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XII.

Claus bekam sehr bald eine Stellung als Hilfsassessor am Landgericht in Staßfurt und mußte sich sofort auf seinen Posten begeben. Ein fester Termin für seine Hochzeit mit Edith war noch nicht angesetzt, doch hatte man den Oktober in Aussicht genommen.

Vor seinem Abgang nach Staßfurt nahm er sich seinen Schwager Horst bei Seite und gab ihm ähnliche Winke über Ernst Starkeband wie seiner Tante, mit der Bitte, jeden freundschaftlichen Verkehr Ediths mit dem Inspektor als unpassend zu verhindern. Aber Horst schüttelte genau so den Kopf wie Tante Claudine. Er glaubte auch Ernst gut zu kennen, und Claus richtete zu seinem Verdruß wenig aus. Eine sehr fatale und schwierige Sache blieb für ihn zu erledigen, ehe er nach Staßfurt übersiedelte. Bereits in Schönermark, gleich nach Veröffentlichung seiner Verlobung, bekam er Drohbriefe von einer gewissen Dame, die ihn bei seiner Braut als Wortbrüchigen denunzieren wollte. Es bedurfte weitgehender Versprechungen, um sie vorläufig in Schranken zu halten. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als eine persönliche Auseinandersetzung, um sich vor einer Bloßstellung zu retten.

Diese Dame, Irma von Erdödy, war das Körnchen Wahrheit in dem Roman, den er seiner Tante erzählt. Sie stammte aus einer ungarischen Familie, einem heruntergekommenen Zweig der stolzen Grafen von Erdödy. Ihrer prachtvollen Figur wegen hatte sie eine Stellung als Gelbstern in einem der ersten Konfektionsgeschäfte in Berlin. Die Ansprüche der jungen Dame waren entsprechend ihrem Äußeren hoch gestellt und die Zahl ihrer Bewerber nicht gering. Eigentlich beabsichtigte sie sich nicht unter einem Grafentitel wegzugeben, und Claus mußte den Verzicht darauf teuer erkaufen. Er hatte eine heftige Leidenschaft für sie empfunden und in der ersten Verliebtheit sogar eine künftige Verbindung mit ihr in Aussicht genommen. Jetzt waren seine Gefühle so weit herabgekühlt, daß ihm der Bruch nicht allzuschwer wurde. Die ungebildete Person hatte angefangen, ihn zu langweilen, und die Ausbeutung, die sie in großem Stil betrieb, beschleunigte seine Erkaltung.

Als Claus Irma in der kleinen hübschen Wohnung, die er für sie hielt, gegenüberstand, war er kühl bis ans Herz hinan, während die temperamentvolle Ungarin tobte. Schließlich setzte er sich in einen der kleinen seidenen Sessel, zündete sich eine Zigarette an und wartete, bis ihr der Atem ausging.

»So, nun laß mich reden,« sagte er darauf gelassen. »Du bist vollkommen in deinem Recht, und ich will dir in keiner Weise widersprechen. Deine Logik stimmt nur nicht ganz mit den Tatsachen überein, doch das kann man von einer so reizvollen Frau, wie du bist, nicht verlangen. Logische Frauen sind immer häßlich und tragen Kneifer. Ich wäre in der Tat der Schuft und niederträchtige Verräter, den du heute in mir siehst, wenn ich aus freiem Willen handelte. Ich befinde mich aber in einer Zwangslage. Schade, daß du nicht der Auseinandersetzung zwischen mir und meiner Tante beiwohnen konntest. In diesem Fall wäre ich dir äußerst dankbar gewesen, wenn du mir einen Ausweg aus dem Dilemma angegeben, der es mir ermöglicht hätte, in allernächster Zeit eine vergnügte Hochzeit mit dir zu feiern. Da ich aber glatt und ohne jede Rücksicht auf Enterbung gesetzt werden sollte, wenn ich für die Sanierung meiner Finanzen nicht auf alle Bedingungen einging, die mir gestellt wurden, frage ich dich, ob du dich hättest entschließen können, mit einem Mann zum Standesamt zu gehen, der ein Bettler gewesen wäre? Und schlimmer als ein Bettler – mit einer Schuldenlast und durch den Verlust seiner Karriere für alle Zukunft aussichtslos?«

Aber damit ließ sich der schwer gereizte Gelbstern noch nicht aus dem Felde schlagen.

