Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Am folgenden Nachmittag trat Dori beizeiten ihren Gang zur Nonna an. Am Fenster der Base Marie Lene schoß sie wie ein Pfeil vorüber, denn Dori begehrte nicht, daß die Base auch zu dem Gespräch bei der Nonna erscheine. Diese schaute ein wenig verwundert auf, als Dori eintrat, doch hieß sie das Mädchen willkommen. Es mußte sich neben die Nonna hinsetzen, und diese fing nun in ihrer behutsamen Weise zu forschen an, ob die Mutter mit ihrer Tochter recht eingehend über die wichtige Angelegenheit gesprochen, und ob Dori denn so schnell einen Entschluß gefaßt habe, daß sie bei ihr erschien, oder ob sie sich noch weiteren Rat holen wollte. Dori fuhr gleich heraus: »O, ich war von Anfang an ganz fest entschlossen, Nonna, daß ich nicht Niki Samis Frau werden will. Ich weiß auch gar nicht, wie ihm so etwas nur in den Sinn kommen kann, wir sind ja immer und in allem ungleicher Meinung, und er hat gewiß nicht mehr Freude, mit mir zusammen zu sein, als ich mit ihm, ich glaube gewiß, aus lauter Langeweile, weil er nicht mehr weiß, was er mit seinem Tag anfangen will, hat er das erfunden.«

»Sprich nicht so unbesonnen«, sagte die Nonna tadelnd, »du zeigst damit nur, wie wenig du weißt, was die Sache ist, die wir zu besprechen haben, und wie wenig ernsthaft du darüber nachgedacht hast, wie gut es darum ist, wenn andere es für dich tun. Du bist auch noch so jung, daß man es dir nicht verargen kann, aber darum mußt du auf die Worte derer hören, die es besser wissen. Siehst du, Dori, die ungleichen Meinungen, von denen du da sagst, werden im Zusammenleben sich immer gleicher, das erfährt man jeden Tag, und je mehr man miteinander erlebt, je mehr kommt dann auch die Freude, immer noch Weiteres miteinander zu erleben. So wird man dann in jeder Weise immer befriedigter und auch immer reifer miteinander, so daß das Ungleiche der frühen Jugend abfällt. Man hat ja miteinander einerlei Leid und einerlei Freud', das kommt dann unwillkürlich. Wenn nur keine Sorgen und schwere Lasten zu tragen sind, sowie Armut und allerlei Mangel, das stört die Eintracht mehr als alles andere. Dort unten habt ihr doch ein recht ärmliches Leben geführt, ich bin so froh für dich, daß du nun auch kennen lernst, was doch für rechte Leute zum Leben gehört, so daß man auch seines Daseins froh und sicher werden kann.«

»O Nonna, kein Mensch kann seines Daseins froher sein, als wir es dort unten in Cavandone waren«, rief Dori jetzt in großer Lebhaftigkeit aus.

»Du hättest immer deutlicher gefühlt, was euch alles mangelt«, fuhr die Nonna bestimmt fort, »du warst noch zu jung, es zu beurteilen. Siehst du, ihr hattet gar nichts, gar keinen Boden unter den Füßen. Was aus den Bildern des Vaters gelöst wurde mit dem Wenigen, das die Mutter von hier bezog, war gerade so viel, daß ihr leben konntet, weiter gar nichts. Dein Vater und deine Mutter mußten unter dem ärmlichen Dasein leiden, aber sie wollten es so.«

