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Der Bruder

Ein Auswurf aus dem Menschenvolk, verwünscht, verhaßt,
Irrt Epimetheus angstvoll ohne Ruh und Rast
Umher, ausschauend, welche Zuflucht er gewinne,
Wo er dem Atem der Verfolgerschar entrinne.
Schließlich in eines alten Wassergrabens Kluft
Hinter dem Damm der Böschung fand er Unterschluft.
Dort, unterm hohen Schilf und Rohrgestrüpp verborgen,
Hielt er sich regunglos versteckt mit Angst und Sorgen.
Ein Stündlein ausgenommen jeden Tag einmal,
Wo er mit Zitterzagen sich den Mut abstahl,
Daß er sein Schutzversteck verließ und aus dem Rohr
Über den Rand der Grabenböschung kroch empor,
Um nach dem trauten Hügelzug hinauf zu spähen,
Wohinter ihm des Lebens Lust und Leid geschehen,
Und seinem ungetreuen Glücke, das verscholl,
Die Trauerklage nachzuweinen wehmutvoll.

Doch heute, wie er wiederum von seiner Lauer
Die Bücke sandte nach dem Kamm der Bergesmauer,
Was schiebt, was wälzt sich für ein Stimmenwogenmeer
Brausend und brandend aus dem Menschenreich daher?
Jubelgewitter, Farbenblitze, Jauchzerschläge!
Und einesmals, auftauchend auf dem Höhenwege,
Erschien mit Hörnerschmettern und mit Fahnenflug
Ein festgeschmückter Menschenvölkerscharenzug,
Über die Kuppen unerschöpflich sich entrollend,
Beständig neue, andere, nicht enden wollend.
Nicht Menschen einzig; denn einträchtiglich gesellt,
Zog mit dem Menschenvolk die lichte Engelwelt,
Blumengewinde mit erhobnen Armen schwingend
Und immerfort um einen Wagen Tänze springend,
Auf dessen hohem Throne, festlich aufgetürmt,
Von Liebesungestüm und Freudenrausch umstürmt,
Ein fröhlich Kinderlachen jauchzte in die Weite.
Und sieh! Wahrhaftig, an des Engelgottes Seite
Es selbst, das Gottesknäblein, aber unverwundet,
In junger Schönheit neugeboren und gesundet.
Glück strahlt aus seiner Stimme Ton. Von seinem Lachen
Blaute die Luft und grünte Frühlingsauferwachen.

Ein Wink des Engelgottes. Auf sein Zeichen schwang
Sich aus dem Heereszug ein donnernder Gesang,
Im Takt des Reiseschrittes ein gewichtig Wort,
Ewig das nämliche, behauptend immerfort.
Verworren klang der Wortlaut, des Getümmels wegen,
Das jubelnd ihn umschrie mit tollen Jauchzerschlägen.
Doch als er endlich Sinn und Formgestalt aufwies,
Wars seines Bruders Name, den der Jubel pries.

Längst war verhallt, verstummt Gesang und Ruhmgeschrei,
Über die Hügel weg die letzte Schar vorbei;
Doch immer stiert er noch nach dem Gebirg ins Leere,
Von wo ihm war geschehen dieses Namens Märe.
Dann plötzlich, gleich wie wenn des Schlächters wuchtiger Hammer
Mit einem Schlag den Ochsen fällt, warf ihn der Jammer
Zu Boden, bäuchlings auf den Rasen hingestreckt,
Gesicht nach unten, Mund und Augen erdbedeckt.
Kein Wille, kein Gedanke, alles tot inwendig
Und hohl und finster; bloß der Schmerz ist noch lebendig.
Und alles, was da sonst die Menschenkinder ficht,
Hunger und Durst und Kälte, ihn verdroß es nicht;
Gleichviel, ob Stund um Stund an ihm vorüberzog,
Der Tag erlosch, des Abends letztes Licht verflog.

