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Fünftes Kapitel

Im Felsenhaus an der sonnigen Halde wurden die Wochen so schnell zu Monden, und die Monde zu Jahren, daß Dori selbst voller Verwunderung darüber war, wie es sein konnte, daß so schnell herangekommen, was sie in kurzer Zeit noch in aller Ferne vor sich gesehen hatte. Sie wurde ja heute sechzehn Jahre alt. An ihrem offenen Fenster schaute sie in den leuchtenden Morgen hinaus und hinunter auf die hell schimmernden Goldröschen, denen die warme Morgensonne schon früh die Kelche geöffnet hatte. In ihrem Herzen sagte sie sich, für sie hätte doch der liebe Gott alles besonders schön geordnet. Mit einer guten Mutter zusammen sein Tag für Tag, eine so erfreuliche Arbeit ausüben zu können, in der schönsten Heimat zu leben, die es auf Erden geben konnte, wie sie dachte, das alles war so schön, daß Dori voller Dank zum Himmel aufschaute und nur den einen Wunsch hatte, daß es immer so bleibe. Jetzt ging sie nach der Terrasse hinüber. Da traf sie auf einen so unerwarteten Anblick, daß sie plötzlich stillstand und voller Erstaunen um sich schaute. Da standen Giacomo, Detto, Marietta und zuhinterst noch die alte Maja; alle im Sonntagsstaat, jedes einen ungeheuren Strauß von Waldesgrün mit roten Beeren daran, von leuchtendem Goldmoos und Waldlilien in der Hand haltend. Die alte Maja aber trug eine große blaue Traube mit den frischesten Beeren daran, als wäre sie eben gepflückt worden. Jetzt trat Giacomo mit leuchtenden Augen auf Dori zu und sagte: »Ich danke dir für alles, das du an mir tust, und die Großmutter sagt, heute sei dein großes Fest, wo ein ganz neues Leben für dich kommt, und ich wünsche dir, daß es das allerschönste Leben sei, das es gibt.«

Schon hatte Detto ihn weggedrängt und mit lauter Stimme begonnen: »Ich danke dir für alles, das du an mir tust, und die Großmutter hat gesagt, heute sei dein großes Fest, weil du nun kein Kind mehr seiest, sondern eine schöne Jungfrau, und ich wünsche, daß es immer schöner werde.«

Ganz entrüstet flüsterte ihm jetzt Marietta in die Ohren: »Du sagst es nicht recht, die Großmutter hat es dir nicht so gesagt«, dann puffte sie den Detto beiseite und sagte sehr geläufig, ihren Strauß Dori überreichend: »Ich danke dir für alles, was du an mir tust.

Und an deinem großen Feste,
Da du eine Jungfrau bist.
Wünsch' ich dir das Allerbeste,
Was auf Erden und im Himmel ist.«

Aber jetzt kam die alte Maja hervor. Sie hatte schon lange die Augen gewischt und jetzt liefen ihr vor Freude und Rührung die vollen Tränen über die Wangen. Sie legte ihre große Traube in Doris Hände und umhalste das Mädchen mit der lebhaftesten Zärtlichkeit. »Ach, Dori, Dori! Wie ein Engelein lagst du auf deinem Bettchen vor sechzehn Jahren, und so bist du geblieben, nur größer bist du geworden, aber meines Herzens Freude bist du wie damals, und noch viel mehr. Die Traube ist aus dem Äckerchen, du weißt es, an der Sonnenseite vom Turm gewachsen; im Herbst habe ich sie dort gekauft, daß ich sie zu deinem großen Feste aufbewahren könne. Du weißt es noch, wie oft du dort saßest am Boden beim Turm und schautest zu den großen, blauen Trauben auf, und hattest deine Freude daran. O Dori, du und mein Äckerchen und die schönen Tage, die wir zusammen hatten! Und nun ist dein großes Fest gekommen und ich kann nur sagen: Gott im Himmel segne dich und lasse dich wachsen und gedeihen, Ihm und allen Menschen zum Wohlgefallen!«

Dori war hocherfreut über alle guten Glückwünsche und Blumensträuße, vor allem über ihre Traube, die ihr plötzlich den alten Turm im goldenen Herbstlicht und die Fülle der hängenden Trauben an den goldenen Ranken vor die Augen brachte.

Heute mußten die Kinder samt der alten Maja auf der Terrasse mit frühstücken, und um den Tag als großes Fest zu bezeichnen, meinte Dorothea, die Kinder sollten gleich dableiben, nicht erst wieder heimkehren; doch heute sollten nur Doris schöne Bücher angesehen und Geschichten von ihr erzählt werden. Die Augen der Kinder leuchteten bei diesem Vorschlag auf wie kleine Sonnen. Dori ging gleich mit nicht weniger Freude ans Werk. Als nun die vier Kinderköpfe so nah wie möglich zusammengedrängt über dem Buch sich in die Bilder vertieften, benutzte die alte Maja die Gelegenheit, einmal wieder ihr Herz der Frau Dorothea auszuschütten, die sich in ihre Ecke gesetzt und der Alten freundlich einen Sitz neben ihr angeboten hatte. Heute waren es keine Klagen, die Maja mitzuteilen hatte, ihr Herz floß in Lob und Dank über. Galt es auch, immer viel und tüchtig zu arbeiten, so waren ihr doch die schweren Sorgen abgenommen, die sie hatten erdrücken wollen. Beppo hatte Wort gehalten: Von Genf aus, wo er Arbeit gesucht und gefunden, schickte er von Zeit zu Zeit eine kleine Summe, um die Kinder zu nähren und zu kleiden. Öfter schon hatte er auch geschrieben, er werde einmal heimkommen, um seine Kinder wiederzusehen, aber bis dahin hatte er es nicht über sich gebracht, denn er fürchtete sich davor, die Stellen alle wiederzusehen, wo er mit der Maria gelebt hatte.

»Es hat ihn eben fast erwürgt, seine junge Frau in den Boden hineinzutun«, sagte Maja. Aber die größte Stütze und Hilfe, fuhr sie fort, sei ihr doch Dori gewesen, und noch jetzt jeden Tag aufs neue. Da konnte nun Maja fast keine Worte finden, um auszudrücken, was Dori an ihr und an den Kindern getan. Aus dem Giacomo hätte sie einen Jungen gemacht, wie man ihn gar nicht besser wünschen konnte. Vom frühen Morgen an schon tue er alles, was er nur wisse, das sein müsse, und die Gedanken habe er für alles, wie es am besten eingerichtet werde, wie einer, der sein doppeltes Alter hätte. Und wenn er auch noch irgend einmal etwas Verkehrtes machen oder etwas Rechtes nicht tun wolle, so habe sie ein Wort, das helfe in allen Lagen. Sie sage nur zu ihm: »Mich nimmt nur wunder, was Dori sagen würde, wenn sie das sähe oder hörte.« Dann kehre er gleich um und alles komme ins rechte Geleise. Und weil sie den Giacomo so an der Hand habe, so werde sie auch mit dem Detto fertig, der sonst ein störrischer Bursche sei. Da stehe ihr aber der Giacomo immer bei und beide miteinander werden dann dem Jungen schon Meister. Was die kleine Marietta an Stricken und Nähen in den vier Jahren bei Dori erlernt hatte, war für Maja ein völliges Wunder, denn sie selbst war nie so weit gekommen. Hatte sie ein Loch zu stopfen, so zog sie es zusammen und kam dadurch in manche Verlegenheit, wenn mit einemmal ein Kittelchen oder Höschen so eng war, daß sie kein Arm und kein Bein mehr durchbekam; da wußte sie keinen Rat. Marietta aber bedeckte die Löcher in wunderbarer Weise, so daß alles wurde wie vorher, und man den Schaden kaum bemerken konnte. Stricken könne das Kind so schnell, wie sie in ihrem Leben nichts Gleiches gesehen habe, versicherte Maja; es sei geradezu, als ob Dori die unerhörte Behendigkeit, welche die kleine Marietta früher in den Füßen gehabt, so daß man nur immer auf dem Weg sein mußte, um sie einzufangen, ihr in die Hände hinaufgedrängt hätte. Das sei nun gar eine unvergleichliche Wohltat für das Kind und alle, die mit ihm zusammenhangen. »Es könnte kein Mensch es glauben, der es nicht erfahren hat, wie ich es erfahren habe«, schloß die alte Maja, »daß ein Kind imstande ist, eine ganze Haushaltung vom Elend zu erretten, wie Dori das getan hat; denn bis heute war Dori doch ein Kind, freilich ein Kind wie wenige und nicht vergebens am Tag eines wundertätigen Heiligen auf die Welt gekommen.«

Als Maja mit ihrem Trüppchen das Haus verlassen hatte, setzte Dori sich zu ihrer Mutter hin. Es war dem Mädchen nicht entgangen, daß die Mutter während des langen Gespräches mit Maja immer wieder mit besonders liebevollen Blicken nach ihm hinübergeschaut hatte.

»Nicht wahr, Mutter, heut', zu meinem großen Fest, wie es die alte Maja nennt, machst du mir auch eine Freude«, bat Dori. »Heute sagst du mir, daß du doch noch ein wenig froh sein kannst mit mir, wenn es dir schon immer weh tut, daß du den guten Vater verlieren mußtest.«

»Ach, Dori, du bist ja meines Lebens einzige Freude, Trost und Hoffnung«, sagte die Mutter mit mehr Wärme und Lebhaftigkeit, als sie an den Tag zu legen gewohnt war. »Und nicht nur für mich bist du das, auch anderen machst du noch das Leben leicht. O, wie hättest du deines Vaters Herz erfreut damit!«

»Meinst du die alte Maja und die Kinder, Mutter?« fragte Dori mit glückstrahlenden Augen. »Ja, wir sind alle miteinander so froh! Aber sieh, Mutter, manchmal muß ich denken, ich lerne so viel mit den Kindern, als sie mit mir lernen, ich habe ihnen gewiß soviel zu danken wie sie mir. Du weißt nicht, was ich alles lernen und suchen und ausdenken muß, um immer mit ihnen vorwärts zu gehen und ihnen alles zu erklären. Besonders der Giacomo ist so gescheit und gelehrig, daß ich einen rechten Ernst anwenden muß, damit ich ihm doch immer voraus bleibe und ihm auch klar beibringen kann, was er wissen muß. Ich werde auch manchmal so unsicher in vielen Sachen, es ist nur gut, daß der Vater mir so gute Bücher hinterlassen hat. Aber vieles kann ich doch nicht herausfinden, was ich wissen sollte. Und heute gibt mir noch etwas anderes viel zu denken, Mutter: Was meint denn die alte Maja mit ihrem großen Fest, an dem ich nun eine Jungfrau werde? Ich merke kein bißchen davon und bin heute gerade so wie gestern. Sollte ich denn nun auf einmal kein Kind mehr sein? Und wie soll nun plötzlich ein neues Leben in mir entstehen, als wäre ich eine andere?«

»Sei du nur ein Kind«, sagte die Mutter sanftmütig, »das hat dein Vater gewünscht, daß du das bleiben mögest, so lang es sein kann, es kommt von selbst, daß es anders wird. Ein neues Leben kann auch bald an dich herankommen, das dich in manchen Dingen weiter bringen wird. Dein Vater hatte schon gesagt, es werde recht sein, wenn das einmal ausgeführt werde. Sieh, da ist wieder ein Brief von meinen Verwandten gekommen; sie wünschen, daß wir uns nun auf die Reise machen.«

.

Schon mehrmals waren Briefe an Dorothea aus ihrer Heimat gekommen, bald von der einen, bald von der andern Base, worin sie jedesmal aufgefordert worden war, nun wieder zu den Verwandten in die Heimat zurückzukehren, und nicht allein mit dem Kinde im fremden Land zu bleiben. Immer noch hatte Dorothea sich nicht entschließen können, den Ort zu verlassen, wo sie die glücklichste Zeit ihres Lebens zugebracht hatte, und darum immer wieder hinausgeschoben, was doch einmal kommen mußte, wie sie sich selbst sagte. Dori hatte nur gar nie etwas davon hören wollen, daß man fortgehen sollte. Sie schaute auch jetzt den Brief von der Seite an und sagte: »Ich will lieber nichts davon wissen.«

Aber die Mutter sagte, es helfe ihr nichts, sie müsse wissen, was in dem Briefe stehe, denn nun müsse ein Entschluß gefaßt werden.

»So will ich dir vorlesen, was da steht«, sagte Dori, indem sie den Brief ergriff und zu lesen begann:

»Liebe Dorothea!

»Zuerst habe ich Dir ein Ereignis mitzuteilen, das uns alle ins Leid gebracht hat. Der alte Nonno ist gestorben. Er hatte das neunzigste Jahr erlebt und war immer frisch im Geist, bis zuletzt. Der Nonna geht es noch gut, sie wird nun auch bald achtzig Jahr, aber das würde keiner sagen, der sie so kräftig und aufrecht sieht wie immer. Es ist erstaunenswert, wie viele Junge die beiden Alten schon überlebt haben und noch dazu die eigenen Söhne. Sie sagen, es komme davon, daß die Jungen in die Fremde gehen; die Alten sind eben daheim in der gesunden Luft geblieben. Der Nonno hatte ein so großes Grabgeleit, wie man seit vielen Jahren nicht gesehen hatte, aus allen Dörfern vom Unter-Engadin waren Leute gekommen. Er war auch ein weit und breit geachteter Mann, der es verdiente.

Obgleich Du bis jetzt, wie wir gesehen haben, es für besser erachtet hast, in der Fremde zu bleiben, als in die Verwandtschaft zurückzukehren, so wirst Du Dich doch nun entschließen müssen, das letztere zu tun; schwer braucht es Dir nicht zu machen, Du kommst unter rechte Leute zurück. Ich will Dir den Grund sagen, warum Du nun wirst kommen müssen, wenn Dich auch das Herz nicht zu Deinen Verwandten zurückkehren heißt: Es muß nun geteilt werden, und da sind, wie Du weißt, drei Häuser. Im obern bei der Brücke, wo bis jetzt der Nonno und die Nonna allein wohnten, und wo viel Platz ist, zieht nun der Matthias mit der Kathrine und den zwei Buben ein, sie haben alle miteinander gut Platz da. Ich ziehe mit meinem Mann und den drei Buben ins untere Haus ein, wo die andern bis jetzt waren. Dann ist oben noch das kleine Haus an der Halde, das solltest Du übernehmen; meine Heimat kennen lernen. Aber ich kann es doch nicht entscheiden, du mußt mir helfen, Dori, ich komme sonst nicht durch. Nicht wahr, du willst mir helfen, und nicht zu schmerzlich jammern, sonst habe ich keine Kraft, um einen Entschluß zu fassen.« Die Mutter warf ihrem Kinde einen flehenden Blick zu.

Dori ergriff ihre Hand: »Mutter, ich will dir gewiß helfen und sei nur nicht so voller Angst«, bat sie. »So hat es der Vater gewollt, daß ich mit dir in deine Heimat gehe? Hat er denn die Verwandten gekannt? Auch diese Base, die dir einen solchen Brief schreibt?«

»Ja, ja, Kind, er hat sie wohl gekannt«, antwortete mit beruhigterem Ausdruck die Mutter. »Der alte Nonno und die Nonna waren ihm recht lieb. Mit dem Nonno konnte er manchmal stundenlang im Gespräch auf der steinernen Bank am Hause sitzen und er sagte manchmal, diese Gespräche mit dem Alten seien ihm mehr wert als viele Bücher. Mit der Base Marie Lene gab sich der Vater nicht viel ab. Sie meint es gut, aber sie hat so ihre eigene Art, an die du nun nicht gewöhnt bist. Dein Vater war ja so anders, aber er war auch anders als die meisten Menschen auf der Welt sind.«

»Mutter, meinst du, für immer müßten wir hier fortgehen, ganz für immer, ohne wiederzukommen?« fragte Dori nach einer Weile.

»Das kann ich nicht sagen, Dori, ich weiß ja gar nicht, wie alles kommen wird und was dir und mir bevorsteht. Es kann ja auch ganz gut sein, es gefällt dir in meiner Heimat und unter den Verwandten so gut, daß du selbst am liebsten dableiben willst«, meinte die Mutter.

»Und unser Haus hier, müssen wir das abgeben? Wenn dann andere Leute hineinwollten?« fragte Dori, einen angstvollen Blick ringsum werfend.

»Gewiß müssen wir das Haus dem Besitzer abgeben und ihm überlassen, was er damit tun will; es ist ja nicht unser«, sagte Dorothea.

»O Mutter, wenn wir aber doch wieder zurückkommen, und hier auf der Terrasse und in unsern Stuben wären überall fremde Leute, und wir könnten nicht mehr hinein, und wir sind doch hier daheim« – jetzt übermannte ihr Leid Dori so sehr, daß sie den Kopf auf ihre Arme legte und laut auffchluchzte.

»O Dori, ich dachte es wohl, ich dachte es wohl«, sagte die Mutter in völlig verzagendem Tone.

Dori kannte den Ton. Wie oft hatte er ihr in den ersten Zeiten nach des Vaters Tode so ins Herz geschnitten, daß sie alles daran gegeben hätte, um den Ton wieder in die fröhlich klingende Stimme der Mutter zu verwandeln, die Dori in ihren frohen Kindertagen so gut gekannt und so sehr geliebt hatte. Jetzt hatte die Mutter bei ihr Hilfe gesucht und sie ließ sie so verzagen. Dori zwang ihre Tränen zurück. Sie schaute zur Mutter auf. »Nein, Mutter, schau nicht so traurig drein! Wir wollen gehen! Wir wollen, sobald es nur sein kann, gehn und gleich alles zusammenpacken, daß man an nichts anderes mehr denken kann, nicht, Mutter? Ist es dir so recht?«

Dorothea hatte mit dem größten Erstaunen auf Dori geblickt, während sie so sprach, und noch jetzt schaute sie schweigend auf ihr Kind, so, als könne sie nicht glauben, was sie eben gehört hatte. »Ist es dir Ernst, Dori?« fragte sie zagend. »Kannst du wirklich auf einmal so fest entschlossen sein, zu gehn? Ist das möglich?«

»Ja, ja, Mutter, es ist mir völlig Ernst, jetzt gehn wir! Du wirst gewiß noch einmal ganz jung und froh, wenn du deine alte Heimat wiedersiehst«, sagte Dori, immer lebendiger sich selbst ermunternd. »Wir wollen nur gleich daran gehen und alles bereit machen. Weißt du denn auch den Weg, Mutter, wo geht es zuerst hin?«

Dorothea sah jetzt schon wie verjüngt aus. Was seit langer Zeit wie ein unübersteigbarer Berg vor ihr gestanden und sie manche Nacht um den Schlaf gebracht hatte, war plötzlich vor ihr verschwunden. Der große Entschluß war gefaßt, Dori gebärdete sich nicht wie eine Verzweifelte, wie es ihr immer vor Augen gestanden hatte, wenn das Wort ausgesprochen sein würde. Bei dem Gedanken, einmal wieder ihre alte Heimat zu sehen, stieg nun doch etwas wie Freude in Dorotheas Herzen auf. »O den Weg kenn' ich ja gut, Dori«, sagte sie. »Erst geht's nach Como hinüber und von da nach Chiavenna. Dort kommen wir an den Bergpaß von Maloja, und wenn wir oben sind, so sind wir im Ober-Engadin angekommen. Dann geht es das ganze Tal hinab, durch so viele bekannte Dörfer, da bin ich schon überall wie daheim, und so kommen wir nach Schuls, das ist die Heimat.«

Der Ton, mit welchem Dorothea sprach, war so anders, als er eben noch gewesen war, daß Dori die Mutter um den Hals nahm und freudig ausrief: »Siehst du, Mutter, es fängt schon an, jetzt wirst du immer froher.«

Dorothea war ganz mit ihrem Kinde einverstanden, daß die Vorbereitungen zur Reise rasch unternommen und ausgeführt werden sollten.

Vor allem mußte nun der Entschluß der alten Maja mitgeteilt werden; sie war ja mit ihren Kindern die Nächste des Hauses, durch sie wurden auch alle Botschaften vermittelt, wie diejenige war, die nun an den Hausbesitzer gemacht werden mußte. Dori ging selbst mit ihrer Nachricht zu Maja hinüber, sie merkte wohl, daß die Mutter mit Bangen den Ausbrüchen des Jammers der guten Alten beim Anhören dieser Mitteilung entgegensah. Maja konnte es aber gar nicht erfassen, daß von einem langen Abschied, vielleicht von einer Trennung für immer die Rede sein könnte. Sie jammerte wohl und meinte, es sei vom schwersten, das sie treffen könne, wenn sie und die Kinder Dori und ihre gute Mutter eine Zeitlang entbehren müssen, aber sie sprach gleich davon, wie es sein werde, wenn sie wieder zurückkommen, was doch bald wieder sein müßte, denn sie waren ja hier daheim. Dori hatte das Herz nicht, der alten Maja die Sicherheit zu benehmen, die ihr über den Jammer der Trennung weghalf, und stimmte in die Hoffnungen eines baldigen, fröhlichen Wiedersehens ein. Noch viel lauter stimmten nun Detto und Marietta mit ein, so als wäre das Fest schon in Aussicht; denn Feste feiern ging ihnen über alles. Sie wollten aber noch wissen, ob sie denn auch gleich am ersten Tag, wenn Dori wieder da sei, hinüberkommen dürften. Nur Giacomo sagte kein Wort. In seinen Augen war der finstere Ausdruck aufgestiegen, der nie mehr darin zu sehen gewesen war, seit er täglich mit Dori zusammenlebte. Dori sah es wohl und es schnürte ihr das Herz zusammen. Sie dachte, für ihn wie für sie sei das Beste, so schnell wie möglich über die Zeit wegzukommen, da man die Abreise immer vor sich sehen mußte. Sie nahm den Jungen bei der Hand und sagte: »Komm dann zu uns hinüber, Giacomo, heut' noch und morgen und alle Tage, du kannst uns vieles helfen.«

Er nickte stumm.

Als am späten Abend Dori mit der Mutter auf der Terrasse saß, wo der lichte Mond durch die Ranken herein schaute, mußten die beiden mit ihren Gedanken auf demselben Wege sein. Dori sagte plötzlich: »Mutter, ich weiß gar nicht, zu wem wir kommen, willst du mir nicht einmal wieder sagen, wie die Verwandten heißen, und wie viele ihrer sind. Ich habe alles vergessen, was du von ihnen gesagt hast.«

Dorothea antwortete, eben habe sie daran gedacht, daß Dori es nie recht erfaßt habe, wenn sie ihr die Verwandtschaft erklären und auseinandersetzen wollte, wie sie untereinander zusammenhingen, und jetzt sollte sie es doch recht wissen, denn die Verwandten würden es übel nehmen, wenn sie darin nicht unterrichtet wäre, das durfte nun für sie keine Nebensache mehr sein. »Ich will dir noch einmal die nächsten Verwandten alle vorführen, daß du doch diese mit ihren Namen behalten kannst«, fuhr Dorothea fort, »die ferneren kannst du dann kennen lernen, wann wir dort sind. Der alte Nonno und die Nonna, die von allen so genannt werden, weil sie schon lange Urgroßeltern sind, hatten vier Söhne, der erste war dein Großvater, mein Vater, Daniel hieß er. Der zweite, Elias, hat sich im Auslande verheiratet und ist früh gestorben, wie dein Vater auch. Die Frau und die zwei Söhne von Elias leben auch nicht mehr. Der dritte ist Matthias, der Mann der Base Kathrine, die haben zwei Söhne, und der vierte, Jakob, ist der Mann der Base Marie Lene, die haben drei Söhne. Die Mutter starb mir so früh, daß ich sie gar nicht gekannt habe, und den Vater verlor ich, wie ich kaum vier Jahre alt war, dann kam ich zu Verwandten der Mutter und dann zur Nonna; aber nur für kurze Zeit. Ich war achtzehn Jahre alt, als ich deinen Vater kennen lernte und dann bald als seine Frau mit ihm fortzog. Die Vettern Matthias und Jakob sind immer daheim geblieben, sie haben Land und Vieh und leben daraus. Ob ihre Söhne daheim sind oder nicht, weiß ich nicht bestimmt. Der Nonno hat einen Stiefbruder gehabt, der hatte zwei Söhne, die waren beide fort und haben es gut gemacht. Sie wohnten im Nachbardorf Ardez. Einer von ihnen starb und hat einen Sohn hinterlassen, der lebt nun zusammen mit seinem Onkel. Dieser ist nun auch schon ein Mann von siebzig Jahren. Er ist unverheiratet geblieben. Das sind die nächsten Glieder in der Verwandtschaft. Hast du nun auch recht zugehört, Dori? Glaubst du, daß du weißt, wie sie zusammen gehören, wenn wir ankommen?«

»Nein, das glaube ich nicht, Mutter«, entgegnete Dori, deren Gedanken während der Benennung der verschiedenen Familienglieder oftmals abgeschweift waren, »aber ich merke dann bald, wie sie zusammen gehören, wenn ich sie sehe; die Hauptpersonen vergesse ich nicht.«

Damit beruhigte sich denn auch Dorothea. Die Zurüstungen gingen rasch vor sich. Dori blieb keinen Augenblick untätig, und da es nicht galt, irgendeinen Beschluß zu fassen, war auch Dorothea mit Mut und Kraft an der Arbeit. Kaum waren vierzehn Tage vergangen, so standen eines Morgens die Kisten alle fertig da, die Zimmer waren kahl und leer, es war für die Scheidenden der letzte Tag im Felsenhaus, am frühen Morgen des andern Tages sollte aufgebrochen werden. Als die Mutter gegen Abend noch einmal von Kiste zu Kiste ging und jedes Paket noch einmal untersuchte, ging Dori leise zur Tür hinaus. Sie stieg hinauf an den altbekannten Häusern und Hütten vorbei bis dahin, wo am Monte rosso die Kastanienbäume dichter werden, und der einsame Waldweg an der Mauer hinführt. Dort hatte sie mit ihrem Körbchen gestanden vor vier Jahren, als das kranke Fräulein sie getroffen und ihr ein Liederbuch geschenkt hatte. Noch besaß sie das kleine Buch. Wie oft hatte sie das kurze Lied noch gelesen, das sie an des Vaters letzte Stunden erinnerte. Sie liebte es vor allen. Jetzt begannen drüben auf allen Türmen die Abendglocken zu läuten, immer wieder eine und noch eine, und alle hallten harmonisch ineinander und lieblich klangen die Töne zu Dori herüber; das hatte sie hören wollen. Der Abendschein vergoldete über ihr das Laub in den Kastanienbäumen, an der Mauer schimmerten und nickten die kleinen Blumen wie zum Abschied. Die Glocken sangen so rührend dazu, als wüßten sie's, daß sie zum letztenmal für sie ertönten. Dori wischte sich die Tränen weg und lief heim. Am frühen Morgen stand die alte Maja mit den Kindern unter Dorotheas Tür, es galt Abschied zu nehmen. Immer wieder flehte die Alte unter vielen Tränen: »Kommen Sie doch wieder, Frau Maurizius! Ach, Dori, komm nur auch wieder heim! Wirst du auch bald wieder kommen?«

Detto und Marietta streckten immer wieder die Hände und riefen fröhlich: »Ja, ja! komm dann bald wieder, Dori! Aber komm auch recht bald!«

Giacomo stand ganz bleich da, es war, als seien seine Augen noch viel schwärzer geworden, es war kein Leuchten mehr darin. Er streckte Dori seine Hand hin, er konnte kein Wort sagen.

Jetzt stiegen Dorothea und ihr Kind den Felsenweg hinunter, Suma zu, dort wollten sie das Schiff besteigen. Als Dori an der Kapelle vorüberkam, warf sie einen Blick hinüber zur Mauerterrasse und zu den großen Steinen, wo sie mit dem Vater so oft und zuletzt noch gesessen hatte; dann ging sie schnell weiter. Beim alten Turm wollte sie rasch einbiegen, nur einen Sprung nach der Sonnenseite hin tun und einen letzten Blick ins Tal hinabwerfen. In dem Augenblick hörte sie ein wiederholtes Schluchzen hinter sich. Sie kehrte sich um; Giacomo kam herangestürzt. Er umklammerte Dori und laut aufweinend rief er: »Ich kann's nicht aushalten, Dori, es ist wie damals, da die Mutter starb.«

»Ach, Giacomo«, sagte Dori, und hielt den weinenden Knaben fest, »ich kann nichts machen, es drückt mir auch fast das Herz ab.«

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Und nun fing Dori auch zu weinen an und die lang verhaltenen Tränen waren von solchem Schluchzen begleitet, daß Giacomo selbst in seinem Jammer es hören mußte. Zum zweitenmal war es eine Linderung und Stillung des Schmerzes für den tief erregten Jungen, daß Dori mit ihm litt und mit ihm weinte. Er suchte jetzt sich zu fassen und sagte, seine verweinten Augen zu Dori erhebend: »So sag es mir nur einmal sicher, Dori, daß du wieder kommst, dann kann ich es eher aushalten.«

»Ja, Giacomo, einmal komm ich gewiß wieder, das glaube ich«, sagte Dori, »wie und wann, weiß ich ja nicht, aber tu mir's zuliebe und weine nun nicht mehr so. Hilf daheim der alten Großmutter, daß es ihr nicht zu schwer wird, du kannst es schon, Giacomo, und du allein kannst und mußt es jetzt tun.«

Giacomo nickte bejahend, reden konnte er nicht mehr, da ihm Dori nun zum letzten Male die Hand drückte und dann der Mutter nachlief, die schon weit voraus war. Die schwarzen Augen schauten unverwandt den Weg hinab, bis Dori unten beim steinigen Bach hinter den Büschen verschwunden war.

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Sechstes Kapitel

Eine milde Herbstsonne schien auf die steinerne Treppe am alten Doppelhaus, das mit seinen festen Giebeln der Seite zuschaute, wo die hölzerne Brücke über den rauschenden Inn führt. Auf beiden Seiten der Haupttür war der viereckige Treppenplatz mit steinernen Bänken eingefaßt, wo die Bewohner des Hauses in der Abendkühle zu sitzen und die Ereignisse des Tages zu besprechen pflegten. Zur Herbstzeit wurden auch die Sonntagnachmittage da zugebracht, da alsdann die Sonne nicht mehr zu heiß, im Gegenteil in den kühlen Herbsttagen ganz angenehm wärmend auf die Steinsitze niederschien. Ein solcher Sonntagnachmittag war heute. Ringsum waren die Steinbänke mit Menschen besetzt, die nicht ungern sich von den warmen Sonnenstrahlen bescheinen ließen. Zwei kräftige Männer mit dunkeln, schon reichlich von grauen Fäden durchzogenen Haaren und Bärten saßen einander gegenüber und rauchten schweigend ihre Pfeifen, während die Frauen um sie herum vom Gegenstand ihres Gesprächs sehr lebhaft in Anspruch genommen zu sein schienen. Ein junger Bursche mit vollem Gesicht und einem Paar runder, blauer Augen, die sich in harmloser Weise beständig hin und her drehten, ging auf dem kleinen Viereck des Treppenplatzes auf und nieder, bald da bald dort ein Wort in das Gespräch einflechtend, das ihn angenehm zu unterhalten schien. Die beiden Arme, die eben jetzt zum großen Teil in den tiefen Taschen der weiten Beinkleider steckten, sahen so fest und gewaltig aus, daß man denken konnte, sie müßten Säulen umreißen, wenn es sie einmal ankäme, so zu tun.

»Es sind gerade neunzehn Jahre, seit Dorothe geheiratet hat und fortgezogen ist«, fuhr in ihrer eifrigen Weise die eine der Frauen, die neben ihren Männern saßen, fort, »und mir ist, als sei es gestern gewesen, so deutlich seh' ich die Dorothe vor mir und höre sie noch, wie sie hundertmal des Tages sagen konnte: ›Ich will meinen Mann fragen.‹«

»Das stand ihr nicht unwohl an«, bemerkte der daneben sitzende Mann.

»Ja, dich möcht' ich sehn, Jakob«, entgegnete schnell die Frau, »welch ein Gesicht du machen würdest, wenn ich bei jedem Löffel voll Suppe, den ich einführen sollte, dich erst fragen wollte, ob ich ihn schlucken soll oder nicht. Dorothe tat nicht drei Schritte, ohne den Mann anzusehn und zu fragen, ob sie den vierten auch noch wagen soll. So war sie, und ein wenig Extralärm mit ihrem Mann, als wäre er etwas Besonderes, machte sie auch gern, schon darum, weil kein Mensch wußte, woher er gekommen war, noch wohin er gehörte.«

»Du mußt nicht über die Wahrheit hinausgehen, Marie Lene«, sagte in ruhig mahnendem Ton die ehrwürdig aussehende Matrone, die an die Hausmauer gelehnt saß, so daß der dann und wann durchziehende Wind sie nicht so treffen konnte wie die Freisitzenden. Die schneeweißen Haare unter der schwarzen Haube standen dem stattlichen Gesicht mit der charaktervollen Nase und den festen Zügen besonders wohl an. »Wenn wir auch die übrige Familie und Verwandtschaft von Maurizius nicht kannten, so wußten wir doch wohl, wer er war und woher er stammte. Er war ein Pfarrerssohn aus einem Dorfe am Nordseestrande. Und was Dorothea betrifft, so hat sie in den fünfzehn Jahren ihres ehelichen Lebens, als sie fern von allen Verwandten mit dem Manne lebte, nichts anderes von ihm berichtet, als daß er der beste und liebevollste Mann sei, der ihr Leben so glücklich mache, wie kaum dasjenige einer andern Frau sein könne; das ist ein Zeugnis für ihn.«

»Etwas Apartes mußte die Dorothe freilich immer aufstellen, das bleibt schon wahr«, bemerkte langsam und mit Nachdruck die zweite der jüngern Frauen.

»Der Daniel war eben der älteste Sohn«, fiel Marie Lene rasch wieder ein, »der hat das Vorrecht, die Nonna würde seiner Tochter und dem Mann nichts geschehen lassen, es möchte mit ihnen sein wie es wollte. So wird's mit dem Urgroßkind auch gehen. Sicher fände die Nonna alles gut an ihm und wenn es einen Katzenkopf mitbrächte.«

Der junge Bursche lachte laut auf. »Wenn's nur nicht auch noch Krallen an den Tatzen bringt, sonst muß man sich noch fürchten!« rief er aus. »Aber wie die Verwandtschaft mit dieser Base Dorothea ist, hab' ich noch nicht verstehen können, mich nimmt nur wunder, ob einer die verstehen kann.«

»Mich auch, wenn du sie nicht einmal verstehst, Niki Sami, wer soll es dann können!« versetzte Marie Lene schnell.

Der Bursche schaute sie so an, als sei er nicht ganz sicher, wie es gemeint sei. »Man weiß nie, ob man von der Base Marie Lene einen Zwick bekommt, wenn sie den Mund auftut, und ob man einen hat, wenn sie ihn wieder zumacht«, sagte er.

»Man gewöhnt sich daran«, bemerkte ihr Mann in großer Ruhe.

»Man nimmt es manchmal nicht so ungern, man nimmt's wie die Kühe das Salz, es ist nicht immer nur Gras, es ist einmal etwas anderes«, setzte der ältere Bruder hinzu, ohne eine Miene zu verziehen.

»Komm, ich will dir die Verwandtschaft erklären, Niki Sami«, sagte die Nonna. »Aber lauf nicht immer hin und her auf dem kleinen Viereck, so als wärst du in der Tretmühle. Sitz hier neben mich nieder, so kann ich ruhig zu dir sprechen. Siehst du, Niki Sami, wir hatten noch zwei Söhne, einen, den du nie gekannt hast, und einen zweiten, Elias, der auch schon lange tot ist. Daniel, mein ältester, war groß und aufrecht wie eine Tanne, hatte Augen wie die Sonne und war in allem seinem Tun apart, so wie in Gestalt und Angesicht. Er war früh in der Entwicklung und schnell von Wort und Tat, das war ungewöhnlich in der Familie. Mit zweiundzwanzig Jahren verheiratete er sich mit einem siebzehnjährigen Mädchen aus dem Münstertal. Sie hatten ein Töchterchen, das ist die Base Dorothea, die wir erwarten. Die junge Frau starb bald nachher und drei Jahre darauf folgte ihr unser Daniel nach, noch war er nicht dreißig Jahre alt. Die kleine Dorothea kam erst zu Verwandten nach dem Münstertal, dann nahmen wir sie zu uns. Mein Mann mochte sie wohl, sie war lenksam und gutartig. Sie kam aber sehr jung weg, schon achtzehnjährig. Sie war ein schönes, sanftmütiges Mädchen. Ein deutscher Maler, der den Sommer durch das Tarasper Bad gebrauchte und hier unten wohnte, weil er für sich sein wollte, hatte schon bald die Augen auf sie geworfen und sagte es meinem Mann, mit dem er oft am Abend im Gespräch zusammen saß. Er hat recht gehandelt in der Sache. Wir wollten behutsam handeln, denn so mit einem Fremden fortziehen aus aller Verwandtschaft weg, ist kein Leichtes. Aber mit der Dorothea war's eigen. Sie konnte nie einen Entschluß fassen, ohne vorher mich oder den Nonno zu fragen, was sie tun sollte. Sobald sie aber hörte, was für ein großer Entschluß ihr jetzt bevorstand, war sie wie verwandelt. So sicher als hätte sie's lange bedenken können, sagte sie ohne Zögern, mit diesem Manne gehe sie mit Freuden, wohin er wolle, bis ans Ende der Welt. Man mußte nur staunen über die Entschlossenheit des Mädchens, das sonst so schwankend war und für alles Rat suchte.«

»Ja, man mußte dann und wann einmal über die Dorothe staunen«, fiel Marie Lene hier ein. »Immer dreimal fragen und beraten, bevor sie zwei Schritte von Haus weg tat, und dann mit einem wildfremden Menschen davonlaufen, ohne sich zu besinnen, das zeigte recht, welch eine Wetterfahnenart sie hatte, so daß kein Mensch je wußte, was sie wollte, und sie selbst am wenigsten.«

»Diesmal wußte sie es und blieb dabei«, fuhr ruhig die Nonna fort, »und es muß das Rechte für sie gewesen sein, denn sie hat seit ihrer Verheiratung nicht einen Brief geschrieben, der nicht voll Lob und Dank gegen Gott für ihr schönes Los und voll Ruhm und Preis ihres Mannes war. Nun hat sie ja schon mehrere Jahre den großen Verlust allein getragen, es wird ihr nun wohltun, mit der Tochter in die Verwandtschaft zurückzukehren. So begreifst du nun auch, Niki Sami, wie es kommt, daß meine Enkelin Dorothea nicht viel jünger ist als meine beiden Schwiegertöchter hier, denn meine beiden jüngern Söhne dort, der Matthias und der Jakob, haben ihre Frauen Kathrine und Marie Lene erst genommen, als sie schon weit über dreißig Jahr alt waren.«

«Ja, ja, das versteh' ich nun schon. Wie alt ist die Tochter der Base Dorothea? Ist sie hübsch? Ist sie auch lustig?« fragte der Bursche.

»Noch jung, zwischen sechzehn und siebzehn Jahren muß sie sein, gesehen hat sie noch keines von uns«, entgegnete die Nonna. »Schlägt sie meinem Daniel, ihrem Großvater nach, so darf sie sich sehen lassen.«

»Willst du nicht auch noch fragen, wieviel Schuh hoch sie ist, und wieviel Haare sie auf dem Kopf hat? Das wundert dich doch sicher auch, Niki Sami«, sagte Marie Lene scharf.

»Pah, man wird einer Base nachfragen dürfen«, meinte der Bursche, »und daß einmal eine Base zwischen all' die Vettern hineinkommt, ist auch recht, ihr habt ja alles nur Buben und nicht einmal besonders lustige.«

Jetzt schaute die Base Kathrine den Niki Sami mit strengem Gesicht an. »Ich denke«, sagte sie mit Nachdruck, »zwei Vettern, wie du sie an meinen Söhnen hast, darfst du überall nennen, und es stünde dir nicht übel an, sie zu schätzen, wie sie es verdienen. Ich habe noch nie gehört, daß zwei Söhne zu verachten wären, weil keine Tochter dazwischen ist.«

»Und drei noch weniger«, fiel Marie Lene rasch ein, »meine drei dürfen sich zeigen. Man kann der Dorothe ihre Tochter gönnen, es ist ja für sie das einzige, das sie zu führen vermag, wie sollte sie einem Buben Herr werden!«

»Die Sonne trifft den Felsenstein drüben am Berg nicht mehr, nun ist es meine Zeit, hineinzugehn, die Abende werden kühl«, sagte jetzt die Nonna, indem sie aufstand. »Komm mit hinein, Niki Sami, und nimm das Abendessen mit uns ein, der Pate wird dich nicht so früh zurückerwarten.«

Der Bursche dankte. Der Pate sei nicht gern allein bei seinem Nachtessen am Sonntagabend, meinte er, er werde aber wohl die Woche noch einmal nach Schuls herunterkommen, er müsse doch auch sehen, ob die Base angelangt sei, um sie zu begrüßen.

»Ja, ja, auf dich kann man rechnen, Niki Sami«, sagte Marie Lene, »der Wunder sticht dich schon stark genug, daß du in Ardez nicht still sitzen kannst, wenn du weißt, daß es in Schuls etwas Neues gibt.«

»Wer nicht zuviel zu tun hat, dem fällt es auch eher ein, als anderen Leuten, daß er etwas Neuem nachgehen muß«, setzte Frau Katharine nachdrücklich hinzu.

Aber die Nonna sagte zustimmend: »Es ist ganz recht und anständig, daß du kommst, die Verwandten zu begrüßen, Niki Sami, so kann die Base Dorothea sehen, daß sie nicht vergessen noch hintangesetzt ist von der Verwandtschaft.«

Niki Sami nahm nun Abschied und die Nonna trat ins Haus ein. Jetzt erst, als die beiden Frauen mit ihren Männern allein waren, wurde das bevorstehende Ereignis recht eingehend nach allen Seiten betrachtet und erwogen, und auch die Ansicht der Männer herausgeholt, denn eine so große Neuheit im Kreise der Verwandtschaft, wie das Wiedereintreten einer halb Vergessenen und das Erscheinen einer völlig Unbekannten, konnte nicht ohne eine gründliche Besprechung stattfinden. Es war auch am Schlusse der vielseitigen Erläuterungen weder von der halbvergessenen Base noch ihrer unbekannten Tochter irgendeine mutmaßliche Seite ihres Wesens und ihres Tuns und Trachtens ohne Berücksichtigung und erschöpfende Verhandlung geblieben.

Siebentes Kapitel

Das Haus an der Halde in Schuls, in welchem Dorothea als Kind mit Vater und Mutter einmal gewohnt, das sie aber so frühe schon verlassen hatte, daß sie es nur als Heimatshaus der Verwandten kannte, war noch das alte. Nur zwei Stuben, die vor Alter schwarz geworden, waren frisch getäfert und gut hergerichtet. Das waren die Fremdenstuben, von denen die Base Marie Lene geschrieben hatte. Am Fenster der größeren Stube stand jetzt Dorothea und schaute über den Inn hin zum hohen Berge auf, über dem die grauen Wolken lagerten. Dori trat neben sie, ihre Blicke folgten denen der Mutter.

»Ich bin doch froh, einmal wieder meinen alten Pisoc zu sehen«, sagte diese, »es ist doch ein schöner Berg, nicht, Dori?«

»Aber Mutter«, entgegnete Dori zögernd, »er ist so schwarz und so wild und immer liegen graue Wolken drauf, der Monte rosso sieht doch ganz anders freundlich aus, nicht, Mutter?«

»Du mußt nur nicht immer vergleichen, sonst wirst du nie recht sehen, wie schön es hier sein kann«, meinte die Mutter. »Es ist eben hier alles anders, als dort unten am See. Wir sind in einem Bergland, aber sei nur geduldig, bis der Frühling kommt, dann wirst du sehen, wie schön dieses Land ist.«

»Nein, nein, Mutter, ich will nicht mehr vergleichen und auch so etwas nicht mehr sagen, es kam mir, ohne zu wollen, so heraus«, sagte begütigend Dori, die sich fest vorgenommen hatte, der Mutter Heimat nicht herunterzusetzen, nur unversehens entfiel ihr manchmal solch ein Wort der Vergleichung.

Vor drei Tagen war Dorothea mit ihrer Tochter in der Heimat angekommen und schon war das Haus ganz wohnlich eingerichtet, soweit es in den alten Räumen möglich war. Die Verwandten hatten die beiden am Tage ihrer Ankunft sehr freundlich bewillkommt. Die Frauen hatten sich gegenseitig ein wenig verwundert angeschaut, denn jede fand, die andere sei nicht mehr ganz so wie vor nahezu zwanzig Jahren. Nur die Nonna sei gar nicht verändert, fand Dorothea. Weiße Haare hatte sie schon gehabt und das fest gemeißelte Gesicht war dasselbe geblieben. Die Nonna hatte sich ihre Urenkelin recht angeschaut und dann ausgesprochen: »Sie hat die Augen von Daniel, die hätte ich gleich erkannt, wo ich sie gesehen hätte.«

Auch die Vettern waren gekommen, die Angekommenen zu begrüßen. Es war ohne viel Worte ausgeführt worden, die Männer der Familie waren alle ziemlich einsilbig, die jungen wie die alten. Was Dori zu unterscheiden schwierig fand, war, welcher von den jungen ein Matthias und welcher ein Jakob war, denn in beiden Familien hieß immer einer Matthias und einer Jakob, nur der jüngste der drei Brüder war ein Elias, das war eine glückliche Abwechselung, so wußte Dori für einmal doch von einem sicher, wie er hieß. Von den Vettern von Ardez war auch geredet worden, man hatte Dorothea angezeigt, der Junge werde noch diese Woche zur Begrüßung herunterkommen. Als Dorothea eben jetzt das Fenster schloß, das zum Pisoc hinüberschaute, sagte sie: »Ein schöner Gang, den wir im Frühling machen müssen, ist nach Ardez hinauf, dort wird es dir gefallen, wir besuchen dann einmal die Vettern.«

»Ich hoffe nur, diese beiden Vettern heißen nicht auch noch Matthias und Jakob«, rief Dori aus, »und wie wir mit denen verwandt sind, weiß ich gar nicht, Mutter, das sollte ich wohl wissen.«

»Ja natürlich«, sagte Dorothea erschrocken; »das mußt du alles wissen, man würde ja in der Verwandtschaft glauben, ich halte sie nicht wert genug, daß ich dich nicht genau unterrichtet habe. Ich habe es auch, glaube ich, schon getan, du hast es nur vergessen. Hör mir jetzt recht zu: der Nonno hatte einen älteren Stiefbruder, der zu seiner Frau nach Ardez gezogen war und zwei Söhne hinterließ, den Samuel und den Niklaus. Samuel hatte ein großes Geschäft in Neapel, und Niklaus stand dort im Militärdienst. Später, als er seinen Abschied erhalten hatte, trat er auch in das Geschäft seines Bruders ein, das so gut ging, daß sie bald alles einem andern überlassen und als ganze Herren zurückkehren konnten. In Ardez sollen sie das alte Haus, woher ihre Mutter stammte, schön neu aufgebaut und ausgerüstet haben. Samuel war mit einem Buben aus Neapel zurückgekommen, seine Frau hatte er dort verloren. Niklaus war nie verheiratet. Vor einigen Jahren ist Samuel gestorben, nun leben sein Sohn und sein Bruder Niklaus zusammen in dem Haus in Ardez. Der Sohn heißt Niklaus Samuel seinem Paten, dem Oheim, und seinem Vater nach. Sie nennen ihn Niki Sami zur Abkürzung. Ich weiß, dort droben in Ardez wird es dir gefallen, wenn wir einmal hinaufgehen, Dori! Ich bin als Kind oft droben gewesen; das Haus vom Vetter hat so schöne hohe Gänge wie ein Kloster, und an allen Fenstern hatte die Base Töpfe mit Nelken stehen, so schön wie ich sie nirgends sonst in meinem Leben gesehen habe.«

Eben ertönte ein so kräftiges Pochen an der Tür, daß Mutter und Tochter zusammenfuhren. Dori ging zu öffnen. Ein fester Bursche stand vor ihr und schaute mit zwei großen verwunderten Augen sie an, und so deutlich, als sprächen es seine Lippen aus, hieß es in seinem erstaunten Blick: das habe ich nicht erwartet.

»Sie sind gewiß nicht am rechten Ort«, sagte jetzt Dori zu dem erstaunten Fremden.

»Freilich bin ich«, gab dieser sehr bestimmt zurück, indem er eintrat und auf Dorothea zuging. »Ihr seid wohl die Base Dorothea, ich komme, Euch zu begrüßen«, er hielt ihr seine Hand hin.

»Und Ihr seid wohl der Vetter von Ardez. Grüß Gott!« gab Dorothea zurück, seine Hand schüttelnd.

»Der bin ich, und wie ich denke, noch jung genug, daß Ihr zu mir du sagen könnt. Und diese hier wird Eure Tochter sein. Schlag ein, Base!« sagte er, seine Hand Dori entgegenstreckend. Sie legte die ihrige hinein. Er drückte sie so zusammen, daß Dori einen kleinen Schrei nicht unterdrücken konnte. »Du drückst mir ja die Finger ab, Vetter«, sagte sie jetzt lachend, als er losließ.

»Das ist der Willkomm«, entgegnete er ruhig. »Wie gefällt es euch bei uns?«

»Mir muß ja die alte Heimat gefallen, das kann nicht anders sein«, sagte Dorothea, »für Dori sind wir etwas spät im Jahr gekommen, sie sieht das Land nicht mehr, wie es im Sommer ist. Aber sie wird den Frühling kommen sehen und das ist ja die schönste Zeit hier, wie überall.«

»Der Pate läßt euch grüßen«, sagte der junge Vetter, indem er sich auf den Stuhl niederließ, den ihm Dori hingestellt hatte.

»Ich danke. Und dich will ich denn nun bei deinem Namen nennen, Niki Sami«, setzte Dorothea hinzu, »ich weiß, du heißest so nach deinem Vater und deinem Paten. Wie geht es dem Vetter Niklaus, ist er immer wohl?«

»Ja, ja, das ist er schon. Das heißt, er hat immer etwas an einem Bein, das ihn am Gehen hindert«, ergänzte Niki Sami, »das haben alle alten Soldaten so, es ist, denk' ich, mehr so eine Erinnerung an die großen Schlachten und Strapazen, die sie in der Weise aufrecht erhalten. Der Pate raucht wenigstens täglich seine vierundzwanzig Pfeifchen und spült den Rauch nicht ungern mit unserm alten Veltliner herunter.«

»Eben habe ich Dori erzählt, was für Prachtsnelken deine selige Großmutter immer an den Fenstern hatte. Ob ihr immer noch solche habt?« fragte Dorothea jetzt.

»Das kann ich nicht bestimmt sagen«, war Niki Samis Antwort, »die Ursel schleppt so etwas hin und her manchmal, von einem Platz zum andern, das sind vielleicht die Nelken.«

»Wer ist die Ursel?« fragte Dori.

.

»Das ist die Haushälterin, die kocht und die Sache in Ordnung hält. Du wirst schon wissen, was in einem solchen Haus zu tun ist«, meinte der Vetter.

»Ja, ja, ich weiß schon, und euer Haus ist vielleicht größer als das unsere war in Cavandone«, sagte Dori harmlos.

»Ja, vielleicht«, wiederholte Niki Sami mit überlegenem Lächeln, »vielleicht ist unser Haus ein wenig größer, als ein gemietetes Häuschen dort unten im Italienischen! In ganz Ardez und Schuls ist kein solches steinernes Haus mit Stallung und Scheune und Heuboden, wie das unsere ist. Der Keller ist wie eine Kirche, nicht anders, akkurat so sind die steinernen Gewölbe.«

»Da steigt mir eure Kirche in Ardez vor den Augen auf, die mochte ich immer so gern«, sagte Dorothea, »hat sie noch die alte geschnitzte Tür?«

»Das kann ich nicht sagen, ich bin schon lang nicht mehr drin gewesen, man hört ja doch immer dasselbe darin, das weiß man ja doch einmal gut genug und braucht es nicht immer wieder zu hören«, meinte Niki Sami. »Ich sage: recht tun, das ist die Hauptsache, das ewige Reden in den Kirchen nützt nichts. Ja so, da kommt mir in den Sinn, es läßt Euch noch jemand grüßen, bei Anlaß des Kirchengesprächs kommt es mir in den Sinn, den Gärtner Melchior mein' ich. Der kann einen manchmal so auf der Straße anpredigen, als wäre er eben Pfarrer geworden. Ich habe ihn auf dem Weg angetroffen, und wie ich ihm sagte, wohin ich gehe, da hat er mir einen Gruß aufgetragen. Er habe Euch als kleines Kind oft auf den Armen getragen, sagte er.«

»Das hat er«, bestätigte Dorothea, »und ein Gruß von ihm freut mich, er ist ein guter Mann. Wo lebt er wohl? Arbeitet er immer noch in seinem Beruf?«

»Ja, ja, den ganzen Sommer steckt er im Garten vom Kurhaus droben, da hat er immer etwas zu pflanzen und zu schneiden und auch in den bessern Gärten da und dort im Tal. Den Winter bringt er bei einem alten Freund oder Verwandten oben in Sint zu. Daß er einmal in Amerika war, werdet Ihr wissen.«

»Das war, wie er jung war«, sagte Dorothea, »lang bevor ich die Heimat verließ. Er ist auch sonst noch weit herumgekommen.«

»So, das war nun nur so ein Anfang meiner Besuche, Base Dorothea«, sagte Niki Sami jetzt, indem er sich erhob, »ich komme dann manchmal wieder, und wenn einmal Schnee da ist, dann komm' ich erst recht. Dann hol' ich die junge Base zum Schlittenfahren ab und dann geht's zum Tanz mit ihr. Ja, ja, es ist mein Ernst, wenn Ihr mich noch so verwundert anschaut, die Rosse hab' ich im Stall, und wir verstehn's, uns lustig zu machen in unserem Tal, die Base Dori wird's erfahren, es wird ihr schon gefallen.« Dorothea meinte, der Vetter werde es nicht so eilig haben, er sollte doch erst den Kaffee mit ihr und der Tochter trinken, das sei ja ein guter, alter Brauch im Engadin bei Nachmittagsbesuchen.

Niki Sami fuhr ganz auf vor Freude: »So macht Ihr doch die alten Bräuche noch mit, das ist recht, so gefällt's mir«, rief er aus. »Die Base Marie Lene meinte, Ihr bringt nun so italienische Moden mit und esset nichts als Zwiebeln und Maismehl, das ist nichts für mich. Aber wenn's so ist, daß Ihr Euch noch auf einen vaterländischen Kaffee mit fester Unterlage versteht, so richte ich mich das nächstemal ein, bei Euch zu bleiben, für heute hab' ich noch mit einem Kameraden abgeredet und muß Abschied nehmen für einmal.«

»Sag der Base Marie Lene, daß man in Italien auch noch anderes ißt, als sie meint«, sagte Dori mit Lebhaftigkeit, als sie dem Vetter die Hand reichte, »sie sollte einmal unsere markigen Kastanien sehen und die vollen Trauben, die um unsere Terrasse herumhangen.«

»Da wollte ich noch lieber den Saft sehen, der daraus hervorkommt«, sagte Niki Sami und mußte so ungeheuer lachen dabei, daß alle seine weißen Zähne bis zum hintersten zum Vorschein kamen. Jetzt drückte er Dori noch einmal fest die Hand und ging.

»Niki Sami ist gewiß ein guter Mensch«, sagte Dorothea, als er weg war.

»Ja, das glaube ich auch«, stimmte Dori ein; »aber warum meinen sie denn nur alle hier, sie haben alles viel schöner und besser, als wir es daheim hatten?«

»Du mußt eben begreifen, Dori, daß dem Niki Sami, der ein reicher Gutsherr ist und der sich freut an seinem Besitz, so ein Leben ohne allen Besitz und Reichtum, wie wir es zusammen führen, gar zu einfach, fast ärmlich vorkommen muß.«

»Es kann ihm ja gar nicht wohler sein, als es uns war, was meint er denn?« fragte Dori erstaunt.

»Ich kann dir's nicht erklären, wenn du ihm nicht nachfühlen kannst, wie das ist«, fuhr die Mutter fort, »so wenig, als ich Niki Sami erklären könnte, wie es uns ohne allen Besitz so wohl war, wie es ihm nur sein kann, denn das könnte er nun gewiß unmöglich uns nachempfinden. Es kommt eben darauf an, woran unser Herz sich freut, und das kann keiner für den andern bestimmen.«

»Wenn wir aber dort unten wohl so glücklich und froh waren, wie er droben in seiner Heimat ist, so hatten wir doch kein ärmliches Leben, wir waren gerade so reich wie er, wenn nicht noch reicher«, eiferte Dori. »Ist's nicht wahr, Mutter? Kannst du dir denn ein schöneres Leben denken, als wir es dort unten mit dem Vater zusammen hatten?«

»Nein, nein, das kann ich nicht, Dori, aber mit mir ist's nun auch etwas anderes als mit dir«, meinte die Mutter. »Glücklicher als unser Leben dort war, kann ich mir ja gar keines denken.«

»Ich auch nicht, nie und nirgends«, sagte Dori schnell. –

Der alte Geistliche, der Dorothea vor bald zwanzig Jahren getraut hatte, lebte nicht mehr. Sein Nachfolger, den sie nun aufsuchte, um sich über den Unterricht der Tochter mit ihm zu besprechen, riet ihr, diese recht in die romanische Sprache einzuführen, damit sie den Unterricht mit den Mädchen des Ortes nehmen könne. Er meinte, es müßte der Tochter nicht schwer werden, bald ganz folgen zu können, da sie die italienische Sprache kannte. Er wünschte auch, sie möchte gleich in den Vorunterricht eintreten. Das war für Dori um so leichter auszuführen, da die Mutter ihr von klein auf von so vielen Dingen gesagt hatte, wie diese bei ihr zu Hause benannt werden, und ihr Kind auch viele romanische Liedchen gelehrt hatte. Dori warf sich auch gleich mit großem Eifer in ihre Studien und war in ganz kurzer Zeit soweit, ohne viel Mühe dem Vorunterricht folgen zu können, so daß sie, als die Zeit da war, ohne Hindernis in den Hauptunterricht eintreten konnte. Sie hatte aber ihre Zeit bis dahin nötig gehabt und war auch jetzt so beschäftigt, daß sie sich in der Verwandtschaft kaum sehen ließ und die Mutter ihre Besuche immer allein machen und auch meistens noch allein empfangen mußte. Dori war von ihrem Vater her an ein genaues Lernen gewöhnt, und da der Geistliche wünschte, daß die jungen Leute durch Nachschreiben ihren Unterricht festhalten möchten, gab Dori sich alle Mühe, nicht ein Wort davon zu verlieren, und was sie erst hingeworfen hatte, mußte nachher schön und sauber ausgearbeitet werden. Dazu hatte sie immer noch ihre Sprachübungen fortzusetzen, denn zu lernen gab es da immer noch vieles.

So war mit dieser und aller Arbeit, welche die Mutter noch von ihr wünschte, ein Tag wie der andere für Dori so ausgefüllt, daß sie für nichts weiter Zeit hatte, auch nichts weiter auszuführen begehrte. Das verdroß nun die Verwandten: sogar die Nonna, die bis jetzt nichts auf Dorothea und ihre Tochter kommen lassen wollte, schaute ein wenig verwundert der Dorothea entgegen, als diese schon zum vierten Male allein erschien, um den Sonntagnachmittag mit den Verwandten zuzubringen.

Es war ein anerkannter Festgenuß, daß das Gespräch, das durch den gewohnten Familienkaffee belebt wurde, an solchen Sonntagnachmittagen bis in den Abend hinein fortgesetzt werden konnte.

»Ich nahm an, deine Tochter werde dich nun einmal begleiten und gern ein wenig bei uns sein«, sagte die Nonna nach der Begrüßung. »Man bespricht sich über dies und das, was sie noch nicht kennt und was ihr doch auch bekannt werden muß, nun sie hier daheim ist.«

»Sie muß einen Spahn im Kopf haben, so allein in einer Stube zu sitzen, wie eine alte Klosterfrau, wenn sie doch weiß, daß die Verwandtschaft in guter Unterhaltung zusammensitzt und sie dabei sein könnte«, meinte die Base Marie Lene.

»Sie trägt nur das Näschen ein wenig zu hoch, es ist ihr nicht gut genug, was sie bei uns fände«, setzte Frau Katharine hinzu.

»Nein, nein«, wehrte Dorothea, »so etwas müßt ihr nicht denken, Dori ist ja noch ein Kind, sie fährt nur fort, so zu leben, wie sie erzogen worden ist. Sie geht ja so gern dann und wann zu dir, Nonna, und spricht mit dir und hört so gern, was du ihr sagst. Aber wenn wir so zusammen sind, so sprechen wir eben so von Land und Leuten, die sie ja nicht kennt und sie ist nicht daran gewöhnt und denkt, sie könnte unterdessen etwas tun, das für sie besser ist, besonders jetzt, da sie ja auch der Herr Pfarrer ermahnt, ihre Sonntage still zuzubringen und etwas Gutes zu lesen. Es ist schon wahr, das ist gerade, was Dori am liebsten tut.«

Für einmal wurde der Gegenstand wieder fallen gelassen und ein anderer kam an die Reihe; aber auch an den kommenden Sonntagen stieg die Frage immer wieder auf. Von den Basen gab es allerlei spitzige Bemerkungen und die Nonna meinte, die Ermahnung des Pfarrers gelten eben denen, die den Sonntag in leichtfertiger Weise zuzubringen gewohnt seien.

Dorothea fragte dann und wann einmal wieder, ob Dori nicht mitkommen und den Sonntag unter den kurzweiligen Gesprächen der Verwandten zubringen wollte, aber Dori schüttelte immer verneinend den Kopf, und mehr als einmal sagte Dorothea: »Wenn ich sie nicht erzürnte, bliebe ich doch soviel lieber bei dir daheim.« Aber sie ging wieder, denn sie fürchtete sich vor der Ungnade der ganzen Verwandtschaft. Wer über Doris Zurückgezogenheit am meisten aufgebracht war, und in immer heftigere Gärung darüber geriet, war Niki Sami. Er hatte sein Versprechen, bald wieder zu kommen, um einen Nachmittagskaffee mit den Basen einzunehmen, gehalten, und war in ununterbrochenem Gespräch so lange sitzen geblieben, daß es stockfinster geworden war. Dori war schon einigemal aufgestanden, um Licht zu machen, aber er hatte es ihr gewehrt und gesagt: »Tu's nicht, sonst seh' ich, daß ich gehen muß, ich muß ja noch nach Ardez hinauf.«

.

Aber jetzt stand Dori entschieden auf, holte die Lampe und sagte: »Nun muß ich gehen, ich habe noch viel für meinen Unterricht zu arbeiten.«

Dorothea lud den Vetter ein, wiederzukommen, wenn es ihn freue, und es mußte ihn öfters freuen, denn nun verstrich keine Woche, daß Niki Sami nicht ein- oder auch zweimal erschien und sich bei den Basen fest niederließ. Aber nun machte Dori immer früher Licht und zeigte an, nun sei ihre Arbeitszeit gekommen, und zuletzt ging sie noch am hellen Tag weg und behauptete gegen Niki Samis Einwendungen, sie habe zuviel zu arbeiten, um solange schwatzen zu können, nächstens komme sie gar nicht mehr zum Vorschein.

Niki Sami war sehr ergrimmt gegen den Pfarrer und seinen Unterricht, und in seinem Zorn steigerte er sich selbst so sehr gegen den ahnungslosen Urheber seines Ärgers, daß er zuletzt ganz überzeugt war, der Pfarrer tue es nur ihm zuleide, daß er seine Base so zum Arbeiten anhalte, weil er bei ihm nie in die Kirche gehe.

»Dem will ich's schon noch eintränken«, sagte er mehrmals mit einer drohenden Gebärde gegen die freundlich herniederschauende Kirche von Schuls hinüber, wenn er am Abend von seinem Besuch heimkehrte.

Jetzt war Niki Sami wieder milder gestimmt, denn seit zwei Tagen schon fielen so schöne große Schneeflocken vom Himmel, daß eine prächtige Schlittbahn in Aussicht stand.

So kam der Sonntag heran und mit ihm eine helle Sonne, die herrlich über die weiten Schneefelder hin leuchtete. Schon früh am Morgen schoß Niki Sami von seiner Kammer in die Stube und von da in den Stall und wieder zurück, denn noch immer war er mit dem nötigen Staatsanzug nicht ganz zu Ende.

Auf der Ofenbank saß der Pate Niklaus, behaglich sein Pfeifchen schmauchend und den ungewöhnlich belebten Niki Sami in aller Ruhe betrachtend. »Was soll's denn geben?« fragte er, als Niki Sami nun mit den funkelneuen Schellenriemen vom Boden herunterkam, um sie dem Paten noch unter die Augen zu halten, bevor er sie den Rossen überhängen wollte.

»Eine Schlittenfahrt, denk' ich, sie sollen einmal sehen, was man im Stall hat«, entgegnete Niki Sami mit Bewußtsein.

»Wer sie?« wollte der Pate wissen.

»Die Basen in Schuls, die so etwas noch gar nicht kennen«, meinte Niki Sami.

»Hm«, sagte der Pate langsam zwischen seinen Pfeifenzügen durch, »es ist mir so, wie wenn du viel mit den neuen Basen in Schuls zu tun hättest.«

»Man muß ihnen doch etwas zeigen und sie ein wenig bekannt machen, sie kennen ja niemand im Land als die Verwandten und mit den Vettern unten ist's ja nichts, das wißt Ihr, da muß doch jemand etwas tun.« Niki Sami sprach ganz beredt.

Der Pate Niklaus lächelte schlau. »Nur zu«, sagte er kopfnickend, »du kannst sie ja auch einmal heraufbringen, so kann man sehen, wie das aussieht.«

Niki Sami fuhr ab. Die Rosse zogen lustig aus mit dem leichten Schlitten und die vielen Schellen klingelten so laut durch das Tal, als käme eine ganze Schar von Schlitten dahergefahren. Das gefiel dem Niki Sami. Behaglich zog er seine Decke über die Knie und knallte mit der Peitsche, damit die Rosse noch etwas höher sprangen und die Köpfe schüttelten. Es war überall still in Schuls, als er mit lautem Schellen einzog. Beim Haus an der Halde sprang er hinaus und wollte schnell die Tür aufreißen, sie war geschlossen. Er klopfte, es kam niemand. Er klopfte lauter, noch mehr, immer lauter, drinnen blieb alles still.

Jetzt öffnete am nächsten Hause drüben eine alte Frau ein Fensterchen. »Es ist niemand daheim«, rief sie hinüber, »sie gehen alle Sonntage in die Kirche.«

»Kann der denn nicht schneller machen an einem so schönen Tag«, herrschte Niki Sami die Frau an, als wäre sie schuld an seinem Mißgeschick.

»Wer?« fragte sie gutmütig.

»Pah, der alte Pfarrer dort oben, denk' ich«, rief er erbost zurück. »Wie lang macht er noch?«

»Eine halbe Stunde geht's noch. Es ist aber gar kein alter Pfarrer, ein junger ist's«, berichtigte die Frau, noch ehe sie das Fenster zumachte.

»Desto schlimmer, wenn der alt ist, wird er gar nicht mehr fertig!« rief Niki Sami ihr noch zu, dann fuhr er peitschenknallend davon, gegen Sint hinunter. Nach einer halben Stunde kehrte er zurück. Eben wollten Dorothea und ihre Tochter ins Haus eintreten, als sie die Schellen klingeln hörten und den Schlitten herankommen sahen. Von weitem schon machte Niki Sami deutliche Zeichen mit der Peitsche, daß er bei ihnen anhalten wollte. Sie blieben beide stehen, bis er da war. Nun sprang er aus dem Schlitten, die Decke hatte er schon zurückgelegt. »Nun gleich eingestiegen, Base Dori«, sagte er, auf den Schlitten deutend, »angezogen bist du und eine Decke ist da, die hält uns beide warm genug. Ich war schon einmal da, es ist nicht mehr zu früh, wir fahren nach Zernez hinauf, da kommt eine lustige Gesellschaft zusammen, gegen zwanzig Schlitten, da kannst du einmal Bekanntschaften machen und die Schlittenbahn ist heute so, daß es eine Freude ist auszufahren. Steig doch einmal ein«, drängte Niki Sami.

»Nein, Vetter, ich danke dir, ich will lieber daheimbleiben«, sagte Dori einfach.

»Was?« schrie Niki Sami. »Das ist ja sicher nicht wahr. Hat dir's der Pfarrer verboten? Wenn ich den einmal erwische«, und Niki Sami hob seine Faust so drohend auf, daß der Herr Pfarrer hätte erschrecken müssen, wenn er sie gesehen hätte.

Dori sagte ohne Schrecken: »Erbos dich doch nicht gegen jemand, der von allem nichts weiß, der Herr Pfarrer hat mir nichts verboten, ich sage dir's ja, wie es ist, ich bleibe lieber daheim.«

Aber Niki Sami blieb keinen Augenblick im Zweifel, daß ein so unnatürlicher Ausspruch, wie dieser für ihn war, der jungen Base von jemand eingegeben worden war, und das mußte der Pfarrer sein. Noch einmal brach sein Zorn über seinen Widersacher los.

Aber Dorothea hielt ihn an und suchte den Aufgebrachten zu beschwichtigen. Sie meinte, wenn dann der Frühling komme, werde es anders sein, da gehe man dann an den schönen Sonntagen spazieren zusammen, das tue Dori auch über alles gern.

Aber der Trost lag für den Vetter zu weit weg. »Komm du lieber jetzt mit, Base Dori, und lauf dann dem Pfarrer im Frühling nach«, schlug er noch einmal vor.

»Ich habe dir's bestimmt gesagt, ich danke dir und wünsche dir eine glückliche Fahrt«, gab Dori zurück und ging ins Haus hinein. Niki Sami fuhr zähneknirschend davon.

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Wenige Tage nachher lief Niki Sami mit großen Schritten dem Hause der Nonna zu. Schon von weitem konnte man ihm den treibenden Eifer ansehen. Als Marie Lene von ihrem Fenster aus den Herankommenden sah, stand sie schnell auf, um auch hinüber zu gehen, machte auch im Vorbeiweg eilig die Tür der Frau Katharine auf und rief hinein: »Komm zur Nonna hinauf, da hat's etwas gegeben.«

Kathrine folgte dem Ruf. Gleich hinter Niki Sami traten die beiden Basen bei der Nonna ein. Er meinte, das treffe sich gut, daß sie auch gerade eintreffen, er habe etwas zu sagen, wobei sie auch mitreden können. Er komme expreß her, um die Verwandten aufzufordern, daß etwas getan werde, der Pfarrer mache die junge Base Dori ganz kopfscheu und verdreht, mit keinem Menschen wolle sie zusammenkommen, keinen kennen lernen und vor denen, die sie schon kenne, schieße sie auch weg wie eine scheue Fledermaus. Und die Mutter unterstütze noch den Pfarrer und helfe dazu, daß die Tochter von allen natürlichen Wegen abkomme und sich noch übersinne. Die Basen sollten Doris Mutter zurecht bringen, damit sie dem verdrehten Pfarrer entgegenarbeite. Marie Lene sagte sogleich: An all den Querkopfgeschichten sei die Base Dorothea allein schuld, sie habe von jeher alles anders haben wollen, als andere Leute, nun sollte die Tochter auch in ein besonderes Modell gedruckt werden. Frau Kathrine bemerkte bedächtig, die Base Dorothea brauche da nicht nachzuhelfen; daß die Verwandten nicht viel berücksichtigt und keine Bekanntschaften gesucht werden, gehe von dem Töchterchen selbst aus, das sein Näschen zu hoch trage, als gehöre es in eine bessere Luft als die andern alle. Aber die Nonna fing nun auch zu sprechen an und bedeutete den dreien, die Base Dorothea könne man nun noch gar nicht so beurteilen, die Tochter habe sie durchaus in den Religionsunterricht eintreten lassen müssen, denn das Alter sei da. Das sei nun wirklich eine besondere Zeit für die jungen Leute, da diese mit Recht ein wenig zurückgehalten werden. Bis zum Frühling müsse man die junge Base Dori nun in der Stille ihren Weg gehen lassen, nachher könne es ja ganz anders kommen. Als Niki Sami sah, daß kein Einschreiten der Nonna, die allein es tun konnte, stattfinden werde, nahm er Abschied und ging grollend davon. Seine Besuche wiederholte Niki Sami immer wieder bei der Base Dorothea, nur mit dem Schlitten kam er nicht mehr. Er

Achtes Kapitel

Der April war gekommen. Das Osterfest sollte in wenig Tagen gefeiert werden. Noch lag ein tiefer Schnee ringsum auf dem Lande, nur an den sonnigen Halden kamen kleine, grüne Stellen zum Vorschein und weckten frohe Frühlingsahnung in Doris verlangendem Herzen. Eben war sie hereingekommen, die ersten grünen Blättchen in der Hand tragend, die sie an einer der schneefreien Stellen erobert hatte.

»Endlich, Mutter«, rief sie fröhlich aus, »endlich wird auch hier der Frühling kommen!«

»O und er ist so herrlich hier in seinem ersten Grün«, rief Dorothea aus, die der wonnevollen ersten Frühlingstage gedachte, die ihr als Mädchen nach den damals erlebten, langen Winterzeiten wie süße Wunder Herz und Auge erfreut hatten.

Dori war eben noch beschäftigt, ihre Blätter und Zweiglein ins Wasser zu stellen, als ein fester Tritt der Tür nahte; Dori machte schnell auf. Ein alter Mann stand vor ihr mit dichtem, weißem Haar und einem freundlichen Gesicht, aus dem zwei durchdringende, fast jugendlich glänzende Augen sie ganz väterlich anblickten. Einen Augenblick schaute Dori verwundert zu ihm auf, dann fiel ihr Blick auf die Blumen in seiner Hand, und ihre Hände zufammenschlagend rief sie aus: »O, der volle Sommer, der ganze duftende Sommer noch vor dem Frühling!«

Dorothea war herzugetreten. Sie erfaßte die ausgestreckte Hand des Alten und drückte sie mit großer Herzlichkeit. »Grüß Gott, Melchior, grüß Gott!« wiederholte sie mit warmer Freude, den Gast in die Stube hereinziehend.

»So kennst du mich noch, Dorothea«, sagte er, ihr folgend, »das freut mich, ich dachte, ich müßte dir aus der Erinnerung gekommen sein. Und das ist dein Kind, bist du auch eine Dorothea? Gib mir die Hand!«

Dori erwiderte den Händedruck des Alten und bejahte seine Frage. »Wie sollte ich Euch nicht mehr kennen, Melchior, Ihr seid ja noch immer ganz der gleiche«, sagte Dorothea wieder.

»Aber welch ein Nelkenreichtum! Was sind das für Prachtsblumen, sieh doch, Dori!«

In voller Bewunderung standen die beiden vor dem übergroßen, in allen Farben schimmernden Nelkenstrauß. »Die hab' ich gut überwintert, nicht? Da, junges Blut, die bring' ich dir, zu deinem Fest«, sagte Melchior, Dori den Strauß überreichend. »Ich wäre schon früher gekommen, dich zu begrüßen«, fuhr er, zu Dorothea gewandt, fort, »aber ich kam nie so weit. Ich war oben in Sint den Winter, da kommt man nicht so leicht herunter. Aber ich habe gehört, daß deine Tochter zum Osterfest in die Gemeinde eintritt. Zu dem Feste wollte ich dich und sie begrüßen.«

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Dori konnte erst jetzt recht danken für ihre schönen Blumen, die, in eine große Schüssel eingestellt, wie ein volles Nelkenbeet aussahen. »So etwas kann nur ein Gärtner zustande bringen, während draußen der Schnee noch alle Pflänzlein unter seiner dicken Decke in den Boden bannt«, sagte Dorothea, die duftenden Blumen mit immer neuem Entzücken von allen Seiten betrachtend.

»Ja wohl, ein Gärtnermeister hat sie zustande gebracht, aber nicht etwa ich, Dorothea«, wandte Melchior lächelnd ein, »aber daß ich des großen Gärtners Handlanger sein darf, darüber freue ich mich jeden Tag meines Lebens; es ist ein schöner Beruf.«

»Ich glaube, der hat Euch so jung erhalten, Melchior«, sagte Dorothea, »ich muß nur immer staunen, wie wenig Ihr Euch in den zwanzig Jahren verändert habt. Eure Augen glänzen wie die eines Jünglings.«

»Das hängt mit meinem Beruf zusammen, da hast du recht, Dorothea«, bestätigte Melchior. »Jedes Frühjahr werde ich wieder jung mit meinen jungen Pflänzchen, denn da bin ich so glücklich über all das neue Leben, das als das größte Wunder wieder vor meinen Augen entsteht, und das Wunder erfahr ich auch in meinem Herzen und danke dem lebendigen Gott dafür, daß er den Tod nichts festhalten läßt; denn der Lebenskeim geht mit dem Absterbenden in die Erde hinein, und ich weiß schon, wie es aussieht, wenn es wieder aufersteht. Und zu meinen jungen Pflänzchen sag ich fröhlich jedes Jahr: So, Kinder, nun müssen wir recht wachsen und gedeihen miteinander das Jahr durch, daß ein jedes von uns seinem Gärtner Ehre mache, ich dem Meister, ihr dem Handlanger, damit jeder, der uns ansieht, sagen muß: Die sind in einer guten Hand. So messe ich mich das ganze Jahr durch mit ihnen, und das bringt mich auf viele heilsame Gedanken. Und muß ich mich einmal niederlegen, Dorothea, dann denk ich: der Gärtnermeister weiß jetzt schon, wie er den Lebenskeim wieder auferstehen läßt, der in die Erde muß, so wie ich es von meinen Pflänzchen weiß, und ich bleibe fröhlich und sicher, denn ich bin in einer guten Hand.«

Dorothea wollte den alten Freund nicht fortlassen, ohne daß er die übliche Kaffeestunde mit ihr und der Tochter zugebracht hätte. Sie ging auch gleich, die nötigen Vorbereitungen zu dem gemeinsamen Genusse zu treffen, und wies Dori an, mit ihrem Gast und alten Freund unterdessen Bekanntschaft zu schließen.

»So komm, wir wollen der Mutter folgen«, sagte dieser, indem er sich setzte und einen andern Stuhl neben den seinigen rückte, damit Dori sich darauf niederlasse. »So sag mir nun, wie du's hast: Bist du froh, den Unterricht zu verlassen, oder hast du im Sinn, ihn mitzunehmen und darin zu bleiben, wo du auch weiterhin im Leben sein magst?«

Dori schaute erst ein wenig nachdenklich den Frager an, dann sagte sie: »Ich nehme immer alles mit mir, was ich gelernt habe, und lasse nichts zurück, denn ich bin froh über alles, was ich weiß.«

»Da hast du recht, denn Lernen und Wissen ist eine schöne Sache. Es gibt aber noch etwas Besseres«, setzte Melchior nach einer Weile hinzu.

Er schaute Dori fragend an dabei. »Ich weiß nicht, was Ihr meint«, sagte sie.

»Welcher hat es besser«, fragte Melchior weiter, »einer, der im kalten Kellerloch sitzt und nicht heraus kann, wohl aber weiß, daß draußen die Sonne lieblich warm auf alle Pflänzlein niederscheint: oder einer, der draußen im lichten Sonnenschein sitzt und die warmen Strahlen in allen Gliedern bis ins Herz hinein empfindet? Was meinst du?«

»Nun, ich denke, der letztere«, sagte Dori lachend.

»Ich auch; denk dir aus, wie ich's meine«, sagte Melchior.

Jetzt trat Dorothea mit einem vollbesetzten Kaffeebrett in die Stube ein.

»Wir sind noch nicht fertig mit der Bekanntschaft«, rief ihr Melchior entgegen, »aber wir wollen sie schon fortsetzen, nicht Dori?«

»Ja, das wollen wir«, gab diese so freundlich lächelnd zurück, daß Melchior sehen konnte, es mußte ihr auch recht sein. Dorothea wollte nun gerne wissen, ob der alte Freund den Sommer wieder in der Nähe zubringen werde und vernahm mit Befriedigung, daß Melchior den Garten vom Kurhaus wieder übernommen und nun bald zu arbeiten beginnen werde. Auch einige andere Gärten in der Umgegend hatte er, wie schon manchen Sommer durch, zu besorgen. So würde er meistens in der Nähe sein, und man könnte wohl manchmal wieder zusammentreffen, meinte Melchior. Als er sich erhoben und dann nach wiederholtem, herzlichem Händedrücken sich entfernt hatte, sagte Dori lebhaft: »Der gefällt mir, Mutter, viel besser als alle Verwandten miteinander.«

Dorothea erschrak ein wenig über den Ausspruch; so durfte man doch eigentlich seine Verwandtschaft nicht hintansetzen, und dann, wenn jemand ein solches Wort hörte, was konnte daraus werden! Ihr Schrecken wurde noch größer bei dem Gedanken, Dori könnte vor anderer Ohren sich so aussprechen. »Du solltest nicht so mit den Worten herausfahren, Dori«, sagte sie, »man sagt hier nicht alles so gerade heraus. Und dann mußt du doch sehn, wie gut und freundlich die Nonna ist, das solltest du auch anerkennen und erwidern.«

»Ja, ja, das tu' ich wirklich, Mutter, die Nonna ist mir recht lieb, aber«, setzte Dori eifrig hinzu, »die Basen habe ich nichts desto lieber, wenn ich sehe, wie du dich immer vor ihnen in acht nehmen mußt und sie halb fürchtest und halb verehrst.«

Aber Dorothea wollte nichts auf die Basen kommen lassen und sagte, sie sei ja selbst schuld, daß sie so unsicher sei und ihren Weg nicht fest gehe, wie die andern es tun können. Dori sollte aber durchaus die Verwandten alle lieben und achten.

Das Osterfest war noch im Schnee gefeiert worden. Jetzt hingen die dicken, grauen Wolken über den Pisoc herein, und ganze Ströme von Regen stürzten ins Tal herunter und schwemmten die hohen Schneehaufen fort. Dann kam die Sonne mit mächtigen Strahlen heraus, und auf allen Wiesen und drüben am Wald, an allen Hecken, überall quoll das helle Grün heraus und funkelte in der Maisonne. Niki Sami schlenderte mit vergnügtem Gesicht durch den erfrischenden Frühlingswind und milden Maisonnenschein gegen Schuls hinab. Er war in der besten Laune. Endlich war der ewige Unterricht doch zu einem Abschluß gekommen, und man konnte in ungestörtem Frieden ein Stündchen mit den Basen verleben. Er trat in das Haus an der Halde ein. Die Base Marie Lene war drinnen. Sie hatte einen Brief gebracht, den Dorothea eben aufmerksam durchlas.

»Setz dich, Vetter«, sagte Dori, den Eintretenden begrüßend, »es ist ein Brief von einem Kurgast, der unsere zwei Zimmer haben will.«

»Niki Sami kennt ihn schon, es ist der Doktor Strahl, der schon dreimal da war«, bemerkte die Base Marie Lene.

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Dorothea hatte fertig gelesen. »So weißt du ja schon, wie er ist, wenn er schon in drei Sommern die Zimmer bewohnt hat«, sagte sie zu Marie Lene gewandt; »ihr würdet mir also raten, ihn ins Haus zu nehmen, du und dein Mann?«

»Du kannst gar keinen bessern finden, wenn du einmal einem Kurgast die Zimmer geben willst«, entgegnete eifrig die Base, »und ich wüßte nicht, warum du es nicht tätest. Wir mußten mehr zusammenrücken mit unsern drei Buben, als ihr es müßt, und wir konnten es ganz gut machen. Du hast eine schöne Einnahme für die Zimmer, und die Zimmer hast du ja gar nicht nötig.«

»Warum braucht denn der zwei Zimmer, er wird doch wohl nur in einem schlafen, oder wechselt er in der Nacht?« fragte Niki Sami auflachend, beim Gedanken an diesen Umzug mitten in der Nacht.

»Man kann in einem Zimmer auch noch etwas anderes tun, als nur schnarchen, wie du tust, sobald du in dem deinen anlangst«, antwortete Marie Lene schnell. »Das ist ein gelehrter Herr, der im Tag manche Stunde auf seinem Zimmer sitzt und schreibt und studiert, auch oft am Abend tut er das noch. So muß er ein frisches Zimmer zum Schlafen haben, das versteht man wohl.«

»Schon im Juni will er kommen, schreibt er, also recht bald«, sagte Dorothea wieder. »Glaubst du, daß es ihm nichts macht, Marie Lene, nicht mehr dieselben Hauswirte zu finden? Er glaubt ja, er komme wieder zu euch. Hat man viel mit ihm zu tun?«

»Gar nicht«, entgegnete Marie Lene, »und wer ihm im Haus die Sache regiert, ob du oder ich, kann ihm ja einerlei sein. Für die groben Arbeiten und das Auslaufen hast du ja ein Mädchen genommen. Am Morgen geht er früh zur Kur weg und bleibt oben, beim Kurhaus, bis um 9 oder 10 Uhr. Da hast du alle Zeit, seine Zimmer zu ordnen, das ist die Hauptsache. Die Mahlzeiten nimmt er alle drüben im Gasthaus ein. Dazu geht er leise aus und ein und hält sich still. Er ist ruhig und schweigsam und sagt kaum ein Wort zu dir, außer der höflichen Begrüßung, die er nie vergißt.«

»Und dabei macht er Augen, daß man denken muß, die schauen ganz durch dich hindurch und kommen auf deinem Rücken wieder heraus«, ergänzte Niki Sami das Bild und lachte laut auf, indem er sich seine Schilderung vergegenwärtigte.

»Da ist etwas Wahres dabei«, sagte Marie Lene, »Niki Sami hat's hinter den Ohren, und manchmal sagt er auch etwas, das gescheiter ist, als er selber merkt. Es ist wahr, daß der Doktor so durchdringende Augen hat, wie ich noch keine gesehn habe, aber Augen, die man doch gern sieht, das kann man nicht anders sagen. Die Nonna ist auch dafür, daß du ihm die Zimmer zusagest, du könnest keinen Mieter bekommen, der besser in dein Haus passe, als der stille, ruhige Herr.«

Dorothea fand, wenn alle, die den Herrn nun schon drei Sommer durch gekannt und auch selbst im Hause gehabt hatten, so für seine Aufnahme stimmten, so hätte sie ja keinen Grund, dagegen zu sein. So trug sie denn gleich Marie Lene auf, den Brief, der an diese gerichtet war, dem Herrn in bejahendem Sinne zu beantworten.

»Kommst du gleich mit?« fragte Marie Lene, von ihrem Sessel aufstehend, »oder was hast du im Sinn, Niki Sami?«

»Komme nicht mit«, entgegnete dieser. »Heut hab' ich im Sinn, der Base Dorothea den Fleck nicht zu räumen, bis sie mir sagt, an welchem Tag sie und die Tochter nach Ardez heraufkommen, daß ich mich richten kann.«

»Wir spazieren einmal an einem schönen Nachmittag zu euch hinauf, Vetter, zu richten brauchst du ja doch nichts«, meinte Dorothea.

»Zu uns brauchen die Leute nicht zu Fuß zu kommen, man kann anspannen«, sagte Niki Sami und fuhr so vergnüglich mit seinen Händen in den weiten Taschen herum, daß ein großes Gerassel darinnen entstand, er mußte ein gutes Teil seiner Habe mit sich führen.

»So, so, ihr habt's gut im Sinn miteinander. So macht's aus und berichtet dann auch ein wenig, wie's gegangen ist, daß man auch etwas davon hat«, sagte Marie Lene im Fortgehen.

Niki Sami begann nun, Dorothea zu drängen, daß sie ihm den Tag bezeichne, da man sie einmal in Ardez erwarten könne, der Pate habe auch gesagt, die Basen besinnen sich lange, bevor sie's wagen. »Der Pate hat es ja auch noch nie gewagt, zu uns zu kommen«, warf Dori ein.

»Ja, daran ist immer das Bein schuld, er sagt's wenigstens«, gab Niki Sami zurück; »er ist bequem geworden und steht nicht mehr gern vom Fleck auf. Da kann er das angegriffene Bein gut brauchen, so als Grund, warum er nicht dahin und dorthin kommen kann. Aber es wundert ihn grausam, wie die Basen aussehen, ich habe schon so dann und wann ein Wort der Beschreibung fallen lassen.«

Bei diesen Worten zwinkerte Niki Sami ganz schlau mit den Augen gegen Dorothea hin, so, als wollte er andeuten, daß die Beschreibung nicht übel ausgefallen sei. Dori schlug nun vor, der Besuch sollte noch ein wenig aufgeschoben werden, die Mutter sage ja immer, wie schön es droben in Ardez und in der Umgebung sei, und nun müsse ja alles mit jedem Tag noch schöner werden. Wenn dann das Gras in allen Wiesen, und die Blumen an den Halden recht draußen seien, dann müßte man die Fahrt machen. Niki Sami sah ein, daß er sich noch eine Weile gedulden mußte, bis er mit seinem Fuhrwerk erscheinen könne, denn auch Dorothea war derselben Meinung, die Fahrt müsse noch verschoben werden. Sie dankte aber freundlich für die Einladung und zeigte solche Freude über die Aussicht, an einem schönen Frühlingstag so durch das Land zu fahren, daß der Vetter sich mit dem leidigen Verschieben wieder ein wenig aussöhnte. Aber ohne ein bestimmtes Versprechen wollte er doch nicht gehen; ein solches wollte er nun einmal haben, sagte er, und wenn er bis morgen auf dem gleichen Fleck darauf warten müßte. Da sagte Dori, die Mutter habe ihr erzählt, bei Ardez und droben bei der Ruine wachsen so viele wilde Rosen; wenn diese offen seien, so wollte sie am liebsten kommen, die wollte sie so gerne sehen und die Mutter gewiß auch, das wisse sie. Nun stimmten alle drei überein, zur Zeit der wilden Rosen sollte die Fahrt nach Ardez hinauf stattfinden.

Neuntes Kapitel

Doktor Strahl war angekommen und hatte seine Zimmer bezogen. Er war ein so stiller, ruhiger Hausbewohner, daß seine Anwesenheit kaum bemerkbar geworden wäre, hätten nicht die kleinen Geschäfte, die für ihn getan werden mußten, jeden Morgen daran erinnert, daß ein Fremder im Hause war. Er machte regelmäßig seine Gänge, wie die Base Marie Lene vorher gesagt hatte; daneben brachte er manche Stunde auf seinem Zimmer zu, wo er wohl recht in seine Arbeiten vertieft sein mußte, wie Dorothea dachte, da sie ihn kaum einmal umhergehen hörte. Traf sie oder Dori einmal mit ihm beim Aus- oder Eingehen zusammen, so grüßte er mit großer Höflichkeit und ging weiter. Jeden Morgen fuhr er nach dem Bad hinauf, und Dorothea hatte Zeit genug, seine Zimmer zu besorgen, was sie mit großer Sorgfalt tat, um sie so wohnlich und angenehm wie möglich zu machen, da sie ja wußte, daß ihr Zimmerbewohner einen guten Teil des Tages darin verbrachte. Damit war für den ganzen Tag alles besorgt, was er bedurfte.

Die ersten Wochen des Juni waren so regnerisch und unfreundlich, daß keine längeren Gänge im Freien unternommen werden konnten, wenn man nicht immer wieder durchnäßt und erkältet zurückkommen wollte. Das mußte Doktor Strahl besonders gern vermeiden, denn er saß an den schlechten Tagen nach dem Morgenausgang fast unbeweglich in seinen Räumen. Endlich teilten sich die Wolken. Gegen Abend warf die Sonne da und dort einen leuchtenden Blick ins Tal hinein, und auf einmal wölbte sich weit über den Pisoc hin ein funkelnder Regenbogen.

»Sieh Mutter! sieh Mutter!« rief Dori, die am Fenster saß, mit Entzücken aus. »O das muß ich recht sehen!« Sie rannte zum Haus hinaus. Als der Bogen erloschen und die Sonne hinter den Bergen verschwunden war, kehrte Dori zurück, einen großen Strauß blühender Zweige der Weißdornhecke mitbringend, an dem noch die frischen Tropfen hingen. »O sieh, wie schön! O nun wird einmal wieder die Sonne kommen!« rief sie der Mutter entgegen. »Aber der Herr Doktor droben dauert mich so sehr! Eben hab' ich ihn getroffen mit dem ganz gleich ernsthaften Gesicht wie immer, gewiß hat er gar nicht gesehen, daß die Sonne wieder kam, und daß es nun so schön werden muß. Er hat gewiß so furchtbar viel auszudenken und in seinem Kopf zu verarbeiten, daß er nicht merkt, wie die Wolken aufgestiegen sind und sich daran freuen kann. Wenn man ihm doch zeigen könnte, wie's nun schön wird! Soll ich ihm nicht von den Zweigen in sein Zimmer hinaufstellen? Die sieht er gewiß gern nach dem langen Regenwetter.«

»Das kannst du ja tun«, sagte Dorothea, »aber stelle sie auf die Seite, aufs Gesims, nicht zu seinen Papieren und Büchern, die auf dem Tisch liegen, es darf nichts davon naß werden.«

Dori ging und stellte sorgsam das hohe Glas mit den Blütenzweigen auf das Gesims. Sie warf einen Blick auf den Tisch hin, der über und über mit Büchern und Schriften belegt war. An dem Platze, wo der Sessel noch stand, den der Doktor wohl eben verlassen hatte, lag ein großes Buch aufgeschlagen, es waren so kurze Linien auf den Blättern zu sehen, das war gewiß ein Lied. Lieder hatten eine unwiderstehliche Anziehungskraft für Dori. Sie konnte nicht widerstehen, schnell zu lesen, was da stand. Sie fing an. – Es war nicht deutsch, was sie las, aber sie verstand ja alles so wohl. O wie schön war es! Nicht wie ein Lied, aber so schön! Sie las weiter, immer eifriger. Jetzt ging die Tür auf, – Dori fuhr zusammen – der Doktor stand vor ihr. Dori wurde dunkelrot bis in die Haare hinauf. »O verzeihen Sie mir's doch, Herr Doktor«, brachte sie endlich in ihrem Schrecken heraus. »Ich wollte nur die Zweige in ihr Zimmer stellen und sah hier das Blatt, es sah so aus wie ein Lied, ich dachte, ich dürfte es vielleicht lesen, aber ich hatte doch keine Erlaubnis dazu.«

»Das ist ja kein Verbrechen, das ich zu verzeihen hätte, beruhigen Sie sich nur«, sagte lächelnd der Doktor, indem er einen Blick auf das Buch warf, um sich zu versichern, daß es wirklich dasjenige war, in dem er eben selbst gelesen und das er offen hatte liegen lassen. »Aber sagen Sie mir«, fuhr er fort, »haben Sie denn auch verstanden, was Sie da gelesen haben?«

»O ja, so gut, und ich sah alles so deutlich vor mir! O ich habe so oft die Sommerabende so gesehen, das war schön!« Dori sprach mit immer steigender Wärme, die ihr von neuem das Blut in die Wangen trieb.

