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XVIII.

Es war ein schwerer Augenblick für Nettchen, als sie Edith die Wahrheit sagen mußte.

Edith hatte stundenlang in einem tiefen Schlaf gelegen, nachdem sie eine Mischung von Baldrian und Opium eingenommen. Bis in ihr entlegenes Schlafzimmer, zu dem Nettchen alle Zugänge sorgfältig verschlossen hielt, drang kein Geräusch, und sie wurde von den Vorgängen im Hause nicht gestört. Als sie erwachte, hatte sie die Migräne vollkommen verschlafen und fühlte sich mit der Elastizität der Jugend wieder ganz wohl. Grenzenlos war ihr Schmerz über die Unglückskunde, sie konnte das Ereignis in seiner ganzen Schrecklichkeit und Tragweite kaum fassen. Zitternd kleidete sie sich an, um hinunterzueilen und das Ergebnis der Obduktion und gerichtlichen Untersuchung zu erfahren; es gelang Nettchen nicht, sie davon abzuhalten.

»Es sind so viel Menschen unten, und alle sind schrecklich aufgeregt, weil der Sanitätsrat Gift bei der Leiche gefunden hat. Die Gerichtskommission untersucht alles, und im Eßsaal wurden wir bei verschlossenen Türen verhört. Nun gehen merkwürdige Gerüchte um in der Menge – ach, Fräulein Edith – bleiben Sie doch oben – Gott weiß, was noch geschieht!« flehte Nettchen zähneklappernd, doch Edith hörte nicht auf sie.

Auf der Treppe stockte ihr Fuß, sie sah durch das Fenster im Hof eine Menschenmenge Kopf bei Kopf und vor sich, unten in der Halle, das verstörte Hauspersonal, dazwischen Polizisten und Beamte. Doch mutig ging sie weiter, alle Augen richteten sich auf sie, und man machte ihr Platz.

»Wo ist Herr von Dahlwitz? Ich will ihn sprechen, bitte, rufen Sie mir Herrn von Dahlwitz,« sagte sie befehlend zu einem Polizisten.

»Der gnädige Herr ist hier im Vorzimmer, aber es kann jetzt niemand hinein,« lautete die Antwort, doch Edith kümmerte sich nicht darum. Sie wollte eben die Tür öffnen, als diese aufgerissen wurde. Claus trat ihr entgegen, entstellt durch heftige Erregung.

»Um Gottes willen, was tust du hier? Sie wollen ihn eben abführen, er ist verhaftet wegen Mordverdacht, es kann kein anderer gewesen sein,« raunte er ihr zu mit dem Versuch, sie fortzuziehen. Nettchen stand dicht hinter ihr.

»Wer?« fragte Edith und rührte sich nicht vom Fleck.

»Wer? Nun, wer anders als der Inspektor. Komm doch, komm fort!«

»Großer Gott!« ächzte Edith, Nettchen schrie auf und krampfte die Hände ineinander.

In diesem Augenblick sprang wieder die Tür auf, ein Polizeidiener stürzte heraus und rief von der Rampe nach dem Wagen. Eine geschlossene Kutsche rasselte heran. Zu gleicher Zeit kamen die Gerichtsbeamten aus dem Zimmer und in ihrer Mitte Ernst, furchtbar bleich, mit einem Ausdruck von Betäubung, doch aufrecht. Plötzlich sah er sich Edith und Claus gegenüber, Edith stand dicht vor ihm, es gab ihm einen sichtbaren Ruck, er stockte, stieß die Hand des Gerichtsdieners von sich, der ihn am Arme faßte, um ihn eilig zum Weitergehen zu veranlassen und machte eine impulsive, fast hilflose Bewegung zu ihr hin. Seine Rechte zuckte ihr entgegen wie magnetisch angezogen, als wolle er nach ihr fassen, doch es geschah, daß sie zurückschauderte wie von Grauen gepackt und ihn mit einem Blick maß, der Entsetzen und Abscheu ausdrückte. Claus trat sofort schützend zwischen sie und den Verhafteten, der von den Polizisten und Gerichtsdienern weitergeschoben wurde. Alle wichen vor ihm zurück, nur Nettchen drängte sich durch die Umstehenden ihm nach und unter der Haustür stand sie neben ihm.

