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Sechzehntes Kapitel

Dorothea bemerkte mit Freude, daß auf Doris Gesicht der alte Ausdruck kindlicher Fröhlichkeit, den die Mutter in der letzten Zeit vergeblich und oft mit schwerer Sorge gesucht hatte, wiedergekehrt war. Dori saß auch nicht mehr stundenlang schweigend und nachsinnend bei ihrer Arbeit, sie plauderte wieder fröhlich und nahm den alten Anteil an allen häuslichen Fragen und Bedenken der Mutter. Dorothea empfand ganz deutlich, daß in Dori aller Zweifel gewichen, daß sie ihres Weges völlig sicher war. Das nahm der Mutter viel von dem schweren Gewicht auf ihrem Herzen weg; das Gefühl ihrer großen Verantwortlichkeit drückte sie weniger nieder, seitdem sie die frohe Sicherheit in Doris Wesen täglich zunehmen sah. Es war an einem der letzten Augusttage, als vor dem Haus an der Halde von verschiedenen Seiten kommend die Base Marie Lene und der Gärtner zusammentrafen.

»Wollt Ihr auch zur Dorothea hinein?« fragte Marie Lene, indem sie stille stand.

Melchior nickte bejahend.

»Ja, ich weiß wohl«, fuhr sie fort, »daß Ihr der gute Freund drinnen seid, bei der Alten und bei der Jungen, darum stünde es einem Propheten, wie Ihr seid, gut an, er würde den beiden einmal ein Licht aufstecken in einer Sache, in der sie sich zeigen wie die blinden Maulwürfe, sonst hätten sie schon lang ihr Glück mit beiden Händen erfaßt.«

»Hm, dein Mann ist ein guter Fuhrwerker«, gab Melchior in seiner bedächtigen Weise zur Antwort. »Wie wär's, wenn du ihn fragtest, ob er nicht einmal seinen Ochsen mit einem Kanarienvogel zusammenspannen wolle, um zu sehen, wie die miteinander den Karren ziehen würden?«

Marie Lene hatte einen Augenblick gestutzt, jetzt feuerte sie los: »Immer und ewig macht Ihr Gleichnisse! Wenn Ihr nur nicht meint, sie seien etwas wert. Aber diesmal habt Ihr etwas Gescheiteres gesagt, als Ihr dachtet. Was soll denn aus solch einer werden, die nichts kann, als was die Kanarienvögel können, und meint, singen und pfeifen und den Rosen nachlaufen sei genug getan für sie?«

»Wie wir doch merkwürdig übereinstimmen, Marie Lene«, sagte Melchior lächelnd, »gerade das wollte ich meinem Vögelein drinnen sagen, darum kam ich her, und du wohl auch?«

»Zu Dori sag' ich gar nichts mehr, zur Mutter will ich«, gab Marie Lene zurück. »Aber keinen Schritt ginge ich mehr, weder der Alten noch viel weniger der Jungen nach, wenn es nicht um eines Verwandten willen wäre, der nun einmal den Kopf auf die Sache gesetzt hat, warum, weiß kein Mensch. Vernünftig mit ihnen reden über das Kapitel kann man nur gar nicht, sie verstehen alle beide von einem anständigen Dasein und einem ehrenhaften Hauswesen soviel, wie eine Geiß vom Himmelreich.«

»Es scheint mir, du machst auch in Gleichnissen«, sagte Melchior gelassen und machte die Tür auf, um einzutreten.

Marie Lene zog sofort Dorothea beiseite, sie hatte mit ihr allein zu sprechen, die beiden gingen nach der Nebenstube.

