerlich gewesen.

Ich will den Pastor fragen, er muß mir die Wahrheit sagen, dachte er. Die alte Kindersehnsucht nach der so heißgeliebten, toten Mutter überkam ihn, als hätte er sie heute verloren, er warf sich in das Gras, vergrub den Kopf in den Händen, und sein ganzer Körper zuckte in lautlosem Schluchzen.

Plötzlich legte sich sanft streichelnd eine Hand auf seinen Scheitel, und als er aufsah, saß Nettchen mit einem tief bekümmerten Gesicht neben ihm. Ihre Augen schimmerten in silbernem Glanz von verhaltenen Tränen, seltsam schöne, seelenvolle Augen in dem unscheinbaren Gesichtchen. Sie sagte kein Wort, aber ihr Mitleid ergriff ihn so, daß er ihre Hand faßte und sich aufrichtete.

»Es geht vorüber, Nettchen,« stammelte er, »es ist nur – weißt du – meine arme Mutter – –« mehr konnte er nicht sagen.

Nettchen streichelte seine noch zitternde Hand.

»Siehst du,« sagte sie weich mit einem zärtlichen Unterton, wie man zu einem kranken Kind spricht, »das macht der einsame Baum. Weißt du nicht, daß man nicht unter einem alleinstehenden Baum ruhen soll?«

»Warum nicht?« fragte er erstaunt, und seine Gedanken wurden wohltätig abgelenkt.

»So weit sein Schatten reicht, haben die Geister und Kobolde Macht, die immer unter einsamen Bäumen hausen. Der Zauberbann geht so weit, wie ihre Wurzeln im Erdboden reichen. Vielleicht wollten die Geister dir etwas Gutes tun und brachten dir das Bild deiner geliebten Mutter so lebhaft zurück, aber es war zu stark für dich und warf dich nieder.«

Ernst wurde ruhiger. Es tat ihm wohl, daß Nettchen sagte: »Deine liebe Mutter.« Mit ihr würde er von der Mutter reden können, sie verstand ihn.

»Das ist eine von den alten hübschen Bauernsagen, das Kornfeld ist voll davon. Weißt du nicht mehr davon? Ich höre sie gern,« sagte er und lehnte müde, in allen Nerven erschüttert, am Baumstamm.

»O ja, die gruseligste ist die Sage von der Roggenmuhme, die kennst du wohl auch. Manchmal kommt sie daher als steinalte Frau und lockt kleine Kinder tief in das Feld, so daß sie nicht mehr herausfinden, und elend umkommen. Doch manchmal erscheint sie als zauberschönes Weib mit ährengelben Haaren und Augen, so blau wie die Kornblume. Wer in diese Augen sieht, vergißt alle Schmerzen und die ganze Welt, doch wer sie küßt, muß sterben.«

»Wie schön!« seufzte Ernst. »Alle Schmerzen vergessen und von einem Kuß sterben!« Im Geiste tauchte wieder ein süßes Gesicht vor ihm auf, und ein Paar Augen, blau wie die Kornblume, sah ihn strahlend an.

»Nein, nein, locke sie nicht an,« wehrte Nettchen, sich scheu umsehend, »hier unter dem einsamen Baum ist es nicht geheuer.«

Jetzt kam Hugo zurück und zeigte ein paar Pflanzen, die er zwischen Löschblätter in eine abgegriffene Brieftasche gelegt für sein Herbarium, das er für einen seiner Lehrer sammelte. Nettchen mahnte zum Aufbruch, und sie wanderten mitten durch das Kornfeld heimwärts auf den schmalen, blumigen Rainen der Feldgräben. Nettchen stimmte ein Lied an, ihr Bruder fiel ein. Durcheinander sangen sie lustige und schwermütige Volkslieder, ihre hellen jungen Stimmen trugen weit über das wispernde, leise raunende Ährenmeer. Ernst war seiner kleinen Freundin im Herzen dankbar für den Gesang, bei dem er seinen Träumen nachhängen konnte. Hugos Schulgeschichten wären ihm jetzt unerträglich gewesen.


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