»Nein gewiß nicht, Nonna, sie litten gewiß nicht«, warf Dori immer lebhafter werdend ein. »O, sie waren so froh und glücklich, wie man nur sein kann. Ich war nicht zu jung, das zu sehen. Und wir hatten ja gar keinen Mangel, was wir brauchten, hatten wir alles reichlich. O, und wie der Vater noch bei uns war und wir lernten und lasen und sangen, und er malte dort auf den Steinen, wenn es oben durch die Kastanienbäume rauschte – Nonna, es gibt auf Erden kein schöneres Leben, als wir es hatten! O, und wie die Mutter hinter dem Laub auf der Terrasse saß, wenn wir heimkamen, und so froh aussah! Und dann holte sie Kastanien und Trauben und Milch und Butter auf den Tisch, und die Sonne schimmerte zwischen den großen Blättern durch, daß man auf dem Fußboden die Schatten der Blätter so lustig hin- und herwehen sah – o Nonna, wenn ich daran denke.« Dori hatte die glänzenden Augen voll großer Tränen. Das war nun der Nonna nicht recht, sie hatte mit dem Erinnern an das frühere Leben etwas ganz anderes zu erreichen gehofft. Daß diese Erinnerungen so schön in Doris Herzen fortlebten, ja sogar ihre Sehnsucht immer wieder nach dem früheren Leben weckten, hatte sie nicht gewußt. Sie brach schnell ab. »Wir wollen nun nicht mehr von dieser Sache reden heute. Du hast eben die Erinnerungen eines Kindes noch in deinem Herzen, es wird dir mit den Jahren schon alles anders vorkommen. Ich will dir nun noch etwas vorschlagen und ich hoffe, es wird dir und mir zur Freude ausfallen. Ich möchte einmal wieder den Vetter Niklaus in Ardez besuchen und will morgen ein Nachmittagsfährtchen dort hinauf machen. Dazu wollte ich dich und deine Mutter einladen.«

Dori schaute die Nonna fragend an: »Aber ich kann doch jetzt nicht einen Besuch droben bei –«

»Ich weiß schon, was du sagen willst«, unterbrach sie die Nonna, »daran habe ich schon gedacht. Morgen ist großer Viehmarkt in Zernez, da geht der junge Vetter hinauf und wir treffen den Paten ganz allein. Bei dem können wir nun gut einen Besuch machen, wenn auch noch gar kein Entscheid getroffen ist. Sag deiner Mutter, daß es mich freut, wenn ihr beide mich begleitet, ich rechne darauf. Zweispännig fahren wir freilich nicht, wie Niki Sami es kann, der steht eben ganz anders, als alle seine Verwandten«, setzte die Nonna mit Nachdruck hinzu; »der Jakob fährt uns dann mit seinem Roß hinauf.«

Dori mußte versprechen, sich mit der Mutter bereit zu halten, dann verließ sie das Haus der Nonna.

Dorothea erwartete in der höchsten Spannung und Unruhe Doris Rückkehr. Immer größer wurde ihre Angst, je länger das Gespräch zwischen der Nonna und ihrem Kinde dauerte. Was würde das Ende davon sein? Jetzt hörte sie den wohlbekannten, raschen Schritt. Dori trat herein.

»Und nun?« fragte Dorothea mit angehaltenem Atem.

Dori mußte sich ein wenig besinnen. »Ich weiß gar nicht, wie es nun ist, ob mir's die Nonna glaubt, daß ich's nicht tun kann«, berichtete Dori dann. »Zuletzt haben wir von Cavandone geredet; da ist mir unser Leben und alles von dort unten so lebendig vor den Augen aufgestiegen, daß ich an nichts anderes mehr gedacht habe. Aber richtig, morgen müssen wir mit der Nonna nach Ardez hinauffahren.«

Dorothea schaute ihre Tochter im höchsten Erstaunen an.

»O, du mußt nicht denken, daß das etwas mit dieser Sache zu tun hat«, sagte Dori harmlos, »wäre Niki Sami daheim, ginge ich gewiß nicht, aber der ist fort. Die Nonna will den Paten besuchen, und zu dem geh ich ganz gern, er ist mir recht lieb.«

Dorothea sagte nichts mehr, aber ihre Gedanken kamen in eine neue Unruhe; die Nonna sah die Sache nicht als abgeschlossen an, das war ihr gewiß.