»Ja, darin besteht eben deine Schlechtigkeit, daß du mich unter Vorspiegelung falscher Voraussetzungen anderen abspenstig gemacht und mir glänzende Partien vereitelt hast,« schrie sie ihn zornig an. »Hätte ich gewußt, daß du solch ein abhängiger, jämmerlicher armer Schlucker bist, würde ich mich nicht mit dir eingelassen haben! Ich, die Nichte eines Bischofs, deren Onkel bei der Krönung Kaiser Franz Josephs –«

Claus unterbrach sie schnell, denn diese Bischofs- und Krönungsgeschichten kannte er bis zum Erbrechen, sie hatten wesentlich dazu beigetragen, ihm die süßen Schäferstunden mit der schönen Irma zu verleiden.

»Verzeih, mein Engel, ich gebe dir auch jetzt vollkommen recht, wie könnte ich unritterlich sein gegen die Nichte so erlauchter Herren? Ich will dich nur auf einen kleinen Gedächtnisfehler aufmerksam machen. Vielleicht besinnst du dich auf die Existenz meiner Tante, wie mir deine Onkel unvergeßlich bleiben werden. Ich dächte, diese Erbtante hätte von Anfang unserer Bekanntschaft eine ebenso große Rolle gespielt, wie deine Onkel, und meine Abhängigkeit von ihrer Gunst wäre dir keinen Tag verborgen geblieben. Mir hingegen wurden die Verpflichtungen, die mir die beneidenswerte Gunst einer bischöflichen Nichte und Nachkommin eines kaiserlichen Günstlings auferlegte, nicht von vornherein, sondern erst allmählich klar, sonst hätte ich es mir vielleicht besser überlegt, ob meine Mittel der Bestreitung des Aufwandes gewachsen seien, den das Vorhandensein einer so illustren Verwandtschaft erforderte.«