Doch als nun Finsternis das weite Erdenland
Begrub und stummen Winks mit ihrer Zauberhand
Die Nacht die Geister und Gespenster aus dem tiefen,
Leblosen Schlafe weckte, den sie lichtscheu schliefen,
Der Traumgesichte und Phantome Fledermäuse
Und das Gewühl des Giftgewürms im Herzgehäuse,
Da regte sichs in ihm, Bewußtsein dämmert auf,
Die Martermühle der Gedanken kam in Lauf;
Drob bluteten die Wunden und die Höllen rauchten,
Und des erlittnen Tages Widerbilder tauchten
Aus den Gedächtnishöhlen gaukelnd auf und nieder.
Den Zug, den fürchterlichen, sah im Geist er wieder,
Wie er im Takte der Verdammnis Trott und Trab
Über die Hügel geisterte bergauf, bergab.
Doch nicht der Engelgottes mit dem Knäblein mehr,
Ein andrer ritt an seiner Statt im Zug einher:
Er, den der Ruhm und Preis des Menschenvolks bekannte,
Er, dessen Bild in seinem Schuldbewußtsein brannte.
Der Luftkreis loderte von seinem Flammenschritt.
Oben am Schloßberggipfel angekommen, ritt
Er unaufhörlich um den Bergesrand die Runde,
Und feindlich fiel das herrische Wort aus seinem Munde:
«Wo ist er nun – schafft Fackeln her, helft suchen mir! –
Der fromme Schläuling, Himmelswonne, Menschenzier?»
Wohin er drehte seines Blickes Feuerstrahl,
Erhellt ein Streifen Blendelicht das finstre Tal,
Davor kein Schlupfloch rettet, fruchtet kein Entweichen.
Und näher rollen seiner Augenräder Speichen!
Jetzt stellt, jetzt wendet er sein Pferd. Er äugt, er sichtet!
«O Schreck! Hilf, hilf! Sein Antlitz starrt, nach mir gerichtet!»
Aufschreiend rutscht er rückwärts von des Dammes Höhe,
Die Arme überm Kopf, daß er dem Blick entflöhe.
Und wo die blinde Flucht ihn hinwarf, lag er stille;
Den Atem selbst verhielt sein angstgehetzter Wille.

Da raschelt es im Schilf. In seiner Nähe hart
Knirscht ein Geräusch wie eines Trittes Gegenwart,
Und einer warmen Menschenstimme Schattenriß
Drang in die Tiefen seiner Herzenskümmernis:
Ein Ton, ein Atem wie aus fernen bessern Welten,
Wo Lieb und Güte, Mitleid und Erbarmen gelten.
Doch wie er nun verwundert aus der Nacht und Nässe
Des Tümpels aufsah, suchend in der Morgenblässe,
Prallt er zurück, sprachlos, der Schrei von Schreck erstickt,
Wimmernd gleich einem Tierlein, das der Schlächter knickt.

«O grausam!» ächzt er, «grausam! Wird denn keine Art
Von Strafe, keinerlei Beschämung mir erspart?
Verdient! Genieße sie, erschöpf sie bis zum Grunde,
Die Hochzeit der Vergeltung! Heut ist deine Stunde!»

«O welche Reden! Schmerzensübermaß betört
Dein krankes Herz. Ist das der Gruß, der mir gehört?
Was tat ich dir, daß du mir Feindschaft anvermutest?
Wach auf! Verscheuch die Wahngedanken, die du blutest!»

«Halt ein! Nicht dieser überlegne Ablaßton,
Bittrer als Schmähung und verletzender als Hohn!
Schlag zu! Dein heilig Recht. Ich halte dar geduldig.
Doch nichts von Ablaß! Zahlen will ich, was ich schuldig.»

«Was du an mir, was ich an dir verschuldet habe,
Das pünktlich nachzumessen mit dem Ellenstabe –
Dazu fehlt mir der Wunsch und die Gedächtniskraft.
Seit wann gilt zwischen Freunden Zahlenrechenschaft?
Zähl zu, zähl ab: das Endergebnis immer ist,
Daß du aus meinem Jugendland mein Bruder bist.»

«Das jetzt – hab Dank! – war Balsam; laß es nun bewenden!
Für mich gibts eine einzge Arzenei: Verenden.
Im Grabe einzig kann Genesung mir gedeihen.»

«Verenden», kam die Antwort, «kann man auch zu zweien.»

Ob diesem Rätselspruch betroffen, staunt er, hob
Den Kopf und schaute forschend nach dem Redner, ob
Aus seinen Blicken, aus dem Spiel um seinen Mund
Er der verhaltnen Meinung rate auf den Grund.
Doch wie ihm nun des Bruders sterbliche Gestalt
Leibhaft entgegenstand, das edle Antlitz alt,
Die Wangen hohl, die Stirn von Kummerschrift durchzogen
Und all der schöne Jugendschimmerglanz verflogen,
Fiel er vor jähem Schmerz ihm jammernd um die Knie
Und klagt und weint in einem fort und schluchzt und schrie:
«Ach Leid, was hast du Unausdenkliches gelitten!
Aus welchen Abgrundtiefen dich emporgestritten!
Und nicht ein feindlich Schicksal – ich hab dirs getan.
Dein graues Haar, dein welkes Antlitz klagt mich an,
Und jede Runzel flucht mir. Und in Ewigkeit,
Wie ich mich härm und gräme, keine Möglichkeit,
Das sonnige Lebensglück, das ich dir weggestohlen,
Dir aus der Modergruft der Zeit zurückzuholen.»
Und deutlicher, als was sein Zungenstammeln lallte,
Sagtens die Hände, die er um den Leib ihm krallte.

