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Siebzehntes Kapitel

Dori war mit dem völligen Einverständnis ihrer Mutter ganz nach der Villa übergesiedelt, um Herrn von Aschen nach ihrem Herzen pflegen zu können. In den langen Stunden der Nacht, die er durchwachte, saß Dori mit nie ermüdender Sorge an seinem Bett. Wie wohltuend ihm ihre Nähe war, konnte sie fühlen. Immer wieder suchte er ihre Hand und hielt sie fest. Er hatte es gern, wenn sie zu ihm sprach, und was sie auch zu erzählen begann, in kurzer Zeit war sie wieder bei ihren Erinnerungen an das Fräulein, das wie ein Engel auf ihren Weg getreten war, ihr so gute Worte gesagt und ihrem Vater noch die letzte Freude bereitet hatte. Dori fühlte auch wohl, daß der Vater, nachdem er einmal sein Leid ausgesprochen hatte, am liebsten immer wieder von seinem Kinde hören wollte und gern sich nun in die Erinnerungen an die vergangenen Tage versenkte, da das geliebte Kind bei ihm und die Freude seines Lebens war.

Lang schon hatte Dori Herrn von Aschen erzählt, wie dort am sonnigen Berghang sitzend und malend ihr Vater sie das Lied singen gelehrt, welches sie dem Fräulein aus dem kleinen, ihr geschenkten Buch hatte vorlesen müssen.

Herr von Aschen hatte gewünscht, daß sie es ihm vorsinge. Seitdem hatte er Dori oft gebeten, ihm etwas zu singen, was es war, alle ihre Lieder hörte er gern, ihre Stimme tönte wie die der Vöglein im Frühling so lieblich und wohltuend in sein Herz hinein, sagte er.

Eben hatte Dori das kleine Licht für die Nacht bereit gemacht, Flasche und Tassen und Becher und was sie während der Nacht zu brauchen gedachte, zusammengestellt und setzte sich nun in ihren großen Lehnstuhl zurecht. Alles war so leise ausgeführt worden, daß keiner ihre Gegenwart geahnt hätte, der nicht davon wußte.

Der Kranke hatte die Augen schon seit einiger Zeit geschlossen, darum nahm Dori sich noch besonders in acht, daß keine ihrer Bewegungen den vielleicht leise Schlummernden störe.

Jetzt waren ihre weit offenen Augen mit einem liebevoll forschenden Ausdruck auf das blasse Antlitz des Kranken gerichtet. Auch er hatte die Augen geöffnet.

»Schlafen Sie denn nicht, Herr von Aschen? Sie haben doch keine Schmerzen?« fragte Dori, sich teilnehmend über ihn beugend.

»Nein, nein, ich wartete, bis du hier neben mir sitzest und mir noch ein Lied singest«, sagte der Kranke.

Das wollte Dori mit Freuden tun, er sollte nur sagen, was er zu hören wünsche.

»Sing das Lied, das du in meines Kindes Buch gefunden hast«, wünschte er.

»O ich weiß, Sie meinen das erste, das ihr selbst so lieb war; nachher habe ich noch viele daraus gelernt, aber Sie meinen wohl das.« Und Dori begann zu singen und fuhr fort, da Herr von Aschen zustimmend nickte:

»Nimm meine Hand,
Wird mich die deine leiten.
Geht's auch durch Nacht
Und tiefe Dunkelheiten,
An deiner Hand
Geht's in ein selig Land.«

Als Dori so weit gesungen hatte, sagte Herr von Aschen: »Und du sagst, daß mein Kind so von diesem Liede sprach, als sei sie fest überzeugt von dem, was diese Worte sagen, so als hätte sie schon ein Erfahren davon im Herzen, sagtest du nicht so?«

»Ja, ja, so war es«, bestätigte Dori eifrig. »O und hätten Sie nur ihre Augen gesehen, wie sie mir sagte, das Lied sage sie sich so gern vor, es war, als schauten sie schon in das selige Land hinein.«

»Wie kam das Kind nur zu diesem festen Glauben? Sie mußte ihren Weg so allein machen, an mir hatte sie keinen Führer, ich war ihr kein rechter Vater.« Der Kranke wandte sich schmerzlich stöhnend ab.

