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Zwanzigstes Kapitel

Die Tage des Winters waren schnell vorübergegangen und lieblich waren die meisten gewesen. Jetzt war der März da. Von der sonnigen Terrasse schaute Dori auf den Garten hinunter, wo die goldenen Primeln und die blauen Augen des Immergrün wie Edelsteine in der Sonne funkelten. Giacomo stand an der Rosenhecke und schnitt voller Eifer die grünenden Zweige zurecht. Nicht umsonst hatte er ein Jahr lang mit unausgesetztem Fleiß und nie ermattender Aufmerksamkeit in der großen Gärtnerei gearbeitet, jetzt kannte er seine Arbeit. Zwei Triebfedern hatten ihn das Jahr hindurch in Tätigkeit erhalten: der Gedanke, alles für Dori zu tun, und die Hoffnung, einmal die Pflege ihres Gartens ganz allein übernehmen zu können. Diese Hoffnung war schon in Erfüllung gegangen, und welch ein Glück jetzt Giacomos Herz erfüllte, das konnte man in seinen strahlenden Augen lesen. Seine Anstellung beim Gärtnermeister hatte er beibehalten, denn der Gärtner hatte ihm bewiesen, daß noch vieles für ihn zu erlernen sei; er wollte auch den tüchtigen Burschen gern bei sich behalten. Nun sollte er aber nicht mehr umsonst arbeiten, und die Zeit, die er zur Bearbeitung von Doris Garten brauchte, sollte er auch frei haben.

Eben kam Marietta mit dem Wagen angefahren, in dem mit vergnügtem Lächeln und rosig angehauchten Wangen der kleine Willi saß und nun mit solch raschen Bewegungen Dori zu sich herwinkte, daß man sehen konnte, in die schlaffen Glieder war ein neues Leben eingedrungen.

»Ja, ich komme«, rief Dori hinunter. »Holt noch die Großmutter drüben, wir wollen einen Gang zusammen machen.«

Dorothea, der ein Ausdruck sonnigen Glückes auf dem Gesichte lag, saß wieder mit ihrer Arbeit auf der Terrasse und wieder, wie vor Jahren, fielen die Sonnenstrahlen durch das junge Weinlaub auf den Steinboden und spielten darauf mit den Schatten der Blätter. Sie wußte nicht, warum Dori auch sie zum Aufbrechen anrief, warum sollte sie denn ihren schönen Sitz verlassen, es konnte ja nirgends schöner sein. Ihr war, als müßte sie sich jede Stunde aufs neue freuen, die sie wieder in den alten Räumen unter dem sonnigen Himmel zubringen konnte. Aber sie mußte Doris Drängen nachgeben, sie sollte teil an dem Gange nehmen, den Dori für den Abend ausgesonnen hatte.

Als alle sich versammelt hatten, zog die Gesellschaft aus, der Wagen mit Willi voran, diesmal von Giacomo gezogen, was nötig war, denn der von Dori angeordnete Weg den Berg hinunter war eine ziemlich gewagte Wagenfahrt. Beim alten Turm angekommen, öffnete Dori das Pförtchen am Wege, nahm die alte Maja bei der Hand und trat mit ihr ein. An der vorderen Seite des Turmes, wo die Abendsonne auf die sprossenden Weinranken schien, stand Dori still: »So Maja, das ist das Plätzchen, wo ich bei dir saß, als das Äckerchen dein war, jetzt gehört es dir wieder, aber nicht nur mietweise, nun ist es dein Eigentum. Das Geld dazu hat mir der gute Herr von Aschen gegeben, der einmal in Pallanza war und den ich wiedergefunden hatte. Giacomo kann dir's bebauen helfen, einmal geht es dann auf ihn über, er soll nicht umsonst so eifrig den Gärtnerberuf erlernt haben«, setzte Dori hinzu, den staunenden Giacomo herbeiziehend.

Die Alte stand sprachlos da. Dorothea schaute in größter Verwunderung einmal Dori, einmal die alte Maja an, sie hatte kein Wort von Doris Unternehmen gewußt. Endlich nickte sie der Nachbarin versichernd zu, denn daß Dori keinen Spaß machen wollte, verstand sie wohl. Jetzt brach die alte Maja in eine Freude aus, wie man sie niemals bei ihr gesehen hatte. Sie schlug die Hände zusammen, umarmte Dori einmal ums andere, lief dahin und dorthin, im ganzen Äckerchen umher, jede Staude, jedes Grasbüschel mußte sie einzeln betrachten und begrüßen, als wären sie lauter lang verlorene Freunde, die sie wiedergefunden hatte. Dann kam sie wieder zu Dori zurück. Noch einmal mußte sie sich ihres Glückes versichern: »Ist es auch kein Traum, bist du auch sicher, Dori, daß so etwas möglich ist, daß das Äckerchen mein Eigentum sein kann?«

»Ja Maja, ganz sicher ist es«, bezeugte Dori, »so sicher, daß du gleich deinen Boden zu bearbeiten anfangen kannst, kein Mensch hat etwas dagegen einzuwenden.«

Das ließ sich Maja nicht zweimal sagen. In einer Ecke, wo sie ihr wohlgeordnetes Zwiebelbeet gepflegt hatte, stand ja das Unkraut in hellen Haufen. Sie ging unverzüglich ans Ausrupfen, sollte aber heute nicht weit damit kommen. Eben kam Marietta mit dem Wagen daher gerannt, in einer Weise, die nichts Gutes verkündete. Sie hatte auf Willis Wunsch ihn auf den Weg zurückgeführt, um ihm drüben in den Büschen wieder eine große Rute zu brechen.

Jetzt schrie der Kleine aus vollem Hals Dori zu, die ihm entgegenlief: »Nein, ich will nicht gehen, sie wollen mich holen, ich geh' nicht mehr heim, ich will nicht fort von dir, ich geh' nicht mit ihnen, ich geh' nicht!«

Dori hatte Mühe, den aufgeregten Kleinen zu beschwichtigen, um von Marietta zu vernehmen, was ihm begegnet sei.

Diese berichtete nun, es seien Leute von unten heraufgekommen und haben gefragt, wie weit es noch sei nach Cavandone zur Frau Maurizius, und dann haben sie auf den Wagen hingedeutet und gesagt: »dort ist er, dort ist er«, und seien herangekommen; da habe Willi furchtbar geschrieen fort und fort und sie habe ihn schnell hierher gezogen.

Jetzt fing Willi neuerdings zu schreien an: »Ich kenne sie schon, ich weiß nicht mehr, wie sie heißen, aber sie wollen mich heimholen; sie wohnen ganz nah bei uns. Halt meine Hand fest, ich geh' nicht von dir fort!«

Dori erfaßte die Hand des Kleinen und hielt sie in der ihrigen fest, um ihn zu beruhigen. Dann wollte sie wissen, wo die Leute seien, und hörte von Marietta, sie seien weiter gegangen, Cavandone zu. Nun mußte aufgebrochen werden, es galt ja einen Besuch zu empfangen.

»Komm Maja, morgen nimmst du die Hacke mit, dann geht das Jäten leichter«, sagte Dori, die tief auf den Boden gebückte Alte emporziehend.

»Ach, leichter, nun ist ja alles leicht. Ist es auch wirklich möglich, Dori, ist es für alle Zeit mein Eigentum, mein altes liebes Äckerchen?« mußte die beglückte Maja noch einmal fragen. »Wenn ich noch zwanzig Jahre zu leben hätte, hätte ich ja keine Sorgen mehr.«

»Das ist auch nicht nötig, Maja, die Sorgenjahre hast du gehabt, nun kommen die Freudenjahre, die wollen wir nun miteinander verleben«; damit führte Dori ihre alte Freundin aus dem Acker weg, denn allein hätte diese sich kaum entschließen können, den wiedergefundenen Schatz schon zu verlassen.

Droben beim Felsenhaus, das geschlossen war, stand die Salzpeppe im Gespräche mit einer Fremden, die allerlei Fragen an sie zu richten hatte, während zwei kleine Jungen rund um das Haus herum auf Entdeckungen auszugehen schienen. Die Salzpeppe hatte in Dorotheas Haus und Garten keine Geschäfte mehr zu verrichten, aber auf ihren Botengängen zum See hinab trat sie öfters in das altbekannte Haus ein, schon aus alter Gewohnheit und auch, um zu sehen, ob man irgendwelche Aufträge für sie hätte. Sie war mit der Fremden zusammengetroffen und hatte diese zu Dorotheas Wohnung geführt. Als sie da alles verschlossen fand, blieb die Salzpeppe bereitwillig stehen, um der Fremden allerlei Auskunft zu erteilen und ihr Gesellschaft zu leisten, bis die Bewohner des Hauses zurückkehren würden. Dori war die erste, die sich dem Hause näherte. Sie hatte aus Vorsicht den lahmen Willi aus dem Wagen gehoben und hielt ihn auf ihrem Arm, damit sie, wenn er wirklich weggeholt werden sollte, ihn in seinen Ausbrüchen des Unwillens gleich besänftigen könnte. Sie bat die Fremde, einzutreten und sich neben ihr auf der Terrasse niederzusetzen. Die Jungen waren gefolgt, nun war auch Dorothea eingetreten.

