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Fünfzehntes Kapitel

Zwei Tage waren vergangen. Der Wagen, der Doktor Strahl das Tal hinunter nach Landeck bringen sollte, stand vor der Tür. Der Doktor stand noch drinnen in der Stube und schüttelte Dorothea beide Hände. »Die Tage, die ich in Ihrem Hause zugebracht habe, Frau Maurizius, gehören zu meinen angenehmsten Erinnerungen«, sagte er mit großer Freundlichkeit.

»Wenn doch ein anderes Jahr Sie wieder in unsere Berge brächte, wie wollten wir uns freuen!« entgegnete Dorothea, seinen Händedruck erwidernd.

»Ach, so etwas kommt nicht zum zweitenmal, wir hören gewiß in unserm Leben nie mehr etwas von Ihnen«, sagte Dori, deren Hand jetzt der Doktor zum Abschiednehmen ergriffen hatte.

»Woher kommt Ihnen denn diese Gewißheit?« fragte er lächelnd.

»Ach, Sie wissen ja schon, Herr Doktor, zweimal erlebt man nicht dasselbe, am wenigsten so was Schönes, wie meine Unterrichtsstunden waren. Und dann gehen Sie nun in Ihre große Stadt zurück, da werden Sie gleich so schrecklich viel zu tun haben, und so viele, viele Menschen werden Sie in Anspruch nehmen, daß Sie gewiß nicht einmal mehr Zeit finden werden, nur einen Gedanken noch zu uns herauf zu schicken.«

»Das letztere ist mir nicht so gewiß wie Ihnen«, entgegnete mit einem letzten Händedruck der Doktor. Dann trat er hinaus und bestieg seinen Wagen.

Im Haus an der Halde folgten einige so stille Tage, daß man hätte glauben können, das Haus sei völlig ausgestorben. Niemand ging ein, niemand ging aus. Am Fenster gegen den Pisoc hin, um den jetzt immer öfter die grauen Wolken lagerten, denn der August war nicht sonnig eingezogen, saßen Dorothea und ihre Tochter schweigend bei ihren Handarbeiten. Jede von ihnen ging ihren Gedanken nach, zu reden trieb es weder die eine noch die andere. Jeden Tag einmal kam ein kleines Gespräch vor, das immer fast wörtlich sich wiederholte. So fing Dori auch heute, von ihrer Arbeit aufschauend, an: »Mutter, wollen wir nicht wirklich heut die bestimmte Antwort an Niki Sami schicken? O, wenn doch diese Unsicherheit vorbei wäre!«

Dorothea erschrak, wie jedesmal bisher, wenn Dori ihre Frage vorbrachte. »Ach, Dori, eile nur nicht«, bat sie ängstlich, »nachher kannst du ja nicht mehr zurück. Denk' doch noch recht über alles nach, es könnte dir doch noch anders werden mit der Zeit, mach nur nicht so schnell fertig.«

Dori fielen die Verzagtheit und die Angst der Mutter als eine schwere Last aufs Herz. Sollte die Nonna wirklich recht haben? Würde die Zeit kommen, da sie sich selbst bittere Vorwürfe machen müßte um ihrer Mutter willen? Hoffte diese doch darauf, daß ihre Gedanken sich ändern, wenn sie es auch nie ausgesprochen hatte? War es wirklich ihre Pflicht gegen die Mutter, daß sie so etwas tun sollte – so etwas – mit Niki Sami ihr ganzes Leben zubringen, für immer – immer? –

Dori sprang auf, sie konnte dem Gedanken nicht mehr stille halten, sie lief zur Tür hinaus, ins Freie. Da kehrte sie in Hast noch einmal zurück und rief in flehendem Ton in die Stube hinein: »Sag es ihm, Mutter, daß ich nicht kann. Denn ich kann nicht! Ich kann nicht!« Sie stürzte hinaus.

Gleich darauf trat Niki Sami herein; Dori mußte ihn noch erblickt haben. »Grüß Gott, Base, war das Dori, die den Fußweg hinunterrannte, eben jetzt, als ich auf der Straße herankam?« fragte er schnell.

»Ja, ich denke, es war sie. Setz dich, Vetter«, sagte Dorothea, ihn begrüßend.