Melchior setzte sich zu Dori hin. »Ich habe eine Frage an dich, Dori«, begann er gleich. »Der alte Herr droben in der Villa ist kränker geworden, er ist so schwach, daß ihn der Doktor nicht heimreisen lassen will. Jetzt, da alle anderen Kurgäste abreisen, hat er dem Kranken eben gesagt, er müsse den September durch noch dableiben, wenn nicht noch länger, von einer so langen Reise, wie seine Heimreise wäre, dürfe für einmal keine Rede sein. Er hat die Frau Anne zur Pflegerin, die meint es gut. Sie bringt dem Kranken immer wieder große Teller voll Rauchfleisch herbei und meint, wenn er recht tüchtig dem guten Bündtnergericht zusprechen würde, so kämen ihm die Kräfte schon wieder. Aber weiter weiß sie nichts. Ich habe nun gedacht, wenn du so jeden Nachmittag ein wenig zu dem kranken Herrn hinauf gingest und ihm etwas läsest und ihn ein wenig unterhieltest, so wäre es doch auch etwas anderes für ihn, er könnte es eher ein wenig vergessen, daß er so allein ist und fern von seiner Heimat.«

»Aber Melchior, Ihr habt mir selbst gesagt, daß es ein so feiner und gebildeter alter Herr ist«, warf Dori schnell ein. »Ein Herr, der soviel weiß und der von allem sprechen kann, der wollte doch gewiß lieber auch einen gebildeten Menschen um sich haben, und Ihr wißt ja doch, daß ich nichts kann und nichts weiß.«

Melchior fuhr ruhig fort: »Als ich ihm sagte, daß ich ein junges Mädchen kenne hier in der Gegend, das ich gerne zuweilen in seiner Krankenstube wüßte, es müßte diese ein wenig erhellen, da sagte er gleich so traurig lächelnd: Was mir denn einfalle, ein junges Mädchen werde bald Lust haben, einen alten kranken Mann aufzusuchen und ihre schöne Zeit bei ihm zu verlieren. Junge Mädchen wissen ihre Tage erfreulicher zuzubringen, als in einer Krankenstube bei einem langweiligen Alten zu sitzen.«

»Wenn es so ist, und Ihr meint, es würde ihm Freude machen, so geh' ich gleich morgen. Wie sollte ich nicht gern einen Kranken besuchen, der keinen Menschen aus seiner Heimat um sich hat und sich so verlassen fühlen muß! Gleich morgen geh' ich«, versicherte Dori.

»Das habe ich dir zugetraut«, sagte Melchior erfreut und drückte Dori die Hand. Dann stand er auf und ging.

Gleich nach ihm verließ auch Dorothea mit der Base das Haus, nachdem sie Dori zugerufen hatte, sie werde nicht lange fortbleiben. Diesem Versprechen kam Dorothea nicht sehr genau nach, denn der ganze Abend verging, bevor sie wiederkehrte. Sie hatte viel zu berichten. Die Nonna hatte sie zu einer Zusammenkunft mit den Verwandten holen lassen, um festzusetzen, was nun getan werden müsse in der hängenden Angelegenheit. Niki Sami hatte bestimmt erklärt, er gehe nicht ab, er wisse schon, daß er am Ende Meister werde. Die Nonna suchte einen Weg aufzufinden, der für beide gut wäre. »Ein halbes Jahr lang sollte nun alles so bleiben, wie es jetzt ist«, berichtete Dorothea weiter. »Niki Sami sollte nie zu uns kommen und nie mit dir reden, so würde dir am allerehesten die Lust kommen, wieder von ihm aufgesucht zu werden. Du werdest während der Zeit auch noch heimischer in unserem Lande und werdest manches noch anders kennen und schätzen lernen, als du jetzt tust. Niki Sami murrte ein wenig, aber er ging in den Vorschlag ein. Ich tat dasselbe für dich, das konnte ich doch tun, nicht wahr?«

»Von dir aus schon, Mutter«, entgegnete Dori, »ich hätte es nicht getan, denn ich hätte sagen müssen, daß diese Angelegenheit bei mir keine hängende, sondern eine abgetane Sache ist, eine überstandene Angst, an die ich nicht mehr zurückdenke und im innersten Herzen froh bin, daß ich nicht mehr daran denken muß. Das Liebste an eurer Übereinkunft ist mir, daß man doch nun sicher ist, ein halbes Jahr lang von dieser Sache nichts mehr zu hören.« Nun hatte Dori der Mutter auch noch zu erzählen, was Melchior gewollt und was sie ausgemacht hatten. Dorothea war ganz einverstanden damit, daß Dori den kranken Herrn besuche und alles tue, um ihm im fremden Lande die langen Leidenstage erträglicher zu machen. Als Dori am folgenden Nachmittag, auf der Höhe von Vulpera angelangt, vom Waldhaus zur Villa hinüber wanderte, konnte sie sich einmal wieder des Weges freuen, der ihr lieb war. Wie anders war ihr heute zumut, als da sie das letzte Mal hier hinauf und weiter gelaufen war, mit so viel quälenden Gedanken im Herzen. Heute war sie so froh, daß sie einen lauten Gesang hätte anstimmen mögen. Aber nein, sie kam ja dem Hause des Kranken immer näher, singen wollte sie nicht. Jetzt trat sie in den kleinen Garten ein. Die Haustür stand offen. Frau Anne kam eben die Treppe herunter und zeigte Dori, an welcher Tür droben sie zu klopfen habe, der Herr erwarte sie, setzte die Frau hinzu, Melchior habe ihm Bericht gebracht, daß sie komme. Dori stieg die Treppe hinauf und nach einem freundlichen Rufe, hereinzukommen, trat sie in das Zimmer ein.

Ein alter Herr mit schneeweißem Haar saß in einem Lehnstuhl am Fenster und schaute mit einem väterlich freundlichen Blick der Eintretenden entgegen.

.

»O, Herr von Aschen!« schrie Dori in heller Freude auf und stürzte zu dem alten Herrn hin. Sie ergriff seine beiden Hände und küßte sie in überwallender Freude, und in der Erinnerung an jene Tage und an alles, was mit Herrn von Aschen zusammenhing, stürzten ihr vor großer Erregung die Tränen aus den Augen. Mit dem größten Erstaunen blickte der alte Herr auf das hochgewachsene Mädchen mit dem dichten braunen Haar und den warm leuchtenden Augen – er suchte offenbar in seiner Erinnerung nach derselben Erscheinung. »Ich kenne Sie wirklich nicht, mein liebes Kind«, sagte er dann in der freundlichsten Weise. »Wo sollten wir uns denn gesehen haben?«

»Dort auf dem Weg von Cavandone gegen den Monte rosso hinauf, bei der Mauer unter den Kastanienbäumen, dort saßen wir, das Fräulein und ich, und sie schenkte mir ein kleines Buch und ließ mich lesen, und dann kamen Sie. O, mir ist alles so frisch im Andenken, als sei es gestern gewesen. Wissen Sie es nun wieder, Herr von Aschen?«

Dori war immer lebhafter geworden während ihrer Schilderung, der Herr von Aschen lächelnd zugehört hatte. Jetzt nickte er: »Ja, ja, nun steigt mir die Erinnerung auf. So sind Sie das kleine braunäugige Mädchen von Cavandone? Ja, die welligen Haare und die braunen Augen kann ich noch wiederfinden, aber Sie sind so groß geworden! Meine Tochter hatte solche Freude an Ihnen. War da nicht etwas mit einem Bilde, das Sie von ihr wünschten?«

»O ja, Herr von Aschen«, fuhr Dori mit derselben Lebhaftigkeit fort, »das war das Bild aus der Heimat meines Vaters, es war seine letzte Freude, er hat es immer noch angeschaut. Dann wollte ich kommen und Ihnen danken und die Rosen bringen, die ich dem Fräulein versprochen hatte. Aber wie ich nach Pallanza herunter kam, waren Sie fort und das liebe Fräulein war –« Dori hielt inne, Herr von Aschen hatte seine Hand über die Augen gebreitet. »O, Herr von Aschen«, fuhr Dori nach einer Weile fort, »noch jetzt möchte ich Ihnen danken, daß Sie meinem Vater noch die große Freude gemacht haben. Wenn ich doch nur auch für Sie etwas tun könnte, das Ihnen auch nur ein wenig Freude machen würde! Nicht wahr, ich darf nun alles für Sie tun, so wie wenn ich eine alte Bekannte von Ihnen wäre?«

Herr von Aschen kehrte sich wieder lächelnd zu der kindlich Bittenden. »Nun ist das Danken doch wirklich an mir, liebes Kind«, sagte er, Doris Hand drückend. »Sie kommen, mich in meiner einsamen Krankenstube aufzusuchen; schon das ist mir eine Freude, und eine doppelt große Freude, nun ich weiß, daß wir alte Freunde sind und eine gemeinsame, liebe Freundin hatten. Schon daran zu denken, ist mir so wohltuend.« Er fragte nun, ob Dori ihm wohl dann und wann etwas vorlesen wollte, das mangelte ihm am meisten, daß die Wärterin ihm den Dienst nicht leisten konnte; es selbst zu tun, war ihm vom Arzt untersagt, er fühlte auch selbst, daß es ihn zu sehr anstrengte. Dori bezeugte ihre herzliche Freude darüber, das tun zu dürfen, und wollte auch gleich mit Eifer die Tätigkeit beginnen, aber Herr von Aschen sagte, heute wolle er sich an ihrer Unterhaltung erfreuen. Sie sollte ihm erzählen, was sie alles erlebt hatte, seit sie sich in der mit brennender Sehnsucht nach seiner Heimat verlangte; da sie wieder das Lächeln der Freude auf dem Antlitz leuchten sah und seinen Blicken folgte, wie sie zwischen dem Fieberschlummer durch auf den Meereswellen und den von Möwen umflatterten Felsen im Wasser so still befriedigt hafteten.

»O, wie freu' ich mich, Dori, daß du etwas für den guten Herrn tun kannst«, sagte Dorothea jetzt, »ist er sehr leidend?«

Davon wußte Dori nun eigentlich gar nichts zu sagen.

Vor Freude über das Wiederfinden hatte sie ganz vergessen, daß sie ja als Krankenwärterin gekommen war. Das nächste Mal wollte sie aber alles gut machen, versprach sie der Mutter.

Jeden Tag wanderte Dori nun nach der Villa hinauf und blieb bei ihrem Kranken, bis die Nacht einbrach. Sagte Herr von Aschen dann wieder in seiner freundlichen Weise, wie er so oft tat: »Wie die Zeit doch verschieden vergeht. Mir kommt es vor, als haben die Nachmittage kaum noch die Hälfte der Stunden, die sie sonst hatten«, dann kehrte Dori mit einer Freude im Herzen nach Hause zurück, wie sie solche nie gekannt hatte. So konnte sie dem guten Herrn wirklich ein wenig wohltun, daß ihm die Stunden so schnell vergingen. Wie hätte sie so etwas sich je denken können! Aber Herr von Aschen sagte es ja selbst, es mußte doch so sein. Ihr Gang zur Villa hinauf wurde Dori täglich lieber. Erst hatte sie dem alten Herrn etwas vorzulesen, es wurde ihm eine Menge von Schriften und Büchern zugeschickt. Aber er konnte das Vorlesen nicht lang ertragen, es ermüdete ihn. Dann wünschte er, daß Dori ihm erzähle von allen ihren Kindererinnerungen und dem schönen Lande ihrer Kindheit, das sie immer wieder in so glühenden Farben schilderte, daß Herr von Aschen seine besondere Freude daran hatte. Auch kannte er ja alle die Plätze und Wege und freute sich der eigenen Erinnerungen an viele der geschilderten Orte. Auch von Doris Vater hörte er gern erzählen, wie er sein Kind unterrichtete, und wie die beiden auf den sonnigen Höhen über dem blauen See viele Stunden lang saßen; wie der Vater malte und Dori las, und dann wieder beide sangen zusammen.

Diese Schilderungen ermüdeten Herrn von Aschen nie, Und Dori war überglücklich, wenn er sie immer wieder aufforderte, von dem Leben in Cavandone und den Kindertagen zu erzählen, öfter schon hatte Dori auch von dem Fräulein sprechen wollen, das einen Eindruck auf sie gemacht, den sie nie vergessen hatte. Aber Herr von Aschen war immer schnell auf ein anderes Gespräch übergegangen, Dori fühlte wohl, wie er auswich. Es schmerzte sie tief, daß der gute Vater immer noch ein solches Weh über die Trennung empfinden mußte, daß er gar nicht von seiner Tochter sprechen konnte. Eben war Dori wieder bei einer ihrer lebhaften Schilderungen angekommen. Sie erzählte Herrn von Aschen, wie sie die wilden Rosen bei der Ruine von Steinsberg geholt hatte, und wie ihr dabei plötzlich die Rosen der Heimat vor die Augen gekommen seien, und wie sie damals die allerschönsten davon in ihr Körbchen gepackt und sie nach Pallanza hinuntergetragen hatte. Dori hielt plötzlich inne. Auch Herr von Aschen schwieg. Jetzt kniete Dori nieder, ergriff seine Hände und küßte und liebkoste sie: »Ach Herr von Aschen«, sagte sie zärtlich, »wenn doch nur auch an mir irgend etwas wäre, das Ihnen auch nur wie ein Stückchen von einem lieben Kinde erscheinen könnte. O, was wollte ich tun, wenn ich das erreichen könnte.«

»Mein liebes Kind«, sagte der alte Herr, sie freundlich streichelnd, »das hast du ja schon lang erreicht. Ich will dich auch du nennen, daß du es besser fühlest; nicht nur ein Stückchen von einem solchen, nein, ein liebes Kind bist du mir geworden, ohne das mir die Tage so dunkel und schwer würden hier, daß ich nicht daran denken darf. Aber du kommst täglich als ein Sonnenstrahl in dies Haus und machst es mir hell und warm.«

»Gott Lob und Dank! Dann bin ich doch jetzt kein unnützes Geschöpf, wenn ich es auch später einmal werden muß«, sagte Dori in Dank und Freude.

»Was sprichst du, Kind?« fragte verwundert der Kranke.

»O, Herr von Aschen, Sie sind so gut wie ein Vater zu mir, Ihnen darf ich alles sagen und Ihre Worte sind mir ein solcher Trost. Alle meine Verwandten sagen mir, daß ich ein unnützes Geschöpf werde, weil ich nicht tun kann, was sie meinen, und mit einem Mann durch das ganze Leben gehen, der mir gar nicht lieb ist, und mit dem ich nichts teilen kann von allem, was mir am Herzen liegt. Und sie sagen, später stehe ich einmal ganz allein in der Welt als ein unnützes Geschöpf. Da bin ich einmal erbittert gegen sie, daß sie mir so etwas sagen dürfen, und einmal denk' ich, etwas wird doch daran sein, ich bin nirgends recht zu gebrauchen. Ich bin nicht, wie sie sind, und gehöre nicht zu ihnen; und zu andern, mit denen ich gern leben möchte, gehöre ich auch wieder nicht, weil ich so ungebildet bin und so unwissend, und zuletzt muß ich immer fühlen, daß sie doch recht haben und daß ich ein unnützes Geschöpf bin, das nirgends hingehört.«

Herr von Aschen hatte ruhig zugehört, wartete auch jetzt noch eine Weile, bis Doris Aufregung sich wieder gelegt hatte, dann sagte er in herzlicher Weise: »Weil es so steht, mein liebes Kind, so will ich nun auch etwas sagen, was ich dir sonst vielleicht nicht ausgesprochen hätte. Ich weiß nicht, was an deiner geistigen Ausbildung mangeln sollte. Was du als Mangel empfindest, das kannst du dir vorweg aneignen und tust es. Was es auch sei, worüber ich mit dir spreche, du kannst mir gleich folgen und verstehst mich. Alles, was du hörst und liest, fällt auf einen frischen, empfänglichen Boden, wird gleich verarbeitet und wird dein Eigentum. Wie du mir vorliest, ist für mich ein Genuß, wie er mir noch durch keinen Vorleser geworden ist. Ich empfinde völlig, wie du jedes Wort durchlebst, das du mir liest, deshalb fällt es auch gleich mit dem vollen Sinn in mein Ohr; es geht auch kein Pünktchen verloren und keines bleibt unklar, das ist eine wahre Wohltat, die du mir erweisest. Eine andere Art von Vorlesen, so wie ich sie kannte, könnte ich nicht mehr ertragen, ich wäre zu müde dazu. Aber noch größere Wohltat tust du an mir mit deiner weichen, geschickten Hand, die mir alles zurecht macht, ich weiß nicht wie, aber immer so, daß mir nichts mehr hart vorkommt, wo ich mich hinsetze oder lege, daß mich nichts mehr schmerzt, daß ich nichts mehr entbehre, daß meine Stube mir wie eine Heimat geworden ist. Aber noch tiefer hinein kannst du wohltun mit deinem liebevollen Herzen, deiner warmen Teilnahme an anderer Leid und Weh, wie ich es täglich von dir erfahre und mich daran erquicke, als am einzigen, das mich noch erquicken kann. Wie solltest du ein unnützes Geschöpf werden können, wenn du dich mit deinem frohen Wesen, deiner wohltuenden Hand, deinem warmen Herzen solchen nahen willst, die danach sich sehnen, wie ich es tat? Denke dir, wie viele Alte, Elende, Verlassene ihre Tage trost- und hilflos verbringen müssen. Du kannst Trost und Hilfe bringen, wo du hintrittst, und du willst es, wie könntest du denn je ein unnützes Geschöpf werden!«

Herr von Aschen hatte so warm gesprochen, und Doris Herz war von seinen Worten so bewegt, daß ihre Tränen auf seine Hände fielen, denn sie kniete immer noch an seinem Stuhl. Aber es waren keine bitteren Tränen, sie weinte in Dank und Freude. Nun erfaßte sie mit einer besondern Herzlichkeit die Hand ihres alten Freundes und sagte mit immer größerer Wärme: »O, Herr von Aschen, Sie sind so gut und lieb zu mir, wie nur ein Vater sein kann, und ich habe Sie auch so lieb wie einen Vater, und darum tut es mir immerfort so schrecklich weh, zu sehen, daß Sie noch immer den gleichen Schmerz um Ihre Tochter erleiden und daß gar kein Trost dafür in Ihr Herz kommen kann. Sie können es nicht ertragen, nur von ihr sprechen zu hören, solch ein Weh muß Sie doch ganz aufzehren. O, wenn doch ein Trost für Sie zu finden wäre! Es gibt nichts, gar nichts, das ich nicht für Sie tun könnte, um einen solchen Trost zu erringen!«

Auf Herrn von Aschens Antlitz, das eben noch mit einem freundlichen Lächeln sich über die Knieende gebeugt hatte, kam ein Zug tiefen Schmerzes. Dann sagte er mit bewegter Stimme: »Du kannst fühlen, liebes Kind, daß du mir nahe stehst, wenn ich dir ausspreche, was ich noch nie ausgesprochen habe; zu keinem andern hätte ich es tun können. Es ist nicht nur die Trennung von meinem Kinde, die mich alle die Jahre durch gequält hat und noch quält, es ist die Grausamkeit, die ich gegen sie ausüben konnte!«

