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Zweiter Teil


Pandora

I

Einsam auf hoher Wiese über Raum und Zeit,
Von allem, was da keimt und atmet, weltenweit
Entfernt, wo weder Nacht noch Morgen jemals taut,
Wo keines Lichtstrahls Lächeln, keines Lebens Laut
Die Düsternis erhellt und still mit Grabesschweigen
Die Nebelschwaden dampfend aus der Tiefe steigen,
Da haust in eines rätselhaften Fluches Bann
In Ewigkeit ein kranker, nimmerfroher Mann.
Und dies ist seiner Krankheit sonderbare Sucht:
Jahraus, jahrein in ruheloser Füßeflucht
Tritt endlos er auf einem nämlichen Geleise
Um einen selben Mittelpunkt die gleichen Kreise,
Das Haupt, in welchem niemals der Gedanke rastet,
Gebeugt, als wie von einer schweren Schuld belastet,
Der leere Dulderblick, vom langen Leid entkräftet,
Beständig auf den Boden steif und stier geheftet.
Nie wird dem müden Geist ein Stündlein Schlummerfrieden,
Ein Weilchen Rast dem wahngehetzten Fuß beschieden.
Denn weder Mitleid steuert noch Erbarmen schenkt
Der schmerzerfinderische Geist, der Wunden denkt.

Am bösen Tage, wenn die Last, zu hoch gehäuft,
Sich überstürzt, das Faß der Schmerzen überläuft,
Erschließt er jammernd seinen Mund und ringt die Hände:
«Ist kein Vergeben? Kein Vergessen? Sprießt kein Ende?
Holt denn die Strafe, was ein Augenblick verbrach,
Mit nie erschöpfter Rache unersättlich nach?
Können die Höllenmartern, die mein Herz zerpflügen,
Kann alle Reue ihr zur Sühne nicht genügen?»
Von Zeit zu Zeit, nach ungezählten Jahresrunden,
Beginnt des Kranken Schwermut scheinbar zu gesunden.
Es stockt der Schritt, es steht der Fuß, es hält der Gang.
Die Schultern weiten sich, ein Seufzer tief und lang
Erlöst die gramgepreßte Brust. Erwachen wallt,
Ein Wille wandelt durch die mächtige Gestalt.
Ha, welch ein Wuchs! Wie hoch, wie steil der Nacken strebt!
Welch ein gewaltig Haupt der starke Hals erhebt!
Jetzt blinkt die Stirn, jetzt droht der Schwung der Augenbrauen.
Weh mir! o Ehrfurcht, welch ein Antlitz werd ich schauen!
Da zuckt und stutzt er. Der erfahrene Verdacht,
Der alle Zeit mißtrauisch auf der Lauer wacht,
Vernimmt, vom Wind emporgetragen, hörbar kaum,
Ein fernes Stimmenweben, wimmernd durch den Raum.
Ob diesem Ton verkriecht sich, überführt, beschämt,
Die abergläubige Hoffnung. Und Verzweiflung lähmt
Mit stumpfem Schlag die federnden Gelenke. Wieder
Krümmt sich der Nacken, sinkt das schwere Haupt vornieder,
Und wie zuvor in mut- und willenlosem Kreise
Treibt das verwunschne Knie die ruhelose Reise.

Doch heute, wie er wiederum wie alle Tage
Erlitt des fluchgepeitschten Umgangs Höllenplage,
Ertönten feine, leichte Tritte auf dem Sand,
Ein Umriß dämmert in der Nebelwolkenwand,
Und gleich dem Sonnenstrahl in feuchter Gräbergruft
Tauchte Pandoras Antlitz aus der Schleierschluft.
Unwillige Augen strafend nach der Jungfrau kehrte
Der kranke Gott, und die erhobne Rechte wehrte
Mit herrischer Gebärde: «Fort, Unselige! Weiche!
Nach einem andern Haus mit deinem Fürwitz schleiche!
Für rote Bäcklein und vergnügtes Augenspiel
Ist auf des Weltenschöpfers düsterm Horst kein Ziel.»