.

Zur festgesetzten Zeit des anderen Tages fuhr die Nonna vor, um die Eingeladenen abzuholen. Die Unterhaltung der Gesellschaft, die im kleinen Wagen nah zusammen saß, drehte sich längere Zeit um den Viehmarkt in Zernez, denn der Vetter Jakob konnte es fast nicht verschmerzen, daß er nicht dort war, und doch sagte er wieder, er sei der Nonna ganz dankbar, daß sie ihn heute davon abgehalten habe, sonst wäre es ihm wieder gegangen wie voriges Jahr, daß er viel mehr ausgegeben hätte, als es ihm anstehe, denn wenn man so prächtiges Vieh sehe, so könne man gar nicht anders. »Der da droben«, fuhr der Vetter fort, mit der Peitsche nach Ardez hinaufzeigend, »der Niki Sami hat es gut, der kauft das schönste Paar Ochsen, wie andere Leute eine Stallkatze, ohne umzusehen. Was der für Vieh im Stall hat, das solltet ihr sehen! Diese Prachtskühe in dem großen, saubern Tanzsaal stehen zu sehen, so eine an der andern und eine runder und glänzender als die andere, das ist eine Freude. Denn so ist sein Stall, akkurat wie ein Tanzsaal, es ist der Mühe wert, hineinzugehen.

»Das werden wir tun«, sagte die Nonna, »dazu haben wir Zeit heute.«

Der Pate mußte Bericht erhalten haben von dem kommenden Besuch. Er war gar nicht überrascht, als die Frauen bei ihm eintraten, aber er bewillkommte sie mit großer Freundlichkeit. Er rief gleich nach der Ursel, daß sie einen guten Kaffee bereite. Es währte auch gar nicht lange, so wurde dieser schon aufgetragen und die Gesellschaft begab sich an den Tisch.

»Wo kein Junger da ist, da nimmt man mit einem Alten als Nachbar vorlieb«, sagte der Pate und setzte sich neben Dori hin.

»Ich wünsche gar keinen andern Nachbar«, gab diese zurück.

»Niklaus«, nahm hier die Nonna das Wort, »ich habe im Sinn, heute einmal wieder durch alle Räume des Hauses zu gehen; wenn ich schon weiß, daß die Wirtschafterin alles in Ordnung hält, so kann es nicht schaden, daß ich einmal allem nachsehe. Und dann werden die Base Dorothea und ihre Tochter auch gern einmal ein so geordnetes Haus anschauen. Die Truhen droben, die noch angefüllt sind mit dem selbstgewobenen Tuch der seligen Base, und dann die gefüllten Speicher und auch den Stall und die heureiche Scheune wollen wir ansehen, und nachher gehen wir noch die gewölbten Keller zu betrachten, die sind besonders schön, und die großen Fässer darin sind auch merkwürdig. Daß Eure Veltlinerweine weit und breit bekannt sind, daran haben diese vorzüglichen Keller auch ein besonderes Verdienst.«

»Ja, und die guten Sorten, die man hineinbringt, nicht weniger«, sagte der Pate mit Lächeln. »Kommt ihr dann von eurem Gang zurück, so nehmen wir einen Schluck von dem Hundertjährigen, Nonna. Ich werde ja sitzen bleiben dürfen, der Jakob führt euch durch Scheune und Stall, und die Ursel durch das Haus und die Speicher, die Schlüssel hat sie.«

So wurde es festgesetzt, und sobald man vom Tisch aufstand, wurde die Wanderung angetreten. In der weiten, alten Stube droben, wo die großen Schränke und die hohen, bemalten Truhen standen, welche die Ursel alle aufgeschlossen hatte, konnte Dorothea vor Verwunderung keine Worte finden. Was da für Haufen aufgespeichert lagen von roher und gebleichter Leinwand, von gesponnenem Garn, von noch ungesponnenem Hanf und Flachs. Die angehäuften Schätze konnten Jahrzehnte durch für den größten Haushalt genügen.