Seine Ironie wirkte nicht gerade besänftigend, sondern goß Öl in das Feuer ihrer Entrüstung, er mußte sich endlich entschließen, andere Töne anzuschlagen. Nun entfesselte sie aber eine hochdramatische Liebesszene mit Selbstmordversuch, er wußte nur zum Glück für seine Nerven ganz genau, daß die kleine, elegante Waffe nicht geladen sei, die er ihr einmal geschenkt und die sie blitzschnell aus einem Schubfach unter allerlei Flitterkram hervorriß, um sie mit einer großartigen Geste auf ihr angeblich gebrochenes Herz zu richten. Er kam um einen Kniefall nicht herum, um das Abdrücken zu verhindern, und damit führte er eine heftige Aussöhnung herbei, wie er sie in solchen Temperaturgraden nicht beabsichtigt hatte, doch wohl oder übel über sich ergehen lassen mußte. Schließlich erhielt er seine Freiheit und das Versprechen der Diskretion für hohen Preis. Er mußte sich schriftlich verpflichten, die Wohnung und eine bestimmte Monatsrate bis zum Ableben seiner Tante weiter zu bezahlen, um sie beim Antritt der Erbschaft mit fünfzigtausend Mark auszulösen und damit die bischöfliche Nichte abzufinden. Auch stellte Irma in Aussicht, daß sie sich bis zu diesem Zeitpunkt an ihn wenden würde, wenn sie in Not geriete und daß es alsdann von seiner Gefälligkeit abhinge, ob sie die verlangten Rücksichten fernerhin nehmen könne. Claus knirschte heimlich mit den Zähnen und verwünschte die Erpresserin, denn damit war ihm eine Schlinge um den Hals gelegt, die jeden Augenblick zugezogen werden konnte, doch er saß nun einmal fest im Netz der Männerfängerin. Trotz Leidenschaft, Selbstmordversuch und Aussöhnung zeigte sie eine unbeugsame Hartnäckigkeit, verbunden mit Drohungen bei ihren Forderungen und nutzte seine Notlage bis auf das Äußerste aus. Unglücklicherweise hatte sie schriftliche Beweise in Händen, die ihn als wortbrüchig bloßstellen konnten, und er wußte, daß seine Tante eine noch stärkere Belastung ihrer Nachsicht zurzeit nicht ertragen würde. Jedem Versuch von seiner Seite, die verräterischen Briefe ausgeliefert zu bekommen, begegnete sie mit kaltem Hohn, sie lachte ihn einfach aus. Und wie Edith und ihre Familie sich zu etwaigen Enthüllungen stellen würden, kam gar nicht in Zweifel. Brautschaft und Erbschaft gingen dann rettungslos zum Teufel. Er aber hatte während der schönen Lenzwochen im häufigen Zusammensein mit Edith ernstlich Feuer gefangen. So jung sie war, blieb sie ihm überlegen und unabhängig, weiter als bis zum dienenden Sklaven brachte er es nicht. Zum erstenmal mußte er den Nacken beugen und hatte seine Herrin gefunden. Es bedeutete einen ganz neuen Zauber für ihn, denn es lag dieser Behandlung kein berechnendes Spiel zugrunde, sondern ein angeborener Instinkt zur Herrin, zur großen Dame, dem ihre süße Jugend und Arglosigkeit den stärksten Reiz verlieh. Sie besaß unbewußt das Talent, den Mann zu entflammen und kalt dabei zu bleiben, was noch immer die stärkste Waffe der Frau im Kampf der Geschlechter gewesen ist.

In Staßfurt, wo es an Hilfskräften fehlte, häufte ein alternder Regierungsrat sofort eine große Arbeitslast auf seine Schultern, und es war fürs erste an keinen Urlaub zu denken. Das gefiel ihm wenig, er hätte nach dem Examen gern ein halbes Jahr mindestens zu seiner Erholung gehabt, doch Tante Claudine wollte davon nichts wissen. Sie fürchtete seinen Hang zum Bummeln und wollte ihn je eher je besser in der Disziplin des Beamtenberufs sehen. Auch meinte sie, daß seine Gesundheit nichts zu wünschen übrig lasse, die vier Wochen in Schönermark hätten Wunder getan und ihn genügend gekräftigt. Er verwünschte die Macht, die sie über ihn besaß, wobei ihm seine Mutter törichten Vorschub leistete und ihn unausgesetzt gegen sie aufhetzte.

Es war verabredet worden, daß die beiden Mütter, Frau von Ramin und Frau von Gemmingen, im Sommer eine gemeinsame Kur in Kissingen machen sollten, und von dort beabsichtigte Frau von Ramin den Besuch zu erwidern und einige Zeit bei den Gemmingens zu verleben. Edith war ebenfalls eingeladen, zog es aber vor, zu Hause zu bleiben. Weil aber der Aufenthalt in Kerkow sehr ungemütlich wurde durch den Umbau des Herrenhauses und des zum Witwensitz für Frau von Ramin bestimmten Gebäudes, forderte Tante Claudine sie auf, zu ihr zu kommen, und beide waren beglückt durch diese Gelegenheit eines traulichen Zusammenlebens, denn sie hatten eine lebhafte Zuneigung zueinander gefaßt. Claus wollte allerdings nichts davon wissen, er bestürmte seine Braut, ihre Mutter zu begleiten, und fand es ungehörig, daß sie die Einladung der Gemmingens ablehnte, doch er mußte wieder die Erfahrung machen, daß nicht sein, sondern Ediths Wille ausschlaggebend sei. »Ich werde mich hüten,« schrieb sie ihm, »mir den Sommer durch diese ledernen Gemmingens verekeln zu lassen, denen ich es nie verzeihen kann, daß sie uns unser liebes, altes Haus verschandeln. Außerdem freue ich mich wie ein Kind auf Schönermark und deine entzückende Tante.«