Demütig ihren lockengoldumwallten Scheitel
Neigte Pandora: «Vater, nicht aus Laune eitel
Und Fürwitz als ein töricht Ding mit rosigen Wangen
Komm ich zu deiner heiligen Schmerzenstatt gegangen.
Zu klein, zu niedrig weiß ich mich und dich zu groß,
Als daß sich des vermäße mein Gedanke bloß.
Wenn ich vor dein geweihtes Antlitz heute trete,
Geschiehts mit Andacht, ehrerbietig, im Gebete:
Ob ich vielleicht mit einer treugemeinten Gabe
Dein Herz erquicke und die heißen Lippen labe.»
Mit diesen Worten beugte schüchtern sie ein Knie
Und in des Kleides Busen langend reichte sie
Ihm zaghaft einen goldnen Apfel bittweis dar.

Als kaum der kranke Gott den Apfel ward gewahr,
Schrie er hoch auf: «Wer wars? Bekenn! Aus wessen Hand?
Weißt du des Spenders Namen und sein Heimatland?
Denn wahrlich, nicht im Himmel noch auf Erden ist
Ein Kleinod, welches sich mit diesem Apfel mißt!»

Heftig errötend, schamverwirrt die Wimpern senkend,
Gestand sie flüsternd: «Meines Vaters täglich denkend,
Hab ich vor langer Zeit an einem Frühlingsmorgen
Ein heimlich Sämlein in den Gartengrund geborgen.
Hernach, die Hände zum Gebete faltend, hab
Ich einen Segenswunsch gesprochen auf sein Grab:
‹Sämlein im dunklen Gartengrund, die Augen schließe!
Öffne dein träumend Herz und Heil und Segen sprieße!
Schenk eine Frucht mir, deren zauberkräftiger Saft
Dem Kranken Heil, dem Grambeladnen Frieden schafft.›
Das kluge Sämlein hat den Segenswunsch gehört,
Die Würzelein gestreckt, ein Stengelein empört,
Geschafft, geschafft, gewachsen, sich gestreckt, gebäumt,
Bis daß aus seinem Wipfel blütenschneeumschäumt
Nach langen Jahren, die in Tränen ich verloren,
Mir eine Frucht, in goldner Sonnenglut gegoren,
Die einzige, heißersehnte: dieser Apfel hier
Beschieden ward. O möcht er Labung spenden dir!»

Standhaft beharrt er eine Weile schweigend. Dann
Schritt er mit feierlichem Ernst zu ihr heran,
Ächzend und stöhnend wie der Büßer zum Altar.
Und ihre Stirn betastend, ihr gewelltes Haar:
«Mein treues Kind, gewähre, laß mich dich berühren,
Mit Händen deine reine, keusche Unschuld spüren!
Doch wehe mir, kein Zaubersaft, kein Segen heilt
Den Daseinstäter, den der Friede nie ereilt!
Eh daß des wilden Weltenwirbels Kreisel steht,
Eh daß der letzte Klagelaut im Raum verweht,
Eh daß der letzte Haß im Aug des letzten Bösen
Vergrinst, gibts keine Macht, kein Mittel, mich zu lösen.
Erhebe dich, brich auf und zieh hinab nach Erden,
Den Menschenkindern laß den Segensapfel werden;
Ihnen zum Jubelfest und frohen Feiertag,
Der ihre bittre Lebensmüh versüßen mag.
Vielleicht, wenn Dankesjauchzen an mein Ufer dringt,
Daß mir ein Stündlein Ruh, ein Schlücklein Trost gelingt.»

Mit diesem Gruß entließ er sie. Sodann aufs neue
Drehte sein müder Tritt das höllische Rad der Reue.

 

Bewußtlos eine Weile auf dem Knie beharrte
Und trüben Blicks auf die verschmähte Gabe starrte
Pandora, nagend am Bescheid, den ihr Verstand
Nicht faßte, ihre Kindesliebe nicht verwand.
Und immer folgte ihrer Augen stumme Bitte
Mit glaubenszäher Hoffnung jedem seiner Tritte,
Ob nicht vielleicht er seinen steifen Willen wende,
Sein Herz erhöre und genehme ihre Spende.
Doch wartete umsonst. Entmutigt und ernüchtert,
Schlich endlich sie von dannen, lautlos und verschüchtert.