»O, das ist unmöglich«, wollte Dori entgegen sagen, aber er fuhr gleich fort:

»Laß mich es aussprechen, es ist so! Ich wollte nie ein Wort von ihrem Weggehen hören, ich konnte, ich wollte es nicht glauben. Sie hätte so gern dann und wann ein Wort mit mir darüber gesprochen, was sie innerlich durchmachte, vielleicht durchkämpfte, ich konnte es nicht ertragen. Sie sah es, sie versuchte es nicht mehr. Ich hoffte fort und fort, sie werde wieder kräftig und gesund werden, das Schwere gehe vorüber, wie auch alle schweren Gedanken. So ließ ich sie allein, ganz allein alle schweren Gedanken, ach Gott, wohl tiefe, schwere Kämpfe durchmachen, ganz allein. In einer Nacht rief sie mich, sie hatte einen Anfall von Bangigkeit. Sie sagte: ›Komm zu mir, Vater, ich gehe wohl bald.‹ Ich aber wollte schnell Hilfe haben, der Anfall mußte vorübergehen, nur gleich Hilfe! Ich stürzte hinunter, den Arzt zu holen, es währte zu lange, erst jemand zu wecken. Wir kamen zurück – da lag das Kind – tot. O, meine Verzweiflung! Allein, ganz allein hatte sie in ihrem letzten Kampf gelegen, allein, allein hatte ich sie gelassen, so verlassen mußte mein Kind sterben.«

Herr von Aschen verbarg sein Gesicht in seine Hände.

»Nein, nein, Herr von Aschen, gewiß nicht!« rief Dori mit größter Lebhaftigkeit aus, während ihr vor Teilnahme für den leidenden Vater die Tränen über die Wangen rollten, »gewiß, sie ist nicht allein und verlassen gestorben. Sie hat nicht mit schweren Gedanken gekämpft, so allein in der Stille hatte sie ganz andere Gedanken. Ich weiß noch so gut, wie sie zu mir sprach, damals, als Sie hinausgingen, um das Bild zu suchen. Und so leuchtend waren ihre Augen, als sie zu mir sagte, sie sei so froh, daß sie so sicher wisse, der liebe Gott habe sie so lieb wie ihr eigener Vater und er wolle sie nur glücklich machen. Und leise für sich sagte sie immer die Worte aus unserm Lied:

›Nimm meine Hand,
Wird mich die deine leiten.
Geht's auch durch Nacht und tiefe Dunkelheiten,
An deiner Hand
Geht's in ein selig Land‹

und davon werde ihr so wohl! O, gewiß fühlte sie diese Hand, die sie schon festhielt und hinüber führte, so daß sie gar keinen Augenblick allein und verlassen war«, setzte Dori in warmer Überzeugung hinzu.

Herr von Aschen hatte den Kopf aus seinen Händen erhoben und schaute auf Dori mit einer Spannung und Erwartung, als ob jedes ihrer Worte ein rettendes Wunder für ihn wäre. Er atmete tief auf, als sie schwieg.

»Dori, du weißt nicht, was du an mir tust«, sagte er und seine Stimme zitterte vor tiefer Erregung. »Besinne dich, besinne dich doch noch einmal recht auf jedes Wort, so daß du ganz sicher sein kannst, so sprach mein Kind zu dir, und dann sag mir noch einmal die Worte alle, auf daß sie in den langen Nächten voll Schmerz und Leid einen Lichtstrahl des Trostes in mein gequältes Herz werfen.«

Dori wollte gern sich noch besinnen, aber sie konnte Herrn von Aschen fest versichern, der wunderbar leuchtende Ausdruck auf dem Gesichte des kranken Fräuleins und ihre Worte der frohen Zuversicht seien so lebendig in ihrer Erinnerung geblieben, daß sie für diese ganz einstehen und sie durchaus nur ganz gleich wiederholen könne. Aber etwas stieg noch in ihrer Erinnerung auf, das die Kranke noch ausgesprochen hatte, wie sie so gern zu ihrem Vater von ihrer sicheren Hoffnung gesprochen hätte, um ihn auch froh zu machen. Aber sie wußte ja, daß er den Gedanken an eine Trennung nicht ertragen konnte.