Wenn es ihm nun auch ganz gut paßte, daß sich das Verhältnis zwischen Edith und Tante Claudine so günstig gestaltete, so ging ihm doch ihre Schwärmerei etwas zu weit. Es wäre ihm lieber gewesen, sie wäre in den Temperaturgraden der Klugheit und Berechnung stehengeblieben. Und er sah eine Gefahr für sich in Ernst Starkebands Anwesenheit. Zwar verließ er sich fest darauf, daß Edith viel zu stolz und ehrlich sei selbst für einen bloßen Flirt mit dem Inspektor seiner Tante, doch die innere Stimme, die nicht lügt, verriet ihm, daß dieser Inspektor wohl imstande sei, ihn bei beiden Frauen in den Schatten zu stellen. Und das vertrug seine Eitelkeit und Selbstliebe nicht. Doch es blieb ihm nichts andres übrig, als gute Miene zu machen und in Staßfurt bei seinen Akten zu schwitzen, während man in Schönermark den herrlichen Sommer in Gottes freier Natur genoß. Dafür verwünschte er seine Tante täglich ein dutzendmal. Wozu mußte sie ihn zu Gesetzesparagraphen und Aktenstaub verurteilen, statt ihn als freien Herrn auf der Scholle, die ihm doch künftig gehören sollte, leben zu lassen? Lag dem nicht die ausgeklügelte Bosheit der alten Jungfer zugrunde, die ein Vergnügen in Tyrannei und Herrschsucht fand?

Ediths Briefe aus Schönermark, die nicht allzu häufig kamen, schürten das Feuer seiner Sehnsucht. Meist waren es nur kurze Berichte, von Liebesbriefen keine Spur.

 

»Lieber Claus!

Hier ist es wonnig. Tantchen gab mir die beiden hübschen Zimmer, die Du immer bewohnst, ich fühle mich schon ganz heimisch. Es ist ein liebes altes Haus und eleganter als Kerkow. Tante zeigte mir die ganze Wirtschaft, auch ihre prachtvollen Wäsche- und Silberschränke. Wir gehen viel spazieren oder fahren über die Felder. Abends sitzen wir auf der Terrasse unter den Kastanien. Ich hoffe, es geht Dir gut. Herzliche Grüße, auch von Tante

Deine Edith.«

 

Er wußte, daß sie draußen in den Feldern Ernst Starkeband bei der Ernte treffen würden und daß der Inspektor zu Pferde, als kommandierender General des Arbeiterheeres eine prächtige Figur machte. Der »Kerl« im Sportshemd, mit der Leinenhose und dem großen Strohhut, auf dem schönen Halbblut, das ihm Tante Claudine gekauft, – das Bild stand ihm lebensdeutlich vor Augen und brannte sich in sein Hirn – es gab der kargen Freude an Ediths kurzen Mitteilungen einen bitteren Beigeschmack. Und ebenso wußte er, daß Ernst stets abends zu Tante Claudine auf die Terrasse kam, um die Wirtschaft und das Programm des folgenden Tages mit ihr zu besprechen.