Zwei Arme hoben ihn vom Boden. «Wußt ichs doch!
Du bist derselbe treue, gute Bruder noch!
So laß uns unsre alten Tage denn vereinen
Und meine Bresten friedlich wohnen neben deinen.»

«Du grollst mir nicht? Freispruch und Frieden schenkst du mir?»
Mit scheuer Stimme sagt ers, ehrerbietig schier.
Und unwillkürlich wich er aus des Bruders Nähe,
Als ob er einen nie geschauten Dämon sähe.
Dann quoll sein Dank: «Von dir entsühnt, mit dir versöhnt –
Das ist ein Psalm, der Tod und Hölle übertönt.
Nun kann getröstet und gestärkt ich mich bescheiden,
Den Fluch der Welt und meiner Brüder Haß zu leiden.
Nicht aber hoffe, daß du mich von hinnen rettest,
In deine Frohburg mich an deine Seite bettest!
Dein glückumstrahlter Ruhmesglanz und meine Schmach
Vertragen sich nicht friedlich unter einem Dach.
Mein bloßer Name ist ein Schandenstrafgericht,
Mein Atemhauch befleckt das saubre Tageslicht.
Im Grab der Finsternis ist des Verräters Wohnung,
Und wer Vergessenheit mir weiht, erweist mir Schonung.»

«Was ist, was heißt das », sprach Prometheus, «Ruhm und Schande?
Fremdwörter aus dem Allmendfeld im Menschenlande!
Dort jauchzt, dort faucht es, wies vom Engelgottes tönt.
Erst ich war der Verrufne, jetzt bist du verpönt.
Ich weiß in einem Tal ein Haus, du kennst es auch,
Da kräuselt überm Dach des heimischen Herdes Rauch,
Da steht ein morsches Pförtlein grillensangumsungen,
Und hinterm Pförtlein raunen die Erinnerungen.»

Ob diesem Spruche schimmerte zum ersten Mal
In Epimetheus' Auge eines Lächelns Strahl,
Und seine durstigen Blicke suchten in der Richtung,
Von wo im goldnen Glanze der Erinnrungsdichtung
Ihm Heimatglück und Jugendunschuld kam gegangen.
Doch plötzlich ließ verzweifelnd er die Arme hangen:
«Ach weh, ich Armer habe keine Heimat mehr!
's ist alles ausgestorben, kalt und inhaltleer,
Seit meine Seele, die, von Ehrgeiz übermannt,
Ich schnöde preisgab in des Engelgottes Hand,
In ihren Räumen fehlt. Und wehe! keine Reue,
Wie heiß, wie bitter schon, holt sie zurück aufs neue!
Der Seele bar, bin ich veraltet und vergreist.
Kein Wink, kein Deut, der noch zurück ins Leben weist.»

«Vernimm denn meine Botschaft!» fuhr Prometheus fort.
«Als ich auf meiner Heimkehr hinterm Pförtlein dort,
Von dem du weißt, den Kiesweg einschlug durch den Garten,
Da sah ich deine Seele auf dem Wege warten.
Und schon stand sie vor mir und hielt mich an, worauf
Sie, meinen Arm berührend, mir befahl: ‹Brich auf,
Geh deinen Bruder suchen in dem Sumpfverließ!
Grüß ihn von Licht und Sonne und eröffn ihm dies:
Die Schuld ist abgezahlt; der Haß und Fluch der Welt,
Vereint mit deiner Reue, zählt für Lösegeld.
Verlangt dein müdes Herz nach Heimatwiederkehr,
So findest du mich hold und gnädig wie vorher.
Und manche weihevolle Stunde mag gelingen.›
Nun? Welche Antwort soll ich deiner Seele bringen?»

Gekeucht, geröchelt kam ein rauher Stimmenstoß:
«Ists Wahrheit? Oder ists ein tröstend Lüglein bloß?
Ihr Antlitz schautest du? Sie hat von mir gesprochen
Und hat nicht ekelnd meinen Namen ausgebrochen?
Sags ehrlich: kannst du mir ins Auge schauen frei?»
Dann einesmals, erlöst, mit einem Freudenschrei:
«Was tun wir hier? Erbarmen! Mitleid! Eilen! Eilen!
In ihrer Nähe, ihrem Zauberbannkreis weilen!
Demütig ihre Züchtigung und Strafe grüßen!
Vor ihrem Gnadenblick mich läutern und mich büßen!»

Er riefs, er jubelt es im Hoffnungsüberschwang,
Und Lebensmut gelang und Heimatsehnsucht sang.
Ein Freundschaftstränensturm dem Bruderbund zum Preise,
Dann heimwärts steuerten einträchtig sie die Reise.


Satz und Druck: Buchdruckerei Berichthaus
Zürich


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