Draußen im weiten, wüsten Nebelreich sodann
Sah sie den Apfel liebreich und mitleidig an
Und tröstet ihn und sprach ihm zärtlich mahnend zu:
«'s ist anders kommen, als wir meinten, ich und du.
Allein nicht trauern; denn ich hab ein Tränklein, weißt,
Das gegen alles hilft und das Gehorsam heißt.
Du hast vernommen, was der Vater uns befahl:
Hinunter zu dem Menschenvolk im Erdental.
Begreif: es ist ein arm unseliges Geschlecht,
Ein Stündlein Glück und Freudenfest ist ihnen recht.
Drum kein Bedenken! Komm, 's ist Herzeleid gespart.
Frischauf denn! Mut empor und rüstig auf die Fahrt!»

Und sichern Fußes durch die Nebeldämmerung
Flog sie den jähen Pfad hinab im Lauf und Sprung.
Fürs erste, als sie noch das gipfelsturmumwehte
Steinwüstenlabyrinth der Kanten und der Gräte
Durchzog, auf schmaler Simsen schwindelhaften Brücken,
Wo kaum dem Blick ein Halt, dem Fuß die Tritte glücken,
Indessen tückisch schielend, mit scheinheiligem Gähnen,
Verkappte Schlünde sich in Wolkenbetten dehnen,
Die mörderische Zeh im bodenlosen Grund –
Blieb noch ihr Herz befangen und verstummt ihr Mund.
Doch nieden in der traulicheren Trift der Weiden,
Wo sich die Wege trennen und die Wasser scheiden,
Als unverhofft, vom Morgenwind zerwühlt, zerfetzt,
Der Nebelschleier in die Weite stob und jetzt
Am Himmelsrand durch einen Schwall von Luft und Licht,
Der blickverblendend überfiel ihr Angesicht,
Das königliche Weltgebirg, gekrönt mit Gold,
Die Wolkenmäntel um die Hüften aufgerollt,
Ein dreifach Heer von Fürsten, Mann an Mann geschlossen,
Von seiner hohen Schanze nebelmeerumflossen
Hernieder sah und der von Staunen Übermannten,
Mit offnem Munde wehrlos auf den Fleck Gebannten
Der übermütige, junge kecke Sonnenschein
Mutwillige Küsse lachte in den Hals hinein,
Da jauchzte sie mit einem einzigen langen Schrei
Die Seele sich von allen Denkgespenstern frei.
Hierauf, erleichtert, wanderfroh und morgenmunter,
Sprang sie den Engpaß nach dem Erdengau hinunter,
Gutwillig folgend ihres Pfades Bogenschwung,
Der sie zu Tale trug in flinker Förderung.
Und wundersam gehoben von dem Weggefälle,
Ward fliegender ihr Mut und ihres Laufes Schnelle.

Zuunterst in des Passes letzter, kühnster Bucht,
Zwischen den Flühen und der waldigen Wasserschlucht,
Als jetzt des Himmels Wölbung, mächtiger sich ründend,
Und Tageslichtgewimmel, um die Ecken zündend,
Den Gau anmeldete im irdischen Gebiet
Und Hundekläffen Menschennähe ihr verriet,
Da flüchtete sie rasch, vom Neuheitschreck getroffen,
Abseits vom Weg sich hinter einen steilen Schroffen.
Daselbst verborgen spannte sie das Ohr und lauschte
Dem mutigen Lied des Lebens, das vom Tal her rauschte:
Dem Hahnenschrei im Dorf, dem Sägemühlesingen,
Dem Kinderlachen, wenn sie durch die Matten springen;
Derweil ihr unbewachter Blick nach Lust und Laune
Die Erdenbilderwelt abschaute. Sieh und staune:
Von Berg und Tal, von nah und fern, von überall
Ein Hohelied des Lichts, ein Farbenjauchzerschwall.
Wie weit im Rund, wie hoch ins Blau das Auge denkt,
Alles in Glanz getaucht, mit Sonnensaft getränkt.
Kein Stäubchen noch so fein, kein Kräutlein so gering,
Dem nicht ein luftig Farbenmäntelchen umhing.
Wie schien mit ihrer öden Heimat im Vergleich
Ihr da die Welt der Erde wohnlich, warm und reich!
Und nicht begriff sie, wie im Wunderland der Dinge
Ein anderes Gefühl als Lebenslust gelinge.
Sie, wenn sie dürfte, wenn ein Machtspruch ihrs vergönnte,
Daß sie ein Stündchen Taube oder Mensch sein könnte …
Und neidische Seufzer stahlen sich aus ihrer Brust.