»Wo ist Dori?« fragte Nonna die in Erstaunen versunkene Dorothea. Diese wandte sich um; sie meinte, Dori müsse hinter ihr stehen, sie war ja eben mit ihr hereingetreten. Dorothea schaute in die Nebenstube hinein, sie begriff nicht, wohin das Mädchen verschwunden war.

»Geht hinunter, Ursel, und schaut nach, ob die junge Base beim Paten sitzen geblieben, oder ob sie etwa in den Garten hinab gegangen ist, sie soll kommen, wir haben noch viel zu sehen.«

Ursel ging und kam mit dem Bericht zurück, die junge Base sei nirgends zu finden. Nun ordnete die Nonna an, Dorothea solle mit der Ursel weitergehen und sich alles recht zeigen lassen, sie selbst wollte in die Stube zurückkehren und warten, bis Dori wieder zum Vorschein komme und dann mit ihr nachfolgen. Die Nonna setzte sich unten zum Paten hin. Sie kam nicht oft in Aufregung, aber diesmal war sie's. Sie redete sich auch immer noch ein wenig mehr in die erregte Stimmung hinein, indem sie dem Paten vorstellte, wie schwer es für die Verwandten sei, Daniels Enkelin in ein gutes Geleise und auf einen rechten Lebensweg zu bringen, nachdem die Mutter das Kind ohne alle herkömmlichen Begriffe und Bedürfnisse eines geordneten Lebens hatte aufwachsen lassen. »So kommt es«, fuhr sie in ihrer Schilderung fort, »wenn so fremder Eintrag in den guten Zettel des Landes eingewoben wird. Da muß ich Marie Lene recht geben, man kann nicht absehen, was da für ein fremdartiges Gewebe daraus wird. Es ist ja ein unerhörtes Glück für die beiden, daß ihnen hier eine Heimat, und dazu eine solche geboten wird, so können beide wieder in die ehrenfesten Fußtapfen ihrer Vorfahren kommen. Niki Sami hat mit mir über sein Vorhaben gesprochen und ich hatte meine Gedanken dabei, das Mädchen einen Einblick in das wohlbestallte Haus tun zu lassen. Danken könnten freilich beide anders dafür, was ihnen geboten wird, als sie es bis jetzt getan haben, aber man muß es der Älteren zugut halten, weil sie gar zu jung weggekommen ist und die anerzogenen guten Ansichten und Begriffe im fremden Land verloren hat, und der Jüngeren darum, weil sie gar nicht dazu erzogen worden ist. Nicht einmal so viel hat die Mutter der Tochter beigebracht, daß man die ältesten der Verwandten so weit achtet, daß man bei ihnen bleibt, wenn man eingeladen ist.«

Der Pate stieß immer dickere Rauchwolken aus seiner Pfeife, die Aufregung hatte sichtlich auch ihn ergriffen, da mußte ein Ausbruch bevorstehen. Jetzt kam Dorothea und hinter ihr her der Jakob zur Tür herein, sie hatten ihre Gänge beendet. Dorothea forschte ängstlich durch die dicken Rauchwolken, ob sie dahinter entdecken könne, was sie suchte. Die Nonna und der Pate suchten durch den Rauch zu erblicken, daß noch jemand hinterher eintrete, es war nichts, Dori war nirgends zu sehen. Wortlos winkte der Pate der Ursel, daß sie auf den Tisch bringe, was im Schrank stand. Die Gläser wurden gefüllt, es wollte kein Gespräch in Gang kommen. Dorothea schaute mit immer angstvolleren Blicken nach der Türe. »Wenn dem Kinde doch nur nichts begegnet ist«, sagte sie endlich mit gepreßter Stimme.

»Sie wird das Begegnen wohl selbst machen«, bemerkte die Nonna kurz.