»Ernst, Ernst, es ist ja nicht wahr, du bist kein Mörder – sei ruhig, es kommt alles an den Tag – ich werde nie den Glauben an dich verlieren – vertraue auf Gottes Hilfe!« rief sie ihm zu und klammerte sich verzweifelt mit beiden Händen an ihn, am ganzen Körper geschüttelt von Empörung und Widerstand, doch man schob sie gewaltsam beiseite.

»Leb wohl, ich danke dir!« klang Ernsts Stimme noch durch den Menschenhaufen zu ihr, dann verschwand er in dem Wagen, in dem auch Pastor Wegerich mit den Gerichtsbeamten Platz nahm. Man sah geballte Fauste in der Menge und hörte Flüche, die dem abrollenden Gefährt folgten, doch es gab auch viel Kopfschütteln und Zweifel. Die Besten und Anständigsten im Dorf erklärten, es sei ihnen unmöglich, an die Schuld des Inspektors zu glauben, es würde wohl nur der Schein gegen ihn sein. Und langsam, mit erregten Reden für und gegen ihn, verlief sich der Haufe in Gruppen vom Hof. Nettchen hatte wie versteinert der Kutsche nachgestarrt, bis sie im Hoftor verschwand, dann ging sie weinend in das Haus, unbekümmert um die Meinung der Menschen. Ein Haufe Küchen- und Stallmägde, die vor der Tür gestanden, ereiferten sich über sie, und eine rothaarige junge Dirne rief laut: »Ick würde mir ja schämen, aber's jibt so 'ne, die och noch 'n Mörder nachloofen!«

Claus führte unterdessen seine Braut in das nächste Zimmer, und nun forderte sie von ihm einen Bericht.

»Er hat also gestanden?« fragte sie, als sei dies eine selbstverständliche Voraussetzung.

»Er wird sich hüten,« entgegnete Claus spöttisch.

»Woher weiß man denn – –?«

»Weil er so gut wie überführt ist. Er hat den Trank gemischt und ihn Tante eingegeben, an dem sie so gräßlich starb. Man fand Arsen und Strychnin in ihrem Magen, also Rattengift, und er ist der einzige in ganz Schönermark, der es zur Verfügung hat. Die Haussuchung ergab, daß er eine größere Quantität davon auf seinem Zimmer hielt.«

Ediths große Augen, aus denen das Entsetzen nicht wich, starrten mit nachdenklichem Staunen auf ihren Verlobten.

»Sage mir, warum um Gottes willen, soll er Tante vergiftet haben, bei der er wie ein Sohn im Hause gewesen?«

»Das wird sich wahrscheinlich bei der Testamentseröffnung offenbaren. Habe ich nicht immer vor ihm gewarnt? Aber Tante und ihr alle bliebt taub dagegen. Das hat sich furchtbar gerächt. Mit ihm wurde Kultus getrieben, er hatte sich zum Herrn von Schönermark gemacht, und mich schob man an die zweite Stelle. Ich hatte ihn längst als Intriganten und Erbschleicher durchschaut – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, er ist der Sohn von einer Dirne und einem Säufer, denn an das Märchen von der Raminschen Vaterschaft glaube ich gar nicht. Was kann man von einem solchen Früchtchen anderes erwarten als Verbrechen?«

Edith saß regungslos und blickte wie in weite Ferne. Blaues Abenddämmern und Waldesduft waren plötzlich um sie, sie hörte eine Elster lachen und einen Häherschrei tief im Gehölz. Und auf ihren Lippen brannten sündig selige Küsse in wunderbar süßer Stund. Hatte nicht Claus recht? Auch die Braut wollte er ihm nehmen. Und mit der Braut wohl alle seine Rechte. Da es aber nicht glückte, ging er den Weg des Verbrechens, der über eine Leiche führte – aus Leidenschaft für sie. Und wie ein Kainsmal mußte sie als Mitschuldige die Küsse des Mörders auf ihren Lippen tragen!

