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XIX.

Am folgenden Tage nach ihrer Heimkehr lag Edith in ihrem Kerkower Stübchen mit einem Buch auf dem Diwan und erwartete Nettchen wegen Herstellung einer Trauertoilette.

Das Zimmer glich dem typischen Idyll der vornehmen Jungedamenklause – viel Bilder, viel Bücher, viel Blumen – alles mit verfeinertem Geschmack geordnet. Ganz Behaglichkeit und Poesie ohne Üppigkeit. Auf dem zierlichen Schreibtisch, der wie üblich, mehr ein Dekorationsstück als eine Schreibgelegenheit abgab, eine große Photographie von Claus in einem pompösen Rahmen. Ediths Hand hatte das Buch sinken lassen; in ihren Augen, die ins Leere starrten, brannten Seelenqual und Seelenkampf. Doch dieser Verrat ihrer heimlichsten Gefühle wandelte sich sofort in die konventionelle Maske der Selbstdisziplin, als die Zofe eintrat und meldete, Fräulein Echtermann sei da und wolle ihre Aufwartung machen.

Und dann stand Nettchen vor ihr, hohlwangig, bleich, ein Bild des Jammers, und doch stark mit einer fordernden Kraft, die sie wie ein Anprall erschütterte.

»Nettchen, wie sehen Sie aus! Setzen Sie sich – armes Kind –« rief sie ihr mit echter Teilnahme entgegen. Zu gleicher Zeit wappnete sich der Selbsterhaltungstrieb in ihr zum Kampf, den sie kommen fühlte.

Nettchen blieb aufrecht stehen und mit gerungenen Händen flehte sie:

»Fräulein Edith, um Gottes Barmherzigkeit willen, helfen Sie, helfen Sie ihn retten! Ich kann ja so wenig tun, und meine Aussage wird für parteiisch und voreingenommen gelten, aber von Ihnen glaubt das kein Mensch! Und wenn Sie mit voller Überzeugung die Wahrheit sagen und für ihn eintreten, wird es Eindruck machen! Sie kennen ihn ja ebenso lange wie ich und ebenso gut, Sie wissen ganz genau, daß er ein ehrlicher, lieber Mensch ist, der niemand je absichtlich weh getan, und der Fräulein von Dahlwitz wie eine Mutter liebte und verehrte – – Sie müssen ebensogut wie ich wissen, daß dieser Mordverdacht ein fürchterlicher Irrtum ist und nur möglich wurde durch tückischen Zufall oder ein von anderer Seite geplantes Verbrechen – – Sie wissen – –«

Edith erhob sich jäh, sie machte eine abwehrende Bewegung, ihr Gesicht flammte vor Erregung.

»Ich? – ich weiß gar nichts! Wir stehen alle vor einem Rätsel. Ich habe geschlafen, und als ich erwachte, war das Unglück geschehen. Was helfen alle Gegenbeweise, wo Tatsachen vorliegen? Hier können nur Tatsachen entscheiden.«

»Um Gottes willen, auch Tatsachen können trügen, wenn man die Ursachen und den Zusammenhang nicht durchschaut!«

»Ich bin kein Untersuchungsrichter und muß mich jeden Urteils enthalten. Zweifellos wird sich die Wahrheit feststellen lassen, und dagegen gibt es kein Auflehnen.«

»Fräulein Edith, der Schein ist ja gegen ihn! Das ist das Fürchterliche. Er hat den Trank gemischt, er hat ihn der unglücklichen Kranken eingegeben, und er allein im ganzen Ort ist im Besitz des entsetzlichen Giftes. Aber gerade weil das Verbrechen so handgreiflich scheint, kann man es nicht für möglich halten, daß er es begangen haben sollte. Er mußte ja wissen, daß er sich von vornherein als Täter bloßstellt.«

Edith zuckte die Achseln.

»Ich weiß keine Antwort darauf. Niemand außer ihm hat das Zimmer betreten, nachdem Claus Tante schlafend verließ. Niemand als er hat Gift zur Verfügung gehabt.«

»Aber das Gift stand offen in seinem Zimmer. Ein anderer kann davon genommen haben.«

»Ein anderer? Es kämen nur die Schwester und Claus in Verdacht. Sie müssen doch einsehen, daß es unmöglich ist, einen von diesen beiden zu beschuldigen.«

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, Fräulein Edith, ich muß Ihnen etwas erzählen – ich muß sprechen – – schweigen wäre eine Sünde.«

Nettchen atmete tief, sie stand mit ineinandergerungenen Händen, totenbleich vor Edith, die großen, wahrhaftigen Augen fest auf sie gerichtet.

»Ich war auf Ernsts Hilferufe die erste zur Stelle bei der Sterbenden, dann kam Fräulein von Brenner gelaufen, und als sie sah, was geschehen, schrie sie nach einem Brechmittel. Noch niemand im ganzen Hause wußte von dem Unglück, als ich die Treppe hinaufflog, um die kleine Hausapotheke zu holen. Plötzlich stürzte Herr von Dahlwitz oben aus den Zimmern seiner Tante, die doch außer Hörweite ihrer Krankenstube liegen. Auf der Treppe kam er mir in einem Zustand sinnloser Aufregung entgegen, er mußte sich am Geländer halten, um nicht zusammenzubrechen. In meiner Todesangst schrie ich um Hilfe nach der kleinen Apotheke, aber er stieß nach mir, als wolle ich ihm etwas antun und brüllte mich an: ›Ich habe es nicht getan – Nichts weiß ich – der Inspektor tat es – das Gift ist von ihm – –‹ Diese Worte sind mir noch deutlich im Gedächtnis. Nun bitte ich Sie, Fräulein Edith, woher wußte er, was geschehen? Wie kam er dazu, sich zu verteidigen, als hätte ich ihn beschuldigt und Ernst anzuklagen?«

Edith starrte entgeistert auf Nettchen, für eine Sekunde malte sich ein tödliches Erschrecken in ihrem Gesicht. Doch sie faßte sich schnell.

»Liebes Fräulein Nettchen, Sie müssen zugeben, daß Sie in jenem Augenblick unzurechnungsfähig waren. Auch nehme ich es Ihnen gar nicht übel, wenn Sie Ernst Starkeband zuliebe etwas übertreiben. Claus ist allerdings sehr nervös und Ihr Geschrei wird ihn aus der Fassung gebracht haben. Natürlich haben Sie von der Vergiftung gesprochen und wahrscheinlich in dem Sinne, als hätte er ein Versehen gemacht. Darauf war die Antwort: ›Ich tat es nicht, der Inspektor muß es getan haben,‹ ganz korrekt. Haben Sie diese Begegnung zu Protokoll gegeben?«

»Nein,« sagte Nettchen tonlos, »ich dachte in der ersten entsetzlichen Aufregung gar nicht darüber nach, es fiel mir alles erst wieder später ein. Ich erzählte es Herrn Pastor Wegerich, und er riet mir, die ganze Szene wahrheitsgetreu beim nächsten Termin, zu dem ich als Zeugin geladen bin, zu Protokoll zu geben.«

»Nehmen Sie sich in acht, daß Sie streng bei der Wahrheit bleiben – man muß jedes Wort beschwören. Es ist ja verständlich, daß Pastor Wegerich Ihre ungeheuerlichen Verdächtigungen befürwortet, um seinen Pflegesohn zu entlasten, doch Sie haben ganz recht, wenn Sie sagen, daß man Sie nicht für unparteiisch nehmen wird.«

Die Blicke der beiden jungen Mädchen trafen sich hart, sie waren plötzlich zu Gegnerinnen geworden. Ein furchtbares Geheimnis stand drohend zwischen ihnen. Eine letzte Hoffnung Nettchens brach zusammen. Sie hatte Edith wie ein höheres Wesen geliebt und verehrt, es schien selbstverständlich, daß diese Vertreterin vornehmer Gesinnung nichts anderes erstreben konnte und wollte als Wahrheit und Gerechtigkeit – statt dessen stand sie plötzlich auf dem niedrigen Niveau persönlichen Interesses, und noch dazu materiellen Interesses. Es war der Erbe von Schönermark, den sie verteidigte, der sie zur Herrin machen wollte.

Nettchens Gestalt straffte sich, die Verzweiflung machte sie stark.

»Ich werde die Wahrheit sagen, Gott helfe mir!« entgegnete sie kurz und fest.

In diesem Augenblick klang Rädergerassel herauf.

»Herr von Dahlwitz kommt, bitte, wir müssen unsere Konferenz verschieben,« bemerkte Edith, und Nettchen zog sich schleunigst zurück.

Der hochräderige Kutschierwagen von Claus flog eben im schneidigen Bogen auf die Rampe. Edith trat beobachtend an das Fenster. Ja, es war alles tadellos: das Fuhrwerk, der Herr und der Groom, wie aus einem Guß. Claus sah zwar auffallend klapprig aus, doch jeder Zoll an ihm, jede Bewegung und sein ganzes Auftreten war der Typ des großen Herrn, so wie sie ihn bevorzugte. Den gräßlichen Verdacht, den ihr diese kleine Schneiderin eben ins Gesicht geschleudert, stieß sie von sich wie ein grauenvolles Tier, das an ihre Kehle springen und ihr die Lebensluft nehmen wollte. Es durfte nicht sein, nein, es war unmöglich! – – Der Verzicht, den sie geleistet auf Herzensglück, konnte nicht so fürchterlich zuschanden werden! Einen Inspektor – einen Kutschersohn lieben und heiraten – und daneben die hochmütige Adrienne mit dem mokanten Lächeln Herrin von Kerkow? – – nein, nein, dreimal unmöglich! Doch für diesen Verzicht mußte sie Herrin auf Schönermark werden, und es war eine beispiellose Frechheit von Nettchen, sich ihr in den Weg zu stellen mit dem Ansinnen, für den Inspektor einzutreten und damit Claus zu verdächtigen. Claus behielt recht, sie hatte nicht die nötige Distanz gewahrt mit diesen untergeordneten Leuten, jetzt machte sich das in unangenehmer Weise fühlbar.

Sie ging ihrem Verlobten entgegen und begrüßte ihn freundlich; um einige Grade herzlicher als sonst. Er war hochbeglückt durch diese Gnade.

Sein Ziel war nun erreicht, er durfte sich unumschränkter Herr auf dem schönen Familiengut nennen, doch dieses Glück erwies sich als sehr zweifelhaft.

Bis über die Beisetzung hinaus hatte er das Haus voll Familienbesuch und kam vor Repräsentationspflichten und Geschäften nicht zur Besinnung. Die Leichenfeier bedeutete eine fürchterliche Belastung seiner Nerven und Anforderung an seine Widerstandskraft, die er nur mit immer höher potenzierten Dosen Morphium erzwingen konnte. Die Bestattung in der Familiengruft fand unter ungeheurer Beteiligung und Anteilnahme statt.

Noch schlimmer empfand er die darauf folgende Leere im Hause, denn auch seine Mutter reiste wieder ab, weil sie das Landleben in der schlechten Jahreszeit nicht erträglich finden wollte. Er bat sie auch nicht, zu bleiben, das Verhältnis zwischen ihnen, das nie erfreulich gewesen, wurde durch die großen pekuniären Anforderungen, die sie jetzt an ihn stellte, nicht verbessert. Voll Zorn hatte er nach der Testamentseröffnung behauptet, er sei ein armer Mann, ein Enterbter. Seine Tante hinterließ ihm nur die Hälfte ihres Barvermögens, die andere Hälfte war in Legaten ausgesetzt. Ernst Starkeband erhielt ein kleines Kapital, das ihn selbständig machte, ihm die Übernahme einer Pachtung oder eines Gutsankaufs ermöglichte. Die übrigen Summen waren unter die alte, treue Dienerschaft verteilt. Claus war entschlossen, das Legat für Ernst Starkeband anzufechten, was Erfolg versprach, wenn der Angeklagte als Mörder verurteilt wurde.

Auch mit Irma Erdödy mußte der Kampf ausgefochten werden. Sobald sie den Tod der Erbtante erfuhr, steigerte sie unter den üblichen Drohungen ihre Forderung auf eine Abfindungssumme von fünfzigtausend Mark. Diese Erpressung reizte ihn zur Wut, besonders in dem Gedanken, es möchte ein männlicher Erpresser dahinter stehen. Und da jetzt keine Tante und keine Enterbung mehr zu fürchten waren, beschloß er, der »Blutsaugerin« die Stirn zu bieten und sie ein für alle Male abzutun. Er schrieb ihr kurz und bündig, daß seine Erbhoffnungen getäuscht seien und drohte bei jedem weiteren Versuch, ihn zu belästigen, mit der Polizei.

Den Antritt seiner Herrschaft in Schönermark begann er damit, daß er der Mehrzahl der alten Angestellten zum nächsten Termin kündigte, aus dem heimlichen, krankhaften Mißtrauen, sie könnten ihn verdächtigen, denn er wußte, daß sich Ernst Starkeband warmer Sympathien von ihrer Seite erfreute. »Es mußte reine Luft werden,« wie er sagte, »er könne nicht mit den alten Heuchlern und Intriganten wirtschaften.«

Am Tage rettete er sich vor der entsetzlichen Öde seines Trauerhauses nach Kerkow hinüber, wo ihn die Vorbereitungen zu seiner Hochzeit in bessere Stimmung versetzten. Edith hatte ihre Zusage zu einer stillen Trauung gegeben, um sofort mit ihm nach dem Süden abreisen zu können, wozu der Arzt dringend riet, da seine Nerven bedenklich erschüttert schienen. Edith selbst besaß eine gesunde Konstitution, doch auch sie spürte die schweren seelischen Erregungen der letzten Zeit und vor allem trug Claus dazu bei, sie zu peinigen durch seine krankhafte Gereiztheit.


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