»Nein, nein, dann will ich sie zurückholen. Ich will nun einmal von ihr selbst hören, was sie sagt. Die Basen drunten haben mir so verworrenes Zeug gesagt, von dem glaub' ich kein Wort.«

Niki Sami wollte wieder zur Tür hinaus, aber Dorothea hielt ihn fest. Sie sagte, Dori laufe gewiß so drauf los, daß er sie doch nicht mehr erreiche, aber sie selbst könne ihm die Antwort geben, es sei noch besser so, daß sie beide so ganz ruhig miteinander reden. Dem Niki Sami war es auch recht so. Er setzte sich zu Dorothea hin. Sie begann: »Sieh, Vetter, es wird mir schwer, dir es zu sagen, aber Dori kann sich nicht zu der Heirat entschließen.«

In ungläubiger Verwunderung riß Niki Sami seine Augen auf. »Das wird wohl nicht so ernst gemeint sein«, sagte er dann. »Habt Ihr denn der Tochter nichts von allem gesagt, was ich Euch aufgetragen habe, wie sie es bei mir haben kann und was dann alles ihr Eigentum wird?«

»Sie fragt dem allem wenig nach, es nützt nichts, ihr viel davon zu sagen«, entgegnete Dorothea.

»Freilich nützt's, wenn sie's nicht weiß. So dumm ist die noch lang nicht, daß sie nicht verstünde, was es ist, wenn man ein Leben führen kann, wie man will und daß man sich wohl sein lassen kann, wenn man hat, was man braucht dazu. Soviel ich von der Nonna weiß, habt Ihr nicht zuviel zu brauchen, Base.« Niki Sami rasselte unwillkürlich ein wenig in seinen Taschen.

»Wenn aber Dori nicht mehr und nichts anderes begehrt, als was sie sagt, so hat sie eben genug und fragt dem, was drüber hinausgeht, nicht viel nach, Vetter.«

»Daran seid Ihr schuld! Das ist, weil sie's nicht besser kennt und weiß«, warf Niki Sami vorwurfsvoll hin. »Da hat die Base Marie Lene recht, Ihr habt Eure Tochter nur so aufwachsen lassen, wie eine Rübe im Feld, Ihr könntet's doch besser wissen.«

Jetzt ging ein leises Lächeln über Dorotheas Angesicht: »Es scheint mir doch, die Tochter sei bei dem Wachstum nicht so verfehlt ausgefallen, da du sie durchaus zur Frau haben willst, Niki Sami.«

»Daß sie verfehlt sei, hab' ich ja nicht gesagt, und anstatt so etwas Unnützes zu sagen, Base, sagt mir lieber, was wir nun machen wollen, daß Eure Tochter zum Verstand kommt und einmal ja sagt! So kann man vorwärts machen.«

»Niki Sami«, sagte Dorothea jetzt in ernster Freundlichkeit, »ich glaube, du tust besser, diesen Gedanken ganz fallen zu lassen. Ich glaube, ihr seid nicht füreinander bestimmt, du und Dori. Wir wollen gute Freundschaft halten und uns mit dir freuen, wenn du dann eine andere Frau findest und sie uns als liebe Base zuführst.«

»Davon will ich nichts wissen, ich will nun einmal die und keine andere, und das wird wohl zu erreichen sein. Ich will dann in ein paar Tagen wiederkommen und mit ihr selber reden. Die wird sich wohl noch anders besinnen, es meint jede, sie müsse zuerst ein wenig dergleichen tun, als wolle sie nicht, das weiß man schon. Lebt wohl, Base.«

Dorothea wollte dem Vetter noch einmal begreiflich machen, daß bei seinem Wiederkommen dieselbe Antwort erfolgen werde, aber er wollte nichts mehr hören, er ging seiner Wege.