»Vielleicht ist sie ein wenig gegen Zernez hinauf gegangen, so mit dem Gedanken, sie könne etwas vom Markt sehen«, bemerkte der Vetter Jakob. »Es ist ja recht, daß sie Freude an einem schönen Viehstand zeigt und etwas davon versteht, wenn doch der Niki Sami ein Auge auf sie hat, wie meine Frau sagt.«

»Ich meine, Dori macht sich wenig aus dem, was andere für Pflicht und Recht ansehen, vielleicht ist sie's auch nie gelehrt worden«, sagte die Nonna mit einem wohl zu verstehenden Blick auf Dorothea.

»Kreuz-Fahnen-Donnerwetter, wie hast du denn auch dein Kind dressiert, Base?« fuhr jetzt der Pate los. »Hast du denn auch einen völligen Heiden und Türken zum Manne gehabt, und habt ihr dort unten unter lauter Kannibalen gelebt, bis dich ein unverdientes Glück wieder zu Christenmenschen gebracht hat?« Er schnaubte seinen Rauch in völligen Gewitterwolken heraus, und unter den dicken Brauen hervor schoß er vernichtende Blitze auf Dorothea. Sie durfte kein Wort erwidern.

.

Jetzt ging die Tür auf und Dori trat herein, in der Hand einen großen Strauß der schönsten wilden Rosen tragend, die in ihrem lieblichen Hellrot wie ein Abglanz von den glühenden Wangen des Mädchens schimmerten. Doris braune Augen funkelten vor Wonne. Aller Blicke trafen sie, wie sie hereintrat. Welche Blicke! Wie lauter Blitze und Gewitter waren sie anzuschauen. Die Mutter sah aus, als wolle sie zusammenbrechen vor Angst und Not. Dori stutzte. Die Nonna schaute auf Dorothea, ihr Blick sagte deutlich: Es ist an dir, zu reden. Dorothea brachte kein Wort hervor.

Nun fing die Nonna zu sprechen an: »Es ist nicht schön, wie du dich zeigst, Dori. Du wirst von den Verwandten eingeladen und freundlich behandelt und du läufst von allem weg, als ob es nichts wäre, und gebärdest dich ganz wild, unerzogen und undankbar. Besonders gegen den gastfreundlichen Paten, den du schon um des Alters willen ehren solltest, und der dir mehr Freundlichkeit erwiesen hat, als du verdient und, wie es scheint, empfunden hast. Du hast mit Undank und Rücksichtslosigkeit seine Güte gegen dich zurückbezahlt.«

Dori ging schnell zu dem Paten heran, faßte ihn ganz zärtlich um den Hals und hielt ihn fest: »O seid doch nicht bös auf mich, Pate«, bat sie mit herzlichem Ton, »ich habe Eure Freundlichkeit wohl empfunden und wollte gewiß nicht undankbar gegen Euch sein. Aber Ihr wißt ja wohl, Ihr selbst habt es mir erlaubt, wenn ich wiederkomme, so dürfe ich zur Ruine von Steinsberg hinauf und die wilden Rosen holen. Da habe ich gedacht, am besten könne ich gehn, wenn nun die Nonna und die Mutter das Haus und alle die Sachen ansehn wollen, dann vermisse mich gewiß niemand, und so bin ich denn schnell gelaufen, und es war so schön. Aber es ist mir so leid, wenn es Euch nicht recht war, undankbar bin ich gewiß nicht gegen Euch, Pate, seid doch nur wieder gut mit mir!«

Da schmolz das alte Soldatenherz wie Wachs an der warmen Sonne. »Ja, ja, das ist wahr, ich habe es ihr selbst erlaubt, daran hab' ich nicht mehr gedacht, aber es ist ganz wahr«, sagte er, und seine Stimme klang so herzlich, daß Dorothea wieder aufatmen konnte. »Man muß auch dem Kinde nicht alles so übel nehmen«, fuhr er fort, »sie hat nun einmal ihre eigenen Freuden, die soll man ihr lassen. Und wenn die Sache krumm geht, so ist sie nicht schuld daran. Komm, junge Base, wir stoßen an. Hätt' ich meine vierzig Jahre weniger aufgeladen, so würde alles anders gehn. Und Ihr auch, Nonna, kommt, wir stoßen noch einmal auf den allgemeinen Frieden an.«

Die Nonna war aufgestanden. Ein wenig steif sagte sie: »Es ist Zeit, daß wir heimfahren. Ich trinke nicht mehr, Niklaus. Man könnte wirklich denken, Ihr wäret heute um einige Jahrzehnte zurückgekommen; daß nicht die Vernunft um so viel zurückgeht, wenn es die Jahre nicht tun wollen, darauf sollte einer achten.«

Der Abschied wurde allerseits kurz abgetan, die Heimfahrt wurde angetreten und ohne Unterhaltung zurückgelegt. Als Dorothea mit der Tochter an der Halde ausstieg, sagte die Nonna zu der letzteren: »Komm zu mir herunter morgen, ich habe noch einmal mit dir zu sprechen.«

»Mutter«, sagte Dori, als sie in die Stube eingetreten waren, »sonst war die Nonna immer so freundlich und gut mit mir, jetzt ist sie wie verändert, sie mag mich, glaube ich, gar nicht mehr.«

»Doch, doch, sie möchte ja nur dein Glück, das weiß ich«, versicherte die Mutter, »und ich muß froh sein, wenn sie noch einmal mit dir reden will. Siehst du, Dori, ich kann nichts mehr sagen, ich weiß nicht, was das Rechte ist, was man tun soll, daß nicht nachher die Vorwürfe uns quälen und verfolgen.«

Dori wurde von der Nonna, bei der sie der Aufforderung gemäß am andern Tag erschien, sehr kurz empfangen. »Ich habe dir noch eines zu sagen«, begann die Nonna, als Dori sich zu ihr gesetzt. »Du denkst bei unserer Sache nur an dich, oder du denkst vielleicht gar nichts, sondern leichtfertig und eigensinnig und ohne Überlegung willst du ein Anerbieten zu einer schönen und ehrenhaften Lebensstellung wegwerfen. Du hast aber an jemand dabei zu denken, an deine Mutter, das ist deine Pflicht. Sie wird älter und ist an keine feste Arbeit gewöhnt, wie du auch nicht. Ihr habt gerade genug, wenn ihr nichts begehrt, als so zu leben, daß ihr nicht Hungers sterben müßt. Kommen kranke Tage für eines von euch, oder sonst Unfälle, so seid ihr zu beklagen, und den Jammer deiner Mutter kannst du dann anhören mit dem Bewußtsein: Ich hätte ihr ein anderes Los bereiten können. Du hast es in der Hand, deiner Mutter für ihr ganzes Leben die schönsten Tage zu bereiten, dieser Frau, die von Herzen gut ist, aber die von Sorgen und Kummer gleich ganz umgeworfen wird, denn sie hat keine Kraft, solche zu tragen. Nun habe ich genug gesprochen in der Sache. Du hast zu überlegen, noch hast du Zeit, denk an meine Worte, bevor du leichtfertig und im Übermut handelst.« Die Nonna gab Dori die Hand zum Zeichen, daß die Unterhaltung fertig sei und die Erklärungen, die Dori machen wollte, unnütz seien.

Dori ging.

Unten vor ihrer Türe stand die Base Kathrine und sagte in trockenem Tone zu der Herunterkommenden: »Du kannst einen Augenblick herüber kommen; Marie Lene ist drinnen, wir haben dir ein Wort zu sagen.«

Dori trat ein.

»Wenn es dir der Hochmut nicht zuläßt, Niki Samis Frau zu werden«, fuhr Frau Kathrine fort, »weil du annimmst, für dich wäre einer gerade recht, wenn er eine Krone auf dem Kopf trüge, so will ich dir nur das sagen, für dich und deine Mutter, die zu schwach ist, dich auf den rechten Weg zu stellen: ihr müßt niemals denken, daß ihr noch einen einzigen Verwandten für euch habt, an dem ihr euch im Fall der Not, und der wird schon kommen, festhalten könnt. Was aus dir werden soll, wenn deine Mutter nicht mehr da ist, wirst du wohl selbst nicht wissen, aber erfahren wirst du's dann, wenn du mutterseelenallein dastehst.«

»Ein unnützes Geschöpf, das zu keinem Menschen gehört, und das kein Mensch nötig hat, das wird aus dir«, setzte Marie Lene hier ein, »aber das glaub nur, kein Mensch wird mit dir Mitleid haben, du hast es so gewollt, den Trost hast du, für dich und deine Mutter hast du's gewollt. Die arme, schwache Mutter, die hätte es freilich gern anders, wenn es die Tochter ihr gönnte. Denk dann einmal daran, daß die Basen es dir vorhergesagt haben, ein unnützes Geschöpf wirst du.«

»Kann ich jetzt gehen?« fragte Dori, mit der Hand auf dem Türschloß.

»Wenn du zugehört hast, als wir zu dir sprachen, so weißt du, woran du bist«, entgegnete Frau Kathrine.

»Ja, ich habe zugehört«, sagte Dori, und ging. Als sie in ihre Stube eintrat, saß die Mutter, den Kopf in die Hände gelegt, so tief in ihr Sinnen versunken, daß sie Doris Eintreten nicht einmal bemerkte. Waren denn die schweren Gedanken und Sorgen und die Verzagtheit schon bei ihr eingekehrt, und sollte nun wieder eine so traurige, trostlose Zeit kommen, wie sie nach des Vaters Tode eingetreten war? Eine Zeit, die Dori nie vergessen hatte. Das Herz wollte ihr stille stehen bei dieser Voraussicht. »Mutter, warum mußt du denn solchen Kummer haben?« rief Dori schmerzlich aus, »es ist ja doch kein Unglück, es war doch etwas ganz anderes, als wir den Vater verloren.«

Dorothea war aufgefahren, sie ergriff die Hand ihres Kindes: »Ach, das ist ja immer der erste Grund alles meines Kummers«, sagte sie, indem sie wirklich mit einem Ausdruck der alten Verzagtheit auf Dori blickte. »Ja, wenn er da wäre, dein Vater, da wäre alles augenblicklich im klaren und alles wäre gut. Aber ich sinne und sinne und weiß nicht, was das Rechte ist, und ich habe die Verantwortung für dich, das sagen sie mir alle und sie haben recht.«

»Nein, nein Mutter, ich habe ja die Verantwortung für dich, das haben sie mir so gezeigt, daß ich es schon einsehe«, entgegnete Dori lebhaft, »für mich hätte ich ja gar keinen Zweifel, es kommt mir immer ärger vor, je mehr davon geredet wird. Ich schäme mich, wenn ich nur daran denke, daß ich sagen könnte: Ich will Niki Samis Frau sein, und im Herzen steht es mir ganz deutlich: Ich mag nicht mit ihm sein, ich habe ihm gar nie etwas zu sagen, was er sagt, ist mir immer ganz gleichgültig, oder dann ärgert es mich. Ich mag ihn nur so leiden, weil er gutmütig ist.«

»Siehst du, Dori, die Nonna und die Basen meinen, das verändere sich dann schon, wenn ihr zusammenlebt, da werdet ihr euch dann nach und nach wohl verstehen, weil ihr dann von vornherein einen gemeinsamen Boden habt und an den gleichen Dingen teilnehmt, denn es trifft ja dann alles, Freud' oder Leid, euch beide miteinander.«