»So sind Sie Fräulein Dori«, begann die Fremde nun zu der Angeredeten gewandt, »so hätte ich mich mit meinem Auftrag hauptsächlich an Sie zu wenden.«

Jetzt sprang der eine der beiden Jungen auf Dori zu, strich sich das schwarze Lockenhaar aus der Stirn und schaute mit seinen großen, dunkelgrauen Augen voller Vertrauen zu Dori auf: »Wenn du Tante Dori bist, so läßt dich mein Papa vielmals grüßen, und ich soll bei Dir bleiben, wenn du mich behalten willst; aber du willst schon und du wirst mich lieb haben, das hat mein Papa gesagt. Und du wirst mich Italienisch lehren, daß ich ihm so schön vorlesen kann, wie du; denn wenn du Italienisch liest, so tönt es so schön, wie er es vorher nie gehört hat, und alles verstehst du gut, was du redest, und vom andern redest du nicht, das hat mein Papa zu Fräulein Smele gesagt. Ich will ein Jahr bei dir bleiben oder noch länger, bis ich dann auf die Schule komme, das hat alles mein Papa gesagt.«

Ein warmes Rot der Freude war auf Doris Wangen gestiegen, während der Junge so zu ihr sprach. Sie zog ihn an sich und küßte ihn; dann schaute sie wieder in seine groß aufgeschlossenen Augen und streichelte das lockige Haar aus seiner Stirn. »Mutter, sieh den Jungen an, mußt du fragen, wem er gehört?« Dori winkte die Mutter herbei.

»Otto ist der Sohn von Doktor Strahl«, setzte nun die Begleiterin ein, »er hatte Freude zu kommen; sein Vater hatte ihm so viel erzählt von Ihnen, daß Otto meinte, er kenne die Tante Dori schon ganz gut, daher seine Art sich gegen Sie auszudrücken, die Sie ihm zugute halten werden.«

»Ja und nun kenne ich dich noch viel besser«, fiel der Junge schnell wieder ein, »und weil du so lieb bist, will ich dich auch lieb haben und noch viel länger bei dir bleiben als nur ein Jahr, und ich will den ganzen Tag mit dir zusammen sein.«

Jetzt schlang Willi, der immer noch auf Doris Schoß saß, beide Arme um ihren Hals und hielt sie mit allen Kräften, die er aufbringen konnte, fest. »Tante Dori gehört mir«, rief er aufgeregt aus, »und ich habe sie lieber als du, schon lang, lang hab' ich sie lieb, und du nicht. Und ich bleibe nicht nur ein Jahr bei ihr, immer, immer bleib' ich bei ihr und geh' nie mehr von ihr weg, und du kannst auf deine Schule gehen, es ist recht, wenn du gehst.«

Aber Dori legte Willis schmale Hand in Ottos feste Rechte und sagte: »So, nun seid ihr Freunde und werdet immer noch bessere Freundschaft schließen, da ihr nun beide bei mir bleibt.«

Beide zogen aber bald ihre Hände zurück und klammerten sich damit um Doris Arme, jeder auf seiner Seite, so, als wollte jeder sein Eigentumsrecht behaupten.

.

Die begleitende Dame bestrebte sich, ihre Mitteilungen wieder aufzunehmen: »Die aufgetragenen Grüße sind Ihnen, wenn auch mangelhaft, ausgerichtet worden«, begann sie, »mir bleibt nur noch übrig, Ihnen die Bitte des Vaters vorzulegen, daß Sie sein Söhnchen für einige Zeit in Ihren Schutz und Pflege aufnehmen möchten. Die Dame des Hauses kann um ihrer angegriffenen Gesundheit willen sich nicht mit den Kindern beschäftigen. Doktor Strahl hat sich lange besonnen, wie er es mit dem Kleinen machen könnte, daß ihm die rechte Sorgfalt und auch derjenige geistige Einfluß zuteil würde, den der Vater für seine Söhne wünscht. Die beiden älteren hat er auf eine Schule geschickt, aber von dem jüngsten konnte er sich immer noch nicht trennen, er brachte es auch nicht über sich, ihn so ganz fremden Händen zu übergeben.

Kürzlich hörte er von einer Bekannten des Hauses, daß sie ihren kleinen Sohn in Ihre Obhut gegeben, und daß Sie diesen noch auf längere Zeit behalten werden. Doktor Strahls Angesicht leuchtete völlig vor Freude, als er mir dieses mitteilte und hinzufügte: »Nun kenne ich die Hände, denen ich meinen Jungen übergeben kann, in bessere könnte er nicht kommen.« Da der Vater selbst zu einer Reise genötigt war, wollte er, daß ich sofort auch das einsame Haus verlasse und Ihnen den Jungen zuführe. Auf meine Einwendungen, daß man doch wohl erst anfragen sollte, meinte er, das sei überflüssig, er kenne Sie und Ihre Frau Mutter zu gut, um daran zu zweifeln, daß Sie wenigstens für die Zeit seiner Abwesenheit seinen Sohn aufnehmen werden. Sein Wunsch wäre freilich, den Jungen für die nächsten zwei Jahre in Ihren Händen zu lassen.«

»Ja, ich will schon da bleiben, ganz gern«, erklärte Otto, »und Eduard kann mit Ihnen heimkehren, Fräulein Smele, ich bleibe doch nun immer mit Tante Dori zusammen.« Jedermann schaute nach dem erwähnten Eduard, den keiner mehr beachtet hatte. Als der kleine Fremdling so vergessen in einem Winkel stand, hatte die unternehmende Marietta sich ihm genähert und ihn unter ihre Flügel genommen. Sie war mit ihm in den Garten hinausgegangen und trug ihm nun schöne Steinchen und Schneckenhäuschen zu. Dorothea entdeckte die Kinder und ging zu ihnen hinaus. »Eduard ist das Söhnchen eines Verwandten und Ottos Spielgenosse zu Haus«, fuhr Fräulein Smele fort, »der Herr Doktor meinte, es möchte für Fräulein Dori leichter und angenehmer sein, den Otto zu behalten, wenn er den bekannten Kameraden neben sich hätte. Der Vater des Jungen war auch sehr für diese Versetzung seines Söhnchens eingenommen, da dieser kürzlich seine Mutter verloren hatte.« Dorothea war mit dem kleinen Fremdling wieder eingetreten. Dori winkte ihm, daß er zu ihr komme. »Komm, mein lieber Junge«, sagte sie, ihn mit in den Arm einschließend, den sie um Otto gelegt hatte, »wenn du keine Mutter mehr hast, so will ich deine Mutter sein.«

»Die meine auch«, sagte Otto und drängte sich noch näher an Dori heran.

»Die meine noch viel mehr!« rief Willi und umklammerte mit seinen magern Ärmchen Doris Hals so fest, als sollte keine Macht ihn mehr davon ablösen. Dori umschlang ihre drei Buben und schaute nach ihrer Mutter hinüber. Diese lächelte und nickte verständnisvoll, sie mußte Doris fragenden Blick wohl verstanden haben. Jetzt sprang Dori auf. Nun sei es Zeit, daß sie ihren Kindern für Lager sorge, und die Mutter werde ein gutes Abendessen rüsten wollen, meinte sie, denn nach der langen Reise müßten die Gäste nach beidem verlangen. Was Dori an die Hand nahm, wurde rasch zu Ende gebracht. In kurzer Zeit saß die Gesellschaft fröhlich beim Mahle; auch die hilfreiche Marietta fehlte nicht an der Seite ihres neuen Freundes, und die alte Maja ging geschäftig ein und aus, war es doch ihr Stolz, die einzige zu sein, die in Dorotheas Haus mit Hand anlegen durfte.

Als die Kinder im luftigen Zimmer neben der Terrasse tief in ihren Kissen lagen und lange Atemzüge zogen, ging Dori noch einmal von einem Bettchen zum andern. Auf Willis früher so blassen Wangen lag jetzt ein leises Rot, das hatte er hier, in der milden Luft und sorgsamen Pflege gewonnen. Es spielte ein Lächeln um die schmalen Lippen. »Bei uns ist dir wohl«, sagte Dori, in stillem Glück den Schläfer betrachtend. Dann küßte sie ihn. »Ja, ich will dir eine Mutter sein und dir durch Liebe ersetzen, was du sonst im Leben entbehren mußt, mein armer kleiner Willi.« »Du sollst auch mein Kind sein, du mutterloses Bübchen«, sagte sie, an Eduards Bettchen tretend, und über den kleinen Fremdling gebeugt, küßte sie ihn zärtlich, so als wollte sie ihn fühlen lassen, daß er wieder von Mutterarmen umfangen sei. Sie trat zu Otto heran. Das dunkle Lockenhaar ringelte sich um das volle, rosige Kindergesicht. Ein heiteres Glück lag auf der schönen Stirn. »Wie kannst nur du mich nötig haben, mein herrlicher Junge?« fragte sie leise sich auf ihn neigend. »Aber lieb will ich dich haben und Sorge um dich tragen, so wie es dein Vater tat.« Dori setzte sich an das Bettchen und zog einen Brief aus der Tasche. Sie hatte ihn schon einmal gelesen, Fräulein Smele hatte ihn gleich bei ihrer Ankunft in Doris Hand gelegt; er war von Doktor Strahl. In wenigen, aber warmen Worten sagte er ihr, wie die Nachricht, sie nehme Kinder bei sich auf, ihn von einer seiner größten Sorgen, die ihn drückten, befreit habe. Daß er sein bestes Gut, seinen Jüngsten, den er in fremde Hände zu geben nicht über sich bringen konnte, während die Notwendigkeit ihn dazu drängte, nun ihrer Pflege und ihrem Einfluß überlassen dürfe, das sei für ihn eine Wohltat, die er seiner ehemaligen Schülerin und Freundin nie zu vergelten vermöge. Er hoffe, daß das offene, vertrauende Wesen des Jungen und sein warmes Herz ihm ihre Liebe, deren er bedürfe, erwerben werden. Daß Otto diese reichlich erwidern werde, daran sei gar nicht zu zweifeln. Noch gedachte Doktor Strahl mit den freundlichsten Worten seines Aufenthalts in Dorotheas Hause, als einer seiner liebsten Erinnerungen. Vor Doris Augen stieg, in diesen Erinnerungen verweilend, das Bild jener schönen Frau auf, vor deren Blick sie damals so erschreckt zurückgewichen war. War die Frau die Mutter dieses Kindes? Dori schaute noch einmal liebevoll auf die schlafenden Jungen, dann ging sie nach der Stube zurück, wo Fräulein Smele noch mit Dorothea zusammen saß.

»Eine Frage müssen Sie mir noch erlauben, Fräulein Smele«, begann Dori ziemlich erregt, indem sie sich zu den beiden niedersetzte. »Meine Freude darüber, daß ich diesen Knaben Otto bei mir behalten und ihn, wie der Vater mir schreibt, ganz nach meinem Herzen behandeln darf, so wie ich ein eigenes Kind halten und leiten würde, ist derart, daß ich nur immer eines fragen muß: Wie kann die Mutter dieses Jungen ihn nur so hergeben, auch wenn eine angegriffene Gesundheit ihr vieles erschwert? Ich meine, am allermeisten müßte sie die Trennung von ihrem Kinde angreifen. Wie kann sie Otto nur aus ihrem Hause weggeben? Auch wenn sie ihn nur dann und wann sehen könnte, so wüßte sie ihn doch in ihrer Nähe und könnte in jeder freien Minute ihn bei sich haben.«

»Sie erregen sich um einer Unmöglichkeit willen«, entgegnete Fräulein Smele, »die leidende Mutter ist selbst nicht mehr in ihrem Hause. Ihre gestörten Nerven führten einen Zustand solcher Aufregung herbei, daß sie nach einer Heilanstalt gebracht werden mußte. Ja, Sie können wohl vor Schrecken blaß werden, Fräulein Dori, es war auch ganz erschrecklich, die Frau in ihrem Zustande zu sehen und dazu den armen Mann, als er sich eingestehen mußte, die Kranke könne nicht mehr zu Hause gehalten werden. Der Arzt forderte ihre Entfernung, ihre Anfälle könnten gefährlich werden. Und diese Frau! Sie hätten sie nur kennen müssen in ihren guten Tagen! So schön, so begabt, so anziehend! Immer voller Witz und Leben, alles um sie her belebend, hinreißend – ja, diese Schuld hat die Gesellschaft auf sich, ihre aufreibenden Ansprüche haben diese Frau ruiniert. Ich konnte es wohl beobachten, wie die Hast und die Aufregung von Tag zu Tag zunahmen, und immer ruhelos mußte es weiter gehen, bis die Krankheit ausgebrochen war, angefangen hatte sie lange schon.«

»Aber wie ist denn so etwas möglich«, brach Dori nun in neuer Erregtheit aus, »wie kann es denn sein, daß die Gesellschaft irgend etwas zum Leben einer Frau zu sagen hat, wenn sie an der Seite eines Mannes steht, wie Doktor Strahl ist? Da hat er doch zu reden und er ist gewiß nicht der Mann, der eine Frau in aufregende und auszehrende Gesellschaft bringen möchte.«

»Davon können Sie freilich nichts verstehen, liebes Fräulein, das kann ich begreifen«, bemerkte Fräulein Smele in beschützender Weise. »Sie, die Ihr ganzes Leben in solcher Abgeschiedenheit und Einfachheit der Verhältnisse zugebracht haben, Sie können nicht beurteilen, was es ist, in der Gesellschaft einer Großstadt zu leben. Man muß mitmachen, man wird fortgerissen; eine Frau, so begabt wie unsere Dame, noch vor allen andern. Wenn auch der Herr Doktor nicht die Natur ist, so recht mitzumachen, und wohl oft gewünscht hat, seine Frau möchte mehr für ihn und die Kinder leben, man ließ sie nicht, sie kam zu keiner Ruhe. Da, dort, überall wurde sie gerufen, nicht eine Gesellschaft, die etwas zu bedeuten hatte, wo unsere Dame nicht dabei sein mußte, und so oft die ganzen Nächte durch, und nachher die Abgespanntheit, die Ermattung und dann wieder dasselbe, dieselben Aufregungen, dasselbe Anspannen aller Kräfte; ruhelos, immer zu. So ist die Gesellschaft und sie trägt die Schuld, wenn auch die Kinder zu kurz kommen! Wie soll eine solche Mutter zwischen Abspannung und neuen Anstrengungen noch Zeit und Kraft finden, ihren Kindern zu leben? Auch die Freude daran muß ihr vergehen, sie hat ja soviel anderes zu denken und sich für so viele Dinge zu interessieren, die mit den Pflichten der Gesellschaft zusammenhängen. Ich muß sagen, Fräulein Dori, ich glaube, daß Sie einem dringenden Bedürfnis entgegenkommen, indem Sie solche Kinder aus guten Familien bei sich aufnehmen, denn wie viele Mütter, die nicht dazu kommen, ihren Kindern zu leben, werden glücklich sein, diese in so guten Händen zu wissen.«

Dori hatte mit Verwunderung bis hierher zugehört, ihre innere Erregtheit schien sich durch die Rede nicht gelegt zu haben. Sie war aufgesprungen. »Sie haben recht, Fräulein Smele«, sagte sie mit funkelnden Augen, »ich bin zu einfältig, die Verhältnisse zu verstehen, die Sie als ganz gewöhnliche schildern. Ich habe immer geglaubt, wenn ein Mädchen sich mit einem Manne verbindet, so habe es nachher keine nähere Pflicht und auch gar keine größere Freude, als mit ihm und seinen Kindern zu leben; und diesen alles Beste, das sie selbst kennt und besitzt, mitzuteilen, müßte das größte Glück solcher Frauen sein. Warum gehen sie denn in die Ehe ein, wenn sie andere Pflichten höher stellen als diejenigen, die sie doch dem Mann und den Kindern schuldig sind? Sie sind ja frei, andern Pflichten zu leben, die sie vorziehen. Noch lieber will ich so einfältig sein, die Zustände, die Sie schildern, nicht zu verstehen, als darin zu leben und sie mitzumachen. Und nun will ich nach den Kindern sehen, sie könnten unruhig werden so in der ersten Nacht an fremdem Ort.«

Dori verließ rasch das Zimmer.