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»So lesen Sie leicht Italienisch und sprechen es vielleicht auch?« fragte der Doktor mit Interesse.

»Ja gewiß, gesprochen habe ich es mehr als Deutsch, besonders seit der Vater nicht mehr da war. Ich meine eben daheim, nicht hier; wir sind noch nicht sehr lange hier«, ergänzte Dori.

Doktor Strahl wünschte zu wissen, wo Dori früher gelebt und wo sie die italienische Sprache erlernt habe.

Nun begann Dori von ihrem Vater zu erzählen, von ihrem Leben im sonnigen Felsenhaus hoch über dem blauen See, und je länger sie von ihrer schönen Heimat und ihren Erinnerungen an ihr dortiges Leben erzählte, je wärmer wurde Dori, immer wärmer, immer lebendiger. Plötzlich bemerkte sie, wie der Doktor lächelte, aber ganz ruhig zuhörte. Sie unterbrach sich sofort: »Ich habe gewiß schon zu viel erzählt, Sie müssen wohl lachen über mich. Aber ich glaube, ich erzähle immer zu lang, wenn ich davon anfange. Sie sollten nur wissen, wie schön es dort unten ist!«

Der Doktor sagte, er habe sehr gern der Erzählung zugehört, sie sei ihm gar nicht zu lang vorgekommen. Er wünschte nun zu wissen, was denn ihr Vater mit ihr gelesen habe und sich von ihr habe vorlesen lassen, was ja, wie sie sagte, täglich geschehen sei. Dori berichtete, welche deutschen und welche italienischen Werke er mit ihr durchgelesen und ihr erklärt hatte und welche sie nach seinem Tode in seiner Bibliothek gefunden und dann für sich gelesen und zu verstehen gesucht habe. »Aber es ist gar nicht mehr dasselbe«, schloß Dori, »jeden Tag empfinde ich mehr, was ich an meinem Vater verloren habe. Er konnte mir alles erklären, er wußte so viel, und nun stoße ich beim Lesen auf so vieles, das verstehe ich nicht, und ich sehe wohl, ich sollte so vieles wissen, von dem ich gar nichts weiß, um die schönen Bücher des Vaters zu verstehen. Er hatte immer gesagt, wenn ich älter sei, wollte er sie mit mir lesen. Aber es ist alles anders geworden, seit er nicht mehr da ist, und seit ich Sie sprechen höre, merke ich auch erst recht, wie schlecht ich nun Deutsch spreche. Es spricht auch kein Mensch um mich her, wie mein Vater sprach, nur Sie sprechen so.«

Doktor Strahl nahm das Buch wieder zur Hand; er hielt es Dori hin: »Würden Sie mir nicht einmal das Gedicht, das Sie sich angesehen haben, vorlesen?« fragte er.

»O ja, sehr gern, es ist so schön!« sagte Dori, indem sie das Buch ergriff und mit großer Lebendigkeit die Verse vortrug. Als sie zu Ende war, wollte sie das Buch niederlegen, aber der Doktor sagte: »Nun hab' ich noch eine Bitte: Wollten Sie nicht den Anfang, die vier ersten Zeilen noch einmal lesen und sie mir gleich übersetzen, in einer Weise, daß man den Eindruck davon so ähnlich wie möglich erhielte? Am genauen Worte hänge ich nicht.«

»Meinen Sie in Poesie?«

»Jawohl, wenn das geht«, gab er lächelnd zurück.

Dori las wieder vor:

La donzeletta vien dalla campagna,
Giu sul calar del sole,
Col suo fascio dell' erba, e reca in mano
Un mazzolin di rose e di viole.

Dori schaute vor sich hin, als sähe sie's lebendig vor sich, was sie gelesen hatte. Es mußte ihr gefallen, ihre Augen lachten in Freude und Eifer. Jetzt sagte sie laut, was sie erst leise bei sich in Worte gebracht hatte:

»Vom Feld kommt das Mädchen, der Tag ist aus,
Die Sonne will sich neigen.
Im Arme trägt sie ihr Gras nach Haus,
In der Hand einen duftenden Blumenstrauß
Von Veilchen und Rosenzweigen.«

»Nein, ich übersetze nicht mehr. Sie lachen mich gewiß aus«, sagte Dori jetzt schnell, als sie bemerkte, welch heiteres Lächeln auf ihres Zuhörers sonst so ernstem Gesichte lag.

»Nein, nein, wie sollte ich das tun«, wehrte er entschieden, »ich freute mich nur darüber, wie gut und rasch Sie Ihre Aufgabe gelöst haben. Eigentlich wollte ich nur wissen, ob Sie auch recht verstehen, was Sie da lesen wollten, ich zweifle aber gar nicht mehr daran.«

»Ach so«, sagte Dori lachend, »Sie haben nur sehen wollen, ob ich Ihnen nicht nur etwas vormachen wollte, Sie dachten wohl, ich wisse ganz und gar nichts. Ich glaub' es wohl, ich weiß ja wenig genug.«

»Gar so schlimm wird es ja nicht sein«, sagte der Doktor nun sehr freundlich, »auch habe ich Ihnen durchaus nicht zugetraut, daß Sie mir nur etwas vormachen wollten, an dem nichts war. Ich wünschte, Sie Italienisch lesen zu hören und zu wissen, wie ich Ihr Verständnis der Sprache und Ihre Art zu übertragen zu beurteilen hätte, da ich Ihnen einen Vorschlag machen möchte: Wie wäre es, wenn ich täglich eine Stunde aus den deutschen Werken, die Ihr Vater liebte, mit Ihnen lesen und Ihnen alles erklären würde, was Sie wünschen sollten? Dafür würden Sie mir ein italienisches Werk vorlesen und dazwischen mich vorlesen lassen und mich aufmerksam machen, wo meine Betonung nicht richtig wäre. Sie lesen gut, so viel kann ich schon beurteilen, und nach allem, was Sie mir erzählt haben, müßte es Ihnen nicht unlieb sein, die Werke, die Ihr Vater liebte, mit mir durchzulesen.«

Dori war so entzückt von dem Vorschlag, daß sie erst vor Freude gar keine Worte fand, sie konnte nicht glauben, daß sie wirklich dem gelehrten Herrn gegen die Wohltat, die er ihr erweisen wollte, etwas zu bieten habe. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken für Ihr Anerbieten, Herr Doktor«, sagte sie endlich in hoher Freude, »ich muß es gleich meiner Mutter mitteilen. O, wenn ich Ihnen doch wirklich etwas dagegen bieten könnte!«

»Das können Sie wirklich«, bezeugte er bestimmt und bot Dori die Hand zur Bestätigung.

Dori kam in großer Erregung zu ihrer Mutter zurück, die in Spannung und Verwunderung ihrer harrte, denn sie hatte ihren Hausbewohner eintreten gesehen und seitdem unaufhörlich gelauscht, ob Dori noch nicht herunterkomme. Sie teilte Doris Freude bei ihrer Mitteilung; wie gönnte sie ihrem Kinde diese so lang ersehnte Vervollkommnung der Kenntnisse, die der Vater so sehr für sein Kind gewünscht, daß er so früh, als es nur anging, mit seiner Anleitung begonnen hatte. Leider war ja sein Unterricht so früh abgebrochen worden.

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»Wie würde der Vater sich darüber freuen!« waren Dorotheas erste Worte nach der Mitteilung. Bei jeder Frage, die des Kindes Weg und Leben betraf, war ja immer ihr erster Gedanke: »Was würde der Vater dazu sagen?«

Gleich am folgenden Tage, sobald Dorothea hörte, daß Doktor Strahl von seinen Morgengängen zurückgelehrt war, stieg sie in sein Zimmer hinauf, um ihm für sein Anerbieten zu danken und ihn zu bitten, wenn ihn die Sache ermüden sollte, so möchte er es doch gleich aussprechen, vielleicht stelle er sich vor, Dori sei viel vorgerückter in ihren Kenntnissen, als es wirklich der Fall sei, und diese Unterrichtsstunden könnten ihn mehr angreifen, als er sich denke.

Der Doktor beruhigte Dorothea über ihre Besorgnisse und sagte ihr, die gestrige Unterhaltung mit ihrer Tochter habe ihm so viel Genuß bereitet, daß er sich nun selbst wahrhaft darauf freue, die Lesestunden mit der lebendigen Schülerin zu beginnen, wie auch nachher die Schülerin als Lehrerin kennen zu lernen, von welchem Verkehr er keinen geringen Gewinn für sich selbst erwarte. Er wollte noch von Dorothea wissen, ob das Mädchen Gedichte mache für sich, oder viele solche lese.

Sie antwortete, das erstere glaube sie nicht, sie wenigstens wüßte gar nichts davon. An Gedichten habe schon ihr Mann viel Freude gehabt und Dori viel solche auswendig lernen lassen. Auch habe er soviel mit seinem Kinde gesungen, daß die Tochter eine Menge von schönen Liedern kenne.

Das weltabgeschiedene Leben, das der Maler mit seiner Familie in der schönen Gegend geführt hatte, beschäftigte den Doktor lebhaft, er hatte immer noch eine Frage darüber an Dorothea zu tun, und sie erzählte gern von den schönen, vergangenen Tagen.

Dori sah ihrem neuen Unterricht mit solchem Verlangen entgegen, daß sie seit gestern an nichts anderes mehr dachte und nur immer befürchtete, es könnte noch ein Hindernis aufsteigen und sie ihres Glückes berauben. Als die Mutter so lang von ihrem Besuche nicht wiederkehrte, sah Dori ihre Befürchtung schon verwirklicht und ganz niedergeschlagen rief sie der endlich eintretenden Mutter entgegen: »Ja, ich kann mir's schon denken, natürlich, nachdem er nachgedacht, hat er eingesehen, wieviel Zeit er verlieren würde, und nun ist ihm alles verleidet; er will nicht mehr.«

Aber die Mutter konnte Dori beruhigen, daß es nicht so sei, daß der Herr Doktor gleich morgen beginnen und immer die Stunden des Vormittags zu dem gemeinsamen Lesen verwenden wolle, so komme am wenigsten Störung hinein.

Dorothea konnte gar nicht genug sagen, wie freundlich der sonst so einsilbige Mann mit ihr gesprochen und allen ihren einfachen Beschreibungen, die sie ihm von ihrem Leben in Cavandone gemacht, zugehört und immer weiter danach gefragt hätte.

»Hast du auch gesehen, wie viele graue Haare ihm schon zwischen den schwarzen durchschimmern, Mutter?« fragte Dori, »und er kann doch gewiß noch nicht alt sein?«

»Nein, alt ist er wohl noch nicht, aber er kann ja Kummer und Leid gehabt haben, das macht früh grau. Ich habe schon oft gedacht, wenn er so gedankenvoll dahinging, wenn er nur keinen Kummer in sich trägt!« sagte Dorothea teilnehmend.

»Nein, nein, Mutter«, wehrte Dori, »du siehst so bald einen Kummer bei den Menschen, er hat gewiß nur so schrecklich viel zu denken, man kann es sehen, er schaut ja weder rechts noch links, wenn er so vom Haus weg stürmt. Er weiß gewiß alles, was der Vater wußte, und vielleicht noch mehr, glaubst du nicht auch? Er ist auch wohl so alt, wie mein Vater jetzt wäre, nicht?«

Die Mutter meinte, das sei er jedenfalls, vielleicht noch etwas älter. »Dein Vater war 38 Jahre, als er starb. Du warst damals 12 und wirst nun 17«, rechnete Dorothea, denn sie ging immer den Persönlichkeiten nach, um die Jahre zu finden, »also wäre der Vater nun 43 Jahre. So alt mag der Herr Doktor auch sein, mehr aber nicht. Aber wissen kann er ja wohl mehr, als dein Vater wußte, er muß ja soviel studiert haben. Ich weiß nun, daß er Professor der Sprachen ist, er sagte mir's, darum will er auch so gern Italienisch mit dir lesen. Wie wird er dir alles erklären können! Er kennt natürlich die Sprache ganz anders als du, aber er sagte, er sei nie länger in Italien gewesen und höre darum gern das Italienische vorlesen, so wie es sein muß. Du mußt dir Mühe geben, Dori!«

»O das weiß ich ja schon, Mutter, meinst du, das habe ich nicht gleich im Innersten gefühlt, wie schrecklich nichtig ich zum Vorschein kommen werde?« rief Dori aus; »ich begreife ja durchaus nicht, daß er von mir etwas hören will, aber auf diese Lesestunden freue ich mich doch so sehr, wie ich gar nicht sagen kann.«

Zehntes Kapitel

Dori hatte an die alte Maja geschrieben, um ihr zu erzählen, wie es ihr selbst und der Mutter ergehe, und dann auch zu vernehmen, wie Maja weiter mit den Kindern lebe. Dori wußte wohl, daß die Alte weder lesen noch schreiben konnte, aber Giacomo konnte beides für sie tun, Dori hatte ihn doch nicht vergebens so eifrig unterrichtet. Endlich erschien dann auch eine Antwort von Giacomo. »Der arme Kerl ist nicht frohen Mutes, das kann ich in jeder Zeile lesen, wenn er schon nichts davon schreibt«, sagte Dori, als sie den Brief gelesen hatte und ihn nun der Mutter übergab. Es war ein kurzer Brief; darin stand, die Großmutter sei gesund. Vor kurzer Zeit sei der Vater heimgekommen und sei sehr erstaunt gewesen, daß er alles bei ihnen daheim in so guter Ordnung gefunden hatte, und besonders, daß die Kinder alle drei lesen und schreiben konnten. Die Großmutter habe ihm gesagt, wer das alles getan habe, und der Vater lasse vielfältig Dank sagen dafür. Er habe dann erzählt, in Genf habe er gute Arbeit gefunden und wolle zurückkehren, und weil es so gut stehe mit seinem Erlernten, so wollte er ihn, den Giacomo mitnehmen. Aber er hätte nicht gehen können, um keinen Preis; da habe der Vater den Detto mitgenommen, der gern ging. Er selbst arbeite nun bei den Brüdern, welche die große Gärtnerei in Pallanza hielten; dann setzte er noch kleinlaut hinzu: Verdienen könne er für einmal gar nichts, aber Dori sollte doch nur nicht glauben, daß es sei, weil er nicht arbeiten wolle, was er ihr doch versprochen habe, er arbeite gewiß von morgens früh an, immerfort aus allen Kräften, bis zur Nacht, denn zu tun gebe es genug da. Alle untere Arbeit, welche die Gärtner nicht tun wollten, habe er zu verrichten, aber es müsse nun so sein. Die Großmutter sage auch, er solle nur so fortfahren, sie könne sich nun gut durchbringen und ihm auch dann und wann noch zu Kleidern verhelfen. Die Marietta habe so gut stricken und nähen gelernt, daß sie schon für andere Leute etwas arbeiten könne. Dann kam ein Gruß und Giacomos Unterschrift; so kurz, als fürchtete der Schreiber sich vor allen persönlichen Annäherungen und wollte so schnell wie möglich darüber hinwegkommen.

»Wenn der Giacomo nur nichts angestellt hat«, sagte Dori plötzlich, als ihre Mutter den Brief gelesen hatte und ihn hinlegte.

»Was fällt dir denn ein, Dori, der verständige, ordentliche Junge, er hat ja doch nie was Krummes gemacht«, entgegnete die Mutter.

»Ich weiß auch gar nicht, was er gemacht haben könnte«, fuhr Dori fort, »es ist nur etwas in dem Brief, sowie wenn Giacomo nicht recht herausreden wollte. Warum soll er auch gar nichts von dem Gärtner bekommen, wenn er so arbeiten muß, wie er sagt? Und was er sagt, ist gewiß so, ich meine nur, er sagt nicht alles heraus, da könnte nicht alles in Ordnung sein.«

»Das ist nichts so Sonderbares, daß er keinen Lohn erhält«, meinte Dorothea, »wenn er Gärtner werden will, so wird er in die Lehre eingetreten sein, da hat keiner Lohn für die erste Zeit.«

»Es ist aber gar nicht so, als sei er in der Lehre, wenn er tun muß, was keiner der Angestellten tun will; oder dann tut der Meister mit ihm, wie es nicht recht ist. Vielleicht kommt's besser im nächsten Brief.«

Dori war in diesem Augenblick gar nicht geneigt, schweren Gedanken nachzuhängen; so war sie froh, daß die Mutter die Sache anders ansah, und freute sich gern mit darüber, daß es der alten Maja und ja auch den Kindern wohl ging. So steckte Dori schnell ihren Brief ein und sagte: »Ich meine, ich sollte nun die Nonna wieder einmal besuchen.«

Dorothea lächelte. »Ja wohl, tu du das nur, Kind«, sagte sie beistimmend, »ich muß mich nur verwundern, daß es dir nun so oft einfällt, du solltest die Nonna besuchen, und früher mußte ich dich immer treiben dazu.«

»Das ist wirklich wahr, Mutter«, bestätigte Dori, »aber jetzt ist auch alles so anders geworden hier, es ist ja gerade wieder wie damals, als wir mit dem Vater lebten, so herrlich und so reich ist jeder Tag, daß man sich nur immer freuen kann vom Morgen auf den Abend und wieder auf den kommenden Tag. Eine ganze neue Welt ist vor mir aufgegangen in den vierzehn Tagen, da der Herr Doktor mit mir liest und mich so viel Neues, Schönes, Herrliches kennen lehrt. O es ist wieder ganz wie mit dem Vater! Alles kennt er und macht es mir klar und sagt mir, was ich weiter darüber lesen kann. O wie ist das so anders, als wenn ich allein die Bücher vom Vater lesen wollte und überall anstand, weil ich so vieles nicht verstehen konnte. Und siehst du, Mutter, jeden Tag geht etwas Neues, Schönes vor meinen Augen auf und in mir selbst, und alles um mich und in mir wird wie weiter und größer und reicher. O es macht mich so glücklich und froh, ich möchte nur immer laut aufsingen, den ganzen Tag.«

»Das tust du auch nahezu«, schaltete Dorothea hier ein.

»Und nun will ich dir sagen, Mutter, warum ich alle zwei Tage zur Nonna laufe«, fuhr Dori in ungedämpftem Eifer fort. »Ich gehe ja schon gern zu ihr, sie ist immer so gut und freundlich, aber ich bleibe dann gar nicht so lange bei ihr, wie ich fortbleibe, ich denke nur, ich muß doch einen Grund haben, wenn ich so fortlaufen will. Aber siehst du, es ist mir eigentlich mehr ums Hinauslaufen, als um den Besuch zu tun. Dort auf der Höhe über der Brücke wird es nun so schön, es kommen alle Blumen heraus, die Enzianen, die goldenen Sonnenröschen und die roten Steinnelken. Manchmal setz ich mich dort mitten auf den Boden hin auf der sonnigen Weide, und es ist so wonnig zu sehen, wie sie herausquellen zu ganzen Büschen, von einem Tag auf den andern, die rot und blau und gelb schimmernden Blumen, und die Augen so gern zur Sonne auftun, daß sie warm hineinleuchte. Und nachher lauf ich den Berg hinauf, und dann kommt der Weg oben auf der Höhe gegen die Häuser von Vulpera hin, der ist mir so lieb geworden! Da geht es so dem Abendlicht entgegen und ringsum ist's so still und schön. Da geh ich immer langsam, es reut mich jedesmal, wenn ich am Ende bin und die Häuser kommen. Aber dort mach ich gewöhnlich noch einen Halt und der freut mich immer, dort, wo links am Weg die einzelne Villa steht. Dort arbeitet nun fast jeden Tag der Gärtner Melchior in dem kleinen Garten. Er schneidet das Gebüsch und die Bäumchen zurecht. Er soll alles ordnen, daß es ringsum ein wenig freundlich aussieht. Ein kranker Herr hat die Zimmer gemietet, sagt Melchior, und da er nicht weit gehen kann, möchte er's doch im Garten ein wenig nett haben. Mit dem Melchior habe ich dann jedesmal ein Gespräch, wenn er dort ist. Den habe ich so gern! Und immer sagt er etwas, worüber man nachdenken muß. Nachher lauf ich dann aus allen Kräften zum Kurhaus hinunter und den Waldweg zurück hierher. Dort wird es nun auch schön geworden sein, aber ich stehe nicht mehr still, ich bin immer so spät, daß ich nur zu rennen habe, um heim zu kommen, bevor es Nacht wird.«

»Nun begreif ich, warum du immer so atemlos ankommst«, sagte Dorothea zufrieden lächelnd. »Hab ich dir's nicht gesagt, Dori, daß es auch schön ist hier? Jetzt fängst du an, es zu sehen. Sag es auch der Nonna, daß du siehst, wie schön das Land ist, sie hört es gern.«

Das wollte Dori schon gern tun. Jetzt setzte sie ihren runden Hut auf den Kopf und machte sich auf den Weg. Noch auf der Hausschwelle stimmte sie an und in hellen Tönen erklang ihr Lied:

»Rote Wolken am Himmel,
Wilde Rosen im Hag, . . .
Und ich freu' mich, ja ich freu' mich
Am sonnigen Tag.«

Das ganze Lied wurde durchgesungen, und sogar die Worte:

»Und die Freude, ja die Freude
Verweht wie ein Traum« –

hallten wie lauter Freude durch das Tal, und noch jubelnder tönte der Schlußgesang:

»Ein jeder neue Frühling
Bringt die Rosen zurück.«

Dori war auf der kleinen Steintreppe am Hause der Nonna angekommen und trat ein.

»Sing du nur zu, ich höre es gern«, rief die alte Nonna Dori entgegen.

»Ich will schon«, sagte Dori und sang ihren Schlußvers gleich noch einmal.

»So, das tönt ganz erfreuend«, sagte die Nonna, »nun setz dich hier zu mir, Dori, und erzähl mir, was ihr macht und wie ihr's habt, du und die Mutter. Mir scheint, der Frühling gefällt dir hier?«

Dori bestätigte diesen Eindruck und erzählte der Nonna, wie es in ihrem kleinen Haushalt zuging, und daß die Mutter auch so zufrieden und heiter sei, wie man nur wünschen könne, fast wieder so, wie sie in den frühern Zeiten gewesen, deren Dori sich sehr deutlich erinnerte. Das hörte die Nonna gern.

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Noch nicht viel anderes hatte Dori weiter berichtet, als mit einem gewaltigen Ruck die Türe aufging, es war Niki Sami, der hereintrat. Er lachte von einem Ende des Gesichtes bis zum andern, als er Dori erblickte, und rief ihr gleich zu: »Das ist recht, daß du mir entgegenkommst, gerade von der Nonna weg wollte ich zu dir hinauf; da sieh!« Er hielt ihr einen Gegenstand so dicht unter die Augen, daß Dori gar nichts sehen konnte.

Sie entfernte seine feste Hand ein wenig; es war eine halb offene wilde Rose, die er ihr entgegenhielt. »O, die ist schön! Noch habe ich gar keine gesehen hier. Wo hast du sie gefunden?« fragte Dori, die Rose selbst feststeckend, die Niki Sami jetzt ihr aufstecken wollte.

»Ja, wo? Gelt, wenn ich es dir nur gleich sagte!« gab er zurück. »Komm du nur zuerst zu uns herauf, dann sag ich dir's, wo die Rosen sind, ganze Sträuche voll.« Er erzählte nun der Nonna, auf die Zeit der wilden Rosen hin sei der Besuch verschoben worden, und nun sei er gekommen, um zu zeigen, daß die Zeit da sei.

Die Nonna nickte zustimmend und sagte, Dori werde Freude haben, den Besuch zu machen und das schöne, neu aufgebaute Haus in Ardez zu sehen, mit den angebauten großen Stallungen und den luftigen Böden oben drüber. Sie selbst hätte sich recht gefreut, da überall herumzugehen, wo alles so gut aussehe. Da werde Dori dann noch ganz andere Dinge anzuschauen haben, als nur wilde Rosen, deren es droben im Gestrüpp am alten Turm haufenweis gebe.

Dori stand jetzt auf und sagte, sie wolle nun gehen, Niki Sami werde wohl noch ein wenig mit der Nonna reden wollen, unterdessen mache sie noch einen Umweg und treffe dann mit Niki Sami daheim wieder zusammen, er komme ja nachher zm Mutter hinauf.

Aber davon wollte der Vetter nichts wissen: »Du brauchst keinen Umweg zu machen, komm du nur geraden Weges mit mir«, sagte er auflachend, denn es war ihm so, als habe er unversehens etwas ganz Bedeutsames gesagt. »Und mit der Nonna habe ich keine Geheimnisse, du kannst schon hören, was wir sprechen, oder nicht, Nonna?« Diese bestätigte Niki Samis Worte und war auch seiner Ansicht, Dori könne wohl auf den Vetter warten, da er doch eigentlich um ihretwillen gekommen sei, dann können sie den Weg zur Mutter hinauf miteinander machen. So hatte Dori zu bleiben. Es ging aber viel weniger lang, als sie im Sinne gehabt, auf ihrem Umweg zu verweilen.

Nach einem kurzen Gespräch mit der Nonna brach der Vetter auf und die beiden stiegen zusammen die Halde hinan.

Niki Sami hatte es eilig, zu Dorothea hinaufzukommen, um die bevorstehende Fahrt mit ihr zu besprechen. Schon beim Eintreten rief er, seine Blume hoch aufstreckend: »Base Dorothea, die wilden Rosen sind offen!«

Dorothea war denn auch ganz einverstanden, daß der erste schöne Tag für die Fahrt benutzt werden sollte, wie der Vetter erst vorschlug. Dann meinte er aber selbst wieder, so sei die Abrede unsicher, es müsse ein Tag festgesetzt werden. Morgen wär's Freitag, das sei ein krummer Tag, meinte Niki Sami, er wolle nicht, dah etwas krumm gehe. Am Samstag war kein Mensch vor Fegen und Putzen seines Lebens sicher, fand er, und auch Dorothea wollte lieber, daß ein anderer Tag gewählt würde. Am Sonntag wollten die beiden Basen erst in die Kirche gehen. Dann würde es viel zu spät, behauptete der Vetter, denn er wollte sie am Morgen zum Mittagessen abholen. So wurde der Montag festgesetzt.

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Als Niki Sami am Abend heimkehrte, saß der Pate erwartungsvoll auf seiner Ofenbank und blies die Rauchwolken aus seinem Pfeifchen. »Nu, was jetzt? Wird's bald?« fragte er, als Niki Sami sich hinsetzte, seine Hände in die Taschen steckte, ein wenig rasselte und dann zu pfeifen anfing.

»Am Montag«, sagte der Neffe jetzt und pfiff befriedigt weiter.

»So, mich nimmt nur wunder, ob's nicht vorher noch Neujahr wird«, bemerkte der Pate gelassen.

Jetzt hörte der Neffe auf zu pfeifen und sagte ärgerlich: »Bin ich denn schuld daran, daß der alte Pfarrer ihnen in den Kopf gesetzt hat, wenn sie nicht alle Sonntage ihre sechs Stunden und noch mehr in der Kirche sitzen, so haben sie's verspielt? Wenn ich den einmal auf einem Weg treffe, so will ich's ihm werden lassen, dem – dem –«

»Du redest, wie du bist, alles in den Tag hinein und ohne Vernunft«, setzte der Pate ein, da der Neffe den Ausdruck seines Gefühls nicht zu finden schien. »Jetzt will ich dir etwas sagen, denn du bist noch jung und unerfahren und bist sonst kein Phönix: Wenn du etwa einmal daran denken solltest, eine Frau zu nehmen, so sieh darauf, daß es eine ist, die in die Kirche geht; da hört sie doch nur etwas Gutes und der Mann hat den Profit davon. Und eine Frau, die an dem Freude hat und danach tut, und darum sozusagen vor ihrem Herrgott lebt, die richtet ihr Haus nach seinem Wohlgefallen ein, das bringt Ordnung und eine gute Art mit sich, so daß alles im Frieden zugeht. Das ist durch die ganze Welt so, du kannst hinkommen, wohin du willst. Und dann will ich dir noch etwas sagen: Es weiß kein Mensch, wohin er kommen kann, und was er etwa noch brauchen könnte. So religiöses Wesen und dergleichen hat ja ein Mann gerade nicht so nötig, aber die Frau muß das haben, so als Halt und Stütze, weil sie das braucht, und dann ist es gut für den Mann, daß sie das hat und kennt, wenn er etwa im Notfall doch auch einmal so etwas nötig haben sollte, dann kann sie ihm doch gleich beistehen und ihm sagen, wie es zu finden ist.«

Niki Sami pfiff wieder. Der Pate blies seine Wolken vor sich hin, es war die gewöhnliche Weise, wie die beiden ihre Stunden zusammen zubrachten, wenn sie miteinander zu Hause waren.

Elftes Kapitel

Ein frischer Wind strich das Tal hinab, als Niki Samt mit seinen Rossen dahinfuhr und nun mit einem ungeheuren Peitschenknall am Hause der Dorothea stillhielt. Sie trat mit Dori reisefertig heraus. Sie wußte ja wohl, daß der Vetter seinen Wagen nicht verlassen und ins Haus eintreten konnte. Gleich nach der ersten Begrüßung sagte Dorothea, die zwei kräftigen Tiere betrachtend, die vor dem Wagen standen: »Aber Vetter, warum kommst du denn mit zwei Rossen, eines von diesen hätte uns ja so leicht hinaufgezogen!«

»Pah«, erwiderte Niki Sami auflachend, »wißt ihr nicht, wie es heißt:

Wer's vermag.
Spannt ein Roß an sein Rad;
Wer vermag mehr.
Fährt mit zweien daher.

»Ich will rückwärts sitzen, so kannst du bequemer kutschieren«, sagte Dori, sich auf den Vordersitz schwingend.

»Ja, so ist's recht, so kann ich auch etwas sehen, das mir gefällt«; Niki Sami mußte laut auflachen über die Anspielung, die er eben ausgesprochen.

»Du kannst heute deine Augen hindrehen, wohin du willst, so siehst du etwas, was dir gefallen muß«, sagte Dori rasch, »das ist der schönste Tag, den wir noch hier erlebt haben. Seht doch die Goldröschen hier an der indem er mit Wohlgefallen zuschaute, wie rasch und gewandt Dori eine schön geordnete Tafel herrichtete.

»Es steht jedem jungen Mädchen gut an, die Dinge des Hauswesens zu kennen und alles, was dazu gehört, geschickt in die Hände zu nehmen«, entgegnete Dorothea schnell. »Aber sagt mir, Vetter, gibt es denn auch noch einige von den überaus schönen Nelkenstöcken, welche die selige Base immer vor den Fenstern hatte und so gut zu pflegen verstand?«

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»Davon weiß ich nichts, und du, denk' ich, noch weniger, Niki Sami«, gab der Vetter zurück. »Man muß die Ursel fragen, wenn sie wieder hereinkommt.«

»Und die wilden Rosen, die vielen wilden Rosen beim alten Turm, von denen die Nonna sagte?« fiel Dori ein, »die wirst du mir denn doch auch zeigen, Niki Sami, und bald?« Dieser nickte schlau, so als wollte er sagen: Du wirst dann schon hören, wie's ist.

Aber der Pate sagte gelassen: »Nur zahm, nur zahm, und eins nach dem andern. Zuerst müssen wir nun zu Tisch sitzen und ein paarmal anstoßen, was dann nachher kommt, wird sich zeigen.« So wurde denn nach seiner Anordnung begonnen, und über dem vielen Essen und dem wiederholten Anstoßen auf die alte Verwandtschaft und die neu angeknüpfte Bekanntschaft und dann noch auf eine bleibende Freundschaft, was alles der Pate Niklaus vorschlug, war der Abend herangekommen, und immer noch saß die Gesellschaft am Tisch. Dori hatte schon mehrmals versucht, aufzustehen, aber sie konnte es nicht durchführen, immer wieder mußte sie sitzen bleiben, die Vettern wollten von keinem Aufbruch wissen, der alte war noch hartnäckiger als der junge. Dorothea hatte auch der Tochter mehrmals Zeichen gemacht, daß es sich nicht schicke, daß sie immer danach strebe, fortzukommen.

Endlich konnte Dori nicht mehr schweigen; sie wandte sich an ihren Nachbar und sagte mit Lebhaftigkeit: »Vetter Niklaus, ich will gar niemand stören, aber das erlaubt Ihr mir gewiß, daß ich nun zu dem Turm hinaufgehe und zu den Rosen, ich finde den Weg schon ganz gut allein.«

»Ja, zu den Rosen, das wollte ich auch gerne sehen, wie du zu den Rosen kämest«, fiel Niki Sami ein. »Nicht eine ist noch offen dort droben; das war weit und breit die erste offene, die ich dir heut brachte und die ist nicht von dort oben, lang nicht.«

»Bleib du nur gern noch ein wenig bei uns sitzen, junge Base«, sagte der Vetter Niklaus in aller Ruhe, »Rosen kannst du noch immer holen. Jetzt mußt du mich auch Pate nennen, in der Verwandtschaft heiß ich einmal so, und zu der gehörst du ja auch und wirst immer mehr dazu gehören. Daraufhin wollen wir nun auch noch anstoßen.« Der Pate erhob sein Glas und Dori mußte Bescheid tun und sich wieder neben ihn niedersetzen, so wollte er es haben. »Und was hast du denn für einen Turm im Auge?« wollte er jetzt noch wissen.

»Sie meint die Ruine von Steinsberg droben«, erläuterte Niki Sami, »jetzt wär's auch zu spät, noch dort oben hinaufzuklettern.«

»Das ist nun ein Grund, daß die Base Dorothea uns bald wieder mit der Tochter besuche«, sagte der Pate, »das muß dann sein, bevor die Rosen vorüber sind. Dann kann die junge Base dort hinaufsteigen und die Rosen holen und sich an dem alten Gemäuer erfreuen. Heut aber wollen wir nun noch ein wenig fröhlich zusammen bleiben.«

Schon begann es dunkel zu werden; die Gesellschaft saß immer noch am Tisch. Nun fing Dorothea zu drängen an, Niki Sami möchte einspannen, wenn er dabei bliebe, sie heimzuführen. Dabei wollte er durchaus bleiben, aber das Einspannen schob er immer noch hinaus, bis er sah, daß es der Base Dorothea ganz ernst war damit, daß sie nun aufbrechen wollte, sei es im Wagen oder sei es zu Fuß. Der Pate kam diesmal bis zum Wagen hinaus und ermunterte Dori beim Abschied, der Mutter in Erinnerung zu bringen, daß die Rosen nicht zu lange blühen, daß man sie schnell holen müsse, wenn sie einmal offen seien. Als Niki Sami nach einigen Stunden zurückkehrte, saß der Pate noch mit ganz offenen Augen in der Stube und blies lebhafter als gewöhnlich den Rauch aus seiner Pfeife. Sobald der Neffe sich hingesetzt hatte, sich verwundernd, daß der Pate noch nicht zur Ruhe gegangen sei, sagte dieser: »Ich habe noch etwas mit dir zu reden: sag jetzt heraus, denkst du daran, oder denkst du nicht daran?«

»Woran?« fragte der Neffe ein wenig störrig.

»Mach's kurz, du weißt wohl, was ich meine«, sagte der Pate wieder.

»Meint Ihr ans Heiraten, Pate?«

»Ich meine ans Heiraten, Niki Sami.«

»Freilich denk ich daran.«

»So mach, daß du vorwärts kommst, damit jemand anders auch daran denke. Sei jetzt keine Schlafmütze, wie du gewöhnlich bist, sondern mach vorwärts, gleich!«

»Warum pressiert ihr denn so, Pate? Sie ist noch nicht veraltet.«

»Du Öllicht du!« rief der Pate ergrimmt aus, »merkst du denn auch gar nichts! Du mußt drauf los, bevor noch ein anderer sie kennt hier, und so lang sie noch so jung ist, daß sie selbst an keinen andern denkt. Darum tu du lieber morgen als übermorgen, was du zu tun hast!«

»Ich will ja schon«, sagte Niki Sami, in seinem störrigen Ton fortfahrend, »aber sie könnte einem auch zeigen, daß sie versteht, was man meint, und daß sie will.«

»Sie ist keine von denen, die anfangen, und du mußt dich noch recht zusammennehmen, wenn du nicht willst, daß sie dir antworte, wie du's nicht gerne hörst«, sagte mit Nachdruck, der Pate.

»Ja, auch noch«, rief Niki Sami laut auflachend; »komm ich denn mit leeren Händen? Wo ist denn eine, die einem Sitz und Haus und Hof, wie wir sie haben, den Rücken kehrt?«

»So mach vorwärts, sag' ich, Besseres kannst du nichts tun«, wiederholte der Pate, »du wirst dich doch zu fragen getrauen?«

»Getrauen! Getrauen!« wiederholte Niki Sami mit Hohn. »Wenn ich mich nicht zu fragen getraute, so möchte ich nur den sehen, der es täte. Morgen schon geh ich nach Schuls hinunter und die Antwort könnt Ihr noch vor Sonnenuntergang hören.«

»Gut, recht so, stell es so an, daß man sie gern hört!« damit stand der Pate auf, um sich in sein Schlafgemach zurückzuziehen.

Zwölftes Kapitel

Dori hatte eben ein vollgepacktes Körbchen an den Arm genommen und den runden Hut von der Wand heruntergeholt. Es war ein hellsonniger Nachmittag, heute konnte sie den Schattenhut brauchen.

»Wenn du nur auch den Weg findest, Dori! Wäre nicht das lange Bergansteigen, ich käme doch mit dir, aber mein Husten macht mir so eng«, sagte Dorothea.

»Keine Rede davon, Mutter!« wehrte Dori, »den Weg find ich schon, und deinen Husten mußt du erst einmal wieder verlieren, nie hast du so etwas gehabt bei uns daheim. Und ich bin auch gar nicht allein auf dem Wege, ich geh' mit einer solchen Freude im Herzen und so vielen Gedanken im Kopf, daß mir der Weg ganz kurz vorkommen wird. Du weißt nicht, was mir heute unser Herr Doktor wieder Schönes gelesen hat und was er mir nachher von der Geschichte Italiens alles erzählt hat, als ich ihm das lange Gedicht über Italien vorgelesen hatte. Er verstand es natürlich viel besser als ich und hatte mir tausend Dinge darin zu erläutern. Er ist zu gut, daß er sich so mit mir abgibt, alle Augenblicke muß er wieder neu entdecken, wie furchtbar dumm und unwissend ich bin. Manchmal, wenn wir irgend etwas danach lesen, kommt mit einemmal ein so trauriger Ausdruck auf sein Gesicht, daß es mir zu leid tut; vielleicht hattest du doch recht mit dem Kummer. Ich möchte dann so gern ihn fragen, ob ich denn nicht auch irgend etwas für ihn tun könnte, das eine Freude für ihn wäre, etwas, das ihm das Herz leicht und froh machen könnte! Er gibt mir so viel und macht mich so reich und froh! Aber ich kann gewiß nie in meinem Leben etwas für ihn tun.«

»Du wirst doch nie so etwas zu ihm sagen, das darfst du nicht tun«, sagte Dorothea ängstlich; »er will gewiß nicht, daß man sich um seine persönlichen Sachen kümmere.«

»Nein, nein, das tu' ich ja nicht, Mutter! Nur keine Sorge, ich weiß viel zu gut, daß er denken müßte, es sei frech, daß eine solche Null, wie ich bin, etwas für ihn tun wollte. Nun will ich aber gehen.« Damit machte Dori rasch die Tür auf und stieß beinahe mit Niki Sami zusammen, der eben durch die Öffnung eintreten wollte.

»Tu du nur zahm! Wohin willst du denn schon?« fragte er, den Ausgang versperrend.

»Laß mich hinaus, ich habe schon zu lang gezögert«, sagte Dori eilig. »Ich muß nach Avrona hinauf, es ist Zeit, daß ich fort komme.«

»Ich komme mit«, entgegnete Niki Sami schnell, machte ganze Wendung und rasch ging es die Halde hinab, über die hölzerne Brücke und weiter, dem Waldwege zu. Dori eilte voran, der Begleiter lief hinterher, grollend, daß ein solcher Schritt angeschlagen wurde.

»Du wirst wohl zahmer tun, wenn wir im Wald sind und es so steil bergauf geht, daß man's lieber besser hätte«, rief Niki Sami der Eilenden zu, als sie nun auf dem schmalen Waldweg angekommen waren. Dori lief zu. Nun ging es durch den Wald den Berg hinan. Aber jetzt rannte Dori nicht mehr gerade aus. Auf einmal stürzte sie rechts in den Wald hinein und schrie vor Freuden: »O, diese Anemonen! O, die herrlichen Blumen! Und diese Fülle! O könnt ich sie doch mitnehmen! Und dort, was sind denn das für Blumen? Wie weiße Nelken, die muß ich sehen!«

Schon war Dori wieder über den Weg gerannt und auf der anderen Seite zwischen den Bäumen verschwunden. »O, hätt' ich doch den Korb leer! Alle nähm' ich mit, alle!« schrie sie wieder hinter den Bäumen hervor. »O und die blauen Veilchen hier noch, so viele! So viele!«

»Komm doch einmal aus dem Gestrüpp heraus«, rief Niki Sami ärgerlich, »so kommt man ja nicht vorwärts!«

»Du hast recht, ich komme«, rief Dori zurück, rannte aber noch nach allen Seiten durch den Wald hin und kam erst weit oben auf den Pfad zurück. Nun hatte Niki Sami erst recht nachzukeuchen, denn er hatte auf Dori gewartet und nicht gesehen, wie diese trotz ihrer Umwege so weit hinaufkam, daß er sie plötzlich hoch über sich erblickte. Ganz heiß und voller Verdruß kam er oben auf der Wiese an, wo nahe am Waldhaus Dori seiner wartete, da und dort noch nach den jungen Wiesenblümchen auslaufend.

»Jetzt wollen wir einmal miteinander gehn, so kann man etwas sprechen zusammen«, sagte Niki Sami, oben angekommen sich die Stirne wischend, »so ist das Spazieren mit dir keine Freude.«

»Nicht? So komm, nun muß es gleich wieder in den Wald hineingehen. Mich wundert, was es dort wieder für Blumen hat«, sagte Dori, auf den Weg hinaustretend, den sie wohl kannte und liebte, der vom Waldhaus vorüber zu der Villa führte, in deren Garten Dori an den lieblichen Frühlingsabenden oft lange Gespräche mit ihrem Freunde Melchior geführt hatte.

»Nicht dorthin, hier geht der Weg nach Avrona hinauf«, sagte Niki Sami, als Dori, dem wohlbekannten Garten zusteuernd, immer vorwärts ging.

»Ach, da geht der Weg hinauf, das hätte ich nicht gewußt«, sagte Dori, in den schmalen Wiesenpfad eintretend. »Ich wäre bis zur Villa gegangen, dort arbeitet der Gärtner Melchior, der hätte mich weisen müssen. Aber es ist besser so, mit ihm habe ich immer so viel zu reden, daß die Zeit vergeht, ohne daß ich's merke.«

»Was weiß denn auch dieser alte Knollenschaufler zu reden, daß du ihm nur zuhören magst«, sagte Niki Sami voll Ärger.

»Was der weiß? Was der weiß!« wiederholte Dori kampfbereit. »Mehr weiß er und viel Besseres, als mancher Junge, der meint, er stehe haushoch über dem Alten!«

»Kennst du denn so manchen Jungen hier herum?« fragte Niki Sami forschend.

»Nein, nicht manchen«, gab Dori zurück.

»Wen kennst du denn?« forschte der Vetter weiter.

»Weißt du, Niki Sami, es heißt, man kenne keinen, mit dem man nicht einen Scheffel Salz zusammen gegessen hat«, warf Dori hin.

»Dori«, sagte Nili Sami in vertraulichem Ton, »sag' mir nun einmal etwas! Mit wem möchtest du gern so lang zusammen sein, bis man einen Scheffel Salz miteinander gegessen hätte, so daß man sich dann auch genug kennen würde?«

»Gerade mit dem Gärtner Melchior«, entgegnete Dori ein wenig lachend, »so könnte ich denn doch einmal genug reden mit ihm.«

Niki Sami zuckte verächtlich und voller Ärger die Achseln. Sie waren nun auf dem Zickzackwege angekommen, der durch den Wald gegen Avrona hinaufsteigt. Dori fing wieder zu laufen an. Aber diesmal war ihr Begleiter entschlossen, nicht zurückzubleiben. Er mußte aber tüchtig ausziehen, um nachzukommen, und die starken Bewegungen hatten ein anhaltendes Rasseln in seinen schweren Taschen zur Folge. Plötzlich warf Dori ungeduldig den Kopf zurück und rief: »Niki Sami, sobald ich heimkomme, fange ich einen Geldbeutel für dich zu stricken an, so gibt es nicht mehr bei jedem Schritt, den du tust, das unausstehliche Gerassel in deinen Taschen.«

»Das Gerassel ist nicht so unausstehlich für den, der es in der Tasche hat, das kannst du schon noch erfahren, und wenn du einen Geldbeutel machen willst, so mach ihn fest und groß genug, sonst kann ich ihn nicht brauchen.« Niki Sami kicherte vergnüglich über diesen Einfall.

Bei der Bank auf dem freien Punkt, wo die Aussicht weit ins Tal hinab und hinüber nach der grünen Höhe von Fettan offen liegt, stand Dori still und schaute rund um. Eine Glocke erschallte durch die große Stille von Fettan herüber. Dori lauschte. Ein fernes Glockenspiel ertönte durch ihr Inneres. Sie hörte über sich die vollen Wipfel der Kastanienbäume rauschen und schaute durch die sonnig leuchtenden Zweige in die tiefe Bläue des Himmels hinein. Dori war weit weg mit ihren Gedanken, was sie schaute, war nicht hier. Jetzt hob sie den Kopf empor. Der Himmel drüben über Fettan war schon wieder etwas grau geworden, die schwarzen Tannen erhoben ihre dunklen Spitzen auf dem grauen Grunde. Die Glocke war verhallt.

»Wie war es so schön!« sagte Dori, wie erwachend vor sich hin.

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»Nicht so gar«, meinte Niki Sami. »Sitz auf die Bank nieder, wir wollen einmal ein Wort reden miteinander.«

Aber Dori war schon wieder auf dem Wege und stieg aufwärts. »Wo denkst du hin, wir kämen ja viel zu spät hinauf«, rief sie zurück. »Komm nur weiter, wir können ja genug miteinander reden auf dem Weg.«

Aber der Weg wurde immer noch ein wenig steiler und Dori lief wie ein Reh bergan. Der Vetter, der nicht so leicht war, wischte sich alle Augenblicke die großen Tropfen aus dem Gesicht und hatte genug mit dem Atemholen zu tun, zu reden hatte er selbst keine Lust mehr.

Da lagen endlich die wenigen Wohnungen von Avrona an der grünen Berghalde vor ihnen. Eben fiel ein freundlicher Sonnenstrahl auf die grauen Häuschen und schimmerte über die grünen Abhänge hin, wo die Hühner friedlich herumgackerten.

»O hier sieht es so eigentümlich aus, und die Sonne kommt auch wieder heraus«, rief Dori erfreut, indem sie stille stand und mit tiefem Wohlgefallen das einsame, wie von aller Welt abgeschiedene Fleckchen von Avrona betrachtete, das ein lieblich ernster Ton umwehte.

»Wo willst du hin? Hoffentlich dorthin, wo man etwas Nasses zum Schlucken bekommt, ich bin ausgetrocknet genug«, sagte Niki Sami, seine glühenden Wangen trocknend.

Dori meinte, er solle nur in das Schenkhäuschen eintreten, sie habe im unteren Hause einer alten Frau, einer Bekannten der Mutter, einen Kuchen zu bringen, den diese gebacken hatte, und ihr zu sagen, daß die Mutter sie besuchen wollte, sobald es ihr einmal möglich sei. Ganz dasselbe hatte Dori nachher in Fontana zu tun, wie sie dem Vetter mitteilte, denn die Mutter wollte die alten Frauen nicht solange ohne Nachricht von ihr lassen, nun sie wieder im Lande war, und sobald konnte sie doch wohl die fernen Besuche nicht machen, da sie sich nicht wohl genug fühlte. Dori versprach, sich nicht lange aufhalten zu wollen und den Vetter in kurzer Zeit im Schenkstübchen abzuholen. Sie hielt Wort und eine halbe Stunde nachher stiegen die beiden auf der andern Seite die Höhe hinan, gegen den dunklen Tannenwald hinauf.

»Weißt du den Weg über den schwarzen See? Den möchte ich so gern sehen«, sagte Dori.

»Da ist nichts zu sehen«, brummte Niki Sami, »und der Weg ist weiter als der andere.«

Aber Dori sagte, sie könne schon laufen, und sie haben auch Zeit genug; sie wollte nun gern den Weg machen, da sollten ja so viele schöne Blumen zu finden sein.

Niki Sami schlug ein wenig knurrend den schmalen Weg nach links über die Weide ein.

Es war, wie Dori erwartet hatte, sie schrie laut auf vor Freude: »Sieh! Sieh! dieses Enzianfeld, wie ein blauer See! Und drüben die roten Bergveilchen. Und dort die nickenden Heideröschen!« Dori war schon weit weg und hörte nicht auf des Vetters Schimpfworte, mit denen er alle blauen und roten Blumen bewarf. Mit einem ungeheuren Strauß der nickenden, leuchtenden Blumen kehrte Dori wieder auf den Pfad zurück.

Nun ging es eine kurze Zeit am See hin, dann lenkte der Vetter unter die Tannen ein. Da könne man nun schön im Schatten spazieren, sagte er, und wenn man hinaus käme, sehe man gerade nach Fontana hinunter.

Aber kaum waren die zwei auf dem schattigen Spazierweg einige Schritte gegangen, als Dori wie ein abgeschossener Pfeil zwischen den Bäumen durch in den Wald hineinstürzte. Sie hatte wieder etwas erblickt: dort standen in ganzen Büscheln die hellroten Anemonen, ihre Lieblinge mit den weit offenen Augen voller Sonnenverlangen. Das war zu schön und zu lockend, und Dori hatte ja den einen Kuchen abgeladen, sie konnte einen ganzen Strauß der herrlichen Blumen in ihren Korb legen und heimbringen. Auch die Mutter mußte sie ja kennen und die Freude daran mit ihr teilen!

Niki Sami knirschte mit den Zähnen vor Grimm. »Wenn doch nur gleich ein rechtes Hagelwetter alle Blumen von Schills bis nach St. Moritz hinauf sechs Klafter tief in den Boden hineinschlüge!« schrie er in den Wald hinein.

»Tut nichts, Niki Sami, tut nichts!« rief Dori zurück, »der liebe Gott läßt nachher seine Sonne aufgehen und husch, schießen sie wieder zu Scharen aus dem Boden hervor und machen die lachenden Augen auf.« Und Dori lachte selbst auf vor Freude über alle die lachenden Anemonen und die weißen Sternblumen zu ihren Füßen und steckte den ganzen Korb voll.

Niki Sami ging erbost weiter. Aber jetzt hatte er einen Gedanken. Er wußte, bei welcher Stelle Dori anhalten würde. Bis dorthin lief er und setzte sich am schönsten Punkt auf den Boden hin.

Als Dori ankam und auf die freie Höhe heraustrat, stand sie verwundert still. »O wie schön!« rief sie aus. »Ist das Fontana dort unten?«

Der Vetter nickte bejahend.

»O wie schön das alte Schloß auf der Höhe! Und dort droben gewiß die Ruine von Steinsberg, wo die wilden Rosen sind. O, hier ist's schön! Und nun färbt sich auch der Abendhimmel dort über der Ruine. O das bringt mir einen andern alten Turm vor Augen, wie er so auf dem leuchtenden Abendhimmel stand.«

»Komm hierher und sitz ein wenig nieder, hier kannst du alles sehen und man kann einmal ein Wort miteinander reden«, sagte der Vetter.

Dori gehorchte. Die Luft war so mild und der Abend noch so hell.

»So«, fuhr Niki Sami fort, »jetzt kann man doch einmal ruhig miteinander reden.«

Eine kleine Weile war es still. Doris Gedanken waren weit weg, der alte Turm von Steinsberg, der drüben sich in den Abendhimmel erhob, ließ immer lebendiger vergangene, lichte Abende vor ihren Augen aufsteigen.

Niki Sami hatte auch noch ein wenig nachzusinnen, wie er nun anfangen wolle mit dem, was er zu sagen hatte, da endlich die ruhige Zeit da war.

»Die Kirche in Schuls steht doch viel schöner als die in Fontana«, sagte Dori nach einer Weile des Schweigens. »Ist das ein kleines Kloster oder ist es das Pfarrhaus, was dort nahe bei der Kirche steht?«

»Das weiß ich nicht, es kann dir auch ganz gleich sein, was es sei«, rief Niki Sami ärgerlich aus, »oder willst du den Pfarrer hier auch noch beraten, hast du nicht genug an dem alten Prädikanten in Schuls, der nie fertig wird?«

»Nun will ich kein einziges Wort mehr über den Herrn Pfarrer in Schuls von dir hören!« fuhr Dori den Vetter in einer Weise an, daß er ganz erstaunt aufsah. »Du weißt nichts Böses von dem Manne und ich viel Gutes.«

»Tu doch nicht gleich wie wild«, sagte Niki Sami, »man wird doch noch ein Wort sagen dürfen, der Pfarrer sagt auch manches.«

»Dort geht der Herr Doktor, sieh!« rief Dori erfreut aus, auf den Wiesenweg deutend, der unter dem Schloßhügel hinführt. »Sieh, wie leichtfüßig er ist, wie ein Hirsch. So läuft er immer, ich glaube, vor lauter vielen Gedanken sieht er gar nicht, was um ihn her ist.«

»Laß du den doch laufen! Dem brauchst du gar nicht nachzuschauen. Um einen solchen, der immerfort Augen macht, wie ein losgelassener Leu, brauchst du dich nicht zu lümmern.« Niki Sami war ganz zornig.

Dori lachte: »Diesmal hast du etwas Rechtes gesagt. Weißt du, was der Leu ist in seinem Reich? Der König ist er. Und das ist unser Herr Doktor in seinem Reich, ein König, so gleicht er dem Leu.«

»Ein König in seinem Reich!« wiederholte Niki Sami höhnend, »ja, so einer wie der König im Kartenspiel, das ist vielleicht sein Reich.« Niki Samis Zorn war wieder verflogen, er mußte laut auflachen über seinen Fund.

Dori war aufgesprungen. »Jetzt hab' ich genug von deinen Gesprächen«, rief sie ihm zu und rannte den Berg hinunter.

Auch Niki Sami stand nun auf und lief nach, für einmal war nichts anderes für ihn zu tun. Unten in Fontana beim großen Gasthaus an der Straße stand er still, Dori lief zu. »Hier muß sie wieder zurückkommen, sie hat keinen andern Weg«, sagte er bei sich, blieb aber aus Vorsicht draußen vor dem Hause, wo ein Tisch vor der langen Bank stand. »Sie könnte am Ende ungesehen vorbeischießen in ihrer Hast«, dachte er und ließ sich nun geruhlich zu einer guten Erfrischung nieder.

Länger als in Avrona blieb Dori aus, denn die alte Bekannte der Mutter hielt sie auf, sie wollte so viel vom Leben der Mutter im fremden Lande wissen. Die Enkelin der Frau, die mit Spannung den Mitteilungen zugehört hatte, fragte am Schluß, ob sie Dori ein wenig begleiten dürfe. Diese nahm den Vorschlag mit großer Freude an und ermunterte das junge Mädchen, nur recht weit mitzukommen.

Als die beiden Mädchen dem Gasthaus nahe kamen, stand Niki Sami auf. Dori ging zu ihm hin und teilte ihm mit, daß sie nun eine Begleiterin habe, er möge nur ruhig sitzen bleiben, so lang es ihm gefalle. Sie wollte auch nicht, daß er den Weg wieder mit ihr zurückmache, er konnte ja einen viel kürzern, direkt nach Ardez hin einschlagen.

»Kommt denn die mit dir bis nach Schuls hinunter?« fragte der Vetter ärgerlich.

Dori meinte, sie habe es im Sinn, und Niki Sami überlegte im stillen seine Aussichten und zog sich endlich brummend auf seine Bank zurück, nachdem ihm Dori eine gute Heimkehr gewünscht und sich dann der Begleiterin wieder angeschlossen hatte. Diese mußte nun erzählen, wie sie ihr Leben mit der alten Großmutter zubringe, erst im Winter und dann im Sommer, und als sie dann durchaus Doris Korb tragen wollte und bemerkte, daß er voller Blumen war, begann eine neue Schilderung. Sie fing an, von der nahen Alp zu erzählen, auf der nun bald die Alpenrosen aufgehen würden, so daß sie ganz rot werde und so schön herunterschimmere, daß man gar nicht anders könne, als hinaufsteigen und ganze Sträuße von den roten Blumen herunterholen. Dann müßte Dori jedenfalls einmal kommen und mit hinaufklimmen; da würde sie erst einmal Freude haben, in den Alpenrosenfeldern herumzusteigen und ihren Korb mit den Blumen zu füllen. Unter dem lebhaften Gespräch waren die Mädchen unvermerkt gegen Schuls hingekommen, und Dori nötigte nun die Begleiterin, umzukehren, damit sie nicht ganz in die Nacht hineinkomme, sie selbst hatte ja nur noch einen kurzen Gang bis nach Haus zu machen. Mit fröhlichem Gesang legte Dori die letzte Strecke ihres Weges zurück und schüttelte nun voller Freuden ihre Blumenfülle vor der Mutter auf den Tisch aus.

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Niki Sami kam daheim ganz trotzig zur Tür herein, so, als wollte er sagen: »Ich will schon noch zeigen, wer ich bin.« Er setzte sich auf die Bank am Fenster und fing zu pfeifen an.

Eine kleine Weile schaute der Pate ihn schweigend an; endlich sagte er etwas grimmig: »Nu, muß man dich auspressen wie einen sauren Apfel, wenn der Saft herauskommen soll?«

»Nichts auszupressen«, war die kurze Antwort.

»Was nichts! Du wirst wohl etwas gefragt und sie etwas geantwortet haben.«

»Hab' ich nicht und sie auch nicht.«

Jetzt riß der Pate seine Pfeife aus dem Munde, was eine große Erregung bei ihm bedeutete. »Was sagst du? Nicht gefragt hast du?« rief er, viel lauter, als seine Gewohnheit war. »Habe ich so etwas in meinem Leben gehört! Da bleibt er sechs Stunden lang bei ihr, um ein einziges Wörtlein zu ihr zu sagen, und kommt heim und hat's nicht gesagt!«

Jetzt fuhr auch Niki Sami auf: »Ihr habt gut reden, dort auf Eurer Ofenbank! Ihr wißt gar nicht, wie die ist! Ihr solltet's nur einmal selber mit der probieren! Die –«

»So, meinst du?« unterbrach ihn der Pate. »Hätte ich meine vierzig Jährlein weniger auf dem Rücken, ich wollte dir schon zeigen, wie man's macht!«

»Mit der kann man nichts machen«, rief Niki Sami wieder. »Da fährt sie erst rechts und links wie ein Kreisel herum, schießt in alle Büsche hinein, und hat man sie einmal zum Stehen gebracht und sagt nur ein einziges Wort gegen einen lumpigen Gärtner, oder einen alten Pfarrer, oder einen herumstreichenden Doktor, so fährt sie gleich auf wie eine wilde Katze und läuft einem davon.«

»Ich habe auch noch nie gehört, daß man zu einem Heiratsantrag vom Gärtner und vom Pfarrer und vom Doktor zu reden braucht«, fiel der Pate immer noch in ungewöhnlicher Aufregung ein. »Ein Sumpfhuhn bist du, und zu keinem Regenwurm, geschweige zu einer Frau kommst du, wenn man dir nicht vormacht, wie man sich dazu anstellen muß. Nun machst du dich morgen früh auf die Sohlen und gehst nach Schuls hinunter. Dort stellst du dich vor deine Base Dori hin und fängst an zu sagen, was du ihr zu sagen hast, und gibst nicht nach, bis es heraus ist. Das ist der Weg, aber zum Gärtner, und zum Pfarrer und zum Doktor führt er nicht. Und wenn du die Worte nicht kennst, mit denen man sagt, was man meint, so kann ich dir sie auch noch vorsagen! Du sagst: ›Willst du meine Frau werden, Dori?‹ Ist das deutlich oder nicht, für dich und sie?« Jetzt hatte der Pate fertig geredet. Er steckte seine Pfeife wieder in den Mund und sagte kein Wort mehr.

Niki Sami hatte mit einemmal ein ganz neues Gesicht aufgesetzt. Der Weg war doch so ungeheuer einfach, den ihm der Pate eben gezeigt hatte, er konnte gar nicht mehr begreifen, daß er ihm heut so schwer vorgekommen war. Nichts Einfacheres in der Welt, als die paar Worte sagen, morgen wollte er's schon anders machen. Auf einmal pfiff Niki Sami aus einem ganz neuen Ton drauf los, so als wollte er sagen: »Jetzt soll es einer mit mir aufnehmen!«

Dreizehntes Kapitel

Dori saß mit ihrer Arbeit am Fenster und lauschte, ob die Haustür aufgehen werde, denn es war die Stunde, da Doktor Strahl täglich von seinen Morgengängen zurückkehrte und nachher Dori auf seiner Stube erwartete. Sie schaute dann und wann zum alten Pisoc hinüber, auf dem die Wolken bald lichter, bald dunkler sich lagerten. Wie wenig hatte sie noch das dunkle Felsenhaupt von einem völlig klaren Himmel sich abheben gesehen. Sie dachte an den sonnigen Motterone, dessen Höhen, ins dunkle Himmelblau sich erhebend, so golden schimmerten. Jetzt wurde die Haustür mit ungewohnter Gewalt aufgeschlagen und gleich nachher wurde mit dem Rücken der Hand an die Stubentür geklopft, Niki Sami trat herein. Er setzte sich eilig zu Dori hin, die sich eben erhoben hatte, um ihn zu begrüßen.

»Nein, nein«, wehrte Niki Sami, »bleib du nur still sitzen, du brauchst nicht schon wieder aufzustehen, so können wir doch nun einmal ruhig miteinander reden.«

Dori schaute ihn mit ihren großen, braunen Augen verwundert an, dann brach sie in Lachen aus: »Du fährst gerade fort, wo du gestern aufgehört hast, Niki Sami. Wenn wir so gut übereinstimmen wie gestern, so ist's nicht der Mühe wert, daß wir uns extra zum Reden zusammensetzen.«

Niki Sami fühlte selbst, daß er wieder in das Geleise von gestern hineinkomme, das durfte nicht sein, er wußte ja, was er sagen wollte. Aber Doris Gelächter hatte ihn nun wieder vom Weg abgebracht, das verdroß ihn. »Du brauchst aber auch nicht über alles zu lachen, wenn man ernsthaft mit dir reden will«, rief er plötzlich ergrimmt aus. Dori war eben aufgesprungen; die Haustür war wieder geöffnet worden, und nun ertönten auch Schritte im Zimmer über ihr. »Nun muß ich gehen«, sagte sie eilig, »aber weißt du was, Niki Sami, bleib du da sitzen, gleich kommt die Mutter herein, dann kannst du ja mit ihr ein wenig reden, davon wirst du viel mehr Freude haben, als vom Reden mit mir!«

Diese Worte zündeten ein helles Licht in Niki Samis Gedanken an. Richtig, mit der Base Dorothea konnte er reden, mit der ging es gewiß viel leichter und sie konnte die Sache mit der Tochter fertig machen. Er war sehr befriedigt, Dorothea eintreten zu sehen und rief ihr gleich entgegen: »Kommt Base Dorothea, setzt Euch zu mir her, ich möchte gern ein wenig mit Euch reden. Es ist Euch doch nicht ungelegen?«

»Nein, nein, es freut uns ja, wenn du kommst, Vetter«, entgegnete sie mit großer Freundlichkeit. Sie nahm Doris weggelegte Arbeit zur Hand und sehtze sich ruhig zu Niki Sami hin, so wie er es immer mit Dori hatte haben wollen und nie erreicht hatte. Das war der richtige Anfang, nun fand er sich zurecht. »Du mußt es Dori nicht übel nehmen, daß sie so weglief«, setzte Dorothea in ihrer begütigenden Weise hinzu. »Sie hält soviel auf das Lernen, und der Sommer ist so kurz, und nachher wird sich wohl keine Gelegenheit mehr für sie bieten, wie sie sie jetzt hat.«

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»Nein, nein, das nehm ich ihr nicht übel, im Gegenteil«, bezeugte Niki Sami fröhlich von seinem veränderten Standpunkt aus, er fühlte sich jetzt völlig seiner Lage gewachsen. »Base Dorothea«, sagte er in entschlossenem Ton, »ich will heiraten, ich will Eure Tochter zur Frau nehmen.«

Dorothea ließ vor Überraschung ihre Arbeit in den Schoß fallen. Sie konnte eine ganze Weile kein Wort sagen. Endlich brachte sie mit halber Stimme heraus: »Nimm's nicht übel, daß ich gar nichts sagen kann. Du hast mich so überrascht, Vetter, ein solcher Gedanke ist mir noch gar nie gekommen, mir ist so, als sei Dori eben noch ein Kind gewesen. Hast du schon mit ihr davon geredet?«

»Nein, das müßt ihr nun tun, Base. Aber ihr wißt ja wohl, was sie bei mir zu erwarten hat, Haus und Hof und Güter sind, denk ich, in Ordnung, man darf davon reden, und daß gute Briefe im Schrank liegen und nicht wenige, das kennt ihr schon von meinem Vater her. Ihr müßt der Tochter das recht sagen, und daß sie ein Herrenleben führen kann, wie keine einzige hier in Schuls, das kann ich Euch schon sagen.«

»Hast du schon mit dem Paten geredet?« fragte Dorothea wieder.

»Freilich hab' ich, der ist so dafür, daß es ihm lieber ist, wir machen morgen Hochzeit, als erst übermorgen.«

»Ach Gott!« rief Dorothea ganz erschrocken aus, »wir wollen doch nicht von der Hochzeit sprechen, da sind wir doch noch weit, weit davon!«

»Kommt schon«, sagte Niki Sami, indem er aufstand. Er war so befriedigt von seiner Lösung der Aufgabe, die ihm obgelegen hatte, daß er sogleich dem Paten Bericht erstatten und auch der Base gleich Raum geben wollte, daß sie an die ihrige gehen konnte, denn Dori mußte nun bald wieder erscheinen. »Sagt ihr alles recht, Base, und auch, daß ich im Ernst noch an keine andere gedacht habe, als an sie, das wird ihr wohl recht sein. Und sagt ihr, daß sie's haben kann, wie sie will, sie kann nur befehlen, und sagt ihr's recht, wie alles steht im Haus und überall. Morgen will ich wiederkommen, dann wird sie wohl die Antwort fertig haben.«

»Nein, nein, morgen noch nicht«, rief Dorothea mit neuem Schrecken. »Wer könnte so schnell entschlossen sein! Sie muß sich doch besinnen! Man muß doch Zeit haben, nachzudenken! Komm nicht, bis ich berichte, tu mir den Gefallen, Niki Sami, sieh, ich zittere an allen Gliedern vor Aufregung. Die Sache ist ja so wichtig! Siehst du, ich muß Zeit haben, und Dori muß auch nachdenken, ich schicke Bericht.«

Niki Sami mußte einwilligen, er sah wohl, wie ernst die Base die Sache nahm. »Ihr schickt sicher bald Bericht«, sagte er, sich noch einmal umwendend, »die weiß schon, was sie will, sie ist nicht so unentschlossen.« Dann ging er.

Unterdessen hatte im Zimmer über der Wohnstube Dori die Aufgabe zu lösen, Stücke aus der deutschen Poesie ins Italienische zu übertragen, denn Doktor Strahl blieb dabei, daß es ihm von großem Wert sei, zu sehen, wie Dori die Worte stelle, da ihr Ohr für die italienische Sprache wohl geübt war. Dori hatte ein feines Gefühl für diese Sprache, aber für die deutsche nicht weniger, ihr Vater hatte sie zuerst mit dieser vertraut gemacht. Sie hatte die Stelle übersetzt:

Schon erquickt uns wieder
Das Rauschen dieser Brunnen.
Schwankend wiegen die jungen Zweige sich im Morgenwinde.
Die Blumen von den Beeten schauen uns
Mit ihren Kinderaugen freundlich an.
Der Gärtner deckt getrost das Winterhaus
Schon der Zitronen und Orangen ab.
Der blaue Himmel ruhet über uns,
Und an dem Horizonte löst der Schnee
Der fernen Berge sich in leisen Duft.

Plötzlich sagte sie ganz wehmütig: »O, nun ist es gar nicht mehr dasselbe; diese schönen Worte wollen wir nicht mehr übersetzen, es ist so schade!«

Doktor Strahl lächelte: »Sie haben recht, solche Poesie als Übersetzungsstück zu gebrauchen, ist nicht richtig; wir nehmen was anderes.« Er stand auf und ging ins Nebenzimmer, wo er in seinem Schrank herumsuchte.

Auf dem Tisch, an dem Dori saß, lag eine Menge von Büchern aufeinander; dazwischen Briefe und Schriften. Auf diesen stand ein kleines Samtetui, eben fielen Doris Augen darauf; es war nur halb geschlossen, es mußte ein Bild sein. Hob man den Deckel nur noch ein wenig in die Höhe, so konnte man es sehen. Das durfte sie gewiß tun, war es doch gar nicht geschlossen, dachte sie, und hob ihn schnell auf. Unwillkürlich entfuhr ihr ein halblautes »O!« Eine blendend schöne Frau schaute sie aus dem Bilde an. Unter dem glänzend schwarzen Haar und den dunkeln Wimpern blickten zwei strahlende Augen so beherrschend, so siegend auf Dori herab, daß sie fast scheu zurückwich und doch wie festgebannt vor dem Bilde stand. »Wie eine Königin, o wie schön! Und doch – was war es denn, das zugleich so anziehen und so erschrecken konnte?« fragte sich Dori. Etwas wie Verachtung schaute aus den Augen und um den Mund war der verächtliche Zug noch deutlicher, ja Verachtung lag in diesem Blick. – »Ja, ich glaube es wohl von einer solchen Frau, und besonders, wenn sie jemand ansieht, wie ich bin«, sagte Dori bei sich. Sie legte schnell das Etui wieder hin.

Als Dori später mit ihrer Mutter am Mittagstisch zusammen saß, waren beide schweigsamer als gewöhnlich. Jede von ihnen mußte wohl ihren eigenen Gedanken nachhängen.

Plötzlich sagte Dori: »Mutter, ich habe ein Bild gesehen, ich glaube, es war die Frau unsers Herrn Doktors.«

»So, sieht sie gut aus?« fragte die Mutter.

»Gut? Nein, schön, aber zum Fürchten«, meinte Dori.

Beide schwiegen wieder.

»Dori«, fing nun die Mutter nach einiger Zeit an, »wenn wir abgeräumt haben, muß ich mit dir reden.«

Dori lachte: »Nun fängst du auch noch an wie Niki Sami. Der sagte gestern alle paar Schritte weit, nun müßten wir miteinander reden, und wenn wir einmal anfingen, so kam gar nichts Besonderes heraus. Hast du denn etwas Besonderes zu sagen, Mutter?«

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»Ja, etwas Besonderes, das kann ich wohl sagen«, meinte die Mutter.

Nun fing es Dori sehr zu wundern an, was sie hören sollte. Schnell räumte sie alles weg, nahm ihre Arbeit zur Hand und setzte sich der Mutter gegenüber auf ihren Platz am Fenster. »So, nun fang an, Mutter«, sagte sie erwartungsvoll.

Dorotheas Gedanken waren in großer Unruhe auf und nieder gegangen, seit Niki Sami mit ihr gesprochen hatte, und ihre innere Aufregung nahm zu, je näher der Augenblick kam, da sie diese Unruhe nun auch ins Herz ihres Kindes werfen mußte, denn daß es so kommen würde, dessen war sie gewiß. Aber es mußte nun sein. Sie legte ihre Arbeit weg, schaute in die offenen Augen ihres Kindes und sagte: »Dori, der Vetter Niki Sami begehrt dich zur Frau.«

Ein großes Erstaunen stieg in den glänzenden Augen auf, die immer noch erwartungsvoll auf die Mutter gerichtet waren, so als sollten weitere Mitteilungen kommen. Es kamen aber keine mehr. »Hast du ihm gleich gesagt, Mutter, daß er nicht solche Sachen aufbringen soll, wenn wir wieder zusammenkommen sollen?« fragte Dori in völlig ruhiger Weise.

»Nein, nein, das habe ich gewiß nicht getan«, entgegnete Dorothea ängstlich, von einer neuen Sorge befallen. »Wie kannst du auch so leichthin antworten auf eine so ernste Frage, die dein ganzes Lebensglück betrifft. Das mußt du nicht tun, Dori, das ist nicht recht. Erst mußt du alle Seiten der Sache erwägen, manchen Tag lang, und mußt dir alles vorsagen, wie dir dies und jenes vorkommt, wenn du so für das ganze Leben einen Entschluß fassen sollst, und dann mußt du beten darüber, daß du dich nicht täuschest und nicht irrest, und dann erst mußt du entscheiden.«

»Wenn es so zugeht, wenn man heiraten soll«, sagte Dori lebhaft, »daß man erst wochenlang nachsinnen muß, und dann erst nicht weiß, ob man sich täuscht und irrt, dann will ich erst recht nichts davon wissen. Hast du es so machen müssen, Mutter, wie der Vater dich gefragt hat?«

»O nein, Dori, o nein, das war ja so anders!« rief Dorothea mit strahlenden Augen aus, denen aber plötzlich große Tränen entfielen. »O Dori, das war so ganz anders! Ich wußte im Augenblick, daß ich mit diesem Manne in eine Wüste zöge, wenn er es wünschte, von allem weg, das mir sonst lieb war, so lieb war er mir. O, er hatte ja kaum die Frage getan, so fühlte ich, daß ich so glücklich war, wie ich es gar nicht aussprechen konnte, so war's. Nur ein Wunsch war noch in meinem Herzen, ein einziger: daß ich ihn nur so glücklich machen könnte, wie er mich machte. Es gab nichts, gar nichts, das ich nicht gern darum gegeben hätte.«

Dori schaute nachdenklich die Mutter an. »Ich dachte, so müßte es sein«, sagte sie dann ruhig. »Siehst du, Mutter, so sicher, wie du wußtest, was du tun wolltest, so sicher weiß ich auch, was ich nie und nimmer tun werde; es braucht kein langes Besinnen für mich. Mit Niki Sami zusammenleben vom Morgen bis am Abend und immerzu, das ist kein Lebensglück, in einer Stunde habe ich schon mehr als genug davon. Nicht an einem einzigen Ding haben wir dieselbe Freude; was mir lieb und wert ist, das ist ihm gleichgültig, er kennt es nicht und will nichts davon wissen, und was er gern mag, das mag ich nicht. Ich hab ihn nicht einmal so gern, daß ich die kleinste Freude hätte, wenn er die Tür auftut und da steht; die meisten Male denk ich: Jetzt kommt er schon wieder, und ich wollte, er wäre nicht am Eintreten, sondern am Fortgehen. Und ich weiß doch wohl, wie es ist, wenn jemand die Tür aufmacht, auf dessen Kommen man sich freut. Glaub mir's nur, Mutter, wenn ich ganze Wochen lang am Besinnen bleibe, so sage ich dir nachher dasselbe. Mit Niki Sami mein Leben zubringen und seine Frau sein, das werde ich nie tun, niemals.«

Dorothea sah, daß Dori nicht leichtfertig sprach, noch nie hatte sie ihr Kind so ernsthaft und so entschieden sprechen hören, es kam ihr vor, als sei Dori plötzlich um mehrere Jahre älter geworden. Aber die Furcht stieg immer höher in ihrem Herzen, daß Dori doch noch zu jung sei, um im ersten Augenblick alles vor Augen zu haben, was doch in Betracht gezogen werden sollte, und die Verantwortung dafür lag auf ihr selbst, das fühlte sie schwer. Aber wie sie dem entschlossenen Kinde beikommen sollte, wußte sie nicht, sie wußte nicht einmal deutlich, was zuerst und vornehmlich in Betracht gezogen werden sollte. Endlich sagte sie ängstlich: »Tu mir doch nur den Gefallen, Dori, und trage die Sache bei dir und überlege sie in der Stille. Mach nur nicht sogleich so mit allem fertig in dir. Dann wollen wir darüber mit der Nonna reden, du bist ihr Urenkelkind, sie hat ein Wort dazu zu sagen und wird uns mit gutem Rat beistehen.«

»Wie du meinst, Mutter«, sagte Dori willig, nahm ihre Arbeit wieder zur Hand und blieb schweigend daran.

Auch Dorothea schwieg, aber wie aufgeregt die Gedanken in ihr hin und her wogten, konnte man an den Blicken sehen, die sie alle Augenblicke über ihre Arbeit weg auf die Tochter warf, die ruhig an ihrem Tuch fortnähte. Dori merkte wohl, daß die Mutter auch den Abend durch mit ihren Gedanken anderswo war, als bei ihrer Umgebung, denn als Dori noch einmal von dem Bilde zu sprechen begann, das sie heute gesehen und das ihr einen so starken Eindruck gemacht hatte, schaute die Mutter sie ganz zerstreut an und zeigte gar kein Interesse, während doch sonst alles, was den Herrn Doktor betraf, ihre lebhafte Teilnahme erregte. Daß die Mutter auch die ganze Nacht durch von ihren unruhigen Gedanken verfolgt wurde, davon hatte Dori freilich keine Ahnung. Sobald am andern Tag das kurze Mittagsmahl eingenommen war, machte Dorothea sich auf den Weg, die Nonna zu besuchen.

Als sie am Fenster der Marie Lene vorüberging, kam diese in Aufregung herausgerannt: »Wart, Dorothea, lauf doch nicht so«, rief sie ihr zu. »Dir kann man einmal Glück wünschen, du hast's lang gut!« fuhr sie zu der Eingeholten fort, »dein Kind ist in einem guten Zeichen auf die Welt gekommen! Nur anlangen hier und gleich das große Los ziehen und das Beste erwischen, das weit und breit zu haben ist. Sag' doch ein Wort, Dorothea, bist du nicht halb verdreht im Kopf vor Freude? Tu doch nicht so versteckt, ich weiß ja alles, Niki Sami war heut schon früh da und hat mir's gesagt, daß er sie nimmt.«

»Ich muß zur Nonna hinauf«, sagte Dorothea ängstlich, »weiß sie es auch schon?«

»Ja natürlich, der Nonna hat er's zuerst berichtet. Du tust aber sonderbar zu deinem Glück! Ich will mit dir hinauf, mich nimmt wunder, was dir die Nonna sagen wird.«

Als Dorothea die Tür öffnete, schaute ihr die Nonna sehr freundlich entgegen: »Willkommen, Dorothea, ich habe gedacht, du kommest heute«, sagte sie zuvorkommend. »Setz dich hier zu mir nieder, ich denke, wir haben allerlei zu besprechen heut.«

Dorothea setzte sich, konnte aber immer noch nichts sagen, das Herz war ihr zu voll und zu schwer.

»Ja, ja, ich begreife es schon«, fuhr die Nonna fort, »daß du fast nicht sprechen kannst vor Überraschung und vor all den Gedanken, die dir mit dieser großen Veränderung kommen. Mir macht die Sache Freude, schon um Daniels willen, daß seine Enkelin in ein gutes und ehrenhaftes Haus kommt, wo sie ein schönes Leben erwartet. Und zu Niki Sami konnte ich sagen: Du hast gut gewählt, sie ist von guter Abkunft und steht deinem Hause wohl an. Und was die übrigen Güter betrifft, so hast du deren mehr als genug, auf Reichtum brauchst du nicht zu sehen.«

Unterdessen war auch Frau Kathrine eingetreten, auch sie hatte bemerkt, daß Dorothea gekommen war; sie wollte ihre Glückwünsche auch aussprechen, denn auch ihr hatte Niki Sami seinen Entschluß verkündet.

»Nonna«, sagte Dorothea jetzt schüchtern, »es ist doch noch nicht so sicher mit der Sache, Dori will nicht ja sagen.«

»Was? Was?« schrie Marie Lene auf, »glaubst du denn so etwas? Sei doch nicht so dumm, Dorothea! Wenn sie auch nicht auf der Stelle laut ja sagt, so sagt sie im Herzen doch schon lange ja. Wie kannst du so etwas glauben?«

»Das sieht ihr ganz gleich, daß sie das Näschen stellt, als wäre keiner hoch genug für sie«, sagte Frau Kathrine scharf. »Es wär ihr vielleicht leid genug, wenn man ihr glaubte. Der Vetter wird wohl erst ein wenig anhalten und ihr sagen müssen, sie sei zu gut für jeden, aber sie soll ihm doch die Gnade erweisen.«

Die Nonna hatte bis jetzt geschwiegen.

»Dorothea«, sagte sie nun bedächtig, »was du sagst, ist mir nur verständlich, wenn ich denke, wie jung deine Tochter noch ist, und daß ein übereiltes Wort bald ausgesprochen ist. Es ist natürlich das erstemal, daß diese Frage an sie getan wird, und wie die Jungen sind, sie denkt vielleicht, das kommt nun alle paar Tage so und jeder hat ihr zu bieten, was der Vetter bietet. Es ist nun an dir, Dorothea, der Tochter zu erklären, daß so etwas im Leben nicht so leicht wieder kommt, für die meisten kommt es ja gar nie in der Weise.«

»Aber«, wandte Dorothea noch schüchterner als zuvor ein, »ich weiß ja gar nicht, ob es für Dori ein Glück wäre, sie hat soviel von ihrem Vater, und der junge Vetter in Ardez ist so ganz anders.«

Die drei Frauen sahen sich im höchsten Erstaunen an. Daß ihr Wort des Zweifels dieses Erstaunen hervorgerufen, konnte Dorothea deutlich auf den Gesichtern sehen. Marie Lene fand zuerst Worte für ihren Eindruck: »Wenn deine Tochter von ihrem Vater her im Kopf hat, was verkehrt ist, so wirst du sie nicht darin bestärken müssen. Wenn so ein Siebzehnjähriges vor Übermut und Unvernunft nicht weiß, was es will und sein Glück wegzuwerfen begehrt, so wirst du wohl dafür da sein, ihm den Kopf zurechtzusetzen und die Mücken, die drinnen sitzen, auszutreiben. Du hast die Verantwortung und glaub du nur, daß die Zeit kommen würde, wo deine Tochter dir es bitter vorwerfen könnte, daß du ihr nicht vernünftig den Weg gewiesen und ihr zu einem Glück verholfen hast, das sie damals noch nicht zu schätzen wußte, dann aber wohl, wenn die Vernunft da ist.«

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»Und wenn sie dann allein und verlassen in ihrem Hochmut da sitzt, und keiner mehr nach ihr fragt, wird sie dir's kaum danken«, setzte Frau Katharine hinzu. »Du wirst auch nicht ewig leben, um sie hätscheln zu können, solang' sie lebt.«

»Ich muß nun auch noch ein Wort sagen, Dorothea«, begann hier die Nonna bedächtig. »Ich weiß nicht, was du meinst mit der Ähnlichkeit deiner Tochter mit ihrem Vater, die für sie in dieser Sache hinderlich sein sollte. Auch mein Sohn Daniel, der Großvater deiner Tochter, hatte seine eigene Weise und war in vielem ein anderer Mann, als der junge Vetter in Ardez. Aber das hätte ihn nicht gehindert, diesem die Enkelin zur Frau zu geben, denn es ist kein Grund dazu da. Der junge Vetter ist durchaus brav und rechtschaffen, kein Mensch kann ihm etwas Unliebsames nachreden. Er lebt ehrbar und eingezogen; er verschwendet sein Gut nicht und hält den Frieden im Haus und mit jedermann. Das Besitztum, das er deiner Tochter anzubieten hat, ist nicht gering, du weißt es, und es ist kein kleines für eine junge Frau, so hinein zu sitzen, daß sie weiß, es sind alle Kisten voll und werden niemals leer, denn sie füllen sich vorweg wieder.«

»Dori hat nie ihr Herz an Besitz gehängt, sie kennt das gar nicht«, wagte Dorothea einzuschalten.

»Das ist es ja gerade, Dorothea«, fuhr die Nonna fort, »sie kennt es noch nicht, sie wird es bald genug kennen lernen, nun sie unter Frauen lebt, die ein geordnetes Leben führen, wie es sein muß. Dein Kind ist eben in der Wildnis aufgewachsen, und du wolltest es so, du wolltest mit deinem Mann gehen aus aller Verwandtschaft weg, wohin, wußte niemand, wir haben dich alle gewarnt.«

»Ich habe es nie bereut, Nonna, nicht einen Augenblick«, warf Dorothea so lebhaft ein, daß die Nonna ganz erstaunt sie anblickte, eine folche Lebhaftigkeit war sonst nicht Dorotheas Art.

»Nun wohl, wir wollen liegen lassen, was hinter uns liegt«, fuhr die Nonna fort, »aber das kann ich dir sagen, kaum ein paar Jahre werden dahingegangen sein, so wird deine Tochter gut genug kennen und zu schätzen wissen, was es ist, Haus und Hof zu besitzen und ein Leben führen zu können, wie das Herz nur wünscht, und das Wohlbehagen zu fühlen: Wir sind Herr und Meister auf unserm sichern Boden, komme, was wolle. Dann werden dir die Vorwürfe nicht erspart bleiben, denn die Tochter kann dir mit Recht sagen, du hättest es besser wissen können als sie, du hättest sie zu ihrem Glück zwingen müssen. Und was soll denn aus ihr werden? Glaub nur nicht, daß ein zweiter kommt, wie der Vetter ist, gar keiner wird mehr kommen, denn daß sie den Vetter nicht gewollt hat, wird gleich das ganze Tal wissen, und jeder muß denken, wenn sie das Köpfchen so hoch trägt, daß sie nicht einmal den will, so hab' ich schon genug davon.«

»Ja, was soll aus ihr werden? Das sag' ich auch«, fuhr hier Marie Lene unaufhaltsam dazwischen, denn schon lange hätte sie gern eingesetzt, »eine wie die ist, was kann aus der werden? Zum Arbeiten, wie unsereins es kann und tut, ist sie zu vornehm, und zum Vornehmleben langt's nicht mit dem Häuschen an der Halde und nichts weiter dazu. Ein verlassenes und von allen gemiedenes Geschöpf wird sie sein. Die Verwandten hat sie von sich gestoßen und fremde Leute werden ihr den Hochmut schon zurückgeben.«

»Was sie auch reichlich verdient«, setzte Frau Katharine hinzu.

»Man muß sie noch nicht verurteilen, sie ist noch zu jung, um gleich den rechten Weg zu erkennen«, sagte die Nonna mäßigend. »Geh du jetzt mit ihr zu sprechen, Dorothea, und stell ihr alles recht vor, wie du es sehen mußt. Du weißt, daß mir nur daran gelegen ist, daß Daniels Enkelkind nicht Glück und Wohlstand verscherze, die ihm geboten sind, sonst würde ich nicht so manches Wort gesprochen haben, das viele Reden ist nicht meine Art.«

Dorothea dankte der Nonna für ihre Teilnahme und ging. Sie war so froh zu gehen; ihr war, als wäre sie am Ersticken vor Angst und Ungewißheit und Furcht vor allem, was da kommen werde.

Dori machte der Mutter die Türe auf und rief ihr fröhlich entgegen: »So, da bist du, gottlob, nun ist die Sache abgetan! Du bist gewiß auch froh darüber, Mutter?«

»Ach Dori, wenn du nur die Sache nicht so leicht nehmen wolltest, mich erdrücken die Last und Sorge und die schweren Gedanken darüber fast«, sagte Dorothea, indem sie sich hinsetzte und so kummervoll aussah, daß in Dori die Erinnerung an die lange schwere Zeit aufstieg, da nach des Vaters Tode die Mutter immer so ausgesehen hatte und nie mehr fröhlich sein konnte.

»Aber Mutter«, sagte Dori, die trüben Erinnerungen schnell verscheuchend, »jetzt hast du doch keinen Grund zu solchen Sorgen! Wir sind ja ganz froh und zufrieden zusammen, und kein Mensch muß darunter leiden, wenn wir so fortfahren; Niki Sami nimmt nur eine andere Frau.«

»Du nimmst alles viel zu leicht, Dori, da ist so vieles zu bedenken, die Nonna hat ganz recht. Hättest du nur ihre Worte gehört! O wenn du nur alles so sehen könntest, wie ich es jetzt sehe!« jammerte die Mutter. »Könnte ich dir's nur so recht sagen, aber es ist, als habest du kein Verständnis dafür. Sieh, was du ausschlägst, wird dir vielleicht nie wieder angeboten und dann kann eine Zeit der Reue für dich kommen. Du stehst vielleicht einmal allein und verlassen da, ich bin tot, die Verwandten wollen nichts mehr von dir, du hast niemand, du hast keine Kinder, die dich lieb haben –«

»Kinder! Ja, die mag ich gern, Mutter«, fiel Dori ein, »habe ich denn nicht schon ein ganzes Trüppchen gehabt, und hatten sie mich denn nicht lieb? Was hat dir denn die Nonna alles gesagt, daß du solche traurige Sachen für alle Zukunft ausdenkst? Du mußt nicht mehr mit ihr über diese Sache reden, ich will schon morgen selbst zu ihr gehen und ihr sagen, wie ich denke, dann ist's fertig.«

Der Gedanke erleichterte Dorothea. War sie doch selbst heute durch die Worte der Nonna auf soviel andere Gedanken gekommen und sah die Sache nun so anders an als vorher; wie natürlich war es, daß die überzeugenden Worte der Nonna auch einen Einfluß auf Doris Gedanken ausüben würden. Auch konnte die Nonna so gut sprechen, viel besser, als sie selbst es ja zu tun verstände, das fühlte Dorothea wohl, hatte sie doch gar nicht gewußt, wie sie der Tochter nur beibringen könnte, daß ein Wert gelegt werden sollte auf Dinge, die ihrem Kinde bis jetzt ganz gleichgültig geblieben waren. Dorotha bezeugte ihre ganze Zustimmung zu diesem Vorschlag, und Doris Zuversicht, daß sie sich mit der Nonna schon verständigen werde, richtete auch die Mutter wieder ein wenig auf von ihrer Verzagtheit.

Vierzehntes Kapitel

Am folgenden Nachmittag trat Dori beizeiten ihren Gang zur Nonna an. Am Fenster der Base Marie Lene schoß sie wie ein Pfeil vorüber, denn Dori begehrte nicht, daß die Base auch zu dem Gespräch bei der Nonna erscheine. Diese schaute ein wenig verwundert auf, als Dori eintrat, doch hieß sie das Mädchen willkommen. Es mußte sich neben die Nonna hinsetzen, und diese fing nun in ihrer behutsamen Weise zu forschen an, ob die Mutter mit ihrer Tochter recht eingehend über die wichtige Angelegenheit gesprochen, und ob Dori denn so schnell einen Entschluß gefaßt habe, daß sie bei ihr erschien, oder ob sie sich noch weiteren Rat holen wollte. Dori fuhr gleich heraus: »O, ich war von Anfang an ganz fest entschlossen, Nonna, daß ich nicht Niki Samis Frau werden will. Ich weiß auch gar nicht, wie ihm so etwas nur in den Sinn kommen kann, wir sind ja immer und in allem ungleicher Meinung, und er hat gewiß nicht mehr Freude, mit mir zusammen zu sein, als ich mit ihm, ich glaube gewiß, aus lauter Langeweile, weil er nicht mehr weiß, was er mit seinem Tag anfangen will, hat er das erfunden.«

»Sprich nicht so unbesonnen«, sagte die Nonna tadelnd, »du zeigst damit nur, wie wenig du weißt, was die Sache ist, die wir zu besprechen haben, und wie wenig ernsthaft du darüber nachgedacht hast, wie gut es darum ist, wenn andere es für dich tun. Du bist auch noch so jung, daß man es dir nicht verargen kann, aber darum mußt du auf die Worte derer hören, die es besser wissen. Siehst du, Dori, die ungleichen Meinungen, von denen du da sagst, werden im Zusammenleben sich immer gleicher, das erfährt man jeden Tag, und je mehr man miteinander erlebt, je mehr kommt dann auch die Freude, immer noch Weiteres miteinander zu erleben. So wird man dann in jeder Weise immer befriedigter und auch immer reifer miteinander, so daß das Ungleiche der frühen Jugend abfällt. Man hat ja miteinander einerlei Leid und einerlei Freud', das kommt dann unwillkürlich. Wenn nur keine Sorgen und schwere Lasten zu tragen sind, sowie Armut und allerlei Mangel, das stört die Eintracht mehr als alles andere. Dort unten habt ihr doch ein recht ärmliches Leben geführt, ich bin so froh für dich, daß du nun auch kennen lernst, was doch für rechte Leute zum Leben gehört, so daß man auch seines Daseins froh und sicher werden kann.«

»O Nonna, kein Mensch kann seines Daseins froher sein, als wir es dort unten in Cavandone waren«, rief Dori jetzt in großer Lebhaftigkeit aus.

»Du hättest immer deutlicher gefühlt, was euch alles mangelt«, fuhr die Nonna bestimmt fort, »du warst noch zu jung, es zu beurteilen. Siehst du, ihr hattet gar nichts, gar keinen Boden unter den Füßen. Was aus den Bildern des Vaters gelöst wurde mit dem Wenigen, das die Mutter von hier bezog, war gerade so viel, daß ihr leben konntet, weiter gar nichts. Dein Vater und deine Mutter mußten unter dem ärmlichen Dasein leiden, aber sie wollten es so.«

»Nein gewiß nicht, Nonna, sie litten gewiß nicht«, warf Dori immer lebhafter werdend ein. »O, sie waren so froh und glücklich, wie man nur sein kann. Ich war nicht zu jung, das zu sehen. Und wir hatten ja gar keinen Mangel, was wir brauchten, hatten wir alles reichlich. O, und wie der Vater noch bei uns war und wir lernten und lasen und sangen, und er malte dort auf den Steinen, wenn es oben durch die Kastanienbäume rauschte – Nonna, es gibt auf Erden kein schöneres Leben, als wir es hatten! O, und wie die Mutter hinter dem Laub auf der Terrasse saß, wenn wir heimkamen, und so froh aussah! Und dann holte sie Kastanien und Trauben und Milch und Butter auf den Tisch, und die Sonne schimmerte zwischen den großen Blättern durch, daß man auf dem Fußboden die Schatten der Blätter so lustig hin- und herwehen sah – o Nonna, wenn ich daran denke.« Dori hatte die glänzenden Augen voll großer Tränen. Das war nun der Nonna nicht recht, sie hatte mit dem Erinnern an das frühere Leben etwas ganz anderes zu erreichen gehofft. Daß diese Erinnerungen so schön in Doris Herzen fortlebten, ja sogar ihre Sehnsucht immer wieder nach dem früheren Leben weckten, hatte sie nicht gewußt. Sie brach schnell ab. »Wir wollen nun nicht mehr von dieser Sache reden heute. Du hast eben die Erinnerungen eines Kindes noch in deinem Herzen, es wird dir mit den Jahren schon alles anders vorkommen. Ich will dir nun noch etwas vorschlagen und ich hoffe, es wird dir und mir zur Freude ausfallen. Ich möchte einmal wieder den Vetter Niklaus in Ardez besuchen und will morgen ein Nachmittagsfährtchen dort hinauf machen. Dazu wollte ich dich und deine Mutter einladen.«

Dori schaute die Nonna fragend an: »Aber ich kann doch jetzt nicht einen Besuch droben bei –«

»Ich weiß schon, was du sagen willst«, unterbrach sie die Nonna, »daran habe ich schon gedacht. Morgen ist großer Viehmarkt in Zernez, da geht der junge Vetter hinauf und wir treffen den Paten ganz allein. Bei dem können wir nun gut einen Besuch machen, wenn auch noch gar kein Entscheid getroffen ist. Sag deiner Mutter, daß es mich freut, wenn ihr beide mich begleitet, ich rechne darauf. Zweispännig fahren wir freilich nicht, wie Niki Sami es kann, der steht eben ganz anders, als alle seine Verwandten«, setzte die Nonna mit Nachdruck hinzu; »der Jakob fährt uns dann mit seinem Roß hinauf.«

Dori mußte versprechen, sich mit der Mutter bereit zu halten, dann verließ sie das Haus der Nonna.

Dorothea erwartete in der höchsten Spannung und Unruhe Doris Rückkehr. Immer größer wurde ihre Angst, je länger das Gespräch zwischen der Nonna und ihrem Kinde dauerte. Was würde das Ende davon sein? Jetzt hörte sie den wohlbekannten, raschen Schritt. Dori trat herein.

»Und nun?« fragte Dorothea mit angehaltenem Atem.

Dori mußte sich ein wenig besinnen. »Ich weiß gar nicht, wie es nun ist, ob mir's die Nonna glaubt, daß ich's nicht tun kann«, berichtete Dori dann. »Zuletzt haben wir von Cavandone geredet; da ist mir unser Leben und alles von dort unten so lebendig vor den Augen aufgestiegen, daß ich an nichts anderes mehr gedacht habe. Aber richtig, morgen müssen wir mit der Nonna nach Ardez hinauffahren.«

Dorothea schaute ihre Tochter im höchsten Erstaunen an.

»O, du mußt nicht denken, daß das etwas mit dieser Sache zu tun hat«, sagte Dori harmlos, »wäre Niki Sami daheim, ginge ich gewiß nicht, aber der ist fort. Die Nonna will den Paten besuchen, und zu dem geh ich ganz gern, er ist mir recht lieb.«

Dorothea sagte nichts mehr, aber ihre Gedanken kamen in eine neue Unruhe; die Nonna sah die Sache nicht als abgeschlossen an, das war ihr gewiß.

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Zur festgesetzten Zeit des anderen Tages fuhr die Nonna vor, um die Eingeladenen abzuholen. Die Unterhaltung der Gesellschaft, die im kleinen Wagen nah zusammen saß, drehte sich längere Zeit um den Viehmarkt in Zernez, denn der Vetter Jakob konnte es fast nicht verschmerzen, daß er nicht dort war, und doch sagte er wieder, er sei der Nonna ganz dankbar, daß sie ihn heute davon abgehalten habe, sonst wäre es ihm wieder gegangen wie voriges Jahr, daß er viel mehr ausgegeben hätte, als es ihm anstehe, denn wenn man so prächtiges Vieh sehe, so könne man gar nicht anders. »Der da droben«, fuhr der Vetter fort, mit der Peitsche nach Ardez hinaufzeigend, »der Niki Sami hat es gut, der kauft das schönste Paar Ochsen, wie andere Leute eine Stallkatze, ohne umzusehen. Was der für Vieh im Stall hat, das solltet ihr sehen! Diese Prachtskühe in dem großen, saubern Tanzsaal stehen zu sehen, so eine an der andern und eine runder und glänzender als die andere, das ist eine Freude. Denn so ist sein Stall, akkurat wie ein Tanzsaal, es ist der Mühe wert, hineinzugehen.

»Das werden wir tun«, sagte die Nonna, »dazu haben wir Zeit heute.«

Der Pate mußte Bericht erhalten haben von dem kommenden Besuch. Er war gar nicht überrascht, als die Frauen bei ihm eintraten, aber er bewillkommte sie mit großer Freundlichkeit. Er rief gleich nach der Ursel, daß sie einen guten Kaffee bereite. Es währte auch gar nicht lange, so wurde dieser schon aufgetragen und die Gesellschaft begab sich an den Tisch.

»Wo kein Junger da ist, da nimmt man mit einem Alten als Nachbar vorlieb«, sagte der Pate und setzte sich neben Dori hin.

»Ich wünsche gar keinen andern Nachbar«, gab diese zurück.

»Niklaus«, nahm hier die Nonna das Wort, »ich habe im Sinn, heute einmal wieder durch alle Räume des Hauses zu gehen; wenn ich schon weiß, daß die Wirtschafterin alles in Ordnung hält, so kann es nicht schaden, daß ich einmal allem nachsehe. Und dann werden die Base Dorothea und ihre Tochter auch gern einmal ein so geordnetes Haus anschauen. Die Truhen droben, die noch angefüllt sind mit dem selbstgewobenen Tuch der seligen Base, und dann die gefüllten Speicher und auch den Stall und die heureiche Scheune wollen wir ansehen, und nachher gehen wir noch die gewölbten Keller zu betrachten, die sind besonders schön, und die großen Fässer darin sind auch merkwürdig. Daß Eure Veltlinerweine weit und breit bekannt sind, daran haben diese vorzüglichen Keller auch ein besonderes Verdienst.«

»Ja, und die guten Sorten, die man hineinbringt, nicht weniger«, sagte der Pate mit Lächeln. »Kommt ihr dann von eurem Gang zurück, so nehmen wir einen Schluck von dem Hundertjährigen, Nonna. Ich werde ja sitzen bleiben dürfen, der Jakob führt euch durch Scheune und Stall, und die Ursel durch das Haus und die Speicher, die Schlüssel hat sie.«

So wurde es festgesetzt, und sobald man vom Tisch aufstand, wurde die Wanderung angetreten. In der weiten, alten Stube droben, wo die großen Schränke und die hohen, bemalten Truhen standen, welche die Ursel alle aufgeschlossen hatte, konnte Dorothea vor Verwunderung keine Worte finden. Was da für Haufen aufgespeichert lagen von roher und gebleichter Leinwand, von gesponnenem Garn, von noch ungesponnenem Hanf und Flachs. Die angehäuften Schätze konnten Jahrzehnte durch für den größten Haushalt genügen.

»Wo ist Dori?« fragte Nonna die in Erstaunen versunkene Dorothea. Diese wandte sich um; sie meinte, Dori müsse hinter ihr stehen, sie war ja eben mit ihr hereingetreten. Dorothea schaute in die Nebenstube hinein, sie begriff nicht, wohin das Mädchen verschwunden war.

»Geht hinunter, Ursel, und schaut nach, ob die junge Base beim Paten sitzen geblieben, oder ob sie etwa in den Garten hinab gegangen ist, sie soll kommen, wir haben noch viel zu sehen.«

Ursel ging und kam mit dem Bericht zurück, die junge Base sei nirgends zu finden. Nun ordnete die Nonna an, Dorothea solle mit der Ursel weitergehen und sich alles recht zeigen lassen, sie selbst wollte in die Stube zurückkehren und warten, bis Dori wieder zum Vorschein komme und dann mit ihr nachfolgen. Die Nonna setzte sich unten zum Paten hin. Sie kam nicht oft in Aufregung, aber diesmal war sie's. Sie redete sich auch immer noch ein wenig mehr in die erregte Stimmung hinein, indem sie dem Paten vorstellte, wie schwer es für die Verwandten sei, Daniels Enkelin in ein gutes Geleise und auf einen rechten Lebensweg zu bringen, nachdem die Mutter das Kind ohne alle herkömmlichen Begriffe und Bedürfnisse eines geordneten Lebens hatte aufwachsen lassen. »So kommt es«, fuhr sie in ihrer Schilderung fort, »wenn so fremder Eintrag in den guten Zettel des Landes eingewoben wird. Da muß ich Marie Lene recht geben, man kann nicht absehen, was da für ein fremdartiges Gewebe daraus wird. Es ist ja ein unerhörtes Glück für die beiden, daß ihnen hier eine Heimat, und dazu eine solche geboten wird, so können beide wieder in die ehrenfesten Fußtapfen ihrer Vorfahren kommen. Niki Sami hat mit mir über sein Vorhaben gesprochen und ich hatte meine Gedanken dabei, das Mädchen einen Einblick in das wohlbestallte Haus tun zu lassen. Danken könnten freilich beide anders dafür, was ihnen geboten wird, als sie es bis jetzt getan haben, aber man muß es der Älteren zugut halten, weil sie gar zu jung weggekommen ist und die anerzogenen guten Ansichten und Begriffe im fremden Land verloren hat, und der Jüngeren darum, weil sie gar nicht dazu erzogen worden ist. Nicht einmal so viel hat die Mutter der Tochter beigebracht, daß man die ältesten der Verwandten so weit achtet, daß man bei ihnen bleibt, wenn man eingeladen ist.«

Der Pate stieß immer dickere Rauchwolken aus seiner Pfeife, die Aufregung hatte sichtlich auch ihn ergriffen, da mußte ein Ausbruch bevorstehen. Jetzt kam Dorothea und hinter ihr her der Jakob zur Tür herein, sie hatten ihre Gänge beendet. Dorothea forschte ängstlich durch die dicken Rauchwolken, ob sie dahinter entdecken könne, was sie suchte. Die Nonna und der Pate suchten durch den Rauch zu erblicken, daß noch jemand hinterher eintrete, es war nichts, Dori war nirgends zu sehen. Wortlos winkte der Pate der Ursel, daß sie auf den Tisch bringe, was im Schrank stand. Die Gläser wurden gefüllt, es wollte kein Gespräch in Gang kommen. Dorothea schaute mit immer angstvolleren Blicken nach der Türe. »Wenn dem Kinde doch nur nichts begegnet ist«, sagte sie endlich mit gepreßter Stimme.

»Sie wird das Begegnen wohl selbst machen«, bemerkte die Nonna kurz.

»Vielleicht ist sie ein wenig gegen Zernez hinauf gegangen, so mit dem Gedanken, sie könne etwas vom Markt sehen«, bemerkte der Vetter Jakob. »Es ist ja recht, daß sie Freude an einem schönen Viehstand zeigt und etwas davon versteht, wenn doch der Niki Sami ein Auge auf sie hat, wie meine Frau sagt.«

»Ich meine, Dori macht sich wenig aus dem, was andere für Pflicht und Recht ansehen, vielleicht ist sie's auch nie gelehrt worden«, sagte die Nonna mit einem wohl zu verstehenden Blick auf Dorothea.

»Kreuz-Fahnen-Donnerwetter, wie hast du denn auch dein Kind dressiert, Base?« fuhr jetzt der Pate los. »Hast du denn auch einen völligen Heiden und Türken zum Manne gehabt, und habt ihr dort unten unter lauter Kannibalen gelebt, bis dich ein unverdientes Glück wieder zu Christenmenschen gebracht hat?« Er schnaubte seinen Rauch in völligen Gewitterwolken heraus, und unter den dicken Brauen hervor schoß er vernichtende Blitze auf Dorothea. Sie durfte kein Wort erwidern.

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Jetzt ging die Tür auf und Dori trat herein, in der Hand einen großen Strauß der schönsten wilden Rosen tragend, die in ihrem lieblichen Hellrot wie ein Abglanz von den glühenden Wangen des Mädchens schimmerten. Doris braune Augen funkelten vor Wonne. Aller Blicke trafen sie, wie sie hereintrat. Welche Blicke! Wie lauter Blitze und Gewitter waren sie anzuschauen. Die Mutter sah aus, als wolle sie zusammenbrechen vor Angst und Not. Dori stutzte. Die Nonna schaute auf Dorothea, ihr Blick sagte deutlich: Es ist an dir, zu reden. Dorothea brachte kein Wort hervor.

Nun fing die Nonna zu sprechen an: »Es ist nicht schön, wie du dich zeigst, Dori. Du wirst von den Verwandten eingeladen und freundlich behandelt und du läufst von allem weg, als ob es nichts wäre, und gebärdest dich ganz wild, unerzogen und undankbar. Besonders gegen den gastfreundlichen Paten, den du schon um des Alters willen ehren solltest, und der dir mehr Freundlichkeit erwiesen hat, als du verdient und, wie es scheint, empfunden hast. Du hast mit Undank und Rücksichtslosigkeit seine Güte gegen dich zurückbezahlt.«

Dori ging schnell zu dem Paten heran, faßte ihn ganz zärtlich um den Hals und hielt ihn fest: »O seid doch nicht bös auf mich, Pate«, bat sie mit herzlichem Ton, »ich habe Eure Freundlichkeit wohl empfunden und wollte gewiß nicht undankbar gegen Euch sein. Aber Ihr wißt ja wohl, Ihr selbst habt es mir erlaubt, wenn ich wiederkomme, so dürfe ich zur Ruine von Steinsberg hinauf und die wilden Rosen holen. Da habe ich gedacht, am besten könne ich gehn, wenn nun die Nonna und die Mutter das Haus und alle die Sachen ansehn wollen, dann vermisse mich gewiß niemand, und so bin ich denn schnell gelaufen, und es war so schön. Aber es ist mir so leid, wenn es Euch nicht recht war, undankbar bin ich gewiß nicht gegen Euch, Pate, seid doch nur wieder gut mit mir!«

Da schmolz das alte Soldatenherz wie Wachs an der warmen Sonne. »Ja, ja, das ist wahr, ich habe es ihr selbst erlaubt, daran hab' ich nicht mehr gedacht, aber es ist ganz wahr«, sagte er, und seine Stimme klang so herzlich, daß Dorothea wieder aufatmen konnte. »Man muß auch dem Kinde nicht alles so übel nehmen«, fuhr er fort, »sie hat nun einmal ihre eigenen Freuden, die soll man ihr lassen. Und wenn die Sache krumm geht, so ist sie nicht schuld daran. Komm, junge Base, wir stoßen an. Hätt' ich meine vierzig Jahre weniger aufgeladen, so würde alles anders gehn. Und Ihr auch, Nonna, kommt, wir stoßen noch einmal auf den allgemeinen Frieden an.«

Die Nonna war aufgestanden. Ein wenig steif sagte sie: »Es ist Zeit, daß wir heimfahren. Ich trinke nicht mehr, Niklaus. Man könnte wirklich denken, Ihr wäret heute um einige Jahrzehnte zurückgekommen; daß nicht die Vernunft um so viel zurückgeht, wenn es die Jahre nicht tun wollen, darauf sollte einer achten.«

Der Abschied wurde allerseits kurz abgetan, die Heimfahrt wurde angetreten und ohne Unterhaltung zurückgelegt. Als Dorothea mit der Tochter an der Halde ausstieg, sagte die Nonna zu der letzteren: »Komm zu mir herunter morgen, ich habe noch einmal mit dir zu sprechen.«

»Mutter«, sagte Dori, als sie in die Stube eingetreten waren, »sonst war die Nonna immer so freundlich und gut mit mir, jetzt ist sie wie verändert, sie mag mich, glaube ich, gar nicht mehr.«

»Doch, doch, sie möchte ja nur dein Glück, das weiß ich«, versicherte die Mutter, »und ich muß froh sein, wenn sie noch einmal mit dir reden will. Siehst du, Dori, ich kann nichts mehr sagen, ich weiß nicht, was das Rechte ist, was man tun soll, daß nicht nachher die Vorwürfe uns quälen und verfolgen.«

Dori wurde von der Nonna, bei der sie der Aufforderung gemäß am andern Tag erschien, sehr kurz empfangen. »Ich habe dir noch eines zu sagen«, begann die Nonna, als Dori sich zu ihr gesetzt. »Du denkst bei unserer Sache nur an dich, oder du denkst vielleicht gar nichts, sondern leichtfertig und eigensinnig und ohne Überlegung willst du ein Anerbieten zu einer schönen und ehrenhaften Lebensstellung wegwerfen. Du hast aber an jemand dabei zu denken, an deine Mutter, das ist deine Pflicht. Sie wird älter und ist an keine feste Arbeit gewöhnt, wie du auch nicht. Ihr habt gerade genug, wenn ihr nichts begehrt, als so zu leben, daß ihr nicht Hungers sterben müßt. Kommen kranke Tage für eines von euch, oder sonst Unfälle, so seid ihr zu beklagen, und den Jammer deiner Mutter kannst du dann anhören mit dem Bewußtsein: Ich hätte ihr ein anderes Los bereiten können. Du hast es in der Hand, deiner Mutter für ihr ganzes Leben die schönsten Tage zu bereiten, dieser Frau, die von Herzen gut ist, aber die von Sorgen und Kummer gleich ganz umgeworfen wird, denn sie hat keine Kraft, solche zu tragen. Nun habe ich genug gesprochen in der Sache. Du hast zu überlegen, noch hast du Zeit, denk an meine Worte, bevor du leichtfertig und im Übermut handelst.« Die Nonna gab Dori die Hand zum Zeichen, daß die Unterhaltung fertig sei und die Erklärungen, die Dori machen wollte, unnütz seien.

Dori ging.

Unten vor ihrer Türe stand die Base Kathrine und sagte in trockenem Tone zu der Herunterkommenden: »Du kannst einen Augenblick herüber kommen; Marie Lene ist drinnen, wir haben dir ein Wort zu sagen.«

Dori trat ein.

»Wenn es dir der Hochmut nicht zuläßt, Niki Samis Frau zu werden«, fuhr Frau Kathrine fort, »weil du annimmst, für dich wäre einer gerade recht, wenn er eine Krone auf dem Kopf trüge, so will ich dir nur das sagen, für dich und deine Mutter, die zu schwach ist, dich auf den rechten Weg zu stellen: ihr müßt niemals denken, daß ihr noch einen einzigen Verwandten für euch habt, an dem ihr euch im Fall der Not, und der wird schon kommen, festhalten könnt. Was aus dir werden soll, wenn deine Mutter nicht mehr da ist, wirst du wohl selbst nicht wissen, aber erfahren wirst du's dann, wenn du mutterseelenallein dastehst.«

»Ein unnützes Geschöpf, das zu keinem Menschen gehört, und das kein Mensch nötig hat, das wird aus dir«, setzte Marie Lene hier ein, »aber das glaub nur, kein Mensch wird mit dir Mitleid haben, du hast es so gewollt, den Trost hast du, für dich und deine Mutter hast du's gewollt. Die arme, schwache Mutter, die hätte es freilich gern anders, wenn es die Tochter ihr gönnte. Denk dann einmal daran, daß die Basen es dir vorhergesagt haben, ein unnützes Geschöpf wirst du.«

»Kann ich jetzt gehen?« fragte Dori, mit der Hand auf dem Türschloß.

»Wenn du zugehört hast, als wir zu dir sprachen, so weißt du, woran du bist«, entgegnete Frau Kathrine.

»Ja, ich habe zugehört«, sagte Dori, und ging. Als sie in ihre Stube eintrat, saß die Mutter, den Kopf in die Hände gelegt, so tief in ihr Sinnen versunken, daß sie Doris Eintreten nicht einmal bemerkte. Waren denn die schweren Gedanken und Sorgen und die Verzagtheit schon bei ihr eingekehrt, und sollte nun wieder eine so traurige, trostlose Zeit kommen, wie sie nach des Vaters Tode eingetreten war? Eine Zeit, die Dori nie vergessen hatte. Das Herz wollte ihr stille stehen bei dieser Voraussicht. »Mutter, warum mußt du denn solchen Kummer haben?« rief Dori schmerzlich aus, »es ist ja doch kein Unglück, es war doch etwas ganz anderes, als wir den Vater verloren.«

Dorothea war aufgefahren, sie ergriff die Hand ihres Kindes: »Ach, das ist ja immer der erste Grund alles meines Kummers«, sagte sie, indem sie wirklich mit einem Ausdruck der alten Verzagtheit auf Dori blickte. »Ja, wenn er da wäre, dein Vater, da wäre alles augenblicklich im klaren und alles wäre gut. Aber ich sinne und sinne und weiß nicht, was das Rechte ist, und ich habe die Verantwortung für dich, das sagen sie mir alle und sie haben recht.«

»Nein, nein Mutter, ich habe ja die Verantwortung für dich, das haben sie mir so gezeigt, daß ich es schon einsehe«, entgegnete Dori lebhaft, »für mich hätte ich ja gar keinen Zweifel, es kommt mir immer ärger vor, je mehr davon geredet wird. Ich schäme mich, wenn ich nur daran denke, daß ich sagen könnte: Ich will Niki Samis Frau sein, und im Herzen steht es mir ganz deutlich: Ich mag nicht mit ihm sein, ich habe ihm gar nie etwas zu sagen, was er sagt, ist mir immer ganz gleichgültig, oder dann ärgert es mich. Ich mag ihn nur so leiden, weil er gutmütig ist.«

»Siehst du, Dori, die Nonna und die Basen meinen, das verändere sich dann schon, wenn ihr zusammenlebt, da werdet ihr euch dann nach und nach wohl verstehen, weil ihr dann von vornherein einen gemeinsamen Boden habt und an den gleichen Dingen teilnehmt, denn es trifft ja dann alles, Freud' oder Leid, euch beide miteinander.«

»Mutter, könntest du denn Freude haben, wenn du mich an den Niki Sami geheftet sähest, so daß er mein Allernächster sein sollte für immer, für immer!« rief Dori in verzweiflungsvollem Ton aus, »könntest du das?«

»Ach nein, das ist es ja, das ist ja, was ich immer in mir hin und her drehen muß«, jammerte die Mutter, »ich könnte keine Freude haben, ich meine, ich könnte es fast nicht begreifen. Aber sieh, Dori, dann sag ich mir wieder: ›Wenn die Nonna recht hätte, wenn du doch einmal anders denken könntest!‹ Und dann muß ich auch denken: ‰Wenn ich nun sterben sollte, zu wem gehörtest du dann, Dori? Wem könnte ich dich denn hinterlassen? Die Verwandten sind alle wider dich, zu wem gehörtest du denn auch noch?‹«

»Du hast recht, Mutter, ich gehöre zu niemand«, sagte Dori, »jetzt sind sie alle wider mich, auch die Nonna, die sonst so freundlich mit mir war. Sie ist es nicht mehr, ich habe es ganz gut gefühlt, sie will nun nichts mehr von mir. Aber daß ich zu ihnen gehöre, habe ich nie gefühlt, auch vorher nicht, ich gehöre wirklich zu niemand, Mutter. Siehst du, wenn ich mit dem Herrn Doktor lese, und wir sprechen dann manchmal zusammen über das Gelesene, wie wir so von diesem und jenem denken und empfinden, dann bin ich ganz wie daheim beim Vater, und es ist ganz, als ob ich dahin gehörte, bis wir fertig sind; und wenn ich auf einmal wieder den Herrn Doktor vor mir sehe, dann merke ich, daß ich zu solchen Leuten gar nicht gehören kann. Und denk' ich erst an seine Frau, wie sie so schön und stolz und verächtlich auf mich niederschaute, dann fühle ich's erst recht, wie himmelweit weg und wie hoch oben über mir solche Menschen stehen. Ich denke dann oft, wie kann nur der Herr Doktor so mit mir sprechen, wie mit seinesgleichen? Das kann er nie fühlen, er muß doch eine Art Verächtlichkeit gegen einen Menschen haben, der nichts weiß und nichts ist, wie ich bin.«

.

»Das glaube ich doch nicht, er weiß ja, daß es keines Menschen Schuld ist, wenn er so in der Einfachheit geboren und erzogen wird, wie du«, sagte die Mutter. »Nun habe ich dir ja auch noch etwas zu sagen, Dori, ich tu' es so ungern, ich weiß wohl, wie leid es dir tun wird: der Herr Doktor war bei mir und hat mir angezeigt, daß er von zu Hause eine Nachricht erhalten hat, die ihn heimruft. In zwei Tagen will er uns verlassen. Es macht ihm selbst Mühe, ich habe es wohl gesehen.«

Dori schaute die Mutter erst an, als wollten ihr die Worte nicht verständlich werden; dann kam ein Ausdruck so trauriger Ergebung in ihre Augen, wie Dorothea ihn noch nie gesehen hatte. Endlich sagte sie: »So, Mutter, nun können wir singen:

Und die Freude, ja die Freude
Verweht wie ein Traum.

Nun gibt's nichts mehr, sich darauf zu freuen von einem Tag auf den andern, und nichts mehr zu tun, das der Mühe wert ist, das ganze Engadin ist leer.« Dori ging nach ihrer Kammer hinüber. Sie stellte sich an ihr Fenster, wo der dunkle Pisoc hereinschaute. Der Abendwind jagte die grauen Wolken darüber hin. Sie schaute ihnen nach: »Könnt' ich doch mit euch über den Berg, weit fort von hier!« sagte Dori halblaut; dann wischte sie sich eine Träne aus den Augen.

Fünfzehntes Kapitel

Zwei Tage waren vergangen. Der Wagen, der Doktor Strahl das Tal hinunter nach Landeck bringen sollte, stand vor der Tür. Der Doktor stand noch drinnen in der Stube und schüttelte Dorothea beide Hände. »Die Tage, die ich in Ihrem Hause zugebracht habe, Frau Maurizius, gehören zu meinen angenehmsten Erinnerungen«, sagte er mit großer Freundlichkeit.

»Wenn doch ein anderes Jahr Sie wieder in unsere Berge brächte, wie wollten wir uns freuen!« entgegnete Dorothea, seinen Händedruck erwidernd.

»Ach, so etwas kommt nicht zum zweitenmal, wir hören gewiß in unserm Leben nie mehr etwas von Ihnen«, sagte Dori, deren Hand jetzt der Doktor zum Abschiednehmen ergriffen hatte.

»Woher kommt Ihnen denn diese Gewißheit?« fragte er lächelnd.

»Ach, Sie wissen ja schon, Herr Doktor, zweimal erlebt man nicht dasselbe, am wenigsten so was Schönes, wie meine Unterrichtsstunden waren. Und dann gehen Sie nun in Ihre große Stadt zurück, da werden Sie gleich so schrecklich viel zu tun haben, und so viele, viele Menschen werden Sie in Anspruch nehmen, daß Sie gewiß nicht einmal mehr Zeit finden werden, nur einen Gedanken noch zu uns herauf zu schicken.«

»Das letztere ist mir nicht so gewiß wie Ihnen«, entgegnete mit einem letzten Händedruck der Doktor. Dann trat er hinaus und bestieg seinen Wagen.

Im Haus an der Halde folgten einige so stille Tage, daß man hätte glauben können, das Haus sei völlig ausgestorben. Niemand ging ein, niemand ging aus. Am Fenster gegen den Pisoc hin, um den jetzt immer öfter die grauen Wolken lagerten, denn der August war nicht sonnig eingezogen, saßen Dorothea und ihre Tochter schweigend bei ihren Handarbeiten. Jede von ihnen ging ihren Gedanken nach, zu reden trieb es weder die eine noch die andere. Jeden Tag einmal kam ein kleines Gespräch vor, das immer fast wörtlich sich wiederholte. So fing Dori auch heute, von ihrer Arbeit aufschauend, an: »Mutter, wollen wir nicht wirklich heut die bestimmte Antwort an Niki Sami schicken? O, wenn doch diese Unsicherheit vorbei wäre!«

Dorothea erschrak, wie jedesmal bisher, wenn Dori ihre Frage vorbrachte. »Ach, Dori, eile nur nicht«, bat sie ängstlich, »nachher kannst du ja nicht mehr zurück. Denk' doch noch recht über alles nach, es könnte dir doch noch anders werden mit der Zeit, mach nur nicht so schnell fertig.«

Dori fielen die Verzagtheit und die Angst der Mutter als eine schwere Last aufs Herz. Sollte die Nonna wirklich recht haben? Würde die Zeit kommen, da sie sich selbst bittere Vorwürfe machen müßte um ihrer Mutter willen? Hoffte diese doch darauf, daß ihre Gedanken sich ändern, wenn sie es auch nie ausgesprochen hatte? War es wirklich ihre Pflicht gegen die Mutter, daß sie so etwas tun sollte – so etwas – mit Niki Sami ihr ganzes Leben zubringen, für immer – immer? –

Dori sprang auf, sie konnte dem Gedanken nicht mehr stille halten, sie lief zur Tür hinaus, ins Freie. Da kehrte sie in Hast noch einmal zurück und rief in flehendem Ton in die Stube hinein: »Sag es ihm, Mutter, daß ich nicht kann. Denn ich kann nicht! Ich kann nicht!« Sie stürzte hinaus.

Gleich darauf trat Niki Sami herein; Dori mußte ihn noch erblickt haben. »Grüß Gott, Base, war das Dori, die den Fußweg hinunterrannte, eben jetzt, als ich auf der Straße herankam?« fragte er schnell.

»Ja, ich denke, es war sie. Setz dich, Vetter«, sagte Dorothea, ihn begrüßend.

»Nein, nein, dann will ich sie zurückholen. Ich will nun einmal von ihr selbst hören, was sie sagt. Die Basen drunten haben mir so verworrenes Zeug gesagt, von dem glaub' ich kein Wort.«

Niki Sami wollte wieder zur Tür hinaus, aber Dorothea hielt ihn fest. Sie sagte, Dori laufe gewiß so drauf los, daß er sie doch nicht mehr erreiche, aber sie selbst könne ihm die Antwort geben, es sei noch besser so, daß sie beide so ganz ruhig miteinander reden. Dem Niki Sami war es auch recht so. Er setzte sich zu Dorothea hin. Sie begann: »Sieh, Vetter, es wird mir schwer, dir es zu sagen, aber Dori kann sich nicht zu der Heirat entschließen.«

In ungläubiger Verwunderung riß Niki Sami seine Augen auf. »Das wird wohl nicht so ernst gemeint sein«, sagte er dann. »Habt Ihr denn der Tochter nichts von allem gesagt, was ich Euch aufgetragen habe, wie sie es bei mir haben kann und was dann alles ihr Eigentum wird?«

»Sie fragt dem allem wenig nach, es nützt nichts, ihr viel davon zu sagen«, entgegnete Dorothea.

»Freilich nützt's, wenn sie's nicht weiß. So dumm ist die noch lang nicht, daß sie nicht verstünde, was es ist, wenn man ein Leben führen kann, wie man will und daß man sich wohl sein lassen kann, wenn man hat, was man braucht dazu. Soviel ich von der Nonna weiß, habt Ihr nicht zuviel zu brauchen, Base.« Niki Sami rasselte unwillkürlich ein wenig in seinen Taschen.

»Wenn aber Dori nicht mehr und nichts anderes begehrt, als was sie sagt, so hat sie eben genug und fragt dem, was drüber hinausgeht, nicht viel nach, Vetter.«

»Daran seid Ihr schuld! Das ist, weil sie's nicht besser kennt und weiß«, warf Niki Sami vorwurfsvoll hin. »Da hat die Base Marie Lene recht, Ihr habt Eure Tochter nur so aufwachsen lassen, wie eine Rübe im Feld, Ihr könntet's doch besser wissen.«

Jetzt ging ein leises Lächeln über Dorotheas Angesicht: »Es scheint mir doch, die Tochter sei bei dem Wachstum nicht so verfehlt ausgefallen, da du sie durchaus zur Frau haben willst, Niki Sami.«

»Daß sie verfehlt sei, hab' ich ja nicht gesagt, und anstatt so etwas Unnützes zu sagen, Base, sagt mir lieber, was wir nun machen wollen, daß Eure Tochter zum Verstand kommt und einmal ja sagt! So kann man vorwärts machen.«

»Niki Sami«, sagte Dorothea jetzt in ernster Freundlichkeit, »ich glaube, du tust besser, diesen Gedanken ganz fallen zu lassen. Ich glaube, ihr seid nicht füreinander bestimmt, du und Dori. Wir wollen gute Freundschaft halten und uns mit dir freuen, wenn du dann eine andere Frau findest und sie uns als liebe Base zuführst.«

»Davon will ich nichts wissen, ich will nun einmal die und keine andere, und das wird wohl zu erreichen sein. Ich will dann in ein paar Tagen wiederkommen und mit ihr selber reden. Die wird sich wohl noch anders besinnen, es meint jede, sie müsse zuerst ein wenig dergleichen tun, als wolle sie nicht, das weiß man schon. Lebt wohl, Base.«

Dorothea wollte dem Vetter noch einmal begreiflich machen, daß bei seinem Wiederkommen dieselbe Antwort erfolgen werde, aber er wollte nichts mehr hören, er ging seiner Wege.

Als Dori bei ihrem Austritt aus dem Hause den Niki Sami heranschreiten gesehen hatte, war sie ohne Aufenthalt den Fußweg hinunter, der Brücke zugeeilt, dann den Berg hinauf gerannt, bis zur freien Höhe, wo der Pfad eine kleine Weile eben dahingeht, und wo sie so oft auf alle Seiten hin all den leuchtenden Blumen nachgelaufen war. Hier schaute sie sich um, Niki Sami folgte ihr nicht nach, wie sie befürchtet hatte. Aber nach den Blumen schaute sie nicht aus. Sie ging weiter, den Waldweg hinauf, und trat in ihr Sträßchen ein, das sie liebte, auf dem sie immer so gern dahingewandert war. Heute sah sie nicht darauf, sie schaute nicht um sich, sie ging immer zu. Bei der wohlbekannten Villa hob sie, wie aus Gewohnheit, den Kopf auf. In dem kleinen Garten war niemand, es war still ringsum. Sie ging an den Gasthäusern von Vulpera vorüber, der Straße zu, die zum Kurhaus hinunter führt. Schon war sie auf den schmalen Fußpfad getreten, um dem rauschenden Inn entlang zu gehen. Da besann sie sich: Niki Sami hatte ihr einmal gesagt, im Heimweg nehme er immer den Waldweg, denn er trinke gern im Vorbeiweg ein Glas Wasser in der Trinkhalle. Sie kehrte schnell um, sie wollte nicht mit ihm zusammentreffen. Rasch ging sie über die Brücke und am Garten beim Kurhaus hin.

»Nun, Dori, wie wär's, wenn man einmal wieder einen alten Freund begrüßte?« rief es hinter den Bäumen hervor ihr zu. Es war Melchiors Stimme.

Dori kam einige Schritte zurück und trat in den Garten ein. Der alte Gärtner schnitt ganz rüstig an seinem Gesträuch herum, aber er war nicht allein. Vor ihm stand, sehr geläufig an ihn heran redend, ein dünn geschnürtes Persönchen mit einem weißen Tellerchen schräg auf dem Kopfe schwebend, was wohl ein Mützchen vorstellte. Breite Bänder waren daran befestigt und flatterten im Winde hoch auf. Ein weißes, oval geformtes Fetzchen mit einer Broderie eingefaßt, das wohl eine Schürze bedeuten sollte, flatterte ebenfalls wie ein Fähnchen hin und her. Dori wollte sich gleich wieder entfernen, als sie Melchiors fremdartige Bekannte erblickte, aber er machte ihr ein Zeichen, daß er nicht lange mehr in Anspruch genommen sein werde, und daß sie bleiben sollte. Gleich hinter dem Gesträuch im Schatten des Baumes stand ein Kinderwagen; Dori nahte sich diesem. Es saß ein kleiner, blasser Junge darin, der mit großen, ernsthaften Augen durch das Gesträuch zu dringen suchte, er wollte offenbar nichts von dem Gespräch der beiden Stehenden verlieren. Dori trat zu ihm heran. Es war kein kleines Kind, das noch im Wagen gestoßen werden mußte, das konnte man dem Ausdruck des Jungen wohl entnehmen. Die tiefliegenden Augen in dem schmalen Gesichtchen schauten so nachdenklich und forschend vor sich hin, als wären es diejenigen eines alten Männchens. Jetzt erblickte Dori zwei kleine Krücken, die neben dem Jungen auf dem Wagen lagen.

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»Bist du krank. Kleiner?« fragte sie mitleidig, sich über den niedern Wagen bückend und liebevoll die blassen Wangen des Jungen streichelnd.

Er schaute ganz erstaunt zu ihr auf; Doris Weise mußte ihn in Verwunderung setzen. »Nein«, sagte er dann, »ich bin immer so. Hör, was sie jetzt wieder sagt.«

»Nein, Herr Gärtner, so denkt kein vernünftiger Mensch mehr«, fuhr das Mädchen auf der andern Seite des Gesträuchs mit lauter Stimme fort; »eine solche Frau hat Besseres zu tun, als einen kleinen Krüppel zu verpflegen, das wird ihr kein Mensch zumuten.«

»Aber sie ist ja die Mutter –«, unterbrach Melchior hier die Rede.

»Wenn sie aber viel Besseres und Größeres tun kann«, fuhr die Sprechende fort, »und sie Studien in dieser und jener Wissenschaft macht, wie wenige Frauen und auch Männer dazu es zu tun imstande sind, kann sie doch viel Größeres leisten, als wenn sie sich mit dem kleinen Krüppel abgibt. Ich kann Ihnen sagen, daß unser Herr selbst erstaunt ist über seine Frau und sagt, sie wisse soviel, daß man zwei Professoren aus ihr machen könnte. Sie mußte auch nur hierher, die Kur zu machen, weil sie soviel gearbeitet hat, der Arzt hat es befohlen. Der Herr macht unterdessen eine Reise mit den beiden ältern Söhnen, das sind zwei hübsche, gesunde Jungen. Der Arzt wollte, man solle den Kleinen mit hierher nehmen, die Luft müßte ihm gut tun. Aber was! Gut tun! Der ist und bleibt ein Krüppel! Was es für die Dame ist, einen solchen Jungen zu haben, kann man denken, sie ist froh, wenn ich solang wie möglich hier mit ihm draußen bleibe, so muß sie ihn doch nicht um sich haben.«

»Es ist gut, daß er eine so freundliche Pflegerin hat, da ihm die Mutter fehlt«, sagte Melchior trocken.

Die so bezeichnete Pflegerin blickte den Gärtner etwas zweifelhaft an, sie wußte offenbar nicht ganz sicher, ob seine Worte ernst gemeint seien.

»Sie ist gar nicht freundlich, sie ist so bös wie eine Teufelin«, ertönte plötzlich eine aufgebrachte Stimme durch das Gebüsch und mit funkelnden Augen beugte der lahme Junge sich vorwärts, um recht mit seiner Stimme durchzudringen.

»Da hören Sie's, das hat man zum Dank!« rief die erzürnte Pflegerin aus. »Der kleine, boshafte Krüppel –«.

Dori ergriff den Wagen und rollte ihn so weit weg, daß man von den weiteren Worten nichts mehr hören konnte. Dem aufgeregten Jungen liefen jetzt die Tränen über die bleichen Wangen herab.

»Ja, ich weiß es schon«, schluchzte er jetzt auf, »kein Mensch hat mich lieb. Karl und Max gehören zum Papa, und ich gehöre zu gar niemand.«

Dori beugte sich zu ihm nieder und umfaßte ihn: »Du armer Kleiner!« sagte sie zärtlich, »sieh, ich habe es wie du, ich gehöre auch zu niemand.«

Jetzt schlang der Junge seine beiden Arme um ihren Hals. »Gehörst du auch zu niemand? So will ich dir etwas sagen.« Und er zog sie noch ein wenig näher zu sich nieder und sagte ihr ins Ohr: »So komm zu mir, dann wollen wir die böse Lorette fortjagen.«

In diesem Augenblick kam die Pflegerin Lorette rasch dahergegangen und trat an den Wagen heran. »So hast du jemand gefunden, der dich umher führte, Willi? Ich danke Ihnen«, sagte sie dann, mit ausgesucht freundlicher Stimme sich zu Dori wendend, und rollte schnell den Wagen davon.

Dori ging zu der Stelle zurück, wo Melchior arbeitete. Sie wollte gern hören, wer der arme Junge sei, und was Melchior von ihm und der Mutter wisse, die mit hier war, ob er diese kenne.

Melchior wußte nichts weiter, als daß die Dame im Kurhaus wohnte, daß die junge Dienerin täglich viele Stunden lang den kranken Jungen im Garten umherfahre, und nur dann sich dem Gärtner nahe und ihm ihre Mitteilungen mache, wenn sie keine erwünschtere Gesellschaft im Garten finde.

»Der arme Kleine, er muß doch eine sonderbare Mutter haben!« sagte Dori noch ganz erfüllt von dem Eindruck, den ihr der kleine Leidende gemacht hatte.

»Das habe ich auch schon gedacht«, entgegnete Melchior. »Und etwas anderes finde ich auch noch sonderbar, Dori. Warum sitzest du denn nun trübselig unten im Kellerloch und weißt doch, daß oben hell und warm die Sonne scheint und Freude in die Herzen bringen kann?«

Dori erinnerte sich gleich des Gesprächs von damals wieder, da Melchior diesen Vergleich angewandt hatte. Einen Augenblick schwieg sie stille, dann sagte sie kleinlaut: »Ja, Melchior, wenn man es auch weiß, daß oben die Sonne ist, die fröhlich macht, wenn man aber unten im Kellerloch liegt und hat keine Leiter, hinauf zu steigen, wie kommt man hinauf?«

»Man hat da unten Zeit, ein wenig in sich zu gehen, und dann erinnert man sich, daß man einmal gewußt hat, ein barmherziger Helfer würde uns einen rettenden Arm entgegen halten, wenn wir die Hände bittend danach ausstreckten.«

Augenblicklich stiegen in Doris Herzen die Worte auf, die ihr Vater einmal in seinen letzten Tagen ausgesprochen und die ihr einen tiefen Eindruck gemacht hatten. Es war ganz dasselbe, was Melchior hier sagte und wie die Großmutter vom Beten gesprochen hatte. Und das Lied klang wieder an ihr Ohr, das sie von dem Fräulein kennen gelernt und dem Vater noch gesungen hatte, es war dasselbe Flehen: »Nimm meine Hand«. »Ja, wenn man doch so zu einem Vater um Hilfe rufen dürfte!« stieg es verlangend in ihrem Herzen auf. Sie hatte nie so gebetet. Sie hatte immer einen Spruch oder einen Liedervers gesprochen, bevor sie einschlief, das war sie gewohnt, das mußte man tun als letztes Tagesgeschäft. Aber in diesem Augenblick kam ihr das Wort, das sie in früherer Zeit so oft gesungen, ganz neu vor, wie ein Gebet, ganz besonders für sie gemacht und für alle diejenigen, die wie sie so weit unten in der Traurigkeit lagen und oben die Sonne in Licht und Freude schimmern sahen und sie nicht mehr erreichen konnten, das flehende Wort: »Nimm meine Hand!«

»Du mußt lang nachsinnen über mein Wort. Kommt es dir so fremd vor, Dori?« fragte Melchior. »Weißt du, was der barmherzige Helfer uns verkündigt hat? Daß wir sagen dürfen: Unser Vater, der du bist im Himmel! Weißt du, was ein Vater ist, und wie man bei einem Vater Hilfe holen kann?«

Jetzt flammten Doris Augen auf: »Ja, gewiß weiß ich, was ein Vater ist, das weiß ich wohl!« rief sie aus. »Wenn mein Vater noch lebte, wüßte ich wohl, wo Hilfe holen, dann dürften sie mir nicht sagen, ich sei ein unnützes Geschöpf, ja, dann wüßte ich wohl, wo mich hinwenden, und wo Schutz und Hilfe zu finden.« Vor Erregung stürzten Dori die Tränen aus den Augen.

Melchior schnitt an seinen Gesträuchern herum, bis Dori sich wieder gefaßt hatte, dann sagte er: »Wer so gut weiß, wie du, was es ist, einen liebenden Vater zu verlieren, der müßte einer der glücklichsten Menschen sein, wenn er es recht erfassen könnte, daß er einen solchen Vater im Himmel hat, den er nie verlieren kann, wenn er sein Kind sein will. Möchtest du ihm nicht auch angehören als sein Kind?«

»Doch«, erwiderte Dori, »aber ich weiß nicht, wie Ihr es meint, unserm Vater im Himmel gehören doch alle Menschen an als seine Kinder.«

«Ja, ja, Dori, das ist schon recht, als das kommt jedes von uns zur Welt, da hast du schon recht«, bestätigte Melchior. »Wenn es dir aber damals beim Vater in der Heimat nicht gefallen hätte, immer so unter seinen Augen zu stehen und zu tun, was er von dir wollte –«

»O, der Vater hatte mich so lieb, er mochte von mir wollen, was er wollte, so merkte ich, daß er es tat, um mir Gutes zu tun, warum hätte ich nicht unter seinen Augen stehen wollen?« warf Dori rasch dazwischen.

»Ich habe mir's gedacht, es sei ein solcher Vater gewesen, so kannst du um so besser empfinden, was es ist, einen liebenden Vater im Himmel zu haben, der uns auch nur Gutes tun will«, fuhr Melchior gelassen weiter. »Aber nimm nur einmal den Fall an, es wäre möglich gewesen, du hättest einmal tun wollen, was dir allein gefiel, und du hättest dein eigener Herr und Meister sein wollen, so hättest du ja die Freiheit gehabt, fortzulaufen, weit weg von des Vaters Beaufsichtigung, und deinen eigenen Weg zu gehen. Wenn du dann nach Jahren in eine große Not gekommen wärest, aus der niemand dir helfen konnte und wollte, und du hättest dich an die Liebe deines Vaters erinnert, wie der dir immer half und helfen konnte, hättest du da gleich das frohe Gefühl gehabt, der ist mein Vater, ich bin sein Kind, der wird mir helfen? Hätte dir da nichts dazwischen gelegen, das dich von ihm trennte, so als wärest du ja gar nicht sein Kind geblieben?«

Dori sah sinnend vor sich hin.

Der Gärtner schnitt an seinen Zweigen weiter.

»Ja, ich verstehe Euch, Melchior«, sagte sie nach einer Weile. »Und wenn man so für sich gelaufen ist, wie kommt man dazu, denken zu dürfen, ich bin doch das Kind, und er will mein Vater sein, zu dem ich um Hilfe rufen darf?«

»Der es uns zuerst gesagt hat, daß wir einen liebenden Vater im Himmel haben, der muß es wissen«, entgegnete Melchior. »Geh du seinen Worten nach, es ist jedes wie für dich geschrieben. Du wirst wohl manches davon schon im Unterricht gehört haben; aber wenn du die Worte so mit dem Verlangen liesest, daß sie dir Antwort geben möchten, und sie das tun und in dir zur lebendigen Wahrheit werden, die du an dir selbst erfährst, und sie dich dann zum fröhlichen Kinde machen unter des liebenden Vaters Schutz, dann wirst du sagen: ›Ja, der Alte hatte recht, es ist etwas anderes, im Kellerloch zu sitzen und zu wissen, daß droben die Sonne leuchtet und wärmt, oder in der hellen, warmen Sonne zu stehen und ihr erfreuendes und erwärmendes Licht bis ins Herz hinein zu spüren.‹«

Dori stand schweigend und sinnend da, es mußten noch mehr Fragen in ihr arbeiten. Der Alte schnitt und ordnete weiter von Strauch zu Strauch; Dori folgte ihm immer schweigend nach.

»Melchior, ich möchte so gern noch etwas fragen«, sagte sie endlich ein wenig zaghaft.

»Was ich weiß, sag' ich dir gern, nur zu mit den Fragen«, ermunterte er.

»Wenn man auch so recht den Weg als Kind zu seinem Vater im Himmel fände, dürfte man dann wohl so fragen und bitten, wie ich es zu meinem Vater hatte tun dürfen?«

»Ja, so mein' ich's, Dori«, entgegnete Melchior, »aber nicht so, daß man dann nur so vom Himmel herunter bitten könnte, was man wünscht. Dein Vater, der dich lieb hatte, gab dir auch nur, was dir gut war, was er besser wußte als du, das weißt du ja wohl. Das letzte Wort eines jeden Gebetes sollte immer sein: Was du willst, will auch ich.«

»Aber wenn man gern tun würde, was das Rechte ist, damit man sich nicht einmal furchtbare Vorwürfe zu machen hätte, und wenn man nun recht zu Gott beten könnte, daß er uns den rechten Weg zeige, könnten wir dann wohl eine Antwort erhalten, so daß wir unseres Weges gewiß würden?« fragte Dori gespannt.

»Wenn wir mit der rechten Ergebung in Gottes Willen beten und stille sein und warten können, so führt er uns schon so, daß wir seine Antwort verstehen«, gab der Alte ruhig zurück.

»Aber Melchior, wenn wir nicht warten können, wenn wir eine Antwort haben müssen, gleich jetzt, in wenigen Stunden, wie finden wir sie dann?«

Melchior lächelte. »Du bist pressiert, scheint es mir. Ich kann dir nichts anderes sagen; aber ich meine, einem alten Mann, wie ich bin, kann ein junges Kind, wie du noch eines bist, wohl seine Sache anvertrauen, vielleicht weiß ich dann noch etwas zu sagen.«

»Ja, Ihr habt recht, Melchior, ich will alles heraussagen, so könnt Ihr selbst sehen, wie nötig ich eine Antwort hätte. Einen Mann soll ich nehmen, den ich nicht will und nicht mag, ich bin froh, wenn ich ihn nicht sehen und nicht mit ihm reden muß; denn was er sagt, ist mir alles einerlei, und was ich zu sagen habe, ist ihm langweilig. Aber sie sagen, es sei meine Pflicht um der Mutter willen; ich könnte ihr gute Tage bereiten und würde dabei auch glücklich werden. Und wenn ich's nicht tue, so werde ich mir einmal die bittersten Vorwürfe machen müssen, und ich werde der Mutter die alten Tage verkümmert haben, anstatt ihr wohlzutun, und selbst ein unnützes Geschöpf sein und bleiben.«

Melchior schnitt erst noch ein Weilchen weiter, dann sagte er: »So, so, was du mir da von deinen Gedanken über den Burschen sagst, das wirst du ihm wohl nicht präzis so in die Augen hinein gesagt haben?«

»Nein, wie könnte ich, wenn ich doch daran denken sollte, seine Frau zu werden!« gab Dori zurück.

»Wenn du aber um eine Antwort beten wolltest«, fuhr Melchior fort, »so sähe doch der liebe Gott in deinem Herzen wohl, wie es da steht, und daß deine Sache damit anfinge, daß du einen Menschen so ein wenig hinters Licht führen würdest. Was meinst du, kommt dir vor, daß unser Herrgott im Himmel an so etwas sein Wohlgefallen haben könnte?«

»Nein, nein, nicht wahr, Melchior«, rief Dori lebhaft aus, »nicht wahr, so etwas kann nicht recht sein, das so verdreht angefangen würde! Nicht wahr, so etwas ist nicht nach Gottes Willen, das kann keine Pflicht sein, die man zu erfüllen hätte, und man muß sich nie über so etwas Vorwürfe machen, es nicht getan zu haben?«

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Doris Augen leuchteten vor Freude, daß endlich jemand fühlte wie sie und es aussprach.

»Dori«, sagte Melchior mit zustimmendem Kopfnicken, »sieh' du dich nach keiner andern Antwort mehr um, gib du diejenige, die lauter und wahr in deinem Herzen steht. Such du vor allem den Weg zu deinem Vater im Himmel, daß er dich wieder kenne und du ihn, so wie du einen liebenden Vater kanntest und noch ganz anders, da fühlst du dich wieder in sicherem Schutz, findest das Rechte vor seinen Augen und hast um das Zukünftige nicht zu sorgen, weder für dich, noch für die Mutter; es liegt in seiner Hand. Du weißt ja noch wohl, wie dir's war als Kind bei deinem Vater, wenn du den um alles fragen, um alles bitten, und ihm alles vorlegen konntest? Noch viel anders ist's, den Allmächtigen im Himmel als seinen Vater zu kennen und für sich zu haben.«

»Ob ich's noch weiß, wie's war, ob ich's noch weiß«, sagte Dori mit freudestrahlenden Augen; »o die Sicherheit und das Vertrauen wieder im Herzen zu haben! O Melchior, Ihr habt mir gute Worte gesagt, ich danke tausendmal! Ich seh' Euch wohl bald wieder, nun muß ich gehen.«

Dori drückte dem Alten mit großer Herzlichkeit die Hand und lief nach der Straße hinauf.

Dorothea berichtete der Heimgekehrten von Niki Samis Besuch und daß er an kein Abweisen glauben wolle.

In Doris Herzen arbeiteten jetzt so viele Gedanken, die Melchiors Worte angeregt hatten, daß sie den Bericht der Mutter kaum vernahm und nichts erwiderte. In ihrer Kammer saß sie sinnend bis tief in die Nacht hinein. Ja, Melchior hat recht, kein größeres Glück kann es geben, als zu wissen, daß uns ein Vater lieb hat, der uns immer nah ist, zu dem wir immer gehen dürfen in aller Not und allem Leid, der immer helfen kann. Warum habe ich denn das Glück nicht im Herzen? Gehöre ich denn zu denen, die dem Vater fortgelaufen sind? Hier kam Dori wieder zu den Gedanken an ihren irdischen Vater zurück. Wie nahe hatte sie mit ihm gelebt! Es gab keine Zeit des Tages, da sie nicht mit ihm zusammenhing. Bei allem, was sie tat, wußte sie, ob es dem Vater lieb war oder nicht, sie dachte auch immer erst daran, bevor sie irgend etwas unternahm oder unterließ. Dori kam in ihren vergleichenden Gedanken immer tiefer hinein und durchschaute ihr eigenes Herz und Wesen mit so klaren Blicken, wie sie es nie zuvor getan hatte. Ja, so ist es, sagte sie sich: Ich bin weggelaufen von meinem Vater im Himmel und ich verdiene es, wenn er mich hilflos laufen läßt. Aber sie suchte doch nach Hilfe und in ihrem Herzen stiegen Worte auf, die sie lang gekannt, aber nicht so, als ob sie für sie selbst geschrieben wären, Worte für solche, die verdienten hilflos und verlassen zu bleiben, und doch sprachen die Worte von einem offenen Weg zu dem liebenden Vater zurück für alle. Dori faltete ihre Hände und flehte: »O auch für mich! Auch für mich!« Von jenen Worten hatte Melchior gesprochen, sie wollte seinem Rate folgen.

Sechzehntes Kapitel

Dorothea bemerkte mit Freude, daß auf Doris Gesicht der alte Ausdruck kindlicher Fröhlichkeit, den die Mutter in der letzten Zeit vergeblich und oft mit schwerer Sorge gesucht hatte, wiedergekehrt war. Dori saß auch nicht mehr stundenlang schweigend und nachsinnend bei ihrer Arbeit, sie plauderte wieder fröhlich und nahm den alten Anteil an allen häuslichen Fragen und Bedenken der Mutter. Dorothea empfand ganz deutlich, daß in Dori aller Zweifel gewichen, daß sie ihres Weges völlig sicher war. Das nahm der Mutter viel von dem schweren Gewicht auf ihrem Herzen weg; das Gefühl ihrer großen Verantwortlichkeit drückte sie weniger nieder, seitdem sie die frohe Sicherheit in Doris Wesen täglich zunehmen sah. Es war an einem der letzten Augusttage, als vor dem Haus an der Halde von verschiedenen Seiten kommend die Base Marie Lene und der Gärtner zusammentrafen.

»Wollt Ihr auch zur Dorothea hinein?« fragte Marie Lene, indem sie stille stand.

Melchior nickte bejahend.

»Ja, ich weiß wohl«, fuhr sie fort, »daß Ihr der gute Freund drinnen seid, bei der Alten und bei der Jungen, darum stünde es einem Propheten, wie Ihr seid, gut an, er würde den beiden einmal ein Licht aufstecken in einer Sache, in der sie sich zeigen wie die blinden Maulwürfe, sonst hätten sie schon lang ihr Glück mit beiden Händen erfaßt.«

»Hm, dein Mann ist ein guter Fuhrwerker«, gab Melchior in seiner bedächtigen Weise zur Antwort. »Wie wär's, wenn du ihn fragtest, ob er nicht einmal seinen Ochsen mit einem Kanarienvogel zusammenspannen wolle, um zu sehen, wie die miteinander den Karren ziehen würden?«

Marie Lene hatte einen Augenblick gestutzt, jetzt feuerte sie los: »Immer und ewig macht Ihr Gleichnisse! Wenn Ihr nur nicht meint, sie seien etwas wert. Aber diesmal habt Ihr etwas Gescheiteres gesagt, als Ihr dachtet. Was soll denn aus solch einer werden, die nichts kann, als was die Kanarienvögel können, und meint, singen und pfeifen und den Rosen nachlaufen sei genug getan für sie?«

»Wie wir doch merkwürdig übereinstimmen, Marie Lene«, sagte Melchior lächelnd, »gerade das wollte ich meinem Vögelein drinnen sagen, darum kam ich her, und du wohl auch?«

»Zu Dori sag' ich gar nichts mehr, zur Mutter will ich«, gab Marie Lene zurück. »Aber keinen Schritt ginge ich mehr, weder der Alten noch viel weniger der Jungen nach, wenn es nicht um eines Verwandten willen wäre, der nun einmal den Kopf auf die Sache gesetzt hat, warum, weiß kein Mensch. Vernünftig mit ihnen reden über das Kapitel kann man nur gar nicht, sie verstehen alle beide von einem anständigen Dasein und einem ehrenhaften Hauswesen soviel, wie eine Geiß vom Himmelreich.«

»Es scheint mir, du machst auch in Gleichnissen«, sagte Melchior gelassen und machte die Tür auf, um einzutreten.

Marie Lene zog sofort Dorothea beiseite, sie hatte mit ihr allein zu sprechen, die beiden gingen nach der Nebenstube.

Melchior setzte sich zu Dori hin. »Ich habe eine Frage an dich, Dori«, begann er gleich. »Der alte Herr droben in der Villa ist kränker geworden, er ist so schwach, daß ihn der Doktor nicht heimreisen lassen will. Jetzt, da alle anderen Kurgäste abreisen, hat er dem Kranken eben gesagt, er müsse den September durch noch dableiben, wenn nicht noch länger, von einer so langen Reise, wie seine Heimreise wäre, dürfe für einmal keine Rede sein. Er hat die Frau Anne zur Pflegerin, die meint es gut. Sie bringt dem Kranken immer wieder große Teller voll Rauchfleisch herbei und meint, wenn er recht tüchtig dem guten Bündtnergericht zusprechen würde, so kämen ihm die Kräfte schon wieder. Aber weiter weiß sie nichts. Ich habe nun gedacht, wenn du so jeden Nachmittag ein wenig zu dem kranken Herrn hinauf gingest und ihm etwas läsest und ihn ein wenig unterhieltest, so wäre es doch auch etwas anderes für ihn, er könnte es eher ein wenig vergessen, daß er so allein ist und fern von seiner Heimat.«

»Aber Melchior, Ihr habt mir selbst gesagt, daß es ein so feiner und gebildeter alter Herr ist«, warf Dori schnell ein. »Ein Herr, der soviel weiß und der von allem sprechen kann, der wollte doch gewiß lieber auch einen gebildeten Menschen um sich haben, und Ihr wißt ja doch, daß ich nichts kann und nichts weiß.«

Melchior fuhr ruhig fort: »Als ich ihm sagte, daß ich ein junges Mädchen kenne hier in der Gegend, das ich gerne zuweilen in seiner Krankenstube wüßte, es müßte diese ein wenig erhellen, da sagte er gleich so traurig lächelnd: Was mir denn einfalle, ein junges Mädchen werde bald Lust haben, einen alten kranken Mann aufzusuchen und ihre schöne Zeit bei ihm zu verlieren. Junge Mädchen wissen ihre Tage erfreulicher zuzubringen, als in einer Krankenstube bei einem langweiligen Alten zu sitzen.«

»Wenn es so ist, und Ihr meint, es würde ihm Freude machen, so geh' ich gleich morgen. Wie sollte ich nicht gern einen Kranken besuchen, der keinen Menschen aus seiner Heimat um sich hat und sich so verlassen fühlen muß! Gleich morgen geh' ich«, versicherte Dori.

»Das habe ich dir zugetraut«, sagte Melchior erfreut und drückte Dori die Hand. Dann stand er auf und ging.

Gleich nach ihm verließ auch Dorothea mit der Base das Haus, nachdem sie Dori zugerufen hatte, sie werde nicht lange fortbleiben. Diesem Versprechen kam Dorothea nicht sehr genau nach, denn der ganze Abend verging, bevor sie wiederkehrte. Sie hatte viel zu berichten. Die Nonna hatte sie zu einer Zusammenkunft mit den Verwandten holen lassen, um festzusetzen, was nun getan werden müsse in der hängenden Angelegenheit. Niki Sami hatte bestimmt erklärt, er gehe nicht ab, er wisse schon, daß er am Ende Meister werde. Die Nonna suchte einen Weg aufzufinden, der für beide gut wäre. »Ein halbes Jahr lang sollte nun alles so bleiben, wie es jetzt ist«, berichtete Dorothea weiter. »Niki Sami sollte nie zu uns kommen und nie mit dir reden, so würde dir am allerehesten die Lust kommen, wieder von ihm aufgesucht zu werden. Du werdest während der Zeit auch noch heimischer in unserem Lande und werdest manches noch anders kennen und schätzen lernen, als du jetzt tust. Niki Sami murrte ein wenig, aber er ging in den Vorschlag ein. Ich tat dasselbe für dich, das konnte ich doch tun, nicht wahr?«

»Von dir aus schon, Mutter«, entgegnete Dori, »ich hätte es nicht getan, denn ich hätte sagen müssen, daß diese Angelegenheit bei mir keine hängende, sondern eine abgetane Sache ist, eine überstandene Angst, an die ich nicht mehr zurückdenke und im innersten Herzen froh bin, daß ich nicht mehr daran denken muß. Das Liebste an eurer Übereinkunft ist mir, daß man doch nun sicher ist, ein halbes Jahr lang von dieser Sache nichts mehr zu hören.« Nun hatte Dori der Mutter auch noch zu erzählen, was Melchior gewollt und was sie ausgemacht hatten. Dorothea war ganz einverstanden damit, daß Dori den kranken Herrn besuche und alles tue, um ihm im fremden Lande die langen Leidenstage erträglicher zu machen. Als Dori am folgenden Nachmittag, auf der Höhe von Vulpera angelangt, vom Waldhaus zur Villa hinüber wanderte, konnte sie sich einmal wieder des Weges freuen, der ihr lieb war. Wie anders war ihr heute zumut, als da sie das letzte Mal hier hinauf und weiter gelaufen war, mit so viel quälenden Gedanken im Herzen. Heute war sie so froh, daß sie einen lauten Gesang hätte anstimmen mögen. Aber nein, sie kam ja dem Hause des Kranken immer näher, singen wollte sie nicht. Jetzt trat sie in den kleinen Garten ein. Die Haustür stand offen. Frau Anne kam eben die Treppe herunter und zeigte Dori, an welcher Tür droben sie zu klopfen habe, der Herr erwarte sie, setzte die Frau hinzu, Melchior habe ihm Bericht gebracht, daß sie komme. Dori stieg die Treppe hinauf und nach einem freundlichen Rufe, hereinzukommen, trat sie in das Zimmer ein.

Ein alter Herr mit schneeweißem Haar saß in einem Lehnstuhl am Fenster und schaute mit einem väterlich freundlichen Blick der Eintretenden entgegen.

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»O, Herr von Aschen!« schrie Dori in heller Freude auf und stürzte zu dem alten Herrn hin. Sie ergriff seine beiden Hände und küßte sie in überwallender Freude, und in der Erinnerung an jene Tage und an alles, was mit Herrn von Aschen zusammenhing, stürzten ihr vor großer Erregung die Tränen aus den Augen. Mit dem größten Erstaunen blickte der alte Herr auf das hochgewachsene Mädchen mit dem dichten braunen Haar und den warm leuchtenden Augen – er suchte offenbar in seiner Erinnerung nach derselben Erscheinung. »Ich kenne Sie wirklich nicht, mein liebes Kind«, sagte er dann in der freundlichsten Weise. »Wo sollten wir uns denn gesehen haben?«

»Dort auf dem Weg von Cavandone gegen den Monte rosso hinauf, bei der Mauer unter den Kastanienbäumen, dort saßen wir, das Fräulein und ich, und sie schenkte mir ein kleines Buch und ließ mich lesen, und dann kamen Sie. O, mir ist alles so frisch im Andenken, als sei es gestern gewesen. Wissen Sie es nun wieder, Herr von Aschen?«

Dori war immer lebhafter geworden während ihrer Schilderung, der Herr von Aschen lächelnd zugehört hatte. Jetzt nickte er: »Ja, ja, nun steigt mir die Erinnerung auf. So sind Sie das kleine braunäugige Mädchen von Cavandone? Ja, die welligen Haare und die braunen Augen kann ich noch wiederfinden, aber Sie sind so groß geworden! Meine Tochter hatte solche Freude an Ihnen. War da nicht etwas mit einem Bilde, das Sie von ihr wünschten?«

»O ja, Herr von Aschen«, fuhr Dori mit derselben Lebhaftigkeit fort, »das war das Bild aus der Heimat meines Vaters, es war seine letzte Freude, er hat es immer noch angeschaut. Dann wollte ich kommen und Ihnen danken und die Rosen bringen, die ich dem Fräulein versprochen hatte. Aber wie ich nach Pallanza herunter kam, waren Sie fort und das liebe Fräulein war –« Dori hielt inne, Herr von Aschen hatte seine Hand über die Augen gebreitet. »O, Herr von Aschen«, fuhr Dori nach einer Weile fort, »noch jetzt möchte ich Ihnen danken, daß Sie meinem Vater noch die große Freude gemacht haben. Wenn ich doch nur auch für Sie etwas tun könnte, das Ihnen auch nur ein wenig Freude machen würde! Nicht wahr, ich darf nun alles für Sie tun, so wie wenn ich eine alte Bekannte von Ihnen wäre?«

Herr von Aschen kehrte sich wieder lächelnd zu der kindlich Bittenden. »Nun ist das Danken doch wirklich an mir, liebes Kind«, sagte er, Doris Hand drückend. »Sie kommen, mich in meiner einsamen Krankenstube aufzusuchen; schon das ist mir eine Freude, und eine doppelt große Freude, nun ich weiß, daß wir alte Freunde sind und eine gemeinsame, liebe Freundin hatten. Schon daran zu denken, ist mir so wohltuend.« Er fragte nun, ob Dori ihm wohl dann und wann etwas vorlesen wollte, das mangelte ihm am meisten, daß die Wärterin ihm den Dienst nicht leisten konnte; es selbst zu tun, war ihm vom Arzt untersagt, er fühlte auch selbst, daß es ihn zu sehr anstrengte. Dori bezeugte ihre herzliche Freude darüber, das tun zu dürfen, und wollte auch gleich mit Eifer die Tätigkeit beginnen, aber Herr von Aschen sagte, heute wolle er sich an ihrer Unterhaltung erfreuen. Sie sollte ihm erzählen, was sie alles erlebt hatte, seit sie sich in der mit brennender Sehnsucht nach seiner Heimat verlangte; da sie wieder das Lächeln der Freude auf dem Antlitz leuchten sah und seinen Blicken folgte, wie sie zwischen dem Fieberschlummer durch auf den Meereswellen und den von Möwen umflatterten Felsen im Wasser so still befriedigt hafteten.

»O, wie freu' ich mich, Dori, daß du etwas für den guten Herrn tun kannst«, sagte Dorothea jetzt, »ist er sehr leidend?«

Davon wußte Dori nun eigentlich gar nichts zu sagen.

Vor Freude über das Wiederfinden hatte sie ganz vergessen, daß sie ja als Krankenwärterin gekommen war. Das nächste Mal wollte sie aber alles gut machen, versprach sie der Mutter.

Jeden Tag wanderte Dori nun nach der Villa hinauf und blieb bei ihrem Kranken, bis die Nacht einbrach. Sagte Herr von Aschen dann wieder in seiner freundlichen Weise, wie er so oft tat: »Wie die Zeit doch verschieden vergeht. Mir kommt es vor, als haben die Nachmittage kaum noch die Hälfte der Stunden, die sie sonst hatten«, dann kehrte Dori mit einer Freude im Herzen nach Hause zurück, wie sie solche nie gekannt hatte. So konnte sie dem guten Herrn wirklich ein wenig wohltun, daß ihm die Stunden so schnell vergingen. Wie hätte sie so etwas sich je denken können! Aber Herr von Aschen sagte es ja selbst, es mußte doch so sein. Ihr Gang zur Villa hinauf wurde Dori täglich lieber. Erst hatte sie dem alten Herrn etwas vorzulesen, es wurde ihm eine Menge von Schriften und Büchern zugeschickt. Aber er konnte das Vorlesen nicht lang ertragen, es ermüdete ihn. Dann wünschte er, daß Dori ihm erzähle von allen ihren Kindererinnerungen und dem schönen Lande ihrer Kindheit, das sie immer wieder in so glühenden Farben schilderte, daß Herr von Aschen seine besondere Freude daran hatte. Auch kannte er ja alle die Plätze und Wege und freute sich der eigenen Erinnerungen an viele der geschilderten Orte. Auch von Doris Vater hörte er gern erzählen, wie er sein Kind unterrichtete, und wie die beiden auf den sonnigen Höhen über dem blauen See viele Stunden lang saßen; wie der Vater malte und Dori las, und dann wieder beide sangen zusammen.

Diese Schilderungen ermüdeten Herrn von Aschen nie, Und Dori war überglücklich, wenn er sie immer wieder aufforderte, von dem Leben in Cavandone und den Kindertagen zu erzählen, öfter schon hatte Dori auch von dem Fräulein sprechen wollen, das einen Eindruck auf sie gemacht, den sie nie vergessen hatte. Aber Herr von Aschen war immer schnell auf ein anderes Gespräch übergegangen, Dori fühlte wohl, wie er auswich. Es schmerzte sie tief, daß der gute Vater immer noch ein solches Weh über die Trennung empfinden mußte, daß er gar nicht von seiner Tochter sprechen konnte. Eben war Dori wieder bei einer ihrer lebhaften Schilderungen angekommen. Sie erzählte Herrn von Aschen, wie sie die wilden Rosen bei der Ruine von Steinsberg geholt hatte, und wie ihr dabei plötzlich die Rosen der Heimat vor die Augen gekommen seien, und wie sie damals die allerschönsten davon in ihr Körbchen gepackt und sie nach Pallanza hinuntergetragen hatte. Dori hielt plötzlich inne. Auch Herr von Aschen schwieg. Jetzt kniete Dori nieder, ergriff seine Hände und küßte und liebkoste sie: »Ach Herr von Aschen«, sagte sie zärtlich, »wenn doch nur auch an mir irgend etwas wäre, das Ihnen auch nur wie ein Stückchen von einem lieben Kinde erscheinen könnte. O, was wollte ich tun, wenn ich das erreichen könnte.«

»Mein liebes Kind«, sagte der alte Herr, sie freundlich streichelnd, »das hast du ja schon lang erreicht. Ich will dich auch du nennen, daß du es besser fühlest; nicht nur ein Stückchen von einem solchen, nein, ein liebes Kind bist du mir geworden, ohne das mir die Tage so dunkel und schwer würden hier, daß ich nicht daran denken darf. Aber du kommst täglich als ein Sonnenstrahl in dies Haus und machst es mir hell und warm.«

»Gott Lob und Dank! Dann bin ich doch jetzt kein unnützes Geschöpf, wenn ich es auch später einmal werden muß«, sagte Dori in Dank und Freude.

»Was sprichst du, Kind?« fragte verwundert der Kranke.

»O, Herr von Aschen, Sie sind so gut wie ein Vater zu mir, Ihnen darf ich alles sagen und Ihre Worte sind mir ein solcher Trost. Alle meine Verwandten sagen mir, daß ich ein unnützes Geschöpf werde, weil ich nicht tun kann, was sie meinen, und mit einem Mann durch das ganze Leben gehen, der mir gar nicht lieb ist, und mit dem ich nichts teilen kann von allem, was mir am Herzen liegt. Und sie sagen, später stehe ich einmal ganz allein in der Welt als ein unnützes Geschöpf. Da bin ich einmal erbittert gegen sie, daß sie mir so etwas sagen dürfen, und einmal denk' ich, etwas wird doch daran sein, ich bin nirgends recht zu gebrauchen. Ich bin nicht, wie sie sind, und gehöre nicht zu ihnen; und zu andern, mit denen ich gern leben möchte, gehöre ich auch wieder nicht, weil ich so ungebildet bin und so unwissend, und zuletzt muß ich immer fühlen, daß sie doch recht haben und daß ich ein unnützes Geschöpf bin, das nirgends hingehört.«

Herr von Aschen hatte ruhig zugehört, wartete auch jetzt noch eine Weile, bis Doris Aufregung sich wieder gelegt hatte, dann sagte er in herzlicher Weise: »Weil es so steht, mein liebes Kind, so will ich nun auch etwas sagen, was ich dir sonst vielleicht nicht ausgesprochen hätte. Ich weiß nicht, was an deiner geistigen Ausbildung mangeln sollte. Was du als Mangel empfindest, das kannst du dir vorweg aneignen und tust es. Was es auch sei, worüber ich mit dir spreche, du kannst mir gleich folgen und verstehst mich. Alles, was du hörst und liest, fällt auf einen frischen, empfänglichen Boden, wird gleich verarbeitet und wird dein Eigentum. Wie du mir vorliest, ist für mich ein Genuß, wie er mir noch durch keinen Vorleser geworden ist. Ich empfinde völlig, wie du jedes Wort durchlebst, das du mir liest, deshalb fällt es auch gleich mit dem vollen Sinn in mein Ohr; es geht auch kein Pünktchen verloren und keines bleibt unklar, das ist eine wahre Wohltat, die du mir erweisest. Eine andere Art von Vorlesen, so wie ich sie kannte, könnte ich nicht mehr ertragen, ich wäre zu müde dazu. Aber noch größere Wohltat tust du an mir mit deiner weichen, geschickten Hand, die mir alles zurecht macht, ich weiß nicht wie, aber immer so, daß mir nichts mehr hart vorkommt, wo ich mich hinsetze oder lege, daß mich nichts mehr schmerzt, daß ich nichts mehr entbehre, daß meine Stube mir wie eine Heimat geworden ist. Aber noch tiefer hinein kannst du wohltun mit deinem liebevollen Herzen, deiner warmen Teilnahme an anderer Leid und Weh, wie ich es täglich von dir erfahre und mich daran erquicke, als am einzigen, das mich noch erquicken kann. Wie solltest du ein unnützes Geschöpf werden können, wenn du dich mit deinem frohen Wesen, deiner wohltuenden Hand, deinem warmen Herzen solchen nahen willst, die danach sich sehnen, wie ich es tat? Denke dir, wie viele Alte, Elende, Verlassene ihre Tage trost- und hilflos verbringen müssen. Du kannst Trost und Hilfe bringen, wo du hintrittst, und du willst es, wie könntest du denn je ein unnützes Geschöpf werden!«

Herr von Aschen hatte so warm gesprochen, und Doris Herz war von seinen Worten so bewegt, daß ihre Tränen auf seine Hände fielen, denn sie kniete immer noch an seinem Stuhl. Aber es waren keine bitteren Tränen, sie weinte in Dank und Freude. Nun erfaßte sie mit einer besondern Herzlichkeit die Hand ihres alten Freundes und sagte mit immer größerer Wärme: »O, Herr von Aschen, Sie sind so gut und lieb zu mir, wie nur ein Vater sein kann, und ich habe Sie auch so lieb wie einen Vater, und darum tut es mir immerfort so schrecklich weh, zu sehen, daß Sie noch immer den gleichen Schmerz um Ihre Tochter erleiden und daß gar kein Trost dafür in Ihr Herz kommen kann. Sie können es nicht ertragen, nur von ihr sprechen zu hören, solch ein Weh muß Sie doch ganz aufzehren. O, wenn doch ein Trost für Sie zu finden wäre! Es gibt nichts, gar nichts, das ich nicht für Sie tun könnte, um einen solchen Trost zu erringen!«

Auf Herrn von Aschens Antlitz, das eben noch mit einem freundlichen Lächeln sich über die Knieende gebeugt hatte, kam ein Zug tiefen Schmerzes. Dann sagte er mit bewegter Stimme: »Du kannst fühlen, liebes Kind, daß du mir nahe stehst, wenn ich dir ausspreche, was ich noch nie ausgesprochen habe; zu keinem andern hätte ich es tun können. Es ist nicht nur die Trennung von meinem Kinde, die mich alle die Jahre durch gequält hat und noch quält, es ist die Grausamkeit, die ich gegen sie ausüben konnte!«

»O, das ist unmöglich«, wollte Dori entgegen sagen, aber er fuhr gleich fort:

»Laß mich es aussprechen, es ist so! Ich wollte nie ein Wort von ihrem Weggehen hören, ich konnte, ich wollte es nicht glauben. Sie hätte so gern dann und wann ein Wort mit mir darüber gesprochen, was sie innerlich durchmachte, vielleicht durchkämpfte, ich konnte es nicht ertragen. Sie sah es, sie versuchte es nicht mehr. Ich hoffte fort und fort, sie werde wieder kräftig und gesund werden, das Schwere gehe vorüber, wie auch alle schweren Gedanken. So ließ ich sie allein, ganz allein alle schweren Gedanken, ach Gott, wohl tiefe, schwere Kämpfe durchmachen, ganz allein. In einer Nacht rief sie mich, sie hatte einen Anfall von Bangigkeit. Sie sagte: ›Komm zu mir, Vater, ich gehe wohl bald.‹ Ich aber wollte schnell Hilfe haben, der Anfall mußte vorübergehen, nur gleich Hilfe! Ich stürzte hinunter, den Arzt zu holen, es währte zu lange, erst jemand zu wecken. Wir kamen zurück – da lag das Kind – tot. O, meine Verzweiflung! Allein, ganz allein hatte sie in ihrem letzten Kampf gelegen, allein, allein hatte ich sie gelassen, so verlassen mußte mein Kind sterben.«

Herr von Aschen verbarg sein Gesicht in seine Hände.

»Nein, nein, Herr von Aschen, gewiß nicht!« rief Dori mit größter Lebhaftigkeit aus, während ihr vor Teilnahme für den leidenden Vater die Tränen über die Wangen rollten, »gewiß, sie ist nicht allein und verlassen gestorben. Sie hat nicht mit schweren Gedanken gekämpft, so allein in der Stille hatte sie ganz andere Gedanken. Ich weiß noch so gut, wie sie zu mir sprach, damals, als Sie hinausgingen, um das Bild zu suchen. Und so leuchtend waren ihre Augen, als sie zu mir sagte, sie sei so froh, daß sie so sicher wisse, der liebe Gott habe sie so lieb wie ihr eigener Vater und er wolle sie nur glücklich machen. Und leise für sich sagte sie immer die Worte aus unserm Lied:

›Nimm meine Hand,
Wird mich die deine leiten.
Geht's auch durch Nacht und tiefe Dunkelheiten,
An deiner Hand
Geht's in ein selig Land‹

und davon werde ihr so wohl! O, gewiß fühlte sie diese Hand, die sie schon festhielt und hinüber führte, so daß sie gar keinen Augenblick allein und verlassen war«, setzte Dori in warmer Überzeugung hinzu.

Herr von Aschen hatte den Kopf aus seinen Händen erhoben und schaute auf Dori mit einer Spannung und Erwartung, als ob jedes ihrer Worte ein rettendes Wunder für ihn wäre. Er atmete tief auf, als sie schwieg.

»Dori, du weißt nicht, was du an mir tust«, sagte er und seine Stimme zitterte vor tiefer Erregung. »Besinne dich, besinne dich doch noch einmal recht auf jedes Wort, so daß du ganz sicher sein kannst, so sprach mein Kind zu dir, und dann sag mir noch einmal die Worte alle, auf daß sie in den langen Nächten voll Schmerz und Leid einen Lichtstrahl des Trostes in mein gequältes Herz werfen.«

Dori wollte gern sich noch besinnen, aber sie konnte Herrn von Aschen fest versichern, der wunderbar leuchtende Ausdruck auf dem Gesichte des kranken Fräuleins und ihre Worte der frohen Zuversicht seien so lebendig in ihrer Erinnerung geblieben, daß sie für diese ganz einstehen und sie durchaus nur ganz gleich wiederholen könne. Aber etwas stieg noch in ihrer Erinnerung auf, das die Kranke noch ausgesprochen hatte, wie sie so gern zu ihrem Vater von ihrer sicheren Hoffnung gesprochen hätte, um ihn auch froh zu machen. Aber sie wußte ja, daß er den Gedanken an eine Trennung nicht ertragen konnte.

.

Schon lange war die Nacht da, aber weder Dori noch Herr von Aschen hatten es bemerkt. Unverwandt lauschte er den Worten, die so warm von den Lippen der Erzählerin flossen; durfte diese doch nun endlich von dem Fräulein, das ihr so lieb geworden und dessen schnelles Wegsterben ihr so weh getan hatte, zu dem Vater sprechen und ihm alle Erinnerungen an sein Kind mitteilen, die sie in ihrem Herzen mit solcher Liebe bewahrt hatte. Jetzt wurde so fest an die Türe geklopft, daß Dori erschrocken aufsprang. Es war Frau Anne, die hereintrat und mitten im Zimmer still stehend, vorwurfsvoll bemerkte: »Wenn der Herr einmal etwas essen wollte, so würde es ihm besser tun, als nur reden.«

Herr von Aschen erhob sich in seinem Lehnstuhl: »Ja, Sie haben recht, meine gute Frau Anne«, sagte er freundlich, »bringen Sie mir nur, was Sie wollen.«

Sie entfernte sich wieder. Dori nahm nun schnell Abschied und ging. Aber noch bevor sie die Tür geschlossen, kehrte sie wieder um, es arbeitete etwas in ihrem Herzen. Die Art der Frau Anne und einige Worte, die der Kranke ausgesprochen, ließen ihr keine Ruhe.

»O, wenn ich nur um etwas bitten dürfte, Herr von Aschen! Darf ich wohl?« fragte sie zögernd.

»Gewiß darfst du, und ich will es auch gewähren, wenn es nicht über meine Kräfte geht«, entgegnete er lächelnd.

»Herr von Aschen, Sie haben oft so lange Nächte, Sie leiden und sind ganz allein, darf ich nicht von jetzt an bei Ihnen bleiben die Nacht durch? Ich setze mich in Ihren Lehnstuhl an Ihr Bett und bin ganz still und schlafe auch, wenn Sie wollen, nur damit Sie nicht so allein sind. Erlauben Sie mir's doch.«

Dori hatte bittend seine Hand erfaßt.

»Das ist ja, was ich oft schon selbst gewünscht habe, liebes Kind. Aber deine Mutter? Nein, nein, und du könntest darunter leiden, es kann nicht sein«, wehrte Herr von Aschen, aber in einer Weise, daß Dori wohl fühlte, es war nur um ihretwillen. Sie küßte seine Hand und ging.

Ihr Herz war so voller Freude, daß ihr vorkam, als frohlocke ringsumher alles mit ihr. Vom Himmel leuchteten in heller Freude die Sterne auf sie nieder, unten zogen die Wellen des Inn mit jauchzendem Rauschen dahin, sogar über dem schwarzen Pisoc lag ein lichter Streifen, wie ein Schimmer fern winkender Freuden, und in ihrem Herzen hörte sie immer wieder die guten Worte ihres väterlichen Freundes, der ja wußte, was er ihr sagte. Nein, ihr Leben konnte nie leer werden, sie war kein unnützes Geschöpf und würde nie ein solches sein. Es lag in ihrer Macht, wohlzutun, und solchen Menschen wohlzutun, wie Herr von Aschen war. Er war ja doch einer von denen, die sie hoch verehrte, von welchen sie sich in ihrem Herzen bisher hatte sagen müssen: Zu denen gehörst du nicht. Und nun wußte sie, sie war imstande ihm wohlzutun, er hatte sie lieb, so als wäre sie sein Kind, er selbst hatte es ausgesprochen. Dori hätte laut zu den leuchtenden Sternen aufjauchzen mögen.

Siebzehntes Kapitel

Dori war mit dem völligen Einverständnis ihrer Mutter ganz nach der Villa übergesiedelt, um Herrn von Aschen nach ihrem Herzen pflegen zu können. In den langen Stunden der Nacht, die er durchwachte, saß Dori mit nie ermüdender Sorge an seinem Bett. Wie wohltuend ihm ihre Nähe war, konnte sie fühlen. Immer wieder suchte er ihre Hand und hielt sie fest. Er hatte es gern, wenn sie zu ihm sprach, und was sie auch zu erzählen begann, in kurzer Zeit war sie wieder bei ihren Erinnerungen an das Fräulein, das wie ein Engel auf ihren Weg getreten war, ihr so gute Worte gesagt und ihrem Vater noch die letzte Freude bereitet hatte. Dori fühlte auch wohl, daß der Vater, nachdem er einmal sein Leid ausgesprochen hatte, am liebsten immer wieder von seinem Kinde hören wollte und gern sich nun in die Erinnerungen an die vergangenen Tage versenkte, da das geliebte Kind bei ihm und die Freude seines Lebens war.

Lang schon hatte Dori Herrn von Aschen erzählt, wie dort am sonnigen Berghang sitzend und malend ihr Vater sie das Lied singen gelehrt, welches sie dem Fräulein aus dem kleinen, ihr geschenkten Buch hatte vorlesen müssen.

Herr von Aschen hatte gewünscht, daß sie es ihm vorsinge. Seitdem hatte er Dori oft gebeten, ihm etwas zu singen, was es war, alle ihre Lieder hörte er gern, ihre Stimme tönte wie die der Vöglein im Frühling so lieblich und wohltuend in sein Herz hinein, sagte er.

Eben hatte Dori das kleine Licht für die Nacht bereit gemacht, Flasche und Tassen und Becher und was sie während der Nacht zu brauchen gedachte, zusammengestellt und setzte sich nun in ihren großen Lehnstuhl zurecht. Alles war so leise ausgeführt worden, daß keiner ihre Gegenwart geahnt hätte, der nicht davon wußte.

Der Kranke hatte die Augen schon seit einiger Zeit geschlossen, darum nahm Dori sich noch besonders in acht, daß keine ihrer Bewegungen den vielleicht leise Schlummernden störe.

Jetzt waren ihre weit offenen Augen mit einem liebevoll forschenden Ausdruck auf das blasse Antlitz des Kranken gerichtet. Auch er hatte die Augen geöffnet.

»Schlafen Sie denn nicht, Herr von Aschen? Sie haben doch keine Schmerzen?« fragte Dori, sich teilnehmend über ihn beugend.

»Nein, nein, ich wartete, bis du hier neben mir sitzest und mir noch ein Lied singest«, sagte der Kranke.

Das wollte Dori mit Freuden tun, er sollte nur sagen, was er zu hören wünsche.

»Sing das Lied, das du in meines Kindes Buch gefunden hast«, wünschte er.

»O ich weiß, Sie meinen das erste, das ihr selbst so lieb war; nachher habe ich noch viele daraus gelernt, aber Sie meinen wohl das.« Und Dori begann zu singen und fuhr fort, da Herr von Aschen zustimmend nickte:

»Nimm meine Hand,
Wird mich die deine leiten.
Geht's auch durch Nacht
Und tiefe Dunkelheiten,
An deiner Hand
Geht's in ein selig Land.«

Als Dori so weit gesungen hatte, sagte Herr von Aschen: »Und du sagst, daß mein Kind so von diesem Liede sprach, als sei sie fest überzeugt von dem, was diese Worte sagen, so als hätte sie schon ein Erfahren davon im Herzen, sagtest du nicht so?«

»Ja, ja, so war es«, bestätigte Dori eifrig. »O und hätten Sie nur ihre Augen gesehen, wie sie mir sagte, das Lied sage sie sich so gern vor, es war, als schauten sie schon in das selige Land hinein.«

»Wie kam das Kind nur zu diesem festen Glauben? Sie mußte ihren Weg so allein machen, an mir hatte sie keinen Führer, ich war ihr kein rechter Vater.« Der Kranke wandte sich schmerzlich stöhnend ab.

Das ging Dori sehr zu Herzen: »Aber Herr von Aschen, das Fräulein hatte den allerliebevollsten Vater, den man nur haben kann, das weiß ich von ihr selbst«, versicherte Dori, »wenn Sie ihr nicht selber den Weg gezeigt haben, der sie so glücklich machte in allem Leid, so hat sie ihn vielleicht gerade mit um so größerem Verlangen nach Trost und Hilfe gesucht, weil sie ihre schweren Gedanken allein durchkämpfen mußte und nicht mit Ihnen von ihrer Krankheit sprechen durfte. So hatten Sie ja auch einen Teil daran, daß sie glücklich wurde durch den gefundenen Trost.«

Herr von Aschen hatte sich wieder zu Dori gewandt. Mit einem traurigen Lächeln sagte er: »Du meinst es gut mit mir. Wie du kann ich freilich nicht denken. Ich kannte ja den Weg auch einmal, ich hatte eine fromme Mutter. Der Segen dieser Großmutter lag auf meinem Kinde. Sie hat es in ihre Arme genommen, als das Kind so früh schon seine Mutter verlor. Leider konnte sie es nur wenige Jahre pflegen, dann ging auch sie von uns. Ja, wer die Wege seiner Kindheit noch einmal betreten könnte, die alten guten Wege«, setzte er wie für sich hinzu.

»Kann man nicht zurückgehen und sie wieder aufsuchen?« fragte Dori, einen halb scheuen, halb bittenden Blick auf den Kranken werfend.

»Wie einen Weg wieder finden, den man seit den Tagen seiner Kindheit nicht mehr gekannt hat, er ist mir wie verschüttet«, sagte leise der Kranke.

»Aber wo man an einem verschütteten Weg steht, darf man doch um Hilfe rufen«, sagte Dori, zuversichtlicher gemacht dadurch, daß der Kranke zu sprechen fortfuhr.

»Um Hilfe rufen, wenn man dem, der helfen sollte, ein Leben lang den Rücken gekehrt hat, um seinen eigenen Weg zu gehen, ihm nicht einmal für ein schönes reiches Leben gedankt hat! Nein, nein, wie sollte ich Hilfe verdienen?« Der Kranke wandte sich ab.

Aber Dori sah wohl, daß es nicht war, um zu schlafen; er stützte seinen Kopf auf den Arm und blieb so, schweigend und in seine Gedanken versunken, der Wand zugekehrt.

»Ich möchte noch etwas sagen, wenn Sie nicht müde sind«, fing Dori wieder an.

»Sprich nur, Kind, sprich nur«, der Kranke kehrte sich wieder zu ihr.

»Es gibt doch noch etwas anderes als verdienen, das haben doch die Menschen vom lieben Gott gelernt. Wenn ein Mensch noch so viel verbrochen hat und schon verurteilt ist, so darf er ja doch noch um Gnade bitten und kann auch noch begnadigt werden.«

Herr von Aschen hatte Doris Hand ergriffen, er schwieg. Nach langer Zeit, als Dori dachte, ihr Kranker sei längst eingeschlafen, hörte sie, wie er halblaut vor sich hin sagte: »Ja, um Gnade bitten, du hast das rechte Wort gefunden, Dori.«

Herr von Aschen war sehr schwach geworden. Er erhob sich aber jeden Morgen und brachte den Tag in seinem Lehnstuhl zu, an dem Fenster sitzend, das ins Tal hinunterschaute.