Claus lief unruhig im Zimmer umher, von einem Fenster zum anderen, er beobachtete die Leute, die sich im Hof zerstreuten und teils noch in kleinen Gruppen zusammenstanden in lebhaften Gesprächen. Jeder Nerv an ihm zuckte und vibrierte bis zum körperlichen Schmerz.

»Er wollte die Schuld auf mich schieben,« fuhr er fort, »beim Verhör blieb er dabei, er habe die Medizin nach den Regeln der Vorschrift gemischt und mir die ordnungsmäßige, richtige Anweisung gegeben. Darauf hätte er mich eine halbe Stunde allein bei der Schlafenden lassen müssen, um eine notwendige Anordnung in der Wirtschaft zu treffen. Was unterdessen im Krankenzimmer geschehen sei, wisse er nicht. Bei seiner Rückkehr wäre ich ihm in einem merkwürdigen Zustand von Aufregung und Verwirrung entgegengelaufen, so daß er mich betroffen angesehen, doch als ich sagte, mir sei schlecht von der Krankenatmosphäre, habe er sich beruhigt. Er will dann Tante nach dem Erwachen ahnungslos den Trank gegeben haben und das Weitere wissen wir. Ich aber habe seine infame Verdächtigung entkräftet, indem ich darauf aufmerksam machte, daß seine Entfernung wohlüberlegte Berechnung gewesen, um mich in die Lage zu bringen, Tante das Gift einzugeben, das er gemischt, damit die Schuld auf mich fiele. Na, und da sich das Gift auf seinem Zimmer fand, war ja der Beweis klar erbracht.«

Edith erkundigte sich genauer, wie und wo man das Rattengift bei ihm gefunden, und dann bemerkte sie kopfschüttelnd:

»Das ist doch unglaublich, daß er es ruhig dort stehen ließ! Er mußte doch wissen, welcher Gefahr er sich aussetzte, es verriet ihn ja sofort.«

»Dieses Argument wandte er auch zu seiner Entlastung ein, doch meine Ansicht war, daß hier ebenfalls Absicht und Berechnung zugrunde lägen, und der Gerichtskommissar ließ sich nicht durch diesen Anschein von Harmlosigkeit bestechen.«

»Es ist doch alles noch sehr unklar und nichts bewiesen. Wenn ich scharf darüber nachdenke und mir alles ins Gedächtnis rufe, was vorher gewesen, kann ich nicht an seine Schuld glauben!«

»So? – – Und wer soll es gewesen sein? Bitte, bedenke, daß nur er und ich in Frage kommen. Du mußt dich entschließen, auf wessen Seite du dich stellen willst, denn höchstwahrscheinlich wirst du auch zur Zeugin berufen werden. Und eins will ich dir sagen: jetzt bin ich hier Herr im Hause, und diese kleine Kröte, die ihre Nase in alles steckt, die Nettchen Echtermann, kommt mir nicht mehr über die Schwelle! Ich bitte dringend, daß du dir solche Freundschaften abgewöhnst, sie hat hier, ebenso wie der Inspektor, eine ganz unpassende Rolle gespielt, und ist frech geworden.«

Edith hatte sich langsam aufgerichtet und ihren Verlobten groß angesehen mit jenem maßlos hochmütigen Blick, der ihn zu ihrem Sklaven gemacht.

»Allerdings, du bist hier Herr im Hause, doch wenn du glaubst, daß dies etwas an unserem Verhältnis ändert, dann irrst du dich. Ah – ich glaube, da kommt Mama – sie will mich holen.«

Ein Wagen war auf die Rampe gerasselt, und man hörte die Stimme Frau von Ramins. Edith eilte ihr entgegen, und es folgte ein bewegtes Wiedersehen. Nach einer Stunde fuhren beide Damen vom Hofe, nach Kerkow zurück. Claus war in dieser letzten Stunde wieder ganz zum ergebenen Sklaven seiner Braut geworden, der noch etwas mehr als üblich ihre Herrschaft zu fühlen bekam. Und ohne jede Rücksicht auf ihn, nahm sie sehr herzlichen Abschied von Nettchen und lud sie in seiner Gegenwart ein, am folgenden Tage zu ihr zu kommen.


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