»Das gute Kind«, sagte Fräulein Smele mit einem gütigen Lächeln. »Sie kennt nichts von dem Leben der großen Welt. Wie könnte sie verstehen, welch einen Wert eine Erscheinung, wie unsere Dame ist, für die Gesellschaft hat, wie sie diese hebt, wie veredelnd sie auf die Männer wirkt. Es ist doch wohl eine schöne Pflicht, diese Aufgabe auf sich zu nehmen und den so weithin wirkenden Einfluß auszuüben.«

In schüchterner Weise erwiderte Dorothea: »Ich kenne ja vom Leben in den Großstädten nicht mehr als mein Kind und kann nicht mitreden. Ich mußte nur bei Ihren Worten daran denken, wie oft mein seliger Mann mir sagte: ›Das habe ich von meiner Mutter‹, wenn ich wieder erfuhr, wie zartfühlend und rücksichtsvoll für andere er war, so daß ich sagen mußte, so seien gewiß nicht viele Männer. Er hatte auch eine rechte Scheu vor allem Rohen und Gemeinen, da sagte er auch immer: Das hat mir die Mutter eingeprägt; und er meinte, wenn seine Mutter ihm nie gesagt hätte, was gut und schön, und was roh und häßlich ist, so hätte er es durch ihr eigenes Wesen gemerkt. Sie war das Beste, was er kannte, und mein Mann meinte, für jedes kleine Kind sei eine liebevolle und sorgsame Mutter das Beste, das je in sein Leben eintrete. Der Mann fange in ihrer Hand an, sie bringe die Eindrücke in das weiche Wachs, die nachher nicht mehr vergehen und durch das ganze Leben so wie ein Grundton nachklingen. Er sagte oft, wenn die Mütter doch nur wüßten, wie sie in ihrer Kinderstube die Macht in den Händen haben, ihren Charakter dem Ding aufzudrücken, das draußen das Regiment der Männer heißt. An alle solche Worte habe ich eben denken müssen und ich meine, wenn so bevorzugte Damen, wie die Ihrige ist, das so recht sehen wollten, wie es ist, so müßten sie sich doch sagen, sie haben das Größte und Wichtigste für die ganze Gesellschaft in ihren Kinderstuben in der Hand, und ihren Kindern zu leben, müßte doch für sie soviel genußreicher und beglückender und niemals so aufreibend sein, wie ein solches Leben in der Gesellschaft.«

Fräulein Smele hatte sich erhoben. Ein wenig gnädig sagte sie: »Es liegt ja wirklich in Ihren Anschauungen etwas so Natürliches, daß man fast wünschen möchte, die fortgeschrittene Gesellschaft könnte wieder in diese Einfachheit zurückgedreht werden. Ich kann es nun eher begreifen, warum Doktor Strahl seinen Sohn vor allem in Ihr Haus gebracht haben wollte, er denkt in Beziehung auf das häusliche und das Gesellschaftsleben nicht ganz wie seine Frau.«

Dorothea sah, daß Fräulein Smele sich zurückziehen wollte und begleitete sie nach ihrem Schlafgemach. Dann trat sie in das Zimmer ihrer Tochter ein. Dori stand am Fenster, durch das die milde, von Blumenduft gewürzte Nachtluft hereinwehte. Dorothea schaute einen Augenblick auf ihr Kind, dann fagte sie: »Dori, du hast einen schönen Tag gehabt heute, was kämpft so in dir?«

»Ja, Mutter, das war ein schöner Tag«, wiederholte Dori, »aber ich habe ein solches Leid im Herzen und gleich daneben ein solches Glück, daß es immer auf und nieder geht in mir. Es tut mir so weh, an den armen Doktor Strahl zu denken, der nun einsam, ohne Frau und ohne Kinder sein Leid in sich hineindrängen muß. Nun weiß ich, warum oft ein solcher Schmerzenszug auf seinem Gesichte lag. Aber Mutter, hättest du je denken können, daß dieser Mann sein bestes Gut, seinen herrlichen Jungen in meine Hand geben würde! Er kennt mich doch und weiß ja, wie armselig es steht um meine Bildung und mein Wissen und alle Kenntnisse, die andere haben, und doch zeigt er mir solches Vertrauen und übergibt mir den Jungen ohne Vorschrift. Wie ich ein eigenes Kind behandeln würde, so soll ich mit ihm tun.«

»Unser Herr Doktor muß an dir etwas gefunden haben, das er wohl so hoch schätzt wie vieles Wissen und Kenntnisse, sonst hätte er dir diesen Knaben nicht anvertraut«, meinte die Mutter, »du darfst dich wohl darüber freuen, ich tue es auch.« Daß diese Worte Wahrheit waren, konnte man auf Dorotheas Angesicht lesen.