Plötzlich sich strafend, ihrer Sendung neubewußt,
Holte sie sacht den Apfel aus dem Leibgewand,
Liebkost ihn, herzt ihn, wog ihn zärtlich in der Hand
Und droht ihm schmollend mit dem Finger, schmälte ihn:
«Nun gehst du, Ungetreuer, gehst und ziehst dahin,
Lässest dich feiern, lässest schmunzelnd dir gefallen,
Im festgeschmückten Ehrenzug und Völkerwallen,
Von Königen bedient, umbraust von Sang und Reigen,
Die Jubelreise über Berg und Tal zu steigen;
Denkst nicht mehr deiner Freundin, die bei Tag und Nacht
So manches Jahr getreulich über dich gewacht,
Sorgen und Ängste, Arbeitsmüh unausgesetzt,
Die Würzelein gespritzt, die Blätter dir genetzt,
Vor Frost dein Herz behütend und das Unkraut jätend
Und Zaubersprüchlein, kräftige, für dein Wachstum betend.»
Dann plötzlich freundschaftlachend: «Zieh denn, Liebling, eile!
Segne die Menschenkinder, tröste sie und heile!
Wenn Glück und Seligkeit auf deinen Spuren leuchtet,
Wenn Dank bei deines Namens Laut die Augen feuchtet,
Das ist mir köstlichster Entgelt! Bins reich zufrieden.
Was Liebes du erfährst, acht ich als mir beschieden.
Ich aber, auf dem Gipfel, wo die Winde wehn,
Will außen auf dem Abstutzrande Wache stehn,
Und wenn am Abend von den Bergen, von den Türmen
Die Lob- und Preisgesänge in die Lüfte stürmen,
Fang ich den Freudensturm mit offnen Armen auf
Und schwing ihn weiter: ‹Heissa, höher noch hinauf!
Hörst du, mein Vater? Hörst du? Die Geschöpfe danken!›
Und seine Schwermut wird genesen und entkranken.
Doch weh! die Trennung naht.» Noch Küsse ungezählt
Als Zehrung ihm zum Abschied. «Wart, noch einer fehlt!»
Dann – «Mut!» – nach einem tiefgeschöpften Atemzug
Lief sie ins Freie, wie geschwind der Fuß sie trug.

Alldort, im heitern Tag, dem Blick der ganzen Welt
Einsam und weithin sichtbar schutzlos bloßgestellt,
Sah sie sich hastig um in heißer Wangenröte,
Welch Plätzlein zum Altare sich am besten böte.
Sieh, hüben in der Felsenmauer eine Nische.
«Willkommen!» Diese wählte sie zum Gabentische.
Legte den Apfel sorgsam auf die Bank. Dann Flucht!
Verborgen wieder im Versteck der schattigen Schlucht.
«Ob ich dem Liebling wohl den rechten Platz empfohlen?»
Lehnte sich vor und lugte um den Rank verstohlen.
O Wonne! Welch ein Feuer, welche Strahlenblitze
Er funkelte von seinem luftigen Schauburgsitze!
Daß von den Farben, die er sprühte rund um sich,
Der gelbe Erdensonnenschein beschämt verblich.
Doch Jammer! Ist denn niemand, der es wahrnimmt? Sind
Der Menschen Herzen stumpf? Sind ihre Augen blind?
Ha, ein Entdeckerschrei aus frohem Kindermund!
Ein zweiter gellt. Ein dritter gibt die Nachricht kund.
Im Nu von allen Seiten mit verzückten Zungen
– «Schaut, schaut!» – kommts um den Gabentisch herbeigesprungen.
Und neue drehn sich um den Knäuel, überzählig.
Lächelnd vernahm sies, hoffnunggläubig und glückselig.
«Hei, Anbeginn! Nun, Schicksal, leih den Segenskuß!»
Geschwind noch mit geschwenktem Arm ein Wink zum Schluß,
Hernach – «Urteile, Vater, hab ich recht getan?» –
Trat sie vergnügt und frohgemut den Rückweg an.

Von Zeit zu Zeit, seis Trennungweh, seis Schenