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V.

Ein kupferfarbener Abendhimmel, dessen westlicher Horizont in loderndem Feuer brannte, stand über dem frühherbstlichen Berlin.

In einer Straßenbahn, auf der Linie Friedrichstraße-Chausseestraße, saß Nettchen Echtermann, etwas müde, abgespannt in sich zusammengesunken. Ihre schmale Gestalt in dem einfachen, grauen Arbeitskleidchen drückte sich in eine Fensterecke und wurde von niemand beachtet, während das Treiben vom Geschäftsschluß in wilden Wogen den Bahnwagen durchflutete, sich staute, und über sie hin lärmte und tobte. Sie achtete nicht auf das Gedränge um sie her, das sich oft zu einer lebenden Mauer verdichtete, sie hielt den Kopf gesenkt und ihre Augen träumten in die Ferne.

Heimat! Das Dorf im flachen Land stand vor ihrem entrückten Blick – das Elternhaus – der geliebte Garten, in dem es jetzt so herrlich nach reifenden Äpfeln und nach den großen, süßen Eierpflaumen roch! Heute abend läutete man vom Kirchturm den Sonntag ein – ach, solch ein Sonntag da draußen – wenn man weit hinauslief in die Felder und die Luft so frisch und herb von den Torfwiesen herüberwehte! Jetzt rüsteten die Schwalben zum Abschied, die Störche waren schon fort – ach, nur ein kleines Stündchen bei Muttern in der Kirche sitzen oder mit Vatern oben auf dem Orgelchor – morgen ist Erntedankfest – da spielt er so schön mit gezogenen Registern: »Nun danket alle Gott,« daß es durch die Kirche nur so braust und schüttert! – – Ob Ernst Starkeband noch täglich bei den Ramins ist? – – Ein glänzender brauner Haarschopf tanzt vor ihren Augen. Wie seidig und weich er sich anfühlte, damals, als sie ihn gestreichelt, im Feldgraben, unter dem einsamen Birnbaum.

»Ackerstraße!« ruft der Schaffner, und Nettchen fährt erschrocken aus ihren Träumen. Beinah hätte sie ihre Haltestelle versäumt!

Nun geht sie durch das Haustor einer der Mietskasernen an der Ecke der Invaliden- und Ackerstraße. Sie geht über den häßlichen, dunklen Hinterhof und steigt im Quergebäude vier endlos hohe Treppen hinauf. Hier duftet es nicht nach Feld, Wiesen und Garten – ein muffiger Kleineleutegeruch nach Staub, Gas, Küchendünsten und ungelüfteten Räumen schlägt ihr entgegen und versetzt ihr den Atem. Ganz oben, bei Frau Winkelmann hat sie ein Stübchen, sehr einfach und dürftig eingerichtet, aber da ist etwas Wundervolles, das ist der Ausblick vom Fenster, weit, weit über Dächer, Schornsteine und Türme in den westlichen Himmel. Und heut hat der ganze weite Horizont glutrot illuminiert, als gälte es eine große Feier.

Sie trat an das Fenster und versuchte sich an dem Blick in die Himmelsweite das Herz zu erheben, um die nagende Sehnsucht zu unterdrücken. Gewiß, die Welt war überall schön, es war ein Unrecht, die große Stadt nicht bewundern und schätzen zu können wie sie es tausendfach verdient. Leider wird es wohl bedeuten, daß sie ein minderwertiger Mensch ist, nicht fähig, das Große und die neue Zeit zu begreifen, wie Hugo immer sagte.

»Nun ja, solch eine Landpomeranze wie du bist,« pflegte er geringschätzig zu bemerken, wenn sie sich über die »neuen Ideen«, die er zum besten gab, entsetzte.

Seufzend trat sie vom Fenster zurück, nahm ihren Hut ab und wollte sich an das frugale Abendbrot machen, das ihr Frau Winkelmann auf den Tisch gestellt, ein paar Kartoffeln mit saurem Hering und ein Käsebrot. Der morgende Sonntag lag ihr gar so schwer auf der Seele. Es war wohl recht angenehm, einmal ausschlafen zu können, aber dann der lange einsame Tag ohne Arbeit, die ihr allein über das Heimweh hinweghalf. Und sie konnte sich nicht entschließen mit den »anderen«, den Kolleginnen Ausflüge zu machen. Sie hatten alle Begleiter, ihre Liebhaber oder angehende Verlobte, oder wenn sie keine hatten, sprachen sie von weiter nichts. Sie wurde bemitleidet, weil sie niemand hatte und auf diesem Gebiet so unerfahren war. Sie verstand oft gar nicht, was diese Mädels redeten. Und mit Winkelmanns nach Tegel oder Saatwinkel zu fahren, wozu man sie eingeladen, mochte sie auch nicht. Winkelmanns hatten vier Kinder, echte Berliner Rangen, und es gab bei solchen Gelegenheiten so viel Geplärr und Lärm, Knüffe und Püffe, und sie mußte der geplagten Mutter das Jüngste abnehmen, da blieb sie lieber zu Hause auf ihrem Dachgarten und las in ihren geliebten Büchern. Ja, ihr Dachgarten, das war das Schönste von ganz Berlin!

Durch ihr Fenster konnte sie bequem mit Hilfe eines Schemels auf ein angrenzendes flaches Dach steigen, sie hatte das an einem der einsamen, sehnsüchtigen Sonntage entdeckt, und es wurde eine Rettung für sie aus der tiefen Seelennot des Heimwehs. Niemand wußte davon, niemand hatte ihren Märchengarten je gesehen. Ganz heimlich hatte sie sich alles dazu zusammengeholt.

In dem Rechteck zwischen einem Schornstein und einer Mauer spannte sie Schnüre zu einem Laubendach, das sie mit Sackleinwand von zu Hause bezog, so daß es Schutz gegen die Sonne gab. In große Blumentöpfe pflanzte sie Kürbis und Feuerbohnen, die sich jetzt schon lustig zu dem Zeltdach emporrankten. Ein Liegestühlchen und eine umgestülpte Kiste mit einer Decke als Tisch bildeten die Einrichtung der Laube, um die herum blühende Kresse, Gelbveigelein, Stiefmütterchen und andere Blumen in Kisten mit Erde gefüllt lustig gediehen, denn Nettchen pflegte sie liebevoll und war eine erfahrene Gärtnerin. Auf der anderen Seite des Schornsteins stand ein Klappstühlchen, und hier hatte man den unbegrenzten Fernblick über das Häusermeer bis in unabsehbare Himmelsweiten.

Dieses selbstgeschaffene Stückchen Poesie in luftiger Höhe war Nettchens einziges Glück in der wesensfremden Stadt. Hier brachte sie ihre Feierstunden im Liegestuhl zu und verschlang die Bücher, billige Ausgaben der Klassiker, die sie sich von ersparten Groschen gekauft oder nach und nach zu Hause hatte schenken lassen. Nächst ihrem schwebenden Garten bildete diese kleine Bibliothek ihren größten Schatz, denn sie besaß einen heißen Bildungsdrang und Hunger nach Geistesnahrung. Doch heute versagte auch diese Freude auf den sonntäglichen Genuß. Die Einsamkeit beschattete sie mit dunklem Fittich und sah sie mit leeren Augen an.

Plötzlich – horch! – ein schneller Schritt draußen auf der Treppe – es klingelte an der Wohnungstür – man fragte nach Fräulein Echtermann – eine Stimme fragte, eine Stimme, die seltsam bekannt klang – und jetzt ein starkes Klopfen an ihrer Tür – sie stand wie erstarrt – die Tür flog auf und über ihre Schwelle trat Ernst Starkeband.

»Hallo, Nettchen, da bin ich!«

»Ernst!« Sie flog ihm entgegen, Lachend und jubelnd schüttelten sie sich die Hände. Die Freudentränen stürzten ihr aus den Augen, die Überraschung war zu wunderbar.

»Aber Nettchen, du wirst doch nicht!« Er wischte ihr die Tränen aus den Augen. »Warum weinst du denn? Bin ich denn solch ein Ekel, daß du heulst, wenn ich dich besuche?«

»Ach, Erni, ich war so allein und – ich – ich hatte Heimweh – und nun kommst du!«

»Na, da kam ich ja gerade zur rechten Zeit. Und nun lach' mal gleich wieder, das ist viel netter.«

»Bleibst du auch ein bißchen bei mir?«

»Den ganzen Abend, wenn du willst. Und morgen machen wir uns einen vergnügten Sonntag.«

Jetzt lachte und jubelte Nettchen aus vollem Herzen. Aber sie wollte doch wissen wie, wo und warum? Wie er so unverhofft daherein geschneit kam? Als er jedoch erzählen wollte, rief sie in glückseliger Aufregung: »Nein, nein, wart' ein bißchen, wir wollen gleich Abendbrot essen, dabei schwatzt es sich am besten!« Und sie lief hinaus und verhandelte mit Frau Winkelmann in der Küche, worauf diese nach kurzer Zeit ein üppiges Mahl, bestehend aus Rührei mit Schinken und zwei Flaschen Bier dazu, hereinbrachte. Nettchen stellte auch einen blühenden Blumentopf auf den Tisch, und nun wurde vergnügt getafelt. Sie bediente und umsorgte ihren Gast in einer lieben, mütterlichen Weise, sie wußte gar nicht, was sie ihm Liebes genug antun konnte.

Dabei schüttete Ernst sein volles Herz aus.

»Ja, weißt du, Nettchen, das war ja alles ganz herrlich in Schönermark, besser konnte es mir gar nicht gehen. Im Gegenteil, es ging mir eben zu gut. Leichte Arbeit, viel Vergnügen mit den Ramins, gute Kameradschaft mit Horst, die nie versagte, und Fräulein von Dahlwitz himmlisch gut gegen mich. Man lebte so hin, als müsse es immer Sommer sein und Rosenzeit, als gäbe es auf der Welt nichts anderes als jung und froh sein. Bis ich eines Tages aufwachte wie aus einem schönen Traum. Ich traf an den Grenzen unserer Feldmark den Administrator Feldner von Berne. Der lachte und sagte: ›Hören Sie mal, junger Mann, Sie schlafen wohl alle in Schönermark bis morgens um achte? Das kann ja einen kranken Hund jammern, was Sie aus dem schönen Gut machen! Geben Sie mir die Wirtschaft zwei Jahre und ich ziehe das Zehnfache aus dem Boden.‹

Ich bekam einen roten Kopf und erwiderte: ›Dafür bin ich nicht verantwortlich, ich bin Lehrling bei Inspektor Bonges.‹

Feldner klopfte mich auf die Schulter. ›Lieber Junge, ich könnte den Jahren nach Ihr Vater sein, darum lassen Sie sich sagen: jeder Mensch ist verantwortlich für sich und seine Arbeit. Da gibt es keine Entschuldigung. Wenn man nicht imstande ist, gute Arbeit von schlechter zu unterscheiden, dann taugt man nichts. Haben Sie denn keine Augen, den Unterschied zwischen unserer Bestellung zu sehen und der Ihren? Wissen Sie heute noch nicht, daß der alte Bonges ein rückständiger Bauer ist, von dem Sie niemals lernen können, was ein tüchtiger, moderner Landwirt braucht?‹

Ich stand wie begossen, und plötzlich kam mir die Offenbarung, daß ich es längst gewußt, daß die innere Stimme, die stets die Wahrheit weiß und sagt, mir dasselbe zugeflüstert, ich hatte es nur als lästig und unbequem unterdrückt und nicht darauf hören wollen, weil ich mich so himmlisch wohl fühlte in dem lustigen Schlendrian.

›Schade um Sie,‹ bemerkte Feldner noch, ›wenn ich Sie einige Jahre unter der Fuchtel hätte, könnte noch was Ordentliches aus Ihnen werden, wenn Sie auch stark verbummelt sind. Ich wollte Sie schon auf die Sprünge bringen. Vor allen Dingen müßten Sie mal die Hochschule und ein gutes Polytechnikum besuchen, sonst haben Sie keine Ansprüche auf eine bessere Karriere. Ihr Herr Pflegevater, Pastor Wegerich, würde sicher nichts dagegen haben, wenn Sie ihm die Sache richtig vorstellten. Ja, ja, Initiative muß auch der junge Mensch haben und immer nach dem Höchsten streben, sonst bleibt er ein Stümper und kommt nie aus der Mittelmäßigkeit heraus.‹

Das ging mir nun mächtig durch den Kopf, ich hatte eine schlaflose Nacht und hielt Abrechnung mit mir. Zuerst wollte ich mir einreden, Feldner übertreibe. Bonges, sagte mal der Berner Administrator, sei ein Großmaul, der immer alles besser wisse als andere. Doch die unerbittliche innere Stimme, die in solch fatalen Nächten der Auseinandersetzungen mit sich selbst so laut wird, daß sie alles übertönt, schrie mir förmlich zu: der Feldner hat recht! Und du sollst dich schämen, daß er es dir erst sagen mußte, daß du dich durch das angenehme Bummelleben einschläfern ließest und die Hauptsache vergaßest, nämlich, deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, etwas Tüchtiges und Rechtes zu lernen.

›Wer sich von Jugend an nicht allein helfen kann, gehört zum großen Haufen der Überflüssigen. Man darf nicht darauf warten, daß einem die Wege gewiesen werden, man muß sie selbst finden,‹ hatte Feldner noch gesagt.

Am folgenden Morgen war ich so mürbe und zerknirscht von all den harten Wahrheiten der inneren Stimme, daß ich nicht anders konnte, als den Entschluß fassen, alles aufzugeben und alles zu verlassen, was mir jetzt so lieb geworden und mich beglückte, um den rauhen Weg der höheren Pflicht gegen mich selbst zu gehen. Ich begab mich also zu Onkel Martin und berichtete ihm alles.

Zu meiner Überraschung hatte er das alles schon selbst gedacht.

›Lieber Junge,‹ erwiderte er mir, ›es ist mir ungeheuer lieb, daß du von selbst mit dieser Forderung zu mir kommst. Ich war schon sehr besorgt um dich. Mir schien, daß du dich zu sehr zerstreuen und über den Ernst des Lebens hinwegtäuschen ließest. Und wenn mir auch einerseits dein intimer Verkehr mit den Ramins lieb war, weil es nützlich ist und jedem gut tut, die bessere Lebensart und ein feines Benehmen zu lernen, so lag doch andererseits eine große Gefahr für dich in diesem Herrenleben. Es verlockt leicht zu Gewohnheiten und Ansprüchen, zu denen du nicht berechtigt bist, und nachher kommen die Enttäuschungen. Ich hätte vielleicht schon eher eingegriffen, wenn nicht die Rücksicht auf meine gute Freundin und deine Gönnerin, Fräulein von Dahlwitz, mich zurückgehalten hätte, die dich wohl ungern entbehrt. Aber ich sehe jetzt ein, daß Wichtigeres auf dem Spiel steht, wir dürfen dich und deine Zukunft niemand zuliebe opfern.‹

Siehst du, Nettchen, auf diese Weise bin ich fort von Schönermark und hierher gekommen. Ich besuche hier die landwirtschaftliche Hochschule in der Invalidenstraße und studiere zugleich einige einschlägige Fächer im Polytechnikum. Arbeiten will ich wie ein Pferd, und in meinen wenigen Freistunden hoffe ich, mich manchmal bei dir und mit dir erholen zu können. Heimweh nach Schönermarker Luft und Erde und noch einigen guten Dingen habe ich wie ein Sextaner, und so können wir uns zusammen trösten.«

Das war fast zu viel Glück für das bescheidene Nettchen. Der Abend verging wie ein schöner Traum.

»Wie ich mich freue, Erni, daß du den einzig richtigen Weg gegangen bist! Paß auf, es wird sich belohnen und du wirst Großes erreichen,« sagte sie mit strahlenden Augen und mit jener echt weiblichen Bewunderung, die im Manne so gern den Helden sieht. Hochbeglückend für sie war Ernsts Freude an ihrem Dachgarten. Sie kletterten beide nach dem Abendessen hinaus, und Ernst war begeistert für ihre kleine Schöpfung. Er zeigte sich ganz überwältigt von dem Ausblick über das Häusermeer bis in die Himmelsweiten, der im goldnen Rauch und Dunst des abendlichen Sonnenuntergangs stand.

Sie saßen beide unter dem Schornstein, verstummt in Andacht vor der Schönheit der Welt, die sich ihnen hier auf dem rußigen, staubigen Dach, dem Reich der Katzen und Fledermäuse, offenbarte.

Unter ihnen die Stadt mit dem dumpf pochenden Herzschlag, dem brausenden Lebensstrom ihrer großen, heißen Seele, verklärt zu der goldenen Stadt des Märchens im Zauberschimmer der Abendglut – und über ihnen, bis weit, weit in uferlose Fernen das große Schweigen der Ewigkeit, das Geheimnis des Alls.

Und dort, wo kleine Wölkchen wie blitzende Kähne im Lichtmeer schwammen, suchten sie die Heimat. »Dort liegt unser Dorf!« sagte Nettchen, »mir ist immer, als sähe ich den kleinen spitzen Kirchturm!«

Und wie zwei in einsamer Wüste verirrte Kinder suchten sie mit sehnsüchtigen Augen das Heimatdorf.

Ganz wundervoll war der Sonntag, der auf diesen Abend folgte.

Sie fuhren mit der Bahn nach Potsdam, um in den prächtigen Gärten spazieren zu gehen. Nettchen hatte ein weißes Kleidchen angezogen und einen Schäferhut mit Feldblumenkranz aufgesetzt, denn es war sommerlich warm. Ihre Wangen glühten heute vor innerer Freude und ihre Augen strahlten. Ernst sah sie angenehm überrascht an und bemerkte:

»Du hast dich aber fein herausgemacht, Nettchen, du bist wahrhaftig ordentlich hübsch geworden.«

Oh, es war himmlisch, so zu zweien hinauszufahren in die lachende Sonntagswelt, die im brennenden Farbenschmuck zwischen Hochsommer und Frühherbst stand. Sie liefen sich müde in den Zaubergärten mit den göttlichen Marmorbildern und springenden Wassern, und weiter hinaus bis an einen Waldsee, wo sie im Ufersand lagen und ihre Eßvorräte auspackten, hartgekochte Eier und Butterbrote, ja sogar Kaffee hatte Nettchen in einer Flasche wohlverwahrt mitgenommen und Kuchen dazu. Wie ein kleines Mütterchen sorgte sie für ihren großen Jungen. Nach beendeter Mahlzeit rollte sie ihm ein Tuch zum Kopfkissen, auf dem er einen herrlichen Mittagsschlaf hielt, den sie schützend bewachte, indem sie jeder Fliege und jedem Käferlein wehrte, ihn zu stören. Sie selbst konnte nicht schlafen vor Glück. Es war zu wonnig hier am Rande des leise sausenden, raunenden Fichtenwaldes, beim rhythmisch klatschenden Wellenschlag des Sees mit den frischen Wasserbrisen zu sitzen, neben sich die hingestreckte Gestalt des Freundes, sorglos schlafend wie ein Kind, das die Mutter behütet. Zärtlich betrachtete sie den glänzend braunen Haarschopf, der über seine Stirn fiel. Mit ihren sechzehn unreifen Jahren verlangte sie nach keinem anderen Glück als nur neben ihm sein und für ihn sorgen zu dürfen. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß er etwas anderes für sie empfinden möchte als herzliche Freundschaft, es kränkte sie nicht, daß er sie mit Bruderaugen ansah. Und nun sie ihn wieder so ganz für sich hatte, war die kleine, schmerzliche Eifersucht auf Edith, die Herrentochter, vergessen. Sie ahnte kaum, aus welchem Urquell die tiefe, zärtliche Liebe, die sie für ihn im Herzen trug, stammte.

Später, als sie nach dem Potsdamer Bahnhof zurückgingen, hatten sie in der Stadt eine Begegnung. Eine elegante, ältere Dame kam daher in Begleitung eines jungen Mannes. Plötzlich blieb der Herr, den sie nicht beachtet hatten, stehen und grüßte, es war Claus von Dahlwitz mit seiner Mutter.