Das ging Dori sehr zu Herzen: »Aber Herr von Aschen, das Fräulein hatte den allerliebevollsten Vater, den man nur haben kann, das weiß ich von ihr selbst«, versicherte Dori, »wenn Sie ihr nicht selber den Weg gezeigt haben, der sie so glücklich machte in allem Leid, so hat sie ihn vielleicht gerade mit um so größerem Verlangen nach Trost und Hilfe gesucht, weil sie ihre schweren Gedanken allein durchkämpfen mußte und nicht mit Ihnen von ihrer Krankheit sprechen durfte. So hatten Sie ja auch einen Teil daran, daß sie glücklich wurde durch den gefundenen Trost.«

Herr von Aschen hatte sich wieder zu Dori gewandt. Mit einem traurigen Lächeln sagte er: »Du meinst es gut mit mir. Wie du kann ich freilich nicht denken. Ich kannte ja den Weg auch einmal, ich hatte eine fromme Mutter. Der Segen dieser Großmutter lag auf meinem Kinde. Sie hat es in ihre Arme genommen, als das Kind so früh schon seine Mutter verlor. Leider konnte sie es nur wenige Jahre pflegen, dann ging auch sie von uns. Ja, wer die Wege seiner Kindheit noch einmal betreten könnte, die alten guten Wege«, setzte er wie für sich hinzu.

»Kann man nicht zurückgehen und sie wieder aufsuchen?« fragte Dori, einen halb scheuen, halb bittenden Blick auf den Kranken werfend.

»Wie einen Weg wieder finden, den man seit den Tagen seiner Kindheit nicht mehr gekannt hat, er ist mir wie verschüttet«, sagte leise der Kranke.

»Aber wo man an einem verschütteten Weg steht, darf man doch um Hilfe rufen«, sagte Dori, zuversichtlicher gemacht dadurch, daß der Kranke zu sprechen fortfuhr.

»Um Hilfe rufen, wenn man dem, der helfen sollte, ein Leben lang den Rücken gekehrt hat, um seinen eigenen Weg zu gehen, ihm nicht einmal für ein schönes reiches Leben gedankt hat! Nein, nein, wie sollte ich Hilfe verdienen?« Der Kranke wandte sich ab.

Aber Dori sah wohl, daß es nicht war, um zu schlafen; er stützte seinen Kopf auf den Arm und blieb so, schweigend und in seine Gedanken versunken, der Wand zugekehrt.

»Ich möchte noch etwas sagen, wenn Sie nicht müde sind«, fing Dori wieder an.

»Sprich nur, Kind, sprich nur«, der Kranke kehrte sich wieder zu ihr.

»Es gibt doch noch etwas anderes als verdienen, das haben doch die Menschen vom lieben Gott gelernt. Wenn ein Mensch noch so viel verbrochen hat und schon verurteilt ist, so darf er ja doch noch um Gnade bitten und kann auch noch begnadigt werden.«

Herr von Aschen hatte Doris Hand ergriffen, er schwieg. Nach langer Zeit, als Dori dachte, ihr Kranker sei längst eingeschlafen, hörte sie, wie er halblaut vor sich hin sagte: »Ja, um Gnade bitten, du hast das rechte Wort gefunden, Dori.«

Herr von Aschen war sehr schwach geworden. Er erhob sich aber jeden Morgen und brachte den Tag in seinem Lehnstuhl zu, an dem Fenster sitzend, das ins Tal hinunterschaute.

Wenige Tage nach der nächtlichen Unterredung mit Dori wollte der Kranke von seinem Arzte wissen, auf welche Zeit er wohl seine Heimreise festsetzen dürfte, er wolle sich von einem Neffen abholen lassen. Der Arzt zuckte die Achseln. Er meinte, Herr von Aschen sollte eher daran denken, in seiner Villa zu überwintern. Er könnte ja seinen Verwandten herkommen lassen, um doch einige Gesellschaft an ihm zu haben, schlug der Arzt vor. Als er sich entfernt hatte und Dori wieder am Bette des Kranken stand, winkte er ihr, daß sie sich zu ihm hinsetze. »Ich möchte dir einen Brief diktieren«, sagte er. »Ich habe meinen Arzt verstanden, er wünscht, daß ich meine Verwandten benachrichtige, ich werde nicht mehr zu ihnen, sie sollen zu mir kommen. Nimm dieses Papier hier, Dori, und schreib erst diese Adresse. Das ist der Name meiner Schwester in Hamburg; nur diese einzige Schwester habe ich, aber sie hat eine große Familie, fünf Söhne und drei Töchter. Einer der Neffen wird wohl kommen, ob er mich noch findet, ist die Frage. Nun schreib, liebes Kind.«

.

Dori wischte erst die Tränen weg. Seit drei Tagen hatte sie heimlich manche weggewischt, es war ihr nicht entgangen, wieviel schwächer der Kranke von Tag zu Tag geworden war. Als sie den Brief zu Ende gebracht, trug sie ihn zur Frau Anne hinaus, damit diese ihn zur Post bringe. Als Dori wieder hereintrat, sah sie, wie Herr von Aschen in den Lehnstuhl zurückgesunken war, er schien zu schlummern, durch das offene Fenster hörte man die Glocken aus dem Tal heraufklingen. Dori setzte sich leise neben den Kranken hin.

»Du hast so schön gesungen, Kind«, sagte er mit leiser Stimme, »willst du nicht fortfahren?«

»Ich habe nicht gesungen, ich glaube, Sie haben die Klänge der fernen Glocken gehört«, entgegnete Dori. »Es ist Sonntag und sie läuten überall im Tal.«

»Es war so schön! Ich glaubte deutlich zu hören, wie du mit einer hellen Glockenstimme das Lied sangst, das mein Kind liebte.« Herr von Aschen sprach kaum hörbar.

Dori hatte ihn noch nie so müde gesehen. Sie legte ihren Arm um seinen Hals, damit er sich an sie lehne.

Er hielt ihre Hand fest: »Geh nicht mehr von mir, Kind, mir ist, als bete immer jemand für mich, wenn du bei mir bist. Willst du mir jetzt meines Kindes Lied singen?« Seine Worte waren immer leiser geworden.

Dori wollte singen, sie konnte nicht. Sie sagte die Worte, die sie singen sollte, mit zitternder Stimme Herrn von Aschen vor, indem ihre fallenden Tränen seine Hände benetzten. Er hatte sich auf ihren Arm zurückgelegt, Dori fühlte, er hatte zu atmen aufgehört. Gewiß war er ins sel'ge Land hinübergegangen. Sie nahm seine Hände und legte sie ineinander. Dann kniete sie neben ihm nieder und weinte leise, ihre Hände über den seinigen gefaltet, sie konnte nicht von ihm weggehen.

Es war eine gute Zeit vergangen, da trat der alte Melchior ins Zimmer, der Herrn von Aschen fast täglich einen kleinen Besuch machte. Auf sein Klopfen hatte niemand gehört, es war alles so still drinnen und doch mußte Dori da sein. So war er hereingetreten. Er hatte geahnt, was drinnen möchte geschehen sein. Leise trat er heran und legte die Hand auf die Schulter der weinenden Dori. »Du hast nun das Deine getan«, sagte er, eine Träne wegwischend, »geh du nun heim, Dori, was für ihn noch zu tun ist, das muß ich tun. Deine Dienste haben ihm wohlgetan, den meinen muß er nicht mehr fühlen. Lob und Dank sei Gott, der ihm das Irdische so leise abgenommen hat.«

.

Dori drückte noch einmal die kalten Hände und ging. An der Türe kehrte sie sich noch einmal um. Melchior stand mit gebeugtem Haupt und gefalteten Händen vor dem Entschlafenen. Ja, solchen Händen konnte sie die Hülle ihres geliebten zweiten Vaters getrost überlassen. Am Abend desselben Tages trat Melchior noch bei Dorothea ein. Er hatte eine Nachricht zu bringen, die Dori heute noch wissen mußte, denn was mit Herrn von Aschen zusammenhing, ging sie ja hier am nächsten an, meinte Melchior. Er setzte sich zu den Frauen hin und erzählte ihnen, wie er nach Doris Weggehen den Entschlafenen nach seinem Lager getragen und hingelegt und dann nach dem Arzt gegangen sei, ihn zum letzten Besuch zu holen und um seinen Rat zu bitten, was nun zu tun sei. Der Arzt kehrte gleich mit ihm zurück. Wie sie der Villa sich näherten, sahen sie eben einen Wagen vorfahren, ein junger Mann trat ins Haus. Er stand bewegt an des Entschlafenen Bett, als sie hereintraten, die Pflegerin hatte ihn gleich dahin geführt. Es war der Neffe des Herrn von Aschen. Die letzten Briefe, die der Onkel an seine Verwandten geschrieben, hatten diese beunruhigt und man hatte beschlossen, der älteste Neffe sollte herreisen und dem Onkel Gesellschaft leisten, bis er kräftig genug zu der weiten Reise wäre. Der junge Herr hatte dann mit Hilfe des Arztes alles angeordnet, um den Onkel nun in einer andern Weise mit nach der fernen Heimat zu bringen, wo er in einer Familiengruft neben seiner Tochter bestattet werden sollte.

Dori hatte leise weinend zugehört. Jetzt rief sie schluchzend aus: »Ach, daß ein so guter Mensch nicht mehr da ist! Gewiß war er für viele ein Wohltäter, und andere bleiben da, die für keinen Menschen eine Lücke hinterlassen würden.«

»Dori, Dori«, sagte Melchior mahnend, »meinst du, unser Herrgott wisse nicht, was für jeden das Rechte sei? Meinst du, du solltest ihm ein wenig in der Weltregierung nachhelfen? Aber du erinnerst mich mit deinen Worten zur rechten Zeit, daß ich dir noch etwas zu sagen habe, das hätte ich über unserm Verlust fast vergessen. Ich habe dich schon wieder an jemand so halb und halb versprochen, ich meine, da könntest du ganz wünschbar eine Lücke ausfüllen, was wohl das Bessere für dich sein wird, als eine solche zu hinterlassen. Da ist die Mutter des kleinen lahmen Jungen im Kurhaus, die in diesen Tagen zu verreisen wünscht und mich um eine Pflegerin angefragt hat. Wolltest du nicht hinaufgehen, mit ihr zu sprechen, Dori? Ich habe dich genannt als die rechte Hilfe, wenn du frei wärest, und nun bist du's ja.«

Dori war in dem Augenblick alles gleichgültig, ob sie etwas zu tun habe oder nicht.

Dorothea aber wußte wohl, wie wohltuend eine neue Tätigkeit für ihre Tochter sein würde nach der großen Leere, die Herrn von Aschens Tod ihr hinterlassen mußte. Sie dankte Melchior für seine Empfehlung und versprach, daß Dori sich der Sache annehmen werde, wenn es sich finde, daß sie dazu passe.

Melchior hatte einen letzten Gang in Herrn von Aschens Dienst zu tun, für sein Reisebettlein zu sorgen, wie er sich ausdrückte, dann ging er.


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