.

Schon lange war die Nacht da, aber weder Dori noch Herr von Aschen hatten es bemerkt. Unverwandt lauschte er den Worten, die so warm von den Lippen der Erzählerin flossen; durfte diese doch nun endlich von dem Fräulein, das ihr so lieb geworden und dessen schnelles Wegsterben ihr so weh getan hatte, zu dem Vater sprechen und ihm alle Erinnerungen an sein Kind mitteilen, die sie in ihrem Herzen mit solcher Liebe bewahrt hatte. Jetzt wurde so fest an die Türe geklopft, daß Dori erschrocken aufsprang. Es war Frau Anne, die hereintrat und mitten im Zimmer still stehend, vorwurfsvoll bemerkte: »Wenn der Herr einmal etwas essen wollte, so würde es ihm besser tun, als nur reden.«

Herr von Aschen erhob sich in seinem Lehnstuhl: »Ja, Sie haben recht, meine gute Frau Anne«, sagte er freundlich, »bringen Sie mir nur, was Sie wollen.«

Sie entfernte sich wieder. Dori nahm nun schnell Abschied und ging. Aber noch bevor sie die Tür geschlossen, kehrte sie wieder um, es arbeitete etwas in ihrem Herzen. Die Art der Frau Anne und einige Worte, die der Kranke ausgesprochen, ließen ihr keine Ruhe.

»O, wenn ich nur um etwas bitten dürfte, Herr von Aschen! Darf ich wohl?« fragte sie zögernd.

»Gewiß darfst du, und ich will es auch gewähren, wenn es nicht über meine Kräfte geht«, entgegnete er lächelnd.

»Herr von Aschen, Sie haben oft so lange Nächte, Sie leiden und sind ganz allein, darf ich nicht von jetzt an bei Ihnen bleiben die Nacht durch? Ich setze mich in Ihren Lehnstuhl an Ihr Bett und bin ganz still und schlafe auch, wenn Sie wollen, nur damit Sie nicht so allein sind. Erlauben Sie mir's doch.«

Dori hatte bittend seine Hand erfaßt.

»Das ist ja, was ich oft schon selbst gewünscht habe, liebes Kind. Aber deine Mutter? Nein, nein, und du könntest darunter leiden, es kann nicht sein«, wehrte Herr von Aschen, aber in einer Weise, daß Dori wohl fühlte, es war nur um ihretwillen. Sie küßte seine Hand und ging.

Ihr Herz war so voller Freude, daß ihr vorkam, als frohlocke ringsumher alles mit ihr. Vom Himmel leuchteten in heller Freude die Sterne auf sie nieder, unten zogen die Wellen des Inn mit jauchzendem Rauschen dahin, sogar über dem schwarzen Pisoc lag ein lichter Streifen, wie ein Schimmer fern winkender Freuden, und in ihrem Herzen hörte sie immer wieder die guten Worte ihres väterlichen Freundes, der ja wußte, was er ihr sagte. Nein, ihr Leben konnte nie leer werden, sie war kein unnützes Geschöpf und würde nie ein solches sein. Es lag in ihrer Macht, wohlzutun, und solchen Menschen wohlzutun, wie Herr von Aschen war. Er war ja doch einer von denen, die sie hoch verehrte, von welchen sie sich in ihrem Herzen bisher hatte sagen müssen: Zu denen gehörst du nicht. Und nun wußte sie, sie war imstande ihm wohlzutun, er hatte sie lieb, so als wäre sie sein Kind, er selbst hatte es ausgesprochen. Dori hätte laut zu den leuchtenden Sternen aufjauchzen mögen.


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