Wenige Tage nach der nächtlichen Unterredung mit Dori wollte der Kranke von seinem Arzte wissen, auf welche Zeit er wohl seine Heimreise festsetzen dürfte, er wolle sich von einem Neffen abholen lassen. Der Arzt zuckte die Achseln. Er meinte, Herr von Aschen sollte eher daran denken, in seiner Villa zu überwintern. Er könnte ja seinen Verwandten herkommen lassen, um doch einige Gesellschaft an ihm zu haben, schlug der Arzt vor. Als er sich entfernt hatte und Dori wieder am Bette des Kranken stand, winkte er ihr, daß sie sich zu ihm hinsetze. »Ich möchte dir einen Brief diktieren«, sagte er. »Ich habe meinen Arzt verstanden, er wünscht, daß ich meine Verwandten benachrichtige, ich werde nicht mehr zu ihnen, sie sollen zu mir kommen. Nimm dieses Papier hier, Dori, und schreib erst diese Adresse. Das ist der Name meiner Schwester in Hamburg; nur diese einzige Schwester habe ich, aber sie hat eine große Familie, fünf Söhne und drei Töchter. Einer der Neffen wird wohl kommen, ob er mich noch findet, ist die Frage. Nun schreib, liebes Kind.«

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Dori wischte erst die Tränen weg. Seit drei Tagen hatte sie heimlich manche weggewischt, es war ihr nicht entgangen, wieviel schwächer der Kranke von Tag zu Tag geworden war. Als sie den Brief zu Ende gebracht, trug sie ihn zur Frau Anne hinaus, damit diese ihn zur Post bringe. Als Dori wieder hereintrat, sah sie, wie Herr von Aschen in den Lehnstuhl zurückgesunken war, er schien zu schlummern, durch das offene Fenster hörte man die Glocken aus dem Tal heraufklingen. Dori setzte sich leise neben den Kranken hin.

»Du hast so schön gesungen, Kind«, sagte er mit leiser Stimme, »willst du nicht fortfahren?«

»Ich habe nicht gesungen, ich glaube, Sie haben die Klänge der fernen Glocken gehört«, entgegnete Dori. »Es ist Sonntag und sie läuten überall im Tal.«

»Es war so schön! Ich glaubte deutlich zu hören, wie du mit einer hellen Glockenstimme das Lied sangst, das mein Kind liebte.« Herr von Aschen sprach kaum hörbar.

Dori hatte ihn noch nie so müde gesehen. Sie legte ihren Arm um seinen Hals, damit er sich an sie lehne.

Er hielt ihre Hand fest: »Geh nicht mehr von mir, Kind, mir ist, als bete immer jemand für mich, wenn du bei mir bist. Willst du mir jetzt meines Kindes Lied singen?« Seine Worte waren immer leiser geworden.

Dori wollte singen, sie konnte nicht. Sie sagte die Worte, die sie singen sollte, mit zitternder Stimme Herrn von Aschen vor, indem ihre fallenden Tränen seine Hände benetzten. Er hatte sich auf ihren Arm zurückgelegt, Dori fühlte, er hatte zu atmen aufgehört. Gewiß war er ins sel'ge Land hinübergegangen. Sie nahm seine Hände und legte sie ineinander. Dann kniete sie neben ihm nieder und weinte leise, ihre Hände über den seinigen gefaltet, sie konnte nicht von ihm weggehen.

Es war eine gute Zeit vergangen, da trat der alte Melchior ins Zimmer, der Herrn von Aschen fast täglich einen kleinen Besuch machte. Auf sein Klopfen hatte niemand gehört, es war alles so still drinnen und doch mußte Dori da sein. So war er hereingetreten. Er hatte geahnt, was drinnen möchte geschehen sein. Leise trat er heran und legte die Hand auf die Schulter der weinenden Dori. »Du hast nun das Deine getan«, sagte er, eine Träne wegwischend, »geh du nun heim, Dori, was für ihn noch zu tun ist, das muß ich tun. Deine Dienste haben ihm wohlgetan, den meinen muß er nicht mehr fühlen. Lob und Dank sei Gott, der ihm das Irdische so leise abgenommen hat.«

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Dori drückte noch einmal die kalten Hände und ging. An der Türe kehrte sie sich noch einmal um. Melchior stand mit gebeugtem Haupt und gefalteten Händen vor dem Entschlafenen. Ja, solchen Händen konnte sie die Hülle ihres geliebten zweiten Vaters getrost überlassen. Am Abend desselben Tages trat Melchior noch bei Dorothea ein. Er hatte eine Nachricht zu bringen, die Dori heute noch wissen mußte, denn was mit Herrn von Aschen zusammenhing, ging sie ja hier am nächsten an, meinte Melchior. Er setzte sich zu den Frauen hin und erzählte ihnen, wie er nach Doris Weggehen den Entschlafenen nach seinem Lager getragen und hingelegt und dann nach dem Arzt gegangen sei, ihn zum letzten Besuch zu holen und um seinen Rat zu bitten, was nun zu tun sei. Der Arzt kehrte gleich mit ihm zurück. Wie sie der Villa sich näherten, sahen sie eben einen Wagen vorfahren, ein junger Mann trat ins Haus. Er stand bewegt an des Entschlafenen Bett, als sie hereintraten, die Pflegerin hatte ihn gleich dahin geführt. Es war der Neffe des Herrn von Aschen. Die letzten Briefe, die der Onkel an seine Verwandten geschrieben, hatten diese beunruhigt und man hatte beschlossen, der älteste Neffe sollte herreisen und dem Onkel Gesellschaft leisten, bis er kräftig genug zu der weiten Reise wäre. Der junge Herr hatte dann mit Hilfe des Arztes alles angeordnet, um den Onkel nun in einer andern Weise mit nach der fernen Heimat zu bringen, wo er in einer Familiengruft neben seiner Tochter bestattet werden sollte.

Dori hatte leise weinend zugehört. Jetzt rief sie schluchzend aus: »Ach, daß ein so guter Mensch nicht mehr da ist! Gewiß war er für viele ein Wohltäter, und andere bleiben da, die für keinen Menschen eine Lücke hinterlassen würden.«

»Dori, Dori«, sagte Melchior mahnend, »meinst du, unser Herrgott wisse nicht, was für jeden das Rechte sei? Meinst du, du solltest ihm ein wenig in der Weltregierung nachhelfen? Aber du erinnerst mich mit deinen Worten zur rechten Zeit, daß ich dir noch etwas zu sagen habe, das hätte ich über unserm Verlust fast vergessen. Ich habe dich schon wieder an jemand so halb und halb versprochen, ich meine, da könntest du ganz wünschbar eine Lücke ausfüllen, was wohl das Bessere für dich sein wird, als eine solche zu hinterlassen. Da ist die Mutter des kleinen lahmen Jungen im Kurhaus, die in diesen Tagen zu verreisen wünscht und mich um eine Pflegerin angefragt hat. Wolltest du nicht hinaufgehen, mit ihr zu sprechen, Dori? Ich habe dich genannt als die rechte Hilfe, wenn du frei wärest, und nun bist du's ja.«

Dori war in dem Augenblick alles gleichgültig, ob sie etwas zu tun habe oder nicht.

Dorothea aber wußte wohl, wie wohltuend eine neue Tätigkeit für ihre Tochter sein würde nach der großen Leere, die Herrn von Aschens Tod ihr hinterlassen mußte. Sie dankte Melchior für seine Empfehlung und versprach, daß Dori sich der Sache annehmen werde, wenn es sich finde, daß sie dazu passe.

Melchior hatte einen letzten Gang in Herrn von Aschens Dienst zu tun, für sein Reisebettlein zu sorgen, wie er sich ausdrückte, dann ging er.

Achtzehntes Kapitel

Der junge Herr hatte mit der Hülle seines Onkels das Tal verlassen. Die Villa stand geschlossen. Dori mochte den Weg, der ihr vor allen lieb gewesen, nicht mehr betreten, er führte ja an dem geschlossenen Hause vorüber, das öde und leer aussah und in Doris Herzen ein tiefes Leid erweckte. Es war ja überhaupt so öde und leer geworden, daß in Dori oft ein Gefühl aufstieg, als gehe alles Leben für sie zu Ende, so wie draußen alles Leben dem Ende zuging. Die Blumen waren verwelkt und die Blätter fielen von allen Bäumen.

In Herrn von Aschens Nachlaß hatte sich ein geschlossener Brief an Dori vorgefunden, der ihr übersandt worden war. Er enthielt die herzlichsten Worte des Dankes für alles, was sie für den Kranken gewesen war, das er als nie zu vergeltende Wohltaten von ihr empfangen habe. Was er ihr zurücklassen möchte, das tue er in dem Sinne, daß Dori ihrem guten Herzen folgen und andern wohltun könne, wie und wo es ihr Freude machen würde. Ein ansehnliches Wertpapier war beigelegt. Dori hatte die Worte, die mit zitternder Hand sichtlich in den letzten Tagen des Geschiedenen geschrieben waren, mit nassen Augen an ihre Lippen gedrückt. Das Papier hatte sie weggelegt.

Dori hatte Melchiors Aufforderung nicht vergessen; aber ihr Herz und all ihre Gedanken waren noch so mit Herrn von Aschen beschäftigt, daß sie meinte, sie könnte für keinen andern mehr recht sorgen, nun sie es für ihn nicht mehr tun könnte. Zwischendurch sah sie plötzlich die forschenden Augen des kleinen Kranken wie mit einem vorwurfsvollen Blick auf sich gerichtet, so als wollte er sagen: Warum kommst du denn nicht? Er hatte sie ja selbst damals im Garten dazu aufgefordert, zu ihm zu kommen. Das hatte er freilich wohl längst vergessen und ihre Person dazu. Aber sie wollte doch nun hingehen, schon um Melchiors willen, der sie schon angemeldet hatte und es ungern sehen würde, wenn sie zu lange ausbliebe. Für ihn wollte sie gern tun, was ihm lieb war, hatte er sie doch zu Herrn von Aschen gebracht.

An einem der letzten Septembertage wanderte Dori das Tal hinauf, dem Kurhaus zu. Ein eisiger Wind blies ihr entgegen und jagte pfeifend über die kahlen Wiesen hin. Auf den Bergen lagen dichte graue Wolken. Will denn schon der Winter kommen? fragte sich Dori schauernd. Im Kurhaus angekommen, ließ sie sich nach Melchiors Anweisung bei Frau Lichtenstern melden.

Sie wurde ins Zimmer der Dame geführt. Diese saß vor einem großen Haufen beschriebener Papiere, welche sie ordnete. »Einen Augenblick warten«, sagte sie, indem sie in ihrer Beschäftigung fortfuhr.

Das Zimmer war sehr groß. Weit drüben am andern Ende stand der kleine Rollwagen mit dem kranken Knaben. Er mußte geschlafen oder sonst tief drinnen gelegen haben, Dori hatte ihn zuerst nicht erblickt.

Jetzt fuhr er plötzlich in die Höhe. »Bist du nun gekommen? Warum kamst du so lange nicht?« rief er Dori zu, »komm hier zu mir herüber, komm!« Er winkte Dori mit großer Lebhaftigkeit zu sich heran.

Die Dame hatte sich umgewandt. »Wie kannst du so unpassend zu einer Fremden sprechen, Willi«, sagte sie tadelnd. »Und Sie, wollen Sie näher treten?«

»Sie ist keine Fremde, ich kenne sie gut«, rief der Kleine dazwischen, »ich habe ihr gesagt, sie soll zu mir kommen, sie gehört auch zu niemand.«

»Du schweigst, Willi, kein Wort mehr«, gebot die Dame in einer Weise, daß der Kleine unter die Decke kroch. »Sie sind mir empfohlen als vorzügliche Kranken- und Kinderpflegerin«, fuhr die Dame zu Dori gewandt fort. »Sind Sie geneigt, die Pflege dieses Knaben zu übernehmen, die wohl von längerer Dauer sein wird? Sein Zustand ist nicht heilbar. Meine Zeit ist so sehr in Anspruch genommen von ganz anders wichtiger Arbeit als Kinderpflege, wie Sie sehen können –«, die Dame deutete auf ihre mannigfachen Papiere, – »so daß ich einer Pflegerin für diesen Jungen bedarf, die ihn völlig übernimmt. Sind Sie dazu geneigt?«

»Ich verstehe nicht recht, wie die Dame das meint, daß ich den Jungen übernehmen soll«, entgegnete Dori.

»Sind Sie unabhängig?« warf die Dame hin.

Dori wußte abermals nicht recht, was mit der Frage gemeint war. »Ich lebe mit meiner Mutter und denke nicht daran, sie zu verlassen«, war ihre Antwort.

»Dann werden Sie die Persönlichkeit nicht sein, die mir notwendig ist«, bemerkte die Dame. »Ich muß in den nächsten Tagen nach Hause zurückkehren. Der Arzt hat mich aufgefordert, diesen Jungen für einige Jahre in ein wärmeres Klima zu versetzen, wo er sozusagen immer an der frischen Luft sein könnte. Ich suche eine Pflegerin, die lag vor ihren Augen. Aber die Mutter, was würde nun die Mutter sagen? Wenn der Jammer ausbrechen sollte und die Tränen! Jetzt fing eine große Angst an, Doris Herz zusammenzuschnüren. Sie stand an der Tür – einen Augenblick zögerte sie, nun machte sie auf.

Dorothea saß bei ihrer Arbeit. Sie hob den Kopf auf und schaute mit Staunen in die strahlenden Augen ihres Kindes. »Was ist's, Dori, was ist mit dir?« fragte sie lächelnd.

»Mutter, o fang nur nicht an zu weinen und zu jammern!« bat Dori, sie umschlingend, »ich möchte heim, Mutter, ich weiß wie, ich habe eine Arbeit. O, Mutter, komm doch mit mir heim! Wir wollen gehen, ehe der Winter wiederkommt. O, heimgehen, Mutter, wieder heim!«

Dorothea war ganz bleich geworden, aber sie weinte nicht. »Dori«, sagte sie mit einer Stimme, in der es wie Freude klang, »ich werde ja nicht jammern, wie oft habe ich heimlich selbst so gedacht; aber wie durfte ich es sagen! Und seit es so mit Niki Sami gegangen ist, habe ich ja hundertmal im stillen gedacht: Zurückkehren wäre das beste für dich und mich. Aber wie könnten wir das? Wir können nicht machen, wie wir wollen, Dori.«

Aber Dori jubelte laut auf. »Nun können wir, Mutter, nun ist alles gewonnen. Ich hatte ja nur die eine große Angst, du wolltest nicht mehr heim, weil hier deine Heimat war.«

»Ja war, Dori«, wiederholte die Mutter, »du sagst es recht. Ich bin so jung weggeführt worden von deinem Vater und mir war immer, als habe ich erst an seiner Seite zu leben angefangen, mit ihm und da, wo er war. Dann kamst du und warst daheim in dem sonnigen Land und ich mit dir. Und hier fühlte ich es bald, wie es war mit dir. Du bist nicht aus diesem Boden herausgewachsen, es ist so, als wärest du ein Kräutlein, das nicht hierher gehört, um zu gedeihen und seines Lebens froh zu werden. Du könntest dich nie hier daheim fühlen und deine Heimat nur kann meine Heimat sein. Aber immer muß ich wieder sagen: Wie sollte es sein können, Dori, daß wir zurückkehrten?«

Dori mußte erst dem Jubel ihres Herzens freien Lauf lassen, daß die Mutter mit ihr vollkommen übereinstimmte, daß ihr alle Angst darüber für alle Zeiten vom Herzen genommen war. Dann konnte sie endlich erzählen, wie sie zu dem Gedanken gekommen war, daß ihr bei den Worten der Dame gleich das Felsenhaus auf der sonnigen Höhe von Cavandone vor Augen gestanden habe, und daß der kleine Rollwagen nirgends auf Erden so schön im warmen Licht des Himmels hin- und hergestoßen werden könne, wie auf der Terrasse am sonnigen Felsenhaus. Nur der Gedanke an die Mutter hatte sie abhalten können, gleich alles so zu schildern, daß die Dame gewiß die Abreise sofort gewünscht hätte. Nun stiegen aber doch schwere Bedenken bei der Mutter auf, ob nicht zuviel gewagt werde, ein eigenes Haus zu verlassen, das vielleicht nicht verwertet werden konnte, und ein anderes wieder zu übernehmen, das doch große Ausgaben erforderte. Aber Dori ließ keine Sorge mehr aufkommen. Sie bewies der Mutter, daß die Dame wohl wisse, was sie übernehme, wenn sie für Jahre eine Pflegerin mit einem Kinde ins Ausland schicke. Dann sei doch etwas weniges von dem Hause hier auch zu beziehen, man könnte es doch auch verkaufen.

Dorothea ließ sich gern von ihren Befürchtungen abbringen, sie war nur zu froh, daß Dori so bestimmt und voller Zuversicht die Sache in die Hand nahm. Nun diese der Zustimmung der Mutter sicher war, sah sie keinen Grund mehr vor sich, warum sie die Dame noch länger auf Antwort warten lassen sollte, konnte sie selbst es ja auch kaum abwarten, alles festzusetzen, um die Rückkehr nach ihrer Heimat mit Gewißheit vor sich zu sehen. Wenn sie gleich noch einmal nach dem Kurhaus hinaufliefe? Dorothea meinte, morgen wäre es ja noch früh genug; aber das Heute war Dori sicherer. Sie lief. Eine übereinstimmendere Seele als Frau Lichtenstern hätte Dori für ihre Wünsche gar nicht finden können.

Die Dame, die diesmal im Gesellschaftssaal gesucht werden mußte, kam sofort herbeigelaufen und war hoch erfreut über Doris Mitteilungen. Daß da noch eine Mutter war, die mitreiste und mitlebte, befriedigte sie sehr. Sie machte nun gleich Dori einen Vorschlag, wie es mit ihren Bemühungen um den Jungen und sodann mit seiner und ihrer Lebensunterhaltung gehalten werden sollte. Dori ging erfreut auf alles ein, sie wußte, das konnte sie, denn die Berechnungen der Dame für den Lebensunterhalt waren sehr verschieden von denen, die sie selbst kannte, aber nicht zu ihrem Nachteil verschieden.

»So bliebe uns nur noch übrig, den Tag der Abreise festzusetzen«, meinte Frau Lichtenstern. »Was meinen Sie von heut in vier Tagen? Ich habe Eile, fortzukommen. Sie werden es einrichten, daß wir so reisen können.«

Doris Herz klopfte vor Wonne. In vier Tagen schon der sonnigen Heimat zu! Aber die Mutter? Dori sagte, für sie wäre noch viel zu besorgen, vielleicht würde die Mutter sich zu so schneller Abreise nicht entschließen können. Aber Frau Lichtenstern bewies unumstößlich, daß jeder Tag darüber hinaus zu viel wäre, daß plötzlich der Winter hier in den Bergen einbrechen könnte, so daß am Ende diese Bergpässe gar nicht mehr zu überschreiten wären und man den ganzen Winter durch in der Talenge lebendig eingemauert säße. Dori versprach, zu tun, was ihr möglich sei und wollte nur noch einige Anweisungen über die Behandlung ihres künftigen Zöglings haben. Aber Frau Lichtenstern ging nicht darauf ein. Sie sagte, schöne milde Luft und gesunde Kost sei die Hauptsache, das übrige werde die Intelligenz der Pflegerin ihr schon eingeben. Dann ging sie auf einige andere Gegenstände über, die Dori nicht zu besprechen verstand. So stand sie auf, um sich zu entfernen.

Dorothea war es geradezu, als wollte die Welt über ihrem Kopf zusammenfallen, als sie hörte, in vier Tagen sollte alles verpackt, besorgt und sie zur Reise bereit sein.

»Aber Dori, siehst du denn auch nicht ein, daß es völlig unmöglich ist!« jammerte sie. »Was meinst du denn auch! Alles das Hausgerät! Alle die großen Stücke, die man nicht mitnehmen kann. Das Haus selbst. Wie kannst du auch nur einen Augenblick an so etwas Unmögliches denken!«

Aber Dori sah keine Unmöglichkeit vor sich. »Laß mich nur machen, Mutter, in drei Tagen will ich mit allem fertig sein«, sagte sie zuversichtlich. »Die Sachen, die nicht mitgenommen werden, übergeben wir dem Melchior, der besorgt uns das besser als wir selbst. Wir könnten ja ein Jahr lang warten, bevor wir das Zeug losgeschlagen hätten. Das Haus übergeben wir ihm ebenfalls, er weiß besser, was damit zu machen ist, als wir es wüßten.«

»Aber die Nonna, die Verwandten, was wird die Nonna sagen! Was werden sie alle sagen! O wie wird alles noch kommen!« jammerte Dorothea wieder.

Dori ließ sich nicht entmutigen. Sie schlug vor, gleich zur Nonna zu gehen, ihr alles zu erklären und sie zu fragen, was mit dem Haus geschehen soll. Aber der Gedanke, welchen Eindruck der Entschluß bei der Nonna und den übrigen Verwandten hervorbringen würde, war für Dorothea das Schrecklichste. Erst mußte sie den Mut erlangen, das Geständnis des Vorhabens abzulegen.

Dori kannte die Mutter gut genug, um zu wissen, daß sie durchaus eine Zeit der ruhigen Vorbereitung bedürfe, um etwas auszuführen, das ihr einen solchen Schrecken einflößte. Sie setzte sich darum ganz fest an den Tisch hin, so als habe sie im Sinn, eine lange Zeit nicht wieder aufzustehen.

»Komm Mutter, heute bleiben wir noch ganz ruhig da, so als hätten wir gar nichts vor«, sagte sie, der Mutter einen Sitz neben sich zurecht machend, »ich habe dir ja auch noch viel mitzuteilen, vor allem noch die Verhandlungen mit Frau Lichtenstern.« Dori hatte den rechten Weg eingeschlagen. Über ihre Mitteilung der Vorschläge, welche die Dame gemacht, und Doris eifrigen Beweisen, wie aus diesen Mitteln in der alten Heimat ein herrliches Leben geführt werden könne, vergaß Dorothea die erschreckende Aussicht und kam weit darüber hinaus mit ihren Gedanken. Sie mußte ausrechnen, ob Doris Beweise richtig seien, ob es wirklich eine Möglichkeit wäre, das alte Leben wieder aufzunehmen. Es kam ihr selbst so schön vor, daß sie es kaum glauben konnte. »Aber das kann ich nicht begreifen«, fuhr Dori in ihren Mitteilungen fort, »daß Frau Lichtenstern mir durchaus keine Anweisungen geben wollte, wie ich den kleinen Jungen zu behandeln habe. Auf meine Frage danach erwiderte sie ganz kurz, die Behandlung des Kindes werde mir die eigene Vernunft eingeben, und sie sei eben jetzt sehr in Anspruch genommen durch die neuesten politischen Ereignisse, das europäische Gleichgewicht sei sehr bedroht. Kannst du denn begreifen, wie so etwas sein kann, daß eine Mutter, die ihr Kind von sich geben muß und dazu noch ein krankes, sich viel mehr darum kümmert, ob Europa das Gleichgewicht verloren hat, als darum, ob das Kind auch so behandelt wird, wie es sein Zustand erfordert?«

»Nein, nein, das begreif' ich nun schon nicht«, bestätigte Dorothea, »aber ich bin ja auch eine so einfache Frau, für mich waren ja mein Mann und mein Kind alles. Nun bedenk aber eine solche Frau, die so viel kennt und weiß, die muß ja so viel zu denken und zu wirken haben, so Großes, daß ich es nur gar nicht verstehe.«

»Ich meine, gerade eine Mutter müßte sich am meisten freuen, daß sie so viel kann und weiß, weil sie es ihren Kindern zugute kommen lassen kann und ihnen von klein auf immerfort das Beste geben kann, was es auf Erden gibt«, meinte Dori. »Wenn ich denke, welche Freude ich hatte, als ich sah, wie aus dem wilden Kätzchen von Marietta ein ganz nettes Menschenwesen sich entwickelte, nachdem es zu uns kam, etwas lernte und sah und hörte, wie man sein sollte, da meine ich, es müßte doch die allergrößte Freude für eine Mutter sein, aus ihren Kindern das Allerbeste zu machen, und wer selbst so viel ist, der hätte ja so viel zu geben. Ich meine, die Menschen fangen schon als ganz kleine Kinder an, das aufzunehmen und zu werden, was die sind, die ihnen am nächsten stehen und mit ihnen leben. Nun denk nur, Mutter, welch ein Unterschied für ein Kind das ist, wenn eine solche vorzügliche Frau ganz mit ihren Kindern lebt, so daß diese nur immer das Beste und Höchste sehen und hören, oder wenn die Kinder Leuten überlassen werden, die selbst nicht viel Gutes kennen und wissen. Ich weiß recht gut, was ich meinem Vater verdanke, dem ich nicht von der Seite kam, solang ich mich nur erinnern kann.«

»Wir können gewiß die Sache nicht so recht beurteilen, Dori«, meinte die Mutter, »es ist doch vielleicht etwas sehr Großes, wenn eine Frau solche Kenntnisse hat, daß sie Dinge beurteilen kann, von denen wir ja nicht einmal einen Begriff haben, was es sein könnte; ich einmal weiß nun gar nicht, was ein europäisches Gleichgewicht ist. Eine solche Frau kann vielleicht große Dinge ausführen, von denen wir gar nichts wissen, so daß wir vielleicht anders denken müßten, wenn wir etwas davon verstehen könnten.«

Dori war nicht so leicht zu überzeugen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nun einmal, daß eine solche Frau doch nichts machen kann, daß Europa wieder ins Gleichgewicht kommt, wenn es einmal daraus gekommen ist; daß ihr aber die Kinder nicht aus dem Gleichgewicht kommen, kann sie sicher am besten verhüten und daran müßte ihr doch am besten gelegen sein. Sie hat selbst zuerst die Freude und den Gewinn davon und dann die andern Menschen auch und das ganze Land, und Europa bleibt gewiß so am allerbesten im Gleichgewicht.«

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Es war Dori sehr daran gelegen, daß die Mutter heute recht früh sich zurückziehen möchte, denn morgen sollten doch die Zurüstungen zur Reise beginnen. Dazu müßte sie sich vorher erst recht ausruhen und kräftigen, meinte die Tochter.

Dorothea willigte nicht ungern ein, denn die ganze Sache lag wie ein unübersteiglicher Berg vor ihr. Sobald sie sich zurückgezogen hatte und Dori allein war, begann sie, alles Bewegliche im Haus zusammenzutragen, zu verpacken und die Kisten zu füllen. Jedes Ding kam wieder an seinen Ort darin, es war ja noch nicht lange her, seit die ganze Verpackung zum erstenmal stattgefunden hatte. Als das erste Morgenlicht den Himmel über dem dunkeln Pisoc rötete, hatte Dori ihre Arbeit vollendet, nur die letzten kleinen Dinge, die vorweg noch gebraucht werden mußten, waren noch zu sehen.

Als Dorothea früher als gewöhnlich in die Stube trat, um zur Zeit an die große Unternehmung zu kommen, schaute sie voller Erstaunen um sich. »Was bedeutet das, Dori? wo ist denn alles hingekommen, das hier in allen Schubladen lag?« fragte sie endlich in ängstlicher Weise.

»Das ist alles in die Koffer hineingekommen und bedeutet unsere Abreise, Mutter«, war Doris fröhliche Antwort. »Es ist alles verpackt, du hast nur deinen Kaffee zu trinken, der ist auch bereit und nachher gehen wir gleich und nehmen Abschied von der Nonna und den Basen.«

Nun stieg der große Schrecken plötzlich wieder vor Dorothea auf, aber Dori ließ ihr keine Zeit, sich davon umwerfen zu lassen. Sie begann zu schildern, wie die verschiedenen Dinge gepackt seien, was die Gedanken der Mutter gleich in hohem Grade in Anspruch nahm, und sobald sie ihren Kaffee getrunken und sich vom Tisch erhoben hatte, um noch einen prüfenden Blick auf die nächtliche Verpackung zu werfen, erfaßte Dori den Arm der Mutter und sagte überzeugend: »Nun ist das allerbeste, wir gehen gleich zur Nonna, dann haben wir alles Schwere hinter uns und du wirst sehen, wie du dich am Kommenden freuen wirst.«

Dorothea ließ sich unwillkürlich mit fortziehen, und ehe sie sich recht besann, stand sie schon mit Dori an der Tür der Nonna und trat ein.

Ohne Zögern begann Dori in fließender Weise zu erzählen, wie sich ihr unerwartet eine Aufgabe geboten habe, die ihre baldige Rückkehr in die alte Heimat erfordere, und wie schon alles zu der Reise vorbereitet sei. Die Mutter habe freundlich eingewilligt, mitzukommen, denn ohne sie könnte die Sache nicht ausgeführt werden.

Die Nonna hörte schweigend zu, auch als Dori zu Ende war, saß sie noch schweigend da, sie schien gar nicht reden zu wollen. Endlich sagte sie langsam: »Wo kein Rat gewünscht wird, ist keiner zu geben. Anständig wird es sein, die Verwandten in Kenntnis zu setzen, daß man ein Haus verläßt, das sie zu übernehmen haben, wenn diejenigen, die ein solches für nichts achten, nicht an den Bettelstab kommen wollen. Geh, hol die Basen herauf, Dori.«

»Ich denke nicht, daß wir die Hilfe brauchen«, entgegnete Dori rasch; aber die Mutter machte ihr die angstvollsten Zeichen, daß sie schweigen und gehen solle. Dori ging, kam aber gleich wieder, die Basen folgten ihr. Erst blieb alles still, eines sah das andere an.

»Wir sind geholt worden, Nonna«, sagte Frau Kathrine jetzt steif, »warum wissen wir nicht.«

»Berichte, was zu berichten ist, es ist deine Sache«, gebot die Nonna in kurzem Ton, indem sie sich zu Dori wandte. »Es scheint, deine Mutter will nicht reden, an mir ist es nicht!« Dori gehorchte und kam mit ihrer Mitteilung rasch zu Ende.

Jetzt fuhr Marie Lene heraus: »Das habe ich ja immer gesagt, wenn eine aufgewachsen ist wie eine Zigeunerin, so konnte es nicht anders kommen. Man hat sie nur zu gut betten wollen, das ist der Dank; ein geordnetes Leben begehrt sie nicht, so soll sie gehen und wieder Zwiebeln und Maiskolben essen und Kauderwelsch reden. Von der Mutter will ich nichts sagen, wer nachgibt wie ein Schilfrohr, verliert das Regiment.«

»Ich will nur eins sagen«, bemerkte jetzt Frau Kathrine zurückhaltend, »wer seinen Verwandten den Rücken kehrt, weil ihn sein Hochmütchen sticht, der soll sich dann nur nicht einbilden, daß die Verwandten ihm gleich wieder das Gesicht zuwenden und ihn ins Fett und in die Wolle setzen, wenn das Elend da ist, in das der Hochmut führt.«

»Ich meine, wir können nun gehen«, sagte Dori aufstehend und die Mutter anblickend, die schreckensbleich dasaß, weniger noch um deswillen, was schon gesprochen worden, als um deswillen, was alles noch kommen könnte; denn Dori machte Augen, als fürchtete sie sich vor gar nichts. Aber nun ging es schnell, man gab sich die Hände, niemand sprach mehr ein Wort, und Dorothea stand auf der Straße mit ihrem Kinde und ging der hölzernen Brücke zu, sie wußte vor innerer Freude nicht, wie es so schnell gekommen war. Sie atmete tief auf. Es war ihr, als sei die Luft um das Doppelte leichter geworden, seit sie das Haus hinter der Brücke im Rücken hatte. Leicht wie ein Reh stieg sie neben ihrem Kinde die Höhe hinan und schaute von Zeit zu Zeit auf die grünweißen Wellen des dahinrauschenden Inn hinunter.

»Aber Dori, wohin gehen wir denn?« sagte sie, plötzlich stille stehend, »das ist ja gar nicht unser Weg nach Haus.«

»Nein, das schon nicht, aber komm nur, Mutter«, bat Dori, »droben kommt das Blumenfeld, das möchte ich noch einmal sehen. Es war doch auch schön hier zur Zeit der wilden Rosen und wenn ich nach den roten Hennenaugen und den blauen Enzianen hier herauflief. Dann sah ich so oft den Herrn Doktor drüben auf dem Waldweg eilig dahinschreiten. Man konnte ihn gleich unter allen erkennen mit seinem raschen Schritt und der hohen, schlanken Gestalt. Wie viel habe ich ihm zu danken! Wir werden wohl im Leben nie mehr etwas von ihm hören. Denkst du nicht auch so, Mutter?«

»Doch, gewiß denk' ich auch so«, entgegnete diese, »wenn er auch wieder hierher kommt, wer wird uns etwas von ihm berichten? Aber Dori, ich mag nicht mehr diesen Weg zurückgehen, wir müßten ja noch einmal am Haus der Nonna vorüber.«

»Das habe ich gar nicht im Sinn zu tun, Mutter«, versicherte Dori. »Wir gehen nachher dort beim Waldweg über den schmalen Steg zur Straße hinüber, dann kannst du zurückkehren und ich gehe weiter nach Ardez hinauf.« Dorothea blieb erschrocken mitten auf dem Wege stehen.

»Du wirst doch nicht so etwas tun wollen, Dori! Was würde man doch von dir sagen, und was würden sie beide in Ardez denken, der Alte und der Junge!«

»Der Pate war von allen Verwandten am freundlichsten zu mir, und ich will nicht fortgehen, ohne von ihm Abschied zu nehmen. Ich will nicht so fort, als ob etwas zwischen uns wäre, der Pate ist mir lieb. Niki Sami wird sich keine Gedanken darüber machen, zusammen kommen wir nicht, er ist nicht daheim. Wie wir hinaus gingen, hörte ich die Base Kathrine zur Nonna sagen, Niki Sami sei heute früh zur Hochzeit seines Kameraden nach Zernez hinaufgegangen, da werde er wohl bemerken, daß es noch Mädchen im Engadin gebe, die keinen andern nachstehen.«

»Mach wie du meinst, aber ungewohnte Sachen führst du immer aus, ich wäre mein Leben lang nicht mehr nach Ardez gegangen an deiner Stelle«, versicherte die Mutter.

Nun waren sie oben auf der Straße angekommen und trennten sich. Dori wanderte rasch gegen Ardez hinauf.

Der Pate schaute verwundert über sein Pfeifchen hin, als er die Eintretende erkannte. »So, so, und was bringt dich zu uns?« sagte er, Doris dargebotene Hand drückend. »Komm, sitz zu mir hin, da«, er deutete neben sich auf die Ofenbank. »Ich hätte es nicht gedacht, aber wenn es dich reut, so sag mir's nur grad' heraus, ich höre es nicht ungern.«

»Nein, nein, Pate, so ist's nicht gemeint«, sagte Dori lebhaft und erzählte nun rasch, was sie vorhabe und daß sie nicht fortreisen könnte, ohne von ihm Abschied zu nehmen.

Der Pate schwieg eine Weile, dann sagte er: »Was ich meinte, wäre mir lieber gewesen, aber ich hätte es auch nicht getan. Wenn es denn so sein muß, so freut es mich, daß du mir noch die Hand geben wolltest, es ist vielleicht das letzte Mal, daß wir zusammen kommen.«

Davon wollte nun Dori durchaus nichts hören. »Im Gegenteil, Pate«, rief sie eifrig aus, »ich komme nicht nur um des Abschiednehmens willen, sondern auch, weil ich noch ein Versprechen von Euch haben will. Bei uns dort über dem Berg ist es so schön, daß Ihr mich durchaus einmal besuchen müßt. Ihr müßt mit mir auf der sonnigen Terrasse sitzen und von unseren blauen Trauben mit mir essen, die wir dort herunternehmen können, ohne aufzustehen. Ihr müßt es so bequem haben und so gemütlich, daß es Euch sicher wohl sein muß bei uns. Bis Ihr mir das in die Hand versprecht, Pate, daß Ihr sicher kommt, laß ich Euch gar nicht mehr los.« Und Dori hielt dem Paten beide Hände fest, bis er einschlagen wollte.

Er lächelte ein wenig, aber die Augen wurden ihm ganz naß dazu. »So partout hat mich noch kein Mensch bei sich haben wollen, mein Leben lang nicht. Aber Dori, du bist nicht schlau«, fügte er, seine Augen mit dem Ellbogen wischend, hinzu, denn die Hände hatte er nicht frei. »Wenn du bei deiner Drohung bleibst, so versprech' ich sicher nicht, daß ich die Mühe haben will, über den Berg zu klettern, ich kann dich näher finden.«

Dori lachte und ließ los. »Nein, ich will ja nicht drohen, Pate, aber versprecht mir's doch«, bat sie, »daß ich doch noch eine rechte Freude im Herzen mit mir aus dem Engadin fortnehme.«

»Ist dir's so, dann komm! da, ich verspreche.« Und der Alte schlug klatschend in Doris Hand ein und drückte diese, daß sie krachte.

Nun stand Dori freudestrahlend auf. »Ich bin so froh, daß ich so freundlich aus diesem Hause wegkomme, es hätte mir doch leid getan, wär' es anders. Nun grüßt mir noch freundlich den Niki Sami und hier lasse ich ihm zur Erinnerung zurück, was ich ihm einmal versprochen habe, für ihn zu verfertigen.« Dori legte einen schimmernden Geldbeutel von grüner und roter Seide auf den Tisch.

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Der Pate lächelte schlau. »Den soll er haben«, sagte er, Doris ausgestreckte Hand ergreifend. Dann folgte ein letzter Händedruck und Dori eilte davon. Aber noch einmal wurde sie gerufen. Der Pate rief durch das kleine Fensterchen: »Sag der Mutter, es schicke sich, daß sie mir auch Lebewohl sage, ich erwarte sie!«

Dori nickte bejahend zurück.

Die Aufforderung beunruhigte Dorothea aufs neue, allerlei Befürchtungen wollten in ihr aufsteigen. Aber Dori schlug sie alle kräftig nieder und bestand darauf, daß die Mutter den freundlichen Paten noch besuchen sollte. Dori behauptete auch, das Verpacken müsse doch von ihr fertig gemacht werden, und während sie im Nachmittag die letzte Hand anlege, könne die Mutter den Gang noch unternehmen. So geschah es.

Sobald Dorothea beim Vetter eingetreten war, sagte dieser kurz: »Ich habe dir noch etwas zu sagen, sonst hätt' ich dich nicht heraufgerufen.«

Dorothea wollte sich ein wenig entschuldigen, daß sie nicht ungerufen gekommen sei.

Aber er fuhr gleich fort: »Sag nur nichts, ich weiß schon, du wirst dich gefürchtet haben; sie werden dir wohl ihre Meinung gesagt haben, und du hast gedacht, ich habe auch noch ein Hagelwetter für dich parat gemacht. Setz dich zu mir nieder und höre, was ich dir zu sagen habe. Ich habe heut' deinem Kind ein Versprechen gegeben, es wollte nun einmal haben, daß ich euch dort unten besuche, das versprach ich. Aber so in ein Miethäuschen, von dem man nicht einmal weiß, wem es gehört, und ob man nicht über Nacht einmal hinausgeschmissen wird, geht unsereiner nicht, Wohnung zu nehmen. Ich bin daran gewöhnt, einen festen Sitz unter mir zu haben, das wirst du wohl wissen. Wenn ich nun zu euch kommen soll, so sorg dafür, daß ich den finde! Du weißt, wer mein Erbe ist. Er hätte auch ohne das genug, aber er soll seine Sache von mir haben, ich bin der Pate. Wenn er aber nicht ein vierfacher Lehmbodenstöpsel wäre, so wäre dein Kind auch meine Erbin geworden. Etwas muß sie von mir haben, das ist nur recht und billig. Das Haus dort unten, das ihr lieb ist, mußt du ihr kaufen; bezahlen kannst du es jeden Tag, das Erbe kann es erleiden, daß das Stück davon wegkomme. Ist die Sache richtig, so schreib, vorher komm ich sicher nicht.«

»Vetter Niklaus, ich weiß gar nicht, was sagen vor Überraschung und vor Glück. Was ist das für eine Freude für Dori! Ihr Haus, ihr liebes Häuschen! Und auch für mich, Vetter! Was habe ich dort für Jahre des Glücks mit meinem seligen Mann verlebt!« Dorothea konnte vor Rührung und Freude nichts mehr sagen, die hellen Tränen liefen ihr die Wangen herunter.

»So, nun weißt du's, Base, mach's in Ordnung und habt gute Tage zusammen in eurem Haus. Dein Kind hast du recht erzogen, das will ich dir auch noch sagen.« Damit stand der Vetter Niklaus auf und geleitete die tiefgerührte Dorothea bis zur Tür, wo sie mit wenigen Worten, aber vielen warmen Händedrücken von ihm Abschied nahm.

Dorothea flog fast, von ihrer übergroßen Freude getrieben, die Straße gegen Schuls hinab. Was hatte sie ihrem Kinde für eine Nachricht zu bringen! Aber plötzlich stieg eine Sorge in ihr auf: Von Cavandone war so lange schon keine Nachricht mehr gekommen, man wußte gar nicht, wie dort alles stand. Wenn das Haus bewohnt, vielleicht von jemand angekauft wäre, der es selbst bewohnte? Wenn es gar nicht zu kaufen wäre? Welch ein Schlag müßte das für Dori sein, nachdem sie ein solches Glück in Aussicht hatte! Nein, lieber wollte Dorothea noch gar nichts von dem Hause sagen; war es nicht mehr zu haben, so war das Leid, nicht mehr da hineinziehen zu können, schon groß genug für Dori, dann sollte sie nicht auch noch wissen, daß es ihr Eigentum hätte werden sollen. Nur daß der Pate voller Güte gegen sie gewesen sei und auch von seinem Besuch in Cavandone gesprochen habe, erzählte sie bei ihrer Heimkehr.

Hocherfreut sagte Dori: »Der gute Pate wischt allen Ärger aus, der einem von den Worten der andern Verwandten her im Herzen hätte sitzen bleiben können, und das ist so erfreulich. So kann man immer wieder gern hierher zurück denken, wir haben doch auch viel Schönes hier erlebt.«

»Ja gewiß«, stimmte die Mutter schnell bei, »und die Verwandten haben es doch alle gut mit uns gemeint. Wenn du nun einmal kein Glück in dem sahst, was sie für ein solches halten, so hätten sie dir es ja doch gern gegönnt.«

»Ja, das wollen wir ihnen nicht vergessen«, stimmte nun auch Dori bei.

Spät am Abend trat noch einer ins Haus ein, der Abschied nehmen wollte, es war der Gärtner Melchior. Er wußte schon, wie schnell alles sich gemacht hatte. Seine guten Augen leuchteten vor Freude, als er Dori seinen Segen auf die Reise und ins weitere Leben hinaus gab.

»Sie weiß den rechten Weg, Gott erhalte sie darauf und uns mit ihr«, sagte er, indem er Dorotheas Hand schüttelte und einen letzten Blick auf Dori warf.

Schon stand er unter der Tür, aber so leicht, wie er meinte, kam er nicht hinaus. Auch von ihm wollte Dori das Versprechen haben, daß er über den Berg komme und sehe, wo sie wohne mit ihrem kleinen Schützling, den er ihr zugeführt hatte. Und vor allem sollte Melchior die Rosen in ihrem Garten sehen, schönere Blumen trüge die Erde nicht; die ihnen an Schönheit am nächsten kämen, wären die vollen Nelken im Engadin, fügte Dori bei.

»Es ist gut, daß du meine Nelken noch anerkennst, sonst wären wir geschiedene Leute«, sagte Melchior lächelnd. »Deine Rosen dort unten möchte ich schon noch einmal sehen im Leben; die vergißt keiner mehr, der sie einmal gesehen hat.«

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Neunzehntes Kapitel

Ein lichter Abendsonnenschein lag auf den Höhen, die sich in der klaren Flut des Lago Maggiore spiegelten und weithin glitzerte es wie Feuerfunken über die Wellen. Auf dem vordersten Platze des Schiffes, das über den See glitt, stand Dori und folgte, über die Lehne gebeugt, mit suchenden Augen dem Höhenzug drüben: »Da ist er! da ist er!« schrie sie plötzlich auf vor Freude. »O sieh, Mutter, wie grün-goldener Sammet fällt es ihm von den Schultern, so schön wie der, ist kein anderer mehr auf Erden.«

Dorothea kam herbei und schaute um sich. »Wen meinst du denn, Dori?« fragte sie verwundert.

»Nicht hier auf dem Schiffe, dort, Mutter, dort.«

Dori zeigte nach dem hohen Monte ferro hinüber, dessen grüne Hänge, vom Abendgold überflossen, noch durch die Wellen schimmerten. Auch der Mutter Augen leuchteten auf in Freude.

»O, da kommen sie alle«, jauchzte Dori auf, »hier der Motterone, dort der alte Monte rosso und alle weißen Dörfchen auf den Höhen, und hier die Inseln im funkelnden Golde schimmernd! O, Mutter, da sind wir wieder!«

Dori schaute in hellem Entzücken der leuchtenden Heimat entgegen, während ihr die großen Tränen die Wangen herunterrollten. Auch Dorothea wurde von tiefer Bewegung ergriffen, als eine um die andere der alten Stellen voll Erinnerungen an die sonnig-schönen und an die Schmerzenstage vergangener Jahre vor ihren Augen aufstieg. Das Schiff fuhr dem grünen Ufer des kleinen Fleckens Suna zu, der sich an den schützenden Rücken des waldigen Monte rosso lehnt. Dori schaute mit funkelnden Augen rundum. Dort war der alte Turm, dort die Kapelle, höher hinauf, versteckt hinter den Bäumen, die ersten Häuser von Cavandone.

Dori sprang aus dem Schiff: »Die alte Maja ist nicht da, Mutter«, rief sie verwundert aus, »die hatte ich sicher erwartet; ich hatte ihr ja bestimmt geschrieben, wann wir kommen können. Aber wir warten keinen Augenblick hier, wir müssen hinauf, Mutter, nicht? Hier kann alles liegen bleiben, Giacomo wird die Habe heraufholen, wenn er von der Arbeit kommt.«

Schon hatte Dori den kleinen Wagen, in dem der lahme Willi lag und eingeschlafen war, zur Hand genommen und stieg, von der Mutter gefolgt, die Höhe hinan, dem Felsenweg zu. Dori zog rasch aus. Schon lag der schmale Steg über den Waldbach hinter ihr. Sie betrat den Felsenweg, es ging gegen den Turm hinauf.

Jetzt stand Dori still und schaute zurück: »Mutter!« rief sie aufgeregt der Nachkommenden zu, »je näher wir kommen, je größer wird meine Angst, wir finden unser Haus genommen und können nicht mehr hinein. Giacomo hat so lang kein Wort mehr geschrieben, vielleicht ist ein Grund davon, daß er uns nicht sagen wollte, was ihm leid tat und uns leid tun mußte. Ich könnte es fast nicht aushalten, wenn es so wäre, Mutter, wenn wir nicht mehr in die alte Heimat einziehen könnten!«

»Es ist ja gerade, was auch mich mit jedem Schritt mehr ängstigt«, entgegnete Dorothea. »Ich wollte es nur nicht aussprechen, weil ich die Angst nicht auch in dir wecken wollte.«

Dori stellte ihren Wagen fest und setzte sich an den Rand des Weges hin. »Ich habe noch nicht recht mit Ernst daran gedacht«, sagte sie, ihre Hände auf die Knie legend. »Aber wenn ich denken müßte, Mutter, daß wir wirklich nicht mehr in unser Heimathaus einziehen könnten, ich glaube, ich könnte fast nicht mehr weiter kommen. Tun konnte man ja nichts, sobald ich wußte, daß wir reisen, schrieb ich, aber der Brief kann erst gestern angekommen sein. Ist jemand im Haus, so konnten sie nichts machen, Giacomo und die Großmutter hätten alles getan, unser Haus für uns zu öffnen, das weiß ich. Ach, wenn's nur nicht sein muß, daß wir die Heimat andern überlassen müssen!«

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Laute Rufe von unten herauf waren mehrmals schon erklungen, aber sie blieben unbeachtet. Die Aufmerksamkeit der Wandernden hätte nur durch Rufe von oben herunter erweckt werden können, von woher die alte Maja kommen konnte.

Plötzlich sprang Dori vom Boden auf: »Dort kommen sie ja von unten herauf«, rief sie hocherfreut und lief den Heransteigenden entgegen.

Es war die alte Maja, die schwer keuchend, aber mit freudestrahlendem Angesicht heraufgelaufen kam. Bald neben, bald hinter, bald vor ihr her hüpfte Marietta im höchsten Sonntagsstaat, einen ungeheuren Blumenstrauß in der Hand. Weit unten noch war ein schlankes Bürschchen zu sehen, das wie ein Hirsch die Höhe hinanrannte. Am Arm hing ihm ein großer Korb, der übervoll von Blumen war und um die Stirn flog ihm das glänzend schwarze Lockenhaar. Es war Giacomo. Jetzt war Dori bei der alten Maja angelangt und von dieser unter Schluchzen und Freuderufen umschlungen. Marietta umklammerte Dori von hinten, da sie von vorn nicht zukam, und drückte ihren Strauß zwischen Doris Arm und die Großmutter hinein. Dann lief sie schnell zu dem kleinen Wagen hin, sie mußte wissen, was darin mitgekommen war. Dorothea hatte sich nun auch der alten Maja genähert und neue Tränen und neues Frohlocken hervorgerufen. Nun wurde Giacomo plötzlich in nächster Nähe sichtbar. Er war den steilen Abhang heraufgeklettert, um den Weg abzukürzen. »Dori! Dori!« schrie er, wie außer sich vor Freude. »O, Fräulein – –.« Dori hatte sich zu ihm gekehrt, er war ganz verschüchtert einige Schritte von ihr weg stehen geblieben.

Dori mußte sich sehr verändert haben. Sie streckte ihm lachend die Hand entgegen: »Nein, nein, Giacomo, wir sind die alten Freunde, du nennst mich Dori wie immer. Du hast dich auch gestreckt, Giacomo, wenn du mir auch noch nicht nachgekommen bist.«

Jetzt hielt Giacomo Doris Hand fest und aus seinen dunklen Augen sprühte ein wahres Freudenfeuer.

Marietta hatte unterdessen mit dem kranken Willi, der längst erwacht war und erstaunt um sich geblickt hatte, Bekanntschaft gemacht. Sie hatte ihm eine große Rute gebrochen und nun die Wagendeichsel erfaßt; denn wenn die Kinder auch nicht zusammen sprechen konnten, so verstanden sie sich doch gleich. Marietta wußte, daß sie nun ziehen sollte und daß er der Kutscher mit der Peitsche war. So ging es denn vorwärts, aber nicht lange, Giacomo mußte zu Hilfe kommen, von hinten stoßen und die Hauptsache tun.

»Und unser Haus, Maja, unser Haus?« fragte Dori dringend, nun die ganze Gesellschaft langsam den Berg hinauf sich weiterbewegte.

»Giacomo, sag's der Dori, sag ihr selbst, wie es ist«, forderte ihn die Großmutter auf und nickte dem Buben ermunternd zu.

Giacomo war purpurrot geworden. Er schüttelte verneinend den Kopf.

»So ist jemand darin? Hat es jemand gekauft? So ist es ganz verloren für uns?« Hastig stieß Dori diese Fragen eine nach der andern heraus.

Giacomo hätte gar nicht antworten können dazwischen. »Es ist niemand im Haus, ihr könnt darin wohnen wie immer«, sagte er jetzt und ein neuer Freudenstrahl blitzte aus seinen Augen.

»O, wie herrlich! O, wie herrlich! Nun ist das Glück ganz voll!« rief Dori im Übermaß der Freude aus. »Warum wolltest du es denn nicht sagen, Giacomo? Es gibt ja keine größere Freude für mich. O, da ist die Kapelle und die Mauer und die alten Steine, wo ich mit dem Vater saß. Da muß ich hin; fahrt nur zu, ich hole euch wieder ein!« Dori lief zur Kapelle hinauf.

Dorothea hatte Giacomos Bericht auch gehört. Sie hielt die Alte jetzt ein wenig zurück. »Ich möchte mich so gerne mit Dori freuen, wenn wir es wirklich können«, sagte sie zaghaft. »Kommt aber nicht noch etwas zum Vorschein mit dem Haus, das Ihr nicht gleich sagen wolltet? Warum wollte denn Giacomo erst gar nicht heraus mit der Antwort, wie es sei damit? Ist es vielleicht schon jemand versprochen?«

»Noch nicht, noch nicht, nur fast; gut, daß Ihr gekommen seid«, entgegnete Maja. »Aber mit Giacomo ist's etwas anderes, das er nicht sagen wollte; ich will erzählen, wie es ging. Bald nachdem Ihr fort waret, kam der Herr des Hauses herauf, es gehört ja dem Gärtner in Pallanza, wie Ihr wißt, und ein anderer noch kam mit ihm und redete so, als wollte er das Haus kaufen; Giacomo und ich waren dabei, der Herr hatte mir ja die Schlüssel zum Haus übergeben, ich mußte auch zum Garten sehen. Wie der Giacomo hörte, das Haus sollte verkauft werden, da tat er wie ein Unsinniger und jammerte und flehte, der Herr solle so etwas nicht tun, Ihr kommt ja wieder heim und dann müßt Ihr doch Euer Haus haben. Zuerst hörte der Mann nicht auf ihn und lachte nur ein wenig und sagte, da könne er vielleicht lange warten. Aber Giacomo war Eurer Rückkehr so sicher, daß er nicht nachgab mit Bitten und Vorstellungen. Zuletzt stellte er sich vor den Herrn hin und sagte: ›Ich will auch Tag und Nacht bei Euch arbeiten, was Ihr nur wollt, das bringt dann den Hauszins ein, bis sie wiederkommen.‹ Der Herr sah den Buben nicht unfreundlich an, ich glaube, er gefiel ihm und mit dem Kauf war es vielleicht auch nicht so sicher. Er kam dann zu mir heran und wollte wissen, wie es mit dem Buben sei und ob ich einverstanden wäre, daß er zu ihm komme. Das war ich ja gewiß. Wie denn der Vater einige Zeit nachher heimkam und den Giacomo mit nach Genf nehmen wollte, wo er Arbeit hatte, da fing der Bube so zu jammern an, er müsse ja beim Gärtner bleiben, sonst gebe dieser das Haus weg, daß der Vater zuletzt sagte, so nehme er den Detto mit, der sei noch der Festere für die Arbeit und Giacomo solle Gärtner werden. Der Herr hat ihn auch gern, er sagt, dem Buben sei keine Arbeit zuviel, und das ist ja zu begreifen, er dachte ja bei allem immerfort: Ich tue es für Dori, und was er für die täte, ist nicht auszudenken, aber er schuldet ihr auch viel.«

»Und alle die Arbeit beim Gärtner mußte er umsonst tun?« fragte Dorothea.

»Es ist ja um des Hauses willen«, meinte die Alte, »aber der Gärtner ist gut zu ihm. Der Bube muß wohl schon tüchtig arbeiten, von früh bis spät, aber er lernt auch etwas dabei. Freilich, wenn's noch lange gedauert hätte und ein rechter Käufer gekommen wäre, so hätte der Gärtner das Haus nun schon weggegeben, er war noch vor wenig Tagen mit einem Bekannten hier oben und zeigte ihm das Häuschen von oben bis unten. Ich durfte dem Giacomo nichts davon sagen, wie hätte der getan.«

»Aber es ist doch nicht im Verkauf jetzt, nicht so, daß der Bekannte schon ein Recht darauf hätte«, warf Dorothea ängstlich dazwischen.

»Nein, sie kamen nicht überein, um des Preises willen. Ihr könnt ganz sicher sein«, beruhigte Maja, »ich habe scharf genug aufgepaßt, um zu hören, was das Ende des Handels sei.«

Jetzt kam das Felsenhäuschen in Sicht. Schon hatten die Kinder mit dem Wagen vom Wege abgelenkt und fuhren dem Vorsprung am Bergabhang zu. Giacomo verließ plötzlich den Wagen und rannte ins Haus hinein. Als Dorothea den Fuß über die Schwelle setzte, wurde sie so überwältigt von ihren Erinnerungen des Schmerzes und der Freude, daß sie ihr Tuch vor die Augen halten und eine Weile, an den Türpfosten gelehnt, stehen bleiben mußte.

Jetzt kam Dori hereingelaufen. Sie nahm die Mutter bei der Hand. »Komm, Mutter, komm, wir sind daheim, wir gehen zusammen hinein!« Damit zog sie die Mutter den Gang entlang, durch die alte Wohnstube zur Terrasse hinaus. Aber hier stand sie still – der ganze Boden vor ihr war mit Blumen bestreut und von allen Pfosten hingen rote Rosen, weiße Waldveilchen und bunte Blätter und Beeren herunter, und da und dort guckten dunkelblaue Trauben aus dem Weinlaub heraus, das sich grün um die Terrasse rankte.

»Komm herein! komm herein! Hier ist es schön! Da wollen wir bleiben!« schrie der kleine Willi aus einer Ecke hervor, wo ihn die Marietta sorgsam auf ihrem Schoß festhielt. Sie hatte ihn ganz behende aus dem Wagen gehoben und ihn getragen, er mußte es doch auch sehen, wie Giacomo den ganzen Boden mit Blumen bestreute.

»Ja, Willi, hier ist's schön, hier wollen wir bleiben«, gab Dori zurück. »Da sind wir daheim, Willi, das ist meine Heimat.«

»Und dies Haus, Dori«, sagte die Mutter zu ihr tretend, »das wird dein Eigentum und deine Heimat bleiben. Der Pate Niklaus schenkt es dir und Giacomo hast du's zu danken, daß du es frei gefunden hast.«

Dori wußte nicht, was sie hörte. Drüben stand Giacomo mit leuchtendem Angesicht, aber er war so rot geworden, als hätte er ein Unrecht begangen. Dori ging zu ihm hinüber. »Ich weiß noch nicht, was du für mich getan hast«, sagte sie, seine Hand drückend, »aber das weiß ich, daß kein Mensch auf Erden mir eine größere Freude bereiten konnte, als die ist, die du mir bereitet hast, daß ich wieder in mein Heimathaus einziehen kann.«

Giacomo konnte kein Wort sagen, aber Dori verstand den Ausdruck der freudefunkelnden Augen wohl und drückte Giacomo noch einmal die Hand.

Die alte Maja hatte unter tausend Segenswünschen zum neuen Leben in der alten Heimat mit Marietta das Haus verlassen.

Der froh erregte Willi war jetzt in tiefen Schlaf gefallen. Dorothea wanderte von Raum zu Raum; sie mußte jeden Winkel eigens begrüßen und auf jeder Stelle die ihr eigene Erinnerung hervorrufen. Dori stand auf ihrer Terrasse und schaute in den dunkelnden Abend hinaus. Über dem Motterone funkelte der Abendstern. Ein leises Leuchten zog sich am Himmel gegen die Simplonberge hin. Nur ein Jahr war vergangen, seit sie es so gesehen hatte, ihr war, als lägen deren viele zwischen jenem Tag und dem heutigen. Wieviel war seitdem in ihr Leben eingetreten, das sie als Reichtum und Gewinn mit in die alte Heimat brachte. Wie hatte sie gezagt, diesen heimatlichen Boden zu verlassen und dem unbekannten Land und Wesen entgegenzugehen, und es war für sie der Weg zu einem Lehrer, der ihr einen geistigen Reichtum aufschloß, welcher ihr ganzes Dasein hob und erweiterte. Es war der Weg zu dem unvergeßlichen Freunde, der ihr die Liebe eines Vaters schenkte, da das Leid an ihrem Herzen nagte, daß sie zu niemand gehören sollte. Und noch zu einem Wohltäter war es der Weg für sie gewesen, zum alten Melchior, dem sie das Beste verdankte. Er hatte ihr die Augen aufgetan, daß sie den Weg vor sich sehen konnte, der sie zu der frohen Gewißheit, ein Kind ihres Vaters im Himmel zu sein, gebracht hatte. Das war ein Gewinn, für den sie kein anderes Gut der Welt mehr tauschen würde. Wie hatte dieser Vater sie so liebevoll geführt, da sie doch nicht, wie sie sollte, sich zu ihm gehalten und als sein Kind an seiner Hand geblieben war. Ihre Seele war voller Freude, aber auch voller Demut. Sie faltete die Hände zum warmen Dankgebet, ein seliges Vertrauen zu dem Vater im Himmel, dem sie für immer angehörte, erfüllte ihr ganzes Herz.

Zwanzigstes Kapitel

Die Tage des Winters waren schnell vorübergegangen und lieblich waren die meisten gewesen. Jetzt war der März da. Von der sonnigen Terrasse schaute Dori auf den Garten hinunter, wo die goldenen Primeln und die blauen Augen des Immergrün wie Edelsteine in der Sonne funkelten. Giacomo stand an der Rosenhecke und schnitt voller Eifer die grünenden Zweige zurecht. Nicht umsonst hatte er ein Jahr lang mit unausgesetztem Fleiß und nie ermattender Aufmerksamkeit in der großen Gärtnerei gearbeitet, jetzt kannte er seine Arbeit. Zwei Triebfedern hatten ihn das Jahr hindurch in Tätigkeit erhalten: der Gedanke, alles für Dori zu tun, und die Hoffnung, einmal die Pflege ihres Gartens ganz allein übernehmen zu können. Diese Hoffnung war schon in Erfüllung gegangen, und welch ein Glück jetzt Giacomos Herz erfüllte, das konnte man in seinen strahlenden Augen lesen. Seine Anstellung beim Gärtnermeister hatte er beibehalten, denn der Gärtner hatte ihm bewiesen, daß noch vieles für ihn zu erlernen sei; er wollte auch den tüchtigen Burschen gern bei sich behalten. Nun sollte er aber nicht mehr umsonst arbeiten, und die Zeit, die er zur Bearbeitung von Doris Garten brauchte, sollte er auch frei haben.

Eben kam Marietta mit dem Wagen angefahren, in dem mit vergnügtem Lächeln und rosig angehauchten Wangen der kleine Willi saß und nun mit solch raschen Bewegungen Dori zu sich herwinkte, daß man sehen konnte, in die schlaffen Glieder war ein neues Leben eingedrungen.

»Ja, ich komme«, rief Dori hinunter. »Holt noch die Großmutter drüben, wir wollen einen Gang zusammen machen.«

Dorothea, der ein Ausdruck sonnigen Glückes auf dem Gesichte lag, saß wieder mit ihrer Arbeit auf der Terrasse und wieder, wie vor Jahren, fielen die Sonnenstrahlen durch das junge Weinlaub auf den Steinboden und spielten darauf mit den Schatten der Blätter. Sie wußte nicht, warum Dori auch sie zum Aufbrechen anrief, warum sollte sie denn ihren schönen Sitz verlassen, es konnte ja nirgends schöner sein. Ihr war, als müßte sie sich jede Stunde aufs neue freuen, die sie wieder in den alten Räumen unter dem sonnigen Himmel zubringen konnte. Aber sie mußte Doris Drängen nachgeben, sie sollte teil an dem Gange nehmen, den Dori für den Abend ausgesonnen hatte.

Als alle sich versammelt hatten, zog die Gesellschaft aus, der Wagen mit Willi voran, diesmal von Giacomo gezogen, was nötig war, denn der von Dori angeordnete Weg den Berg hinunter war eine ziemlich gewagte Wagenfahrt. Beim alten Turm angekommen, öffnete Dori das Pförtchen am Wege, nahm die alte Maja bei der Hand und trat mit ihr ein. An der vorderen Seite des Turmes, wo die Abendsonne auf die sprossenden Weinranken schien, stand Dori still: »So Maja, das ist das Plätzchen, wo ich bei dir saß, als das Äckerchen dein war, jetzt gehört es dir wieder, aber nicht nur mietweise, nun ist es dein Eigentum. Das Geld dazu hat mir der gute Herr von Aschen gegeben, der einmal in Pallanza war und den ich wiedergefunden hatte. Giacomo kann dir's bebauen helfen, einmal geht es dann auf ihn über, er soll nicht umsonst so eifrig den Gärtnerberuf erlernt haben«, setzte Dori hinzu, den staunenden Giacomo herbeiziehend.

Die Alte stand sprachlos da. Dorothea schaute in größter Verwunderung einmal Dori, einmal die alte Maja an, sie hatte kein Wort von Doris Unternehmen gewußt. Endlich nickte sie der Nachbarin versichernd zu, denn daß Dori keinen Spaß machen wollte, verstand sie wohl. Jetzt brach die alte Maja in eine Freude aus, wie man sie niemals bei ihr gesehen hatte. Sie schlug die Hände zusammen, umarmte Dori einmal ums andere, lief dahin und dorthin, im ganzen Äckerchen umher, jede Staude, jedes Grasbüschel mußte sie einzeln betrachten und begrüßen, als wären sie lauter lang verlorene Freunde, die sie wiedergefunden hatte. Dann kam sie wieder zu Dori zurück. Noch einmal mußte sie sich ihres Glückes versichern: »Ist es auch kein Traum, bist du auch sicher, Dori, daß so etwas möglich ist, daß das Äckerchen mein Eigentum sein kann?«

»Ja Maja, ganz sicher ist es«, bezeugte Dori, »so sicher, daß du gleich deinen Boden zu bearbeiten anfangen kannst, kein Mensch hat etwas dagegen einzuwenden.«

Das ließ sich Maja nicht zweimal sagen. In einer Ecke, wo sie ihr wohlgeordnetes Zwiebelbeet gepflegt hatte, stand ja das Unkraut in hellen Haufen. Sie ging unverzüglich ans Ausrupfen, sollte aber heute nicht weit damit kommen. Eben kam Marietta mit dem Wagen daher gerannt, in einer Weise, die nichts Gutes verkündete. Sie hatte auf Willis Wunsch ihn auf den Weg zurückgeführt, um ihm drüben in den Büschen wieder eine große Rute zu brechen.

Jetzt schrie der Kleine aus vollem Hals Dori zu, die ihm entgegenlief: »Nein, ich will nicht gehen, sie wollen mich holen, ich geh' nicht mehr heim, ich will nicht fort von dir, ich geh' nicht mit ihnen, ich geh' nicht!«

Dori hatte Mühe, den aufgeregten Kleinen zu beschwichtigen, um von Marietta zu vernehmen, was ihm begegnet sei.

Diese berichtete nun, es seien Leute von unten heraufgekommen und haben gefragt, wie weit es noch sei nach Cavandone zur Frau Maurizius, und dann haben sie auf den Wagen hingedeutet und gesagt: »dort ist er, dort ist er«, und seien herangekommen; da habe Willi furchtbar geschrieen fort und fort und sie habe ihn schnell hierher gezogen.

Jetzt fing Willi neuerdings zu schreien an: »Ich kenne sie schon, ich weiß nicht mehr, wie sie heißen, aber sie wollen mich heimholen; sie wohnen ganz nah bei uns. Halt meine Hand fest, ich geh' nicht von dir fort!«

Dori erfaßte die Hand des Kleinen und hielt sie in der ihrigen fest, um ihn zu beruhigen. Dann wollte sie wissen, wo die Leute seien, und hörte von Marietta, sie seien weiter gegangen, Cavandone zu. Nun mußte aufgebrochen werden, es galt ja einen Besuch zu empfangen.

»Komm Maja, morgen nimmst du die Hacke mit, dann geht das Jäten leichter«, sagte Dori, die tief auf den Boden gebückte Alte emporziehend.

»Ach, leichter, nun ist ja alles leicht. Ist es auch wirklich möglich, Dori, ist es für alle Zeit mein Eigentum, mein altes liebes Äckerchen?« mußte die beglückte Maja noch einmal fragen. »Wenn ich noch zwanzig Jahre zu leben hätte, hätte ich ja keine Sorgen mehr.«

»Das ist auch nicht nötig, Maja, die Sorgenjahre hast du gehabt, nun kommen die Freudenjahre, die wollen wir nun miteinander verleben«; damit führte Dori ihre alte Freundin aus dem Acker weg, denn allein hätte diese sich kaum entschließen können, den wiedergefundenen Schatz schon zu verlassen.

Droben beim Felsenhaus, das geschlossen war, stand die Salzpeppe im Gespräche mit einer Fremden, die allerlei Fragen an sie zu richten hatte, während zwei kleine Jungen rund um das Haus herum auf Entdeckungen auszugehen schienen. Die Salzpeppe hatte in Dorotheas Haus und Garten keine Geschäfte mehr zu verrichten, aber auf ihren Botengängen zum See hinab trat sie öfters in das altbekannte Haus ein, schon aus alter Gewohnheit und auch, um zu sehen, ob man irgendwelche Aufträge für sie hätte. Sie war mit der Fremden zusammengetroffen und hatte diese zu Dorotheas Wohnung geführt. Als sie da alles verschlossen fand, blieb die Salzpeppe bereitwillig stehen, um der Fremden allerlei Auskunft zu erteilen und ihr Gesellschaft zu leisten, bis die Bewohner des Hauses zurückkehren würden. Dori war die erste, die sich dem Hause näherte. Sie hatte aus Vorsicht den lahmen Willi aus dem Wagen gehoben und hielt ihn auf ihrem Arm, damit sie, wenn er wirklich weggeholt werden sollte, ihn in seinen Ausbrüchen des Unwillens gleich besänftigen könnte. Sie bat die Fremde, einzutreten und sich neben ihr auf der Terrasse niederzusetzen. Die Jungen waren gefolgt, nun war auch Dorothea eingetreten.

»So sind Sie Fräulein Dori«, begann die Fremde nun zu der Angeredeten gewandt, »so hätte ich mich mit meinem Auftrag hauptsächlich an Sie zu wenden.«

Jetzt sprang der eine der beiden Jungen auf Dori zu, strich sich das schwarze Lockenhaar aus der Stirn und schaute mit seinen großen, dunkelgrauen Augen voller Vertrauen zu Dori auf: »Wenn du Tante Dori bist, so läßt dich mein Papa vielmals grüßen, und ich soll bei Dir bleiben, wenn du mich behalten willst; aber du willst schon und du wirst mich lieb haben, das hat mein Papa gesagt. Und du wirst mich Italienisch lehren, daß ich ihm so schön vorlesen kann, wie du; denn wenn du Italienisch liest, so tönt es so schön, wie er es vorher nie gehört hat, und alles verstehst du gut, was du redest, und vom andern redest du nicht, das hat mein Papa zu Fräulein Smele gesagt. Ich will ein Jahr bei dir bleiben oder noch länger, bis ich dann auf die Schule komme, das hat alles mein Papa gesagt.«

Ein warmes Rot der Freude war auf Doris Wangen gestiegen, während der Junge so zu ihr sprach. Sie zog ihn an sich und küßte ihn; dann schaute sie wieder in seine groß aufgeschlossenen Augen und streichelte das lockige Haar aus seiner Stirn. »Mutter, sieh den Jungen an, mußt du fragen, wem er gehört?« Dori winkte die Mutter herbei.

»Otto ist der Sohn von Doktor Strahl«, setzte nun die Begleiterin ein, »er hatte Freude zu kommen; sein Vater hatte ihm so viel erzählt von Ihnen, daß Otto meinte, er kenne die Tante Dori schon ganz gut, daher seine Art sich gegen Sie auszudrücken, die Sie ihm zugute halten werden.«

»Ja und nun kenne ich dich noch viel besser«, fiel der Junge schnell wieder ein, »und weil du so lieb bist, will ich dich auch lieb haben und noch viel länger bei dir bleiben als nur ein Jahr, und ich will den ganzen Tag mit dir zusammen sein.«

Jetzt schlang Willi, der immer noch auf Doris Schoß saß, beide Arme um ihren Hals und hielt sie mit allen Kräften, die er aufbringen konnte, fest. »Tante Dori gehört mir«, rief er aufgeregt aus, »und ich habe sie lieber als du, schon lang, lang hab' ich sie lieb, und du nicht. Und ich bleibe nicht nur ein Jahr bei ihr, immer, immer bleib' ich bei ihr und geh' nie mehr von ihr weg, und du kannst auf deine Schule gehen, es ist recht, wenn du gehst.«

Aber Dori legte Willis schmale Hand in Ottos feste Rechte und sagte: »So, nun seid ihr Freunde und werdet immer noch bessere Freundschaft schließen, da ihr nun beide bei mir bleibt.«

Beide zogen aber bald ihre Hände zurück und klammerten sich damit um Doris Arme, jeder auf seiner Seite, so, als wollte jeder sein Eigentumsrecht behaupten.

.

Die begleitende Dame bestrebte sich, ihre Mitteilungen wieder aufzunehmen: »Die aufgetragenen Grüße sind Ihnen, wenn auch mangelhaft, ausgerichtet worden«, begann sie, »mir bleibt nur noch übrig, Ihnen die Bitte des Vaters vorzulegen, daß Sie sein Söhnchen für einige Zeit in Ihren Schutz und Pflege aufnehmen möchten. Die Dame des Hauses kann um ihrer angegriffenen Gesundheit willen sich nicht mit den Kindern beschäftigen. Doktor Strahl hat sich lange besonnen, wie er es mit dem Kleinen machen könnte, daß ihm die rechte Sorgfalt und auch derjenige geistige Einfluß zuteil würde, den der Vater für seine Söhne wünscht. Die beiden älteren hat er auf eine Schule geschickt, aber von dem jüngsten konnte er sich immer noch nicht trennen, er brachte es auch nicht über sich, ihn so ganz fremden Händen zu übergeben.

Kürzlich hörte er von einer Bekannten des Hauses, daß sie ihren kleinen Sohn in Ihre Obhut gegeben, und daß Sie diesen noch auf längere Zeit behalten werden. Doktor Strahls Angesicht leuchtete völlig vor Freude, als er mir dieses mitteilte und hinzufügte: »Nun kenne ich die Hände, denen ich meinen Jungen übergeben kann, in bessere könnte er nicht kommen.« Da der Vater selbst zu einer Reise genötigt war, wollte er, daß ich sofort auch das einsame Haus verlasse und Ihnen den Jungen zuführe. Auf meine Einwendungen, daß man doch wohl erst anfragen sollte, meinte er, das sei überflüssig, er kenne Sie und Ihre Frau Mutter zu gut, um daran zu zweifeln, daß Sie wenigstens für die Zeit seiner Abwesenheit seinen Sohn aufnehmen werden. Sein Wunsch wäre freilich, den Jungen für die nächsten zwei Jahre in Ihren Händen zu lassen.«

»Ja, ich will schon da bleiben, ganz gern«, erklärte Otto, »und Eduard kann mit Ihnen heimkehren, Fräulein Smele, ich bleibe doch nun immer mit Tante Dori zusammen.« Jedermann schaute nach dem erwähnten Eduard, den keiner mehr beachtet hatte. Als der kleine Fremdling so vergessen in einem Winkel stand, hatte die unternehmende Marietta sich ihm genähert und ihn unter ihre Flügel genommen. Sie war mit ihm in den Garten hinausgegangen und trug ihm nun schöne Steinchen und Schneckenhäuschen zu. Dorothea entdeckte die Kinder und ging zu ihnen hinaus. »Eduard ist das Söhnchen eines Verwandten und Ottos Spielgenosse zu Haus«, fuhr Fräulein Smele fort, »der Herr Doktor meinte, es möchte für Fräulein Dori leichter und angenehmer sein, den Otto zu behalten, wenn er den bekannten Kameraden neben sich hätte. Der Vater des Jungen war auch sehr für diese Versetzung seines Söhnchens eingenommen, da dieser kürzlich seine Mutter verloren hatte.« Dorothea war mit dem kleinen Fremdling wieder eingetreten. Dori winkte ihm, daß er zu ihr komme. »Komm, mein lieber Junge«, sagte sie, ihn mit in den Arm einschließend, den sie um Otto gelegt hatte, »wenn du keine Mutter mehr hast, so will ich deine Mutter sein.«

»Die meine auch«, sagte Otto und drängte sich noch näher an Dori heran.

»Die meine noch viel mehr!« rief Willi und umklammerte mit seinen magern Ärmchen Doris Hals so fest, als sollte keine Macht ihn mehr davon ablösen. Dori umschlang ihre drei Buben und schaute nach ihrer Mutter hinüber. Diese lächelte und nickte verständnisvoll, sie mußte Doris fragenden Blick wohl verstanden haben. Jetzt sprang Dori auf. Nun sei es Zeit, daß sie ihren Kindern für Lager sorge, und die Mutter werde ein gutes Abendessen rüsten wollen, meinte sie, denn nach der langen Reise müßten die Gäste nach beidem verlangen. Was Dori an die Hand nahm, wurde rasch zu Ende gebracht. In kurzer Zeit saß die Gesellschaft fröhlich beim Mahle; auch die hilfreiche Marietta fehlte nicht an der Seite ihres neuen Freundes, und die alte Maja ging geschäftig ein und aus, war es doch ihr Stolz, die einzige zu sein, die in Dorotheas Haus mit Hand anlegen durfte.

Als die Kinder im luftigen Zimmer neben der Terrasse tief in ihren Kissen lagen und lange Atemzüge zogen, ging Dori noch einmal von einem Bettchen zum andern. Auf Willis früher so blassen Wangen lag jetzt ein leises Rot, das hatte er hier, in der milden Luft und sorgsamen Pflege gewonnen. Es spielte ein Lächeln um die schmalen Lippen. »Bei uns ist dir wohl«, sagte Dori, in stillem Glück den Schläfer betrachtend. Dann küßte sie ihn. »Ja, ich will dir eine Mutter sein und dir durch Liebe ersetzen, was du sonst im Leben entbehren mußt, mein armer kleiner Willi.« »Du sollst auch mein Kind sein, du mutterloses Bübchen«, sagte sie, an Eduards Bettchen tretend, und über den kleinen Fremdling gebeugt, küßte sie ihn zärtlich, so als wollte sie ihn fühlen lassen, daß er wieder von Mutterarmen umfangen sei. Sie trat zu Otto heran. Das dunkle Lockenhaar ringelte sich um das volle, rosige Kindergesicht. Ein heiteres Glück lag auf der schönen Stirn. »Wie kannst nur du mich nötig haben, mein herrlicher Junge?« fragte sie leise sich auf ihn neigend. »Aber lieb will ich dich haben und Sorge um dich tragen, so wie es dein Vater tat.« Dori setzte sich an das Bettchen und zog einen Brief aus der Tasche. Sie hatte ihn schon einmal gelesen, Fräulein Smele hatte ihn gleich bei ihrer Ankunft in Doris Hand gelegt; er war von Doktor Strahl. In wenigen, aber warmen Worten sagte er ihr, wie die Nachricht, sie nehme Kinder bei sich auf, ihn von einer seiner größten Sorgen, die ihn drückten, befreit habe. Daß er sein bestes Gut, seinen Jüngsten, den er in fremde Hände zu geben nicht über sich bringen konnte, während die Notwendigkeit ihn dazu drängte, nun ihrer Pflege und ihrem Einfluß überlassen dürfe, das sei für ihn eine Wohltat, die er seiner ehemaligen Schülerin und Freundin nie zu vergelten vermöge. Er hoffe, daß das offene, vertrauende Wesen des Jungen und sein warmes Herz ihm ihre Liebe, deren er bedürfe, erwerben werden. Daß Otto diese reichlich erwidern werde, daran sei gar nicht zu zweifeln. Noch gedachte Doktor Strahl mit den freundlichsten Worten seines Aufenthalts in Dorotheas Hause, als einer seiner liebsten Erinnerungen. Vor Doris Augen stieg, in diesen Erinnerungen verweilend, das Bild jener schönen Frau auf, vor deren Blick sie damals so erschreckt zurückgewichen war. War die Frau die Mutter dieses Kindes? Dori schaute noch einmal liebevoll auf die schlafenden Jungen, dann ging sie nach der Stube zurück, wo Fräulein Smele noch mit Dorothea zusammen saß.

»Eine Frage müssen Sie mir noch erlauben, Fräulein Smele«, begann Dori ziemlich erregt, indem sie sich zu den beiden niedersetzte. »Meine Freude darüber, daß ich diesen Knaben Otto bei mir behalten und ihn, wie der Vater mir schreibt, ganz nach meinem Herzen behandeln darf, so wie ich ein eigenes Kind halten und leiten würde, ist derart, daß ich nur immer eines fragen muß: Wie kann die Mutter dieses Jungen ihn nur so hergeben, auch wenn eine angegriffene Gesundheit ihr vieles erschwert? Ich meine, am allermeisten müßte sie die Trennung von ihrem Kinde angreifen. Wie kann sie Otto nur aus ihrem Hause weggeben? Auch wenn sie ihn nur dann und wann sehen könnte, so wüßte sie ihn doch in ihrer Nähe und könnte in jeder freien Minute ihn bei sich haben.«

»Sie erregen sich um einer Unmöglichkeit willen«, entgegnete Fräulein Smele, »die leidende Mutter ist selbst nicht mehr in ihrem Hause. Ihre gestörten Nerven führten einen Zustand solcher Aufregung herbei, daß sie nach einer Heilanstalt gebracht werden mußte. Ja, Sie können wohl vor Schrecken blaß werden, Fräulein Dori, es war auch ganz erschrecklich, die Frau in ihrem Zustande zu sehen und dazu den armen Mann, als er sich eingestehen mußte, die Kranke könne nicht mehr zu Hause gehalten werden. Der Arzt forderte ihre Entfernung, ihre Anfälle könnten gefährlich werden. Und diese Frau! Sie hätten sie nur kennen müssen in ihren guten Tagen! So schön, so begabt, so anziehend! Immer voller Witz und Leben, alles um sie her belebend, hinreißend – ja, diese Schuld hat die Gesellschaft auf sich, ihre aufreibenden Ansprüche haben diese Frau ruiniert. Ich konnte es wohl beobachten, wie die Hast und die Aufregung von Tag zu Tag zunahmen, und immer ruhelos mußte es weiter gehen, bis die Krankheit ausgebrochen war, angefangen hatte sie lange schon.«

»Aber wie ist denn so etwas möglich«, brach Dori nun in neuer Erregtheit aus, »wie kann es denn sein, daß die Gesellschaft irgend etwas zum Leben einer Frau zu sagen hat, wenn sie an der Seite eines Mannes steht, wie Doktor Strahl ist? Da hat er doch zu reden und er ist gewiß nicht der Mann, der eine Frau in aufregende und auszehrende Gesellschaft bringen möchte.«

»Davon können Sie freilich nichts verstehen, liebes Fräulein, das kann ich begreifen«, bemerkte Fräulein Smele in beschützender Weise. »Sie, die Ihr ganzes Leben in solcher Abgeschiedenheit und Einfachheit der Verhältnisse zugebracht haben, Sie können nicht beurteilen, was es ist, in der Gesellschaft einer Großstadt zu leben. Man muß mitmachen, man wird fortgerissen; eine Frau, so begabt wie unsere Dame, noch vor allen andern. Wenn auch der Herr Doktor nicht die Natur ist, so recht mitzumachen, und wohl oft gewünscht hat, seine Frau möchte mehr für ihn und die Kinder leben, man ließ sie nicht, sie kam zu keiner Ruhe. Da, dort, überall wurde sie gerufen, nicht eine Gesellschaft, die etwas zu bedeuten hatte, wo unsere Dame nicht dabei sein mußte, und so oft die ganzen Nächte durch, und nachher die Abgespanntheit, die Ermattung und dann wieder dasselbe, dieselben Aufregungen, dasselbe Anspannen aller Kräfte; ruhelos, immer zu. So ist die Gesellschaft und sie trägt die Schuld, wenn auch die Kinder zu kurz kommen! Wie soll eine solche Mutter zwischen Abspannung und neuen Anstrengungen noch Zeit und Kraft finden, ihren Kindern zu leben? Auch die Freude daran muß ihr vergehen, sie hat ja soviel anderes zu denken und sich für so viele Dinge zu interessieren, die mit den Pflichten der Gesellschaft zusammenhängen. Ich muß sagen, Fräulein Dori, ich glaube, daß Sie einem dringenden Bedürfnis entgegenkommen, indem Sie solche Kinder aus guten Familien bei sich aufnehmen, denn wie viele Mütter, die nicht dazu kommen, ihren Kindern zu leben, werden glücklich sein, diese in so guten Händen zu wissen.«

Dori hatte mit Verwunderung bis hierher zugehört, ihre innere Erregtheit schien sich durch die Rede nicht gelegt zu haben. Sie war aufgesprungen. »Sie haben recht, Fräulein Smele«, sagte sie mit funkelnden Augen, »ich bin zu einfältig, die Verhältnisse zu verstehen, die Sie als ganz gewöhnliche schildern. Ich habe immer geglaubt, wenn ein Mädchen sich mit einem Manne verbindet, so habe es nachher keine nähere Pflicht und auch gar keine größere Freude, als mit ihm und seinen Kindern zu leben; und diesen alles Beste, das sie selbst kennt und besitzt, mitzuteilen, müßte das größte Glück solcher Frauen sein. Warum gehen sie denn in die Ehe ein, wenn sie andere Pflichten höher stellen als diejenigen, die sie doch dem Mann und den Kindern schuldig sind? Sie sind ja frei, andern Pflichten zu leben, die sie vorziehen. Noch lieber will ich so einfältig sein, die Zustände, die Sie schildern, nicht zu verstehen, als darin zu leben und sie mitzumachen. Und nun will ich nach den Kindern sehen, sie könnten unruhig werden so in der ersten Nacht an fremdem Ort.«

Dori verließ rasch das Zimmer.

»Das gute Kind«, sagte Fräulein Smele mit einem gütigen Lächeln. »Sie kennt nichts von dem Leben der großen Welt. Wie könnte sie verstehen, welch einen Wert eine Erscheinung, wie unsere Dame ist, für die Gesellschaft hat, wie sie diese hebt, wie veredelnd sie auf die Männer wirkt. Es ist doch wohl eine schöne Pflicht, diese Aufgabe auf sich zu nehmen und den so weithin wirkenden Einfluß auszuüben.«

In schüchterner Weise erwiderte Dorothea: »Ich kenne ja vom Leben in den Großstädten nicht mehr als mein Kind und kann nicht mitreden. Ich mußte nur bei Ihren Worten daran denken, wie oft mein seliger Mann mir sagte: ›Das habe ich von meiner Mutter‹, wenn ich wieder erfuhr, wie zartfühlend und rücksichtsvoll für andere er war, so daß ich sagen mußte, so seien gewiß nicht viele Männer. Er hatte auch eine rechte Scheu vor allem Rohen und Gemeinen, da sagte er auch immer: Das hat mir die Mutter eingeprägt; und er meinte, wenn seine Mutter ihm nie gesagt hätte, was gut und schön, und was roh und häßlich ist, so hätte er es durch ihr eigenes Wesen gemerkt. Sie war das Beste, was er kannte, und mein Mann meinte, für jedes kleine Kind sei eine liebevolle und sorgsame Mutter das Beste, das je in sein Leben eintrete. Der Mann fange in ihrer Hand an, sie bringe die Eindrücke in das weiche Wachs, die nachher nicht mehr vergehen und durch das ganze Leben so wie ein Grundton nachklingen. Er sagte oft, wenn die Mütter doch nur wüßten, wie sie in ihrer Kinderstube die Macht in den Händen haben, ihren Charakter dem Ding aufzudrücken, das draußen das Regiment der Männer heißt. An alle solche Worte habe ich eben denken müssen und ich meine, wenn so bevorzugte Damen, wie die Ihrige ist, das so recht sehen wollten, wie es ist, so müßten sie sich doch sagen, sie haben das Größte und Wichtigste für die ganze Gesellschaft in ihren Kinderstuben in der Hand, und ihren Kindern zu leben, müßte doch für sie soviel genußreicher und beglückender und niemals so aufreibend sein, wie ein solches Leben in der Gesellschaft.«

Fräulein Smele hatte sich erhoben. Ein wenig gnädig sagte sie: »Es liegt ja wirklich in Ihren Anschauungen etwas so Natürliches, daß man fast wünschen möchte, die fortgeschrittene Gesellschaft könnte wieder in diese Einfachheit zurückgedreht werden. Ich kann es nun eher begreifen, warum Doktor Strahl seinen Sohn vor allem in Ihr Haus gebracht haben wollte, er denkt in Beziehung auf das häusliche und das Gesellschaftsleben nicht ganz wie seine Frau.«

Dorothea sah, daß Fräulein Smele sich zurückziehen wollte und begleitete sie nach ihrem Schlafgemach. Dann trat sie in das Zimmer ihrer Tochter ein. Dori stand am Fenster, durch das die milde, von Blumenduft gewürzte Nachtluft hereinwehte. Dorothea schaute einen Augenblick auf ihr Kind, dann fagte sie: »Dori, du hast einen schönen Tag gehabt heute, was kämpft so in dir?«

»Ja, Mutter, das war ein schöner Tag«, wiederholte Dori, »aber ich habe ein solches Leid im Herzen und gleich daneben ein solches Glück, daß es immer auf und nieder geht in mir. Es tut mir so weh, an den armen Doktor Strahl zu denken, der nun einsam, ohne Frau und ohne Kinder sein Leid in sich hineindrängen muß. Nun weiß ich, warum oft ein solcher Schmerzenszug auf seinem Gesichte lag. Aber Mutter, hättest du je denken können, daß dieser Mann sein bestes Gut, seinen herrlichen Jungen in meine Hand geben würde! Er kennt mich doch und weiß ja, wie armselig es steht um meine Bildung und mein Wissen und alle Kenntnisse, die andere haben, und doch zeigt er mir solches Vertrauen und übergibt mir den Jungen ohne Vorschrift. Wie ich ein eigenes Kind behandeln würde, so soll ich mit ihm tun.«

»Unser Herr Doktor muß an dir etwas gefunden haben, das er wohl so hoch schätzt wie vieles Wissen und Kenntnisse, sonst hätte er dir diesen Knaben nicht anvertraut«, meinte die Mutter, »du darfst dich wohl darüber freuen, ich tue es auch.« Daß diese Worte Wahrheit waren, konnte man auf Dorotheas Angesicht lesen.

»Da bin ich doch kein unnützes Geschöpf und muß kein solches werden, was meinst du, Mutter?«

»Nein, niemals, das habe ich aber auch nie gefürchtet.«

»Und habe ich nun nicht auch Kinder, die mich lieb haben, Mutter? Denkst du noch an deine Worte?«

»Ich habe gleich daran gedacht, wie ich so die Kleinen an dir hängen sah. Ich freue mich ja so darüber, wie ich nicht sagen kann, daß alles so geworden ist. Dori! du wirst ja auch niemals mehr solche Liebe entbehren müssen, denn mutterlose Kinder gibt es immer wieder und überall und dabei kannst du mancher armen, leidenden Mutter zu einem rechten Trost werden, wenn eine solche sich von ihrem Kinde trennen und es in fremde Hände geben muß.«

Dori hatte eine kleine Weile aus dem Fenster auf die duftenden Blumen in ihrem Garten, dann nach den Höhen der altbekannten Berge hinüber geblickt, über die der silberne Mond leise Lichtstreifen warf. »Mutter«, sagte sie, sich umwendend, »ich glaube, ich gehöre zu den glücklichsten Menschen auf Erden, ich habe nur zu danken. Ich will auch dem lieben Gott mit meinem ganzen Herzen und Leben danken, daß er mich so geführt hat. Du bist doch nun auch glücklich, Mutter? Wirst du niemals denken: Hätte doch Dori einen andern Schritt getan und säßen wir doch in Ardez?«

»Nein, niemals, Dori«, erwiderte lächelnd die Mutter, »ich habe ja nur um deinetwillen geschwankt, aber jeden Tag danke ich Gott, der dir die Sicherheit ins Herz gegeben hatte, das Rechte zu tun. Dein Glück ist mein Glück und darüber hinaus habe ich noch das eigene Glück, daß ich mich ohne Sorge jedes Tages freuen darf, denn du wirst nie allein und verlassen sein, auch wenn ich nicht mehr da bin.«

Wenn am lichten Sommerabend Dori mit ihrem Kinderschärchen die Höhe hinan steigt, um bei der alten Mauer sich zu lagern und dem Rauschen der laubreichen Kastanienbäume zu lauschen, was die Kinder vor allem lieben, dann schauen die Leute von Cavandone unter allen Türen und Fenstern ihnen nach, denn die fröhliche Schar mit der jungen Mutter wird überall gern gesehen. Immer wieder sagt dann eine Nachbarin zur andern: »Sieh doch, wie sie den kleinen Buben streichelt, den das Großkind der alten Maja immer an der Hand führt, man könnte meinen, er wäre ihr eigener. Und den armen Lahmen, wie sorgfältig sie den behandelt! Der ist in gute Hände gekommen, die eigene Mutter könnte nicht zärtlicher mit ihm sein.«

»Sicher nicht«, bestätigt dann die Nachbarin, »aber sieh, wie sie dem andern nachschaut, dem mit dem schönen Lockenhaar, wenn er nur drei Schritte von ihr weg geht; den hütet sie erst recht wie ihren Augapfel.«

Ist die kleine Gesellschaft oben angelangt und ertönen nun auf den Höhen drüben die Abendglocken eine nach der andern, dann lauscht Dori, an ihre Mauer gelehnt, den altbekannten Klängen und die Erinnerungen an die vergangenen Tage steigen lebendig in ihr auf. Sie sieht das fremde Fräulein vor sich auf der Mauer sitzen, den alten Herrn herankommen mit den weißen Haaren und dem liebevollen Ausdruck auf dem schönen Angesicht, und so vieles, das diese Begegnung nach sich zog, zieht durch ihre Gedanken. Und als tiefsinniges Gebet, ganz anders, als da sie an dieser Stelle zum erstenmal die Worte las, steigen diese nun aus ihrem Herzen auf:

»Nimm meine Hand,
Daß mich die deine leite!«

.

Aber zu lange läßt Otto ihr nicht zum Sinnen Zeit, er ist schon an ihrer Seite und möchte das Lied von den Rosen singen, denn er liebt die Rosen und die Freude und singen will er mit Tante Dori, so oft es nur angeht. Und Dori mit ihrem frohen Dank im Herzen stimmt gern an, die Kinder fallen alle ein, Marietta allen voran mit der schönsten Stimme und dem größten Eifer; daß sie kein Wort von dem versteht, was sie singt, stört sie gar nicht, Wort und Ton singt sie als gelehriges Vögelein fehlerlos mit. Weithin durch den Wald schallt dann der frohe Gesang:

»Rote Wolken am Himmel,
Wilde Rosen im Hag,
Und ich freu' mich, ja, ich freu' mich
Am sonnigen Tag!«

*

 


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