Als Dori bei ihrem Austritt aus dem Hause den Niki Sami heranschreiten gesehen hatte, war sie ohne Aufenthalt den Fußweg hinunter, der Brücke zugeeilt, dann den Berg hinauf gerannt, bis zur freien Höhe, wo der Pfad eine kleine Weile eben dahingeht, und wo sie so oft auf alle Seiten hin all den leuchtenden Blumen nachgelaufen war. Hier schaute sie sich um, Niki Sami folgte ihr nicht nach, wie sie befürchtet hatte. Aber nach den Blumen schaute sie nicht aus. Sie ging weiter, den Waldweg hinauf, und trat in ihr Sträßchen ein, das sie liebte, auf dem sie immer so gern dahingewandert war. Heute sah sie nicht darauf, sie schaute nicht um sich, sie ging immer zu. Bei der wohlbekannten Villa hob sie, wie aus Gewohnheit, den Kopf auf. In dem kleinen Garten war niemand, es war still ringsum. Sie ging an den Gasthäusern von Vulpera vorüber, der Straße zu, die zum Kurhaus hinunter führt. Schon war sie auf den schmalen Fußpfad getreten, um dem rauschenden Inn entlang zu gehen. Da besann sie sich: Niki Sami hatte ihr einmal gesagt, im Heimweg nehme er immer den Waldweg, denn er trinke gern im Vorbeiweg ein Glas Wasser in der Trinkhalle. Sie kehrte schnell um, sie wollte nicht mit ihm zusammentreffen. Rasch ging sie über die Brücke und am Garten beim Kurhaus hin.

»Nun, Dori, wie wär's, wenn man einmal wieder einen alten Freund begrüßte?« rief es hinter den Bäumen hervor ihr zu. Es war Melchiors Stimme.

Dori kam einige Schritte zurück und trat in den Garten ein. Der alte Gärtner schnitt ganz rüstig an seinem Gesträuch herum, aber er war nicht allein. Vor ihm stand, sehr geläufig an ihn heran redend, ein dünn geschnürtes Persönchen mit einem weißen Tellerchen schräg auf dem Kopfe schwebend, was wohl ein Mützchen vorstellte. Breite Bänder waren daran befestigt und flatterten im Winde hoch auf. Ein weißes, oval geformtes Fetzchen mit einer Broderie eingefaßt, das wohl eine Schürze bedeuten sollte, flatterte ebenfalls wie ein Fähnchen hin und her. Dori wollte sich gleich wieder entfernen, als sie Melchiors fremdartige Bekannte erblickte, aber er machte ihr ein Zeichen, daß er nicht lange mehr in Anspruch genommen sein werde, und daß sie bleiben sollte. Gleich hinter dem Gesträuch im Schatten des Baumes stand ein Kinderwagen; Dori nahte sich diesem. Es saß ein kleiner, blasser Junge darin, der mit großen, ernsthaften Augen durch das Gesträuch zu dringen suchte, er wollte offenbar nichts von dem Gespräch der beiden Stehenden verlieren. Dori trat zu ihm heran. Es war kein kleines Kind, das noch im Wagen gestoßen werden mußte, das konnte man dem Ausdruck des Jungen wohl entnehmen. Die tiefliegenden Augen in dem schmalen Gesichtchen schauten so nachdenklich und forschend vor sich hin, als wären es diejenigen eines alten Männchens. Jetzt erblickte Dori zwei kleine Krücken, die neben dem Jungen auf dem Wagen lagen.

.

»Bist du krank. Kleiner?« fragte sie mitleidig, sich über den niedern Wagen bückend und liebevoll die blassen Wangen des Jungen streichelnd.

Er schaute ganz erstaunt zu ihr auf; Doris Weise mußte ihn in Verwunderung setzen. »Nein«, sagte er dann, »ich bin immer so. Hör, was sie jetzt wieder sagt.«

»Nein, Herr Gärtner, so denkt kein vernünftiger Mensch mehr«, fuhr das Mädchen auf der andern Seite des Gesträuchs mit lauter Stimme fort; »eine solche Frau hat Besseres zu tun, als einen kleinen Krüppel zu verpflegen, das wird ihr kein Mensch zumuten.«

»Aber sie ist ja die Mutter –«, unterbrach Melchior hier die Rede.

»Wenn sie aber viel Besseres und Größeres tun kann«, fuhr die Sprechende fort, »und sie Studien in dieser und jener Wissenschaft macht, wie wenige Frauen und auch Männer dazu es zu tun imstande sind, kann sie doch viel Größeres leisten, als wenn sie sich mit dem kleinen Krüppel abgibt. Ich kann Ihnen sagen, daß unser Herr selbst erstaunt ist über seine Frau und sagt, sie wisse soviel, daß man zwei Professoren aus ihr machen könnte. Sie mußte auch nur hierher, die Kur zu machen, weil sie soviel gearbeitet hat, der Arzt hat es befohlen. Der Herr macht unterdessen eine Reise mit den beiden ältern Söhnen, das sind zwei hübsche, gesunde Jungen. Der Arzt wollte, man solle den Kleinen mit hierher nehmen, die Luft müßte ihm gut tun. Aber was! Gut tun! Der ist und bleibt ein Krüppel! Was es für die Dame ist, einen solchen Jungen zu haben, kann man denken, sie ist froh, wenn ich solang wie möglich hier mit ihm draußen bleibe, so muß sie ihn doch nicht um sich haben.«

»Es ist gut, daß er eine so freundliche Pflegerin hat, da ihm die Mutter fehlt«, sagte Melchior trocken.

Die so bezeichnete Pflegerin blickte den Gärtner etwas zweifelhaft an, sie wußte offenbar nicht ganz sicher, ob seine Worte ernst gemeint seien.

»Sie ist gar nicht freundlich, sie ist so bös wie eine Teufelin«, ertönte plötzlich eine aufgebrachte Stimme durch das Gebüsch und mit funkelnden Augen beugte der lahme Junge sich vorwärts, um recht mit seiner Stimme durchzudringen.

»Da hören Sie's, das hat man zum Dank!« rief die erzürnte Pflegerin aus. »Der kleine, boshafte Krüppel –«.

Dori ergriff den Wagen und rollte ihn so weit weg, daß man von den weiteren Worten nichts mehr hören konnte. Dem aufgeregten Jungen liefen jetzt die Tränen über die bleichen Wangen herab.

»Ja, ich weiß es schon«, schluchzte er jetzt auf, »kein Mensch hat mich lieb. Karl und Max gehören zum Papa, und ich gehöre zu gar niemand.«

Dori beugte sich zu ihm nieder und umfaßte ihn: »Du armer Kleiner!« sagte sie zärtlich, »sieh, ich habe es wie du, ich gehöre auch zu niemand.«

Jetzt schlang der Junge seine beiden Arme um ihren Hals. »Gehörst du auch zu niemand? So will ich dir etwas sagen.« Und er zog sie noch ein wenig näher zu sich nieder und sagte ihr ins Ohr: »So komm zu mir, dann wollen wir die böse Lorette fortjagen.«

In diesem Augenblick kam die Pflegerin Lorette rasch dahergegangen und trat an den Wagen heran. »So hast du jemand gefunden, der dich umher führte, Willi? Ich danke Ihnen«, sagte sie dann, mit ausgesucht freundlicher Stimme sich zu Dori wendend, und rollte schnell den Wagen davon.

Dori ging zu der Stelle zurück, wo Melchior arbeitete. Sie wollte gern hören, wer der arme Junge sei, und was Melchior von ihm und der Mutter wisse, die mit hier war, ob er diese kenne.

Melchior wußte nichts weiter, als daß die Dame im Kurhaus wohnte, daß die junge Dienerin täglich viele Stunden lang den kranken Jungen im Garten umherfahre, und nur dann sich dem Gärtner nahe und ihm ihre Mitteilungen mache, wenn sie keine erwünschtere Gesellschaft im Garten finde.

»Der arme Kleine, er muß doch eine sonderbare Mutter haben!« sagte Dori noch ganz erfüllt von dem Eindruck, den ihr der kleine Leidende gemacht hatte.

»Das habe ich auch schon gedacht«, entgegnete Melchior. »Und etwas anderes finde ich auch noch sonderbar, Dori. Warum sitzest du denn nun trübselig unten im Kellerloch und weißt doch, daß oben hell und warm die Sonne scheint und Freude in die Herzen bringen kann?«

Dori erinnerte sich gleich des Gesprächs von damals wieder, da Melchior diesen Vergleich angewandt hatte. Einen Augenblick schwieg sie stille, dann sagte sie kleinlaut: »Ja, Melchior, wenn man es auch weiß, daß oben die Sonne ist, die fröhlich macht, wenn man aber unten im Kellerloch liegt und hat keine Leiter, hinauf zu steigen, wie kommt man hinauf?«

»Man hat da unten Zeit, ein wenig in sich zu gehen, und dann erinnert man sich, daß man einmal gewußt hat, ein barmherziger Helfer würde uns einen rettenden Arm entgegen halten, wenn wir die Hände bittend danach ausstreckten.«

