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Sechstes Kapitel

Eine milde Herbstsonne schien auf die steinerne Treppe am alten Doppelhaus, das mit seinen festen Giebeln der Seite zuschaute, wo die hölzerne Brücke über den rauschenden Inn führt. Auf beiden Seiten der Haupttür war der viereckige Treppenplatz mit steinernen Bänken eingefaßt, wo die Bewohner des Hauses in der Abendkühle zu sitzen und die Ereignisse des Tages zu besprechen pflegten. Zur Herbstzeit wurden auch die Sonntagnachmittage da zugebracht, da alsdann die Sonne nicht mehr zu heiß, im Gegenteil in den kühlen Herbsttagen ganz angenehm wärmend auf die Steinsitze niederschien. Ein solcher Sonntagnachmittag war heute. Ringsum waren die Steinbänke mit Menschen besetzt, die nicht ungern sich von den warmen Sonnenstrahlen bescheinen ließen. Zwei kräftige Männer mit dunkeln, schon reichlich von grauen Fäden durchzogenen Haaren und Bärten saßen einander gegenüber und rauchten schweigend ihre Pfeifen, während die Frauen um sie herum vom Gegenstand ihres Gesprächs sehr lebhaft in Anspruch genommen zu sein schienen. Ein junger Bursche mit vollem Gesicht und einem Paar runder, blauer Augen, die sich in harmloser Weise beständig hin und her drehten, ging auf dem kleinen Viereck des Treppenplatzes auf und nieder, bald da bald dort ein Wort in das Gespräch einflechtend, das ihn angenehm zu unterhalten schien. Die beiden Arme, die eben jetzt zum großen Teil in den tiefen Taschen der weiten Beinkleider steckten, sahen so fest und gewaltig aus, daß man denken konnte, sie müßten Säulen umreißen, wenn es sie einmal ankäme, so zu tun.

»Es sind gerade neunzehn Jahre, seit Dorothe geheiratet hat und fortgezogen ist«, fuhr in ihrer eifrigen Weise die eine der Frauen, die neben ihren Männern saßen, fort, »und mir ist, als sei es gestern gewesen, so deutlich seh' ich die Dorothe vor mir und höre sie noch, wie sie hundertmal des Tages sagen konnte: ›Ich will meinen Mann fragen.‹«

»Das stand ihr nicht unwohl an«, bemerkte der daneben sitzende Mann.

»Ja, dich möcht' ich sehn, Jakob«, entgegnete schnell die Frau, »welch ein Gesicht du machen würdest, wenn ich bei jedem Löffel voll Suppe, den ich einführen sollte, dich erst fragen wollte, ob ich ihn schlucken soll oder nicht. Dorothe tat nicht drei Schritte, ohne den Mann anzusehn und zu fragen, ob sie den vierten auch noch wagen soll. So war sie, und ein wenig Extralärm mit ihrem Mann, als wäre er etwas Besonderes, machte sie auch gern, schon darum, weil kein Mensch wußte, woher er gekommen war, noch wohin er gehörte.«

»Du mußt nicht über die Wahrheit hinausgehen, Marie Lene«, sagte in ruhig mahnendem Ton die ehrwürdig aussehende Matrone, die an die Hausmauer gelehnt saß, so daß der dann und wann durchziehende Wind sie nicht so treffen konnte wie die Freisitzenden. Die schneeweißen Haare unter der schwarzen Haube standen dem stattlichen Gesicht mit der charaktervollen Nase und den festen Zügen besonders wohl an. »Wenn wir auch die übrige Familie und Verwandtschaft von Maurizius nicht kannten, so wußten wir doch wohl, wer er war und woher er stammte. Er war ein Pfarrerssohn aus einem Dorfe am Nordseestrande. Und was Dorothea betrifft, so hat sie in den fünfzehn Jahren ihres ehelichen Lebens, als sie fern von allen Verwandten mit dem Manne lebte, nichts anderes von ihm berichtet, als daß er der beste und liebevollste Mann sei, der ihr Leben so glücklich mache, wie kaum dasjenige einer andern Frau sein könne; das ist ein Zeugnis für ihn.«

»Etwas Apartes mußte die Dorothe freilich immer aufstellen, das bleibt schon wahr«, bemerkte langsam und mit Nachdruck die zweite der jüngern Frauen.