»Mutter, könntest du denn Freude haben, wenn du mich an den Niki Sami geheftet sähest, so daß er mein Allernächster sein sollte für immer, für immer!« rief Dori in verzweiflungsvollem Ton aus, »könntest du das?«

»Ach nein, das ist es ja, das ist ja, was ich immer in mir hin und her drehen muß«, jammerte die Mutter, »ich könnte keine Freude haben, ich meine, ich könnte es fast nicht begreifen. Aber sieh, Dori, dann sag ich mir wieder: ›Wenn die Nonna recht hätte, wenn du doch einmal anders denken könntest!‹ Und dann muß ich auch denken: ‰Wenn ich nun sterben sollte, zu wem gehörtest du dann, Dori? Wem könnte ich dich denn hinterlassen? Die Verwandten sind alle wider dich, zu wem gehörtest du denn auch noch?‹«

»Du hast recht, Mutter, ich gehöre zu niemand«, sagte Dori, »jetzt sind sie alle wider mich, auch die Nonna, die sonst so freundlich mit mir war. Sie ist es nicht mehr, ich habe es ganz gut gefühlt, sie will nun nichts mehr von mir. Aber daß ich zu ihnen gehöre, habe ich nie gefühlt, auch vorher nicht, ich gehöre wirklich zu niemand, Mutter. Siehst du, wenn ich mit dem Herrn Doktor lese, und wir sprechen dann manchmal zusammen über das Gelesene, wie wir so von diesem und jenem denken und empfinden, dann bin ich ganz wie daheim beim Vater, und es ist ganz, als ob ich dahin gehörte, bis wir fertig sind; und wenn ich auf einmal wieder den Herrn Doktor vor mir sehe, dann merke ich, daß ich zu solchen Leuten gar nicht gehören kann. Und denk' ich erst an seine Frau, wie sie so schön und stolz und verächtlich auf mich niederschaute, dann fühle ich's erst recht, wie himmelweit weg und wie hoch oben über mir solche Menschen stehen. Ich denke dann oft, wie kann nur der Herr Doktor so mit mir sprechen, wie mit seinesgleichen? Das kann er nie fühlen, er muß doch eine Art Verächtlichkeit gegen einen Menschen haben, der nichts weiß und nichts ist, wie ich bin.«

.

»Das glaube ich doch nicht, er weiß ja, daß es keines Menschen Schuld ist, wenn er so in der Einfachheit geboren und erzogen wird, wie du«, sagte die Mutter. »Nun habe ich dir ja auch noch etwas zu sagen, Dori, ich tu' es so ungern, ich weiß wohl, wie leid es dir tun wird: der Herr Doktor war bei mir und hat mir angezeigt, daß er von zu Hause eine Nachricht erhalten hat, die ihn heimruft. In zwei Tagen will er uns verlassen. Es macht ihm selbst Mühe, ich habe es wohl gesehen.«

Dori schaute die Mutter erst an, als wollten ihr die Worte nicht verständlich werden; dann kam ein Ausdruck so trauriger Ergebung in ihre Augen, wie Dorothea ihn noch nie gesehen hatte. Endlich sagte sie: »So, Mutter, nun können wir singen:

Und die Freude, ja die Freude
Verweht wie ein Traum.

Nun gibt's nichts mehr, sich darauf zu freuen von einem Tag auf den andern, und nichts mehr zu tun, das der Mühe wert ist, das ganze Engadin ist leer.« Dori ging nach ihrer Kammer hinüber. Sie stellte sich an ihr Fenster, wo der dunkle Pisoc hereinschaute. Der Abendwind jagte die grauen Wolken darüber hin. Sie schaute ihnen nach: »Könnt' ich doch mit euch über den Berg, weit fort von hier!« sagte Dori halblaut; dann wischte sie sich eine Träne aus den Augen.


 << zurück weiter >>