Seine Antwort war ein glühender Liebesbrief. Er schrieb unter anderem:

»Ich hoffe, daß in meinen Zimmern mein Geist Dich umweht, denn ich gab ihnen das Gepräge, alles dort müßte Dich an mich erinnern, es soll kein anderes Bild als das meine in Deine Seele kommen. Auch draußen in Wald und Feld und abends unter den Kastanien darfst Du nur an mich denken, mein Heißgeliebtes, versprich mir, daß jede Regung, jeder Schlag Deines Herzens mir gehört! Ich vergehe vor Sehnsuchtsqual, es ist grausam, zu wissen, daß andere Deine Gegenwart genießen, Deine Stimme hören, ja, sich an Deiner Gesellschaft erfreuen und Deine Gunst genießen, während ich armer Verbannter Dir fern bleiben muß.«

In diesem Stil erging Claus sich bogenlang. Edith nahm es wie einen schuldigen Tribut hin, ohne sich darüber aufzuregen. Der Ton, in dem ihre Antworten gehalten, blieb sich stets gleich. Und hatte sie im Vaterhause eine souveräne Stellung eingenommen, so wurde sie von Tante Claudine erst recht vergöttert und auf Händen getragen; das ganze unausgelebte Muttergefühl dieser warmherzigen Frau wandte sich ihr zu, deren vereinsamte Seele durch sie zu neuer Freude am Leben erwachte.

Seit vielen, vielen Jahren klang wieder ein frohes Lachen und eine helle junge Menschenstimme durch die schweigsamen Räume des Herrenhauses von Schönermark. Die breiten, feierlichen Treppen und die langen, stillen Gänge, stumme Zeugen der vielen Särge, die hinausgetragen worden, bis sie in Melancholie und Verödung versanken, belebten sich seltsam, sie wurden heiter und traulich, wenn ein helles Kleid über sie hinflatterte, ein leichter, froher Schritt sie streifte. Ja, sie lachten förmlich und strahlten bei jedem kleinen Sonnenstrahl, der sich in einer goldenen Flechtenkrone fing, und wenn es hinauf und hinab in den weiträumigen Mauern sang und trällerte. Die Dienstboten im Erdgeschoß horchten auf, und der alte Wienert, der schon beim seligen Herrn gedient, schmunzelte und pfiff leise die Melodie nach, die oben das Sonnenkind sang, das hier in Zukunft Herrin sein sollte.

»Unsere kleine Gnädige« hieß sie bald bei allen Leuten.

Und da war einer, der hatte, wo er auch hinging, das süße Lachen und Singen im Ohr und ein goldenes Flimmern vor den Augen, wie von einer seidigen Flechtenkrone. Doch es half ihm nichts, sich hinter schwerer Arbeit zu verschanzen und bei Nettchen Echtermannn im Küstergarten zu verstecken, es kam ihm nach. War er von Sonnenaufgang bis -untergang draußen in den Feldern, in Staub und Brand der Erntearbeit, dann rollte sicher im Laufe des Tages ein leichtes Korbwägelchen daher mit zwei hellen Gestalten. Und da war wieder die fröhliche Stimme und das süße Lachen, die den Himmel so viel blauer machten und die ganze Welt umher verzauberten.

Oder wenn er im Brennereibau steckte, zwischen Kalk und Mörtel, unter den Maurern, die Arbeit kontrollierend, und mit dem Meister in Entwürfen und Berechnungen vertieft, tauchten auch hier die beiden Herrinnen auf, die gegenwärtige und die zukünftige. Und während er mit der einen über Bauplan und Kosten, über Maschinenanlage und ihre Rentabilität verhandelte, sprachen die Augen der anderen von Jugendlust und Sommerszeit, von einem wunderseligen Geheimnis, das in ihren blauen Tiefen ruhte und das noch niemand ergründet hatte, weder der Auserwählte, dessen Ring sie am Finger trug, noch sie selbst, und sie selbst am allerwenigsten.

Und wer das Rätsel löste, würde König sein im Reich des Glücks.

Bei diesem Gedanken verwirrte er sich, Tante Claudine erwischte ihn bei einem Rechenfehler, er schämte sich, bekam einen roten Kopf, und Edith lachte, ein kleines, übermütiges Lachen mit einem leisen Unterton von Triumph. Ja, rechne du mal und verrechne dich nicht, wenn ich hier oben auf der Leiter sitze und auf dich warte, um höher hinauf zu steigen, wo man vom Baugerüst den schönen Ausblick über das Dorf hat und über die ganze Herrlichkeit der weiten Ebene bis in die duftblaue Ferne! Wegen deiner langweiligen Maschinen bin ich nicht hergekommen.