»Der Daniel war eben der älteste Sohn«, fiel Marie Lene rasch wieder ein, »der hat das Vorrecht, die Nonna würde seiner Tochter und dem Mann nichts geschehen lassen, es möchte mit ihnen sein wie es wollte. So wird's mit dem Urgroßkind auch gehen. Sicher fände die Nonna alles gut an ihm und wenn es einen Katzenkopf mitbrächte.«

Der junge Bursche lachte laut auf. »Wenn's nur nicht auch noch Krallen an den Tatzen bringt, sonst muß man sich noch fürchten!« rief er aus. »Aber wie die Verwandtschaft mit dieser Base Dorothea ist, hab' ich noch nicht verstehen können, mich nimmt nur wunder, ob einer die verstehen kann.«

»Mich auch, wenn du sie nicht einmal verstehst, Niki Sami, wer soll es dann können!« versetzte Marie Lene schnell.

Der Bursche schaute sie so an, als sei er nicht ganz sicher, wie es gemeint sei. »Man weiß nie, ob man von der Base Marie Lene einen Zwick bekommt, wenn sie den Mund auftut, und ob man einen hat, wenn sie ihn wieder zumacht«, sagte er.

»Man gewöhnt sich daran«, bemerkte ihr Mann in großer Ruhe.

»Man nimmt es manchmal nicht so ungern, man nimmt's wie die Kühe das Salz, es ist nicht immer nur Gras, es ist einmal etwas anderes«, setzte der ältere Bruder hinzu, ohne eine Miene zu verziehen.

»Komm, ich will dir die Verwandtschaft erklären, Niki Sami«, sagte die Nonna. »Aber lauf nicht immer hin und her auf dem kleinen Viereck, so als wärst du in der Tretmühle. Sitz hier neben mich nieder, so kann ich ruhig zu dir sprechen. Siehst du, Niki Sami, wir hatten noch zwei Söhne, einen, den du nie gekannt hast, und einen zweiten, Elias, der auch schon lange tot ist. Daniel, mein ältester, war groß und aufrecht wie eine Tanne, hatte Augen wie die Sonne und war in allem seinem Tun apart, so wie in Gestalt und Angesicht. Er war früh in der Entwicklung und schnell von Wort und Tat, das war ungewöhnlich in der Familie. Mit zweiundzwanzig Jahren verheiratete er sich mit einem siebzehnjährigen Mädchen aus dem Münstertal. Sie hatten ein Töchterchen, das ist die Base Dorothea, die wir erwarten. Die junge Frau starb bald nachher und drei Jahre darauf folgte ihr unser Daniel nach, noch war er nicht dreißig Jahre alt. Die kleine Dorothea kam erst zu Verwandten nach dem Münstertal, dann nahmen wir sie zu uns. Mein Mann mochte sie wohl, sie war lenksam und gutartig. Sie kam aber sehr jung weg, schon achtzehnjährig. Sie war ein schönes, sanftmütiges Mädchen. Ein deutscher Maler, der den Sommer durch das Tarasper Bad gebrauchte und hier unten wohnte, weil er für sich sein wollte, hatte schon bald die Augen auf sie geworfen und sagte es meinem Mann, mit dem er oft am Abend im Gespräch zusammen saß. Er hat recht gehandelt in der Sache. Wir wollten behutsam handeln, denn so mit einem Fremden fortziehen aus aller Verwandtschaft weg, ist kein Leichtes. Aber mit der Dorothea war's eigen. Sie konnte nie einen Entschluß fassen, ohne vorher mich oder den Nonno zu fragen, was sie tun sollte. Sobald sie aber hörte, was für ein großer Entschluß ihr jetzt bevorstand, war sie wie verwandelt. So sicher als hätte sie's lange bedenken können, sagte sie ohne Zögern, mit diesem Manne gehe sie mit Freuden, wohin er wolle, bis ans Ende der Welt. Man mußte nur staunen über die Entschlossenheit des Mädchens, das sonst so schwankend war und für alles Rat suchte.«

»Ja, man mußte dann und wann einmal über die Dorothe staunen«, fiel Marie Lene hier ein. »Immer dreimal fragen und beraten, bevor sie zwei Schritte von Haus weg tat, und dann mit einem wildfremden Menschen davonlaufen, ohne sich zu besinnen, das zeigte recht, welch eine Wetterfahnenart sie hatte, so daß kein Mensch je wußte, was sie wollte, und sie selbst am wenigsten.«

»Diesmal wußte sie es und blieb dabei«, fuhr ruhig die Nonna fort, »und es muß das Rechte für sie gewesen sein, denn sie hat seit ihrer Verheiratung nicht einen Brief geschrieben, der nicht voll Lob und Dank gegen Gott für ihr schönes Los und voll Ruhm und Preis ihres Mannes war. Nun hat sie ja schon mehrere Jahre den großen Verlust allein getragen, es wird ihr nun wohltun, mit der Tochter in die Verwandtschaft zurückzukehren. So begreifst du nun auch, Niki Sami, wie es kommt, daß meine Enkelin Dorothea nicht viel jünger ist als meine beiden Schwiegertöchter hier, denn meine beiden jüngern Söhne dort, der Matthias und der Jakob, haben ihre Frauen Kathrine und Marie Lene erst genommen, als sie schon weit über dreißig Jahr alt waren.«

«Ja, ja, das versteh' ich nun schon. Wie alt ist die Tochter der Base Dorothea? Ist sie hübsch? Ist sie auch lustig?« fragte der Bursche.

»Noch jung, zwischen sechzehn und siebzehn Jahren muß sie sein, gesehen hat sie noch keines von uns«, entgegnete die Nonna. »Schlägt sie meinem Daniel, ihrem Großvater nach, so darf sie sich sehen lassen.«

»Willst du nicht auch noch fragen, wieviel Schuh hoch sie ist, und wieviel Haare sie auf dem Kopf hat? Das wundert dich doch sicher auch, Niki Sami«, sagte Marie Lene scharf.

»Pah, man wird einer Base nachfragen dürfen«, meinte der Bursche, »und daß einmal eine Base zwischen all' die Vettern hineinkommt, ist auch recht, ihr habt ja alles nur Buben und nicht einmal besonders lustige.«

Jetzt schaute die Base Kathrine den Niki Sami mit strengem Gesicht an. »Ich denke«, sagte sie mit Nachdruck, »zwei Vettern, wie du sie an meinen Söhnen hast, darfst du überall nennen, und es stünde dir nicht übel an, sie zu schätzen, wie sie es verdienen. Ich habe noch nie gehört, daß zwei Söhne zu verachten wären, weil keine Tochter dazwischen ist.«

»Und drei noch weniger«, fiel Marie Lene rasch ein, »meine drei dürfen sich zeigen. Man kann der Dorothe ihre Tochter gönnen, es ist ja für sie das einzige, das sie zu führen vermag, wie sollte sie einem Buben Herr werden!«

»Die Sonne trifft den Felsenstein drüben am Berg nicht mehr, nun ist es meine Zeit, hineinzugehn, die Abende werden kühl«, sagte jetzt die Nonna, indem sie aufstand. »Komm mit hinein, Niki Sami, und nimm das Abendessen mit uns ein, der Pate wird dich nicht so früh zurückerwarten.«

Der Bursche dankte. Der Pate sei nicht gern allein bei seinem Nachtessen am Sonntagabend, meinte er, er werde aber wohl die Woche noch einmal nach Schuls herunterkommen, er müsse doch auch sehen, ob die Base angelangt sei, um sie zu begrüßen.

»Ja, ja, auf dich kann man rechnen, Niki Sami«, sagte Marie Lene, »der Wunder sticht dich schon stark genug, daß du in Ardez nicht still sitzen kannst, wenn du weißt, daß es in Schuls etwas Neues gibt.«

»Wer nicht zuviel zu tun hat, dem fällt es auch eher ein, als anderen Leuten, daß er etwas Neuem nachgehen muß«, setzte Frau Katharine nachdrücklich hinzu.

Aber die Nonna sagte zustimmend: »Es ist ganz recht und anständig, daß du kommst, die Verwandten zu begrüßen, Niki Sami, so kann die Base Dorothea sehen, daß sie nicht vergessen noch hintangesetzt ist von der Verwandtschaft.«

Niki Sami nahm nun Abschied und die Nonna trat ins Haus ein. Jetzt erst, als die beiden Frauen mit ihren Männern allein waren, wurde das bevorstehende Ereignis recht eingehend nach allen Seiten betrachtet und erwogen, und auch die Ansicht der Männer herausgeholt, denn eine so große Neuheit im Kreise der Verwandtschaft, wie das Wiedereintreten einer halb Vergessenen und das Erscheinen einer völlig Unbekannten, konnte nicht ohne eine gründliche Besprechung stattfinden. Es war auch am Schlusse der vielseitigen Erläuterungen weder von der halbvergessenen Base noch ihrer unbekannten Tochter irgendeine mutmaßliche Seite ihres Wesens und ihres Tuns und Trachtens ohne Berücksichtigung und erschöpfende Verhandlung geblieben.


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