»Das ist ja der Starkeband mit der kleinen Küstertochter aus Schönermark,« hatte Claus der Generalin zugeflüstert, und nun interessierte sie sich auch für das Paar und begrüßte sie ebenfalls. Beide gingen ein Stückchen mit ihnen, was Nettchen in große Schüchternheit und Verlegenheit versetzte, denn Frau von Dahlwitz war nur große Dame und hatte so gar nichts Ermutigendes, im Gegenteil, sie zeigte sich beängstigend von oben herab.

»Kommen Sie aus Schönermark? Was machen Sie hier?« fragte Claus.

»Was macht meine verehrte Schwägerin, wie geht es dem gnädigen Fräulein,« fiel die Mutter ein.

Ernst erzählte mit kurzen Worten von seiner Übersiedlung nach Berlin, er erregte damit Verwunderung und lebhaftes Interesse. Sein täglicher Verkehr im Raminschen Hause war seiner Haltung und seinem Benehmen sehr zugute gekommen, eine natürliche Veranlagung für Takt und Selbstgefühl kam ihm zu Hilfe, so daß er ein zwangloses, sicheres Auftreten, frei von Ungeschick oder Befangenheit, zeigte.

»Oh, wie wird denn die teure Tante ohne Sie fertig? Das kann ich mir gar nicht vorstellen?« bemerkte Claus ironisch.

»Fräulein von Dahlwitz war ganz mit meinem Entschluß einverstanden. Ich werde ihr später mit einer höheren und zeitgemäßen Ausbildung von wirklichem Nutzen sein können, was jetzt durchaus nicht der Fall war,« entgegnete Ernst kühl.

»Soviel ich weiß, kommt Horst von Ramin für das Wintersemester auch nach Berlin, ebenso wie ich. Da können wir uns ja einen fidelen Abend für die vereinigten Kerkow-Schönermarker einrichten,« sagte Claus beim Abschied, und er ließ sich Ernsts Adresse geben.

Die Generalin war nach dieser Begegnung ganz aufgeregt.

»Claus, dieser junge Mensch bedeutet eine Gefahr für dich,« rief sie tief verstimmt. »Er hat einen Charme und ein Auftreten, als fühle er sich jetzt schon nicht als Inspektor, sondern als künftiger Herr von Schönermark! Da kannst du dich in acht nehmen, der wird die alte Jungfer noch ganz verrückt machen.«

»Ach, Unsinn,« entgegnete Claus unwirsch und respektlos, »er ist doch kein Dahlwitz. Tante Claudine ist letzten Endes immer die waschechte Aristokratin und hat Familienstolz im allerhöchsten Sinn.«

Frau von Dahlwitz schüttelte besorgt den Kopf.

»Gegen altjüngferliche Schwäche ist auch Familienstolz kein Schutzmittel. Du kennst ja das Gerede über seine Herkunft, und mir scheint doch, daß sie ein mehr als gewöhnliches Interesse an ihm nimmt. Schönermark ist kein Familienmajorat, sie kann ebensogut ihn zum Erben einsetzen wie dich. Ich traue ihr alles zu. Diese höhere Ausbildung, die er genießen soll, kommt mir verdächtig vor, als wäre auch ein höherer Zweck damit verbunden als die Inspektorlaufbahn.«

Jetzt wurde Claus grob. Sie solle nicht den Teufel an die Wand malen, was nutze denn das Geklöne? Er habe sich schon genug geärgert über die Anmaßung von dem Kutschersohn, der mit der Miene der Gleichberechtigung aufträte. Aber man müsse den Menschen im Auge behalten, darum wolle er auch im Winter ab und zu das Opfer bringen, mit ihm zusammen zu sein.

»Was bedeutet denn diese kleine Poussade, die er da bei sich hat? Ist das sein Verhältnis?« fragte die Mutter, die es gewohnt war, von ihrem Sohn angeschrien zu werden.

Claus zuckte die Achseln. »Möglich. Solche dörfliche Instinkte wird er sich hier in Berlin wohl bald abgewöhnen. Übrigens ist solch ein Gänseblümchen auch nicht ohne. Ich werde mir die Kleine mal näher besehen.«

Unterdessen fuhren die Besprochenen seelenvergnügt nach Berlin zurück und verabredeten das nächste Zusammensein.


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