Und dann stand sie schwindelfrei oben, leicht mit der Hand auf seine Schulter gestützt. Sie jauchzte vor Vergnügen und klatschte in die Hände wie ein Kind, stolz auf die eigene Kurage. Sie lachte, wenn Tante Claudine angstvoll die Hände rang und flehte: »Um Gottes willen, falle nicht! Halte dich fest! Lieber Starkeband, halten Sie sie fest, ganz fest!«

Und er stützte sie mit starkem Arm. »Es ist keine Gefahr, ich stehe dafür ein,« rief er fröhlich hinunter ...

Und so standen sie hoch oben dicht beieinander, und sie lehnte sich fester an ihn. Unter ihnen die steile Tiefe mit dem Staub und Lärm des Alltags und seiner Mühe und Arbeit, über ihnen die blaugoldenen Sphären uferloser Himmelspracht. Wind und Sonne küßten sie und trugen die starken Duftwellen reifer Felder und blühender Wiesen daher. Und Edith jauchzte: »Wie schön ist es hier oben!«

»Wie im Himmel!« sagte er und warf übermütig den Kopf zurück, so daß der braune Haarschopf zurückflog. Und die Abende, die wunderbaren Abende! Wenn er auf der Terrasse mit Tante Claudine die Tagesgeschäfte besprach und der weite, große Garten mit seinen Laubmassen und Rasenflächen in Duft und Dämmer versank, dann fingen die weißen Nachtviolen in den Sandsteinvasen aus dem Schattendunkel der alten Kastanien zu leuchten an, ganz wie eine helle Gestalt im Schaukelstuhl vor den Treppenstufen. Nur flüchtig streifte ihn mal ein Blick aus einem stolzen, kühlen Gesicht, wie er da am Pfeiler der Ballustrade lehnte, aber er kam doch ab und zu, dieser hochmütige Blick unter den halbgeschlossenen Wimpern, ebenso sicher wie die taumelnden Nachtfalter aus den Kelchen der Violen.

Und einmal traf er Edith sogar bei Nettchen im Küstergarten. Sie saßen beide in der Gaisblattlaube, und als er kam, lachte Edith, klatschte in die Hände und rief: »Das ist ja ganz wie früher, jetzt müssen wir aber auch Kartendomino um bunte Bohnen spielen, das ist so lustig!«

Sie spielten Kartendomino auf dem alten, rissigen Holztisch, es war wirklich ganz wie früher. Edith mogelte, wie sie stets getan, sie freute sich wie ein Kind, wenn sie gewann und er verlor. Der alte Echtermann, bei dem sie alle lesen und schreiben gelernt, ging mit der langen Pfeife zwischen den Buchsbaumrabatten spazieren, er kam schmunzelnd herbei, wenn sie lachten und sich stritten. Ach, es waren glückliche Sommerwochen! Mit der Zeit lief Ernst nicht mehr davon, um sich vor der kinderfrohen Stimme und dem süßen Lachen zu verstecken, nein, er ging ihnen nach, wo er sie von ferne hörte. Und es glich einem Zauberspiel im Märchen mit Verwandlungen, das ihn tief und tiefer hineinlockte in den verwunschenen Wald, in dessen Gründen die sagenhafte blaue Blume wachsen sollte. Bald war es ein Kind mit harmlosen Augen, das ihn an der Hand nahm und sagte: »Komm, wir wollen spielen!« Bald ein zauberschönes Weib, süße, lockende Lieder auf den Lippen und heimlich scheues Verlangen im Blick, und manchmal die Herrin, hochmütig wie eine byzantinische Prinzessin. Und es war immer die Herrin, die sein Blut sieden machte.


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