»Da bin ich doch kein unnützes Geschöpf und muß kein solches werden, was meinst du, Mutter?«

»Nein, niemals, das habe ich aber auch nie gefürchtet.«

»Und habe ich nun nicht auch Kinder, die mich lieb haben, Mutter? Denkst du noch an deine Worte?«

»Ich habe gleich daran gedacht, wie ich so die Kleinen an dir hängen sah. Ich freue mich ja so darüber, wie ich nicht sagen kann, daß alles so geworden ist. Dori! du wirst ja auch niemals mehr solche Liebe entbehren müssen, denn mutterlose Kinder gibt es immer wieder und überall und dabei kannst du mancher armen, leidenden Mutter zu einem rechten Trost werden, wenn eine solche sich von ihrem Kinde trennen und es in fremde Hände geben muß.«

Dori hatte eine kleine Weile aus dem Fenster auf die duftenden Blumen in ihrem Garten, dann nach den Höhen der altbekannten Berge hinüber geblickt, über die der silberne Mond leise Lichtstreifen warf. »Mutter«, sagte sie, sich umwendend, »ich glaube, ich gehöre zu den glücklichsten Menschen auf Erden, ich habe nur zu danken. Ich will auch dem lieben Gott mit meinem ganzen Herzen und Leben danken, daß er mich so geführt hat. Du bist doch nun auch glücklich, Mutter? Wirst du niemals denken: Hätte doch Dori einen andern Schritt getan und säßen wir doch in Ardez?«

»Nein, niemals, Dori«, erwiderte lächelnd die Mutter, »ich habe ja nur um deinetwillen geschwankt, aber jeden Tag danke ich Gott, der dir die Sicherheit ins Herz gegeben hatte, das Rechte zu tun. Dein Glück ist mein Glück und darüber hinaus habe ich noch das eigene Glück, daß ich mich ohne Sorge jedes Tages freuen darf, denn du wirst nie allein und verlassen sein, auch wenn ich nicht mehr da bin.«

Wenn am lichten Sommerabend Dori mit ihrem Kinderschärchen die Höhe hinan steigt, um bei der alten Mauer sich zu lagern und dem Rauschen der laubreichen Kastanienbäume zu lauschen, was die Kinder vor allem lieben, dann schauen die Leute von Cavandone unter allen Türen und Fenstern ihnen nach, denn die fröhliche Schar mit der jungen Mutter wird überall gern gesehen. Immer wieder sagt dann eine Nachbarin zur andern: »Sieh doch, wie sie den kleinen Buben streichelt, den das Großkind der alten Maja immer an der Hand führt, man könnte meinen, er wäre ihr eigener. Und den armen Lahmen, wie sorgfältig sie den behandelt! Der ist in gute Hände gekommen, die eigene Mutter könnte nicht zärtlicher mit ihm sein.«

»Sicher nicht«, bestätigt dann die Nachbarin, »aber sieh, wie sie dem andern nachschaut, dem mit dem schönen Lockenhaar, wenn er nur drei Schritte von ihr weg geht; den hütet sie erst recht wie ihren Augapfel.«

Ist die kleine Gesellschaft oben angelangt und ertönen nun auf den Höhen drüben die Abendglocken eine nach der andern, dann lauscht Dori, an ihre Mauer gelehnt, den altbekannten Klängen und die Erinnerungen an die vergangenen Tage steigen lebendig in ihr auf. Sie sieht das fremde Fräulein vor sich auf der Mauer sitzen, den alten Herrn herankommen mit den weißen Haaren und dem liebevollen Ausdruck auf dem schönen Angesicht, und so vieles, das diese Begegnung nach sich zog, zieht durch ihre Gedanken. Und als tiefsinniges Gebet, ganz anders, als da sie an dieser Stelle zum erstenmal die Worte las, steigen diese nun aus ihrem Herzen auf:

»Nimm meine Hand,
Daß mich die deine leite!«

.

Aber zu lange läßt Otto ihr nicht zum Sinnen Zeit, er ist schon an ihrer Seite und möchte das Lied von den Rosen singen, denn er liebt die Rosen und die Freude und singen will er mit Tante Dori, so oft es nur angeht. Und Dori mit ihrem frohen Dank im Herzen stimmt gern an, die Kinder fallen alle ein, Marietta allen voran mit der schönsten Stimme und dem größten Eifer; daß sie kein Wort von dem versteht, was sie singt, stört sie gar nicht, Wort und Ton singt sie als gelehriges Vögelein fehlerlos mit. Weithin durch den Wald schallt dann der frohe Gesang:

»Rote Wolken am Himmel,
Wilde Rosen im Hag,
Und ich freu' mich, ja, ich freu' mich
Am sonnigen Tag!«

*

 


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