Augenblicklich stiegen in Doris Herzen die Worte auf, die ihr Vater einmal in seinen letzten Tagen ausgesprochen und die ihr einen tiefen Eindruck gemacht hatten. Es war ganz dasselbe, was Melchior hier sagte und wie die Großmutter vom Beten gesprochen hatte. Und das Lied klang wieder an ihr Ohr, das sie von dem Fräulein kennen gelernt und dem Vater noch gesungen hatte, es war dasselbe Flehen: »Nimm meine Hand«. »Ja, wenn man doch so zu einem Vater um Hilfe rufen dürfte!« stieg es verlangend in ihrem Herzen auf. Sie hatte nie so gebetet. Sie hatte immer einen Spruch oder einen Liedervers gesprochen, bevor sie einschlief, das war sie gewohnt, das mußte man tun als letztes Tagesgeschäft. Aber in diesem Augenblick kam ihr das Wort, das sie in früherer Zeit so oft gesungen, ganz neu vor, wie ein Gebet, ganz besonders für sie gemacht und für alle diejenigen, die wie sie so weit unten in der Traurigkeit lagen und oben die Sonne in Licht und Freude schimmern sahen und sie nicht mehr erreichen konnten, das flehende Wort: »Nimm meine Hand!«

»Du mußt lang nachsinnen über mein Wort. Kommt es dir so fremd vor, Dori?« fragte Melchior. »Weißt du, was der barmherzige Helfer uns verkündigt hat? Daß wir sagen dürfen: Unser Vater, der du bist im Himmel! Weißt du, was ein Vater ist, und wie man bei einem Vater Hilfe holen kann?«

Jetzt flammten Doris Augen auf: »Ja, gewiß weiß ich, was ein Vater ist, das weiß ich wohl!« rief sie aus. »Wenn mein Vater noch lebte, wüßte ich wohl, wo Hilfe holen, dann dürften sie mir nicht sagen, ich sei ein unnützes Geschöpf, ja, dann wüßte ich wohl, wo mich hinwenden, und wo Schutz und Hilfe zu finden.« Vor Erregung stürzten Dori die Tränen aus den Augen.

Melchior schnitt an seinen Gesträuchern herum, bis Dori sich wieder gefaßt hatte, dann sagte er: »Wer so gut weiß, wie du, was es ist, einen liebenden Vater zu verlieren, der müßte einer der glücklichsten Menschen sein, wenn er es recht erfassen könnte, daß er einen solchen Vater im Himmel hat, den er nie verlieren kann, wenn er sein Kind sein will. Möchtest du ihm nicht auch angehören als sein Kind?«

»Doch«, erwiderte Dori, »aber ich weiß nicht, wie Ihr es meint, unserm Vater im Himmel gehören doch alle Menschen an als seine Kinder.«

«Ja, ja, Dori, das ist schon recht, als das kommt jedes von uns zur Welt, da hast du schon recht«, bestätigte Melchior. »Wenn es dir aber damals beim Vater in der Heimat nicht gefallen hätte, immer so unter seinen Augen zu stehen und zu tun, was er von dir wollte –«

»O, der Vater hatte mich so lieb, er mochte von mir wollen, was er wollte, so merkte ich, daß er es tat, um mir Gutes zu tun, warum hätte ich nicht unter seinen Augen stehen wollen?« warf Dori rasch dazwischen.

»Ich habe mir's gedacht, es sei ein solcher Vater gewesen, so kannst du um so besser empfinden, was es ist, einen liebenden Vater im Himmel zu haben, der uns auch nur Gutes tun will«, fuhr Melchior gelassen weiter. »Aber nimm nur einmal den Fall an, es wäre möglich gewesen, du hättest einmal tun wollen, was dir allein gefiel, und du hättest dein eigener Herr und Meister sein wollen, so hättest du ja die Freiheit gehabt, fortzulaufen, weit weg von des Vaters Beaufsichtigung, und deinen eigenen Weg zu gehen. Wenn du dann nach Jahren in eine große Not gekommen wärest, aus der niemand dir helfen konnte und wollte, und du hättest dich an die Liebe deines Vaters erinnert, wie der dir immer half und helfen konnte, hättest du da gleich das frohe Gefühl gehabt, der ist mein Vater, ich bin sein Kind, der wird mir helfen? Hätte dir da nichts dazwischen gelegen, das dich von ihm trennte, so als wärest du ja gar nicht sein Kind geblieben?«

Dori sah sinnend vor sich hin.

Der Gärtner schnitt an seinen Zweigen weiter.

»Ja, ich verstehe Euch, Melchior«, sagte sie nach einer Weile. »Und wenn man so für sich gelaufen ist, wie kommt man dazu, denken zu dürfen, ich bin doch das Kind, und er will mein Vater sein, zu dem ich um Hilfe rufen darf?«

»Der es uns zuerst gesagt hat, daß wir einen liebenden Vater im Himmel haben, der muß es wissen«, entgegnete Melchior. »Geh du seinen Worten nach, es ist jedes wie für dich geschrieben. Du wirst wohl manches davon schon im Unterricht gehört haben; aber wenn du die Worte so mit dem Verlangen liesest, daß sie dir Antwort geben möchten, und sie das tun und in dir zur lebendigen Wahrheit werden, die du an dir selbst erfährst, und sie dich dann zum fröhlichen Kinde machen unter des liebenden Vaters Schutz, dann wirst du sagen: ›Ja, der Alte hatte recht, es ist etwas anderes, im Kellerloch zu sitzen und zu wissen, daß droben die Sonne leuchtet und wärmt, oder in der hellen, warmen Sonne zu stehen und ihr erfreuendes und erwärmendes Licht bis ins Herz hinein zu spüren.‹«

Dori stand schweigend und sinnend da, es mußten noch mehr Fragen in ihr arbeiten. Der Alte schnitt und ordnete weiter von Strauch zu Strauch; Dori folgte ihm immer schweigend nach.

»Melchior, ich möchte so gern noch etwas fragen«, sagte sie endlich ein wenig zaghaft.

»Was ich weiß, sag' ich dir gern, nur zu mit den Fragen«, ermunterte er.

»Wenn man auch so recht den Weg als Kind zu seinem Vater im Himmel fände, dürfte man dann wohl so fragen und bitten, wie ich es zu meinem Vater hatte tun dürfen?«

»Ja, so mein' ich's, Dori«, entgegnete Melchior, »aber nicht so, daß man dann nur so vom Himmel herunter bitten könnte, was man wünscht. Dein Vater, der dich lieb hatte, gab dir auch nur, was dir gut war, was er besser wußte als du, das weißt du ja wohl. Das letzte Wort eines jeden Gebetes sollte immer sein: Was du willst, will auch ich.«

»Aber wenn man gern tun würde, was das Rechte ist, damit man sich nicht einmal furchtbare Vorwürfe zu machen hätte, und wenn man nun recht zu Gott beten könnte, daß er uns den rechten Weg zeige, könnten wir dann wohl eine Antwort erhalten, so daß wir unseres Weges gewiß würden?« fragte Dori gespannt.

»Wenn wir mit der rechten Ergebung in Gottes Willen beten und stille sein und warten können, so führt er uns schon so, daß wir seine Antwort verstehen«, gab der Alte ruhig zurück.

»Aber Melchior, wenn wir nicht warten können, wenn wir eine Antwort haben müssen, gleich jetzt, in wenigen Stunden, wie finden wir sie dann?«

Melchior lächelte. »Du bist pressiert, scheint es mir. Ich kann dir nichts anderes sagen; aber ich meine, einem alten Mann, wie ich bin, kann ein junges Kind, wie du noch eines bist, wohl seine Sache anvertrauen, vielleicht weiß ich dann noch etwas zu sagen.«

»Ja, Ihr habt recht, Melchior, ich will alles heraussagen, so könnt Ihr selbst sehen, wie nötig ich eine Antwort hätte. Einen Mann soll ich nehmen, den ich nicht will und nicht mag, ich bin froh, wenn ich ihn nicht sehen und nicht mit ihm reden muß; denn was er sagt, ist mir alles einerlei, und was ich zu sagen habe, ist ihm langweilig. Aber sie sagen, es sei meine Pflicht um der Mutter willen; ich könnte ihr gute Tage bereiten und würde dabei auch glücklich werden. Und wenn ich's nicht tue, so werde ich mir einmal die bittersten Vorwürfe machen müssen, und ich werde der Mutter die alten Tage verkümmert haben, anstatt ihr wohlzutun, und selbst ein unnützes Geschöpf sein und bleiben.«

Melchior schnitt erst noch ein Weilchen weiter, dann sagte er: »So, so, was du mir da von deinen Gedanken über den Burschen sagst, das wirst du ihm wohl nicht präzis so in die Augen hinein gesagt haben?«

»Nein, wie könnte ich, wenn ich doch daran denken sollte, seine Frau zu werden!« gab Dori zurück.

»Wenn du aber um eine Antwort beten wolltest«, fuhr Melchior fort, »so sähe doch der liebe Gott in deinem Herzen wohl, wie es da steht, und daß deine Sache damit anfinge, daß du einen Menschen so ein wenig hinters Licht führen würdest. Was meinst du, kommt dir vor, daß unser Herrgott im Himmel an so etwas sein Wohlgefallen haben könnte?«

»Nein, nein, nicht wahr, Melchior«, rief Dori lebhaft aus, »nicht wahr, so etwas kann nicht recht sein, das so verdreht angefangen würde! Nicht wahr, so etwas ist nicht nach Gottes Willen, das kann keine Pflicht sein, die man zu erfüllen hätte, und man muß sich nie über so etwas Vorwürfe machen, es nicht getan zu haben?«

.

Doris Augen leuchteten vor Freude, daß endlich jemand fühlte wie sie und es aussprach.

»Dori«, sagte Melchior mit zustimmendem Kopfnicken, »sieh' du dich nach keiner andern Antwort mehr um, gib du diejenige, die lauter und wahr in deinem Herzen steht. Such du vor allem den Weg zu deinem Vater im Himmel, daß er dich wieder kenne und du ihn, so wie du einen liebenden Vater kanntest und noch ganz anders, da fühlst du dich wieder in sicherem Schutz, findest das Rechte vor seinen Augen und hast um das Zukünftige nicht zu sorgen, weder für dich, noch für die Mutter; es liegt in seiner Hand. Du weißt ja noch wohl, wie dir's war als Kind bei deinem Vater, wenn du den um alles fragen, um alles bitten, und ihm alles vorlegen konntest? Noch viel anders ist's, den Allmächtigen im Himmel als seinen Vater zu kennen und für sich zu haben.«

»Ob ich's noch weiß, wie's war, ob ich's noch weiß«, sagte Dori mit freudestrahlenden Augen; »o die Sicherheit und das Vertrauen wieder im Herzen zu haben! O Melchior, Ihr habt mir gute Worte gesagt, ich danke tausendmal! Ich seh' Euch wohl bald wieder, nun muß ich gehen.«

Dori drückte dem Alten mit großer Herzlichkeit die Hand und lief nach der Straße hinauf.

Dorothea berichtete der Heimgekehrten von Niki Samis Besuch und daß er an kein Abweisen glauben wolle.

In Doris Herzen arbeiteten jetzt so viele Gedanken, die Melchiors Worte angeregt hatten, daß sie den Bericht der Mutter kaum vernahm und nichts erwiderte. In ihrer Kammer saß sie sinnend bis tief in die Nacht hinein. Ja, Melchior hat recht, kein größeres Glück kann es geben, als zu wissen, daß uns ein Vater lieb hat, der uns immer nah ist, zu dem wir immer gehen dürfen in aller Not und allem Leid, der immer helfen kann. Warum habe ich denn das Glück nicht im Herzen? Gehöre ich denn zu denen, die dem Vater fortgelaufen sind? Hier kam Dori wieder zu den Gedanken an ihren irdischen Vater zurück. Wie nahe hatte sie mit ihm gelebt! Es gab keine Zeit des Tages, da sie nicht mit ihm zusammenhing. Bei allem, was sie tat, wußte sie, ob es dem Vater lieb war oder nicht, sie dachte auch immer erst daran, bevor sie irgend etwas unternahm oder unterließ. Dori kam in ihren vergleichenden Gedanken immer tiefer hinein und durchschaute ihr eigenes Herz und Wesen mit so klaren Blicken, wie sie es nie zuvor getan hatte. Ja, so ist es, sagte sie sich: Ich bin weggelaufen von meinem Vater im Himmel und ich verdiene es, wenn er mich hilflos laufen läßt. Aber sie suchte doch nach Hilfe und in ihrem Herzen stiegen Worte auf, die sie lang gekannt, aber nicht so, als ob sie für sie selbst geschrieben wären, Worte für solche, die verdienten hilflos und verlassen zu bleiben, und doch sprachen die Worte von einem offenen Weg zu dem liebenden Vater zurück für alle. Dori faltete ihre Hände und flehte: »O auch für mich! Auch für mich!« Von jenen Worten hatte Melchior gesprochen, sie wollte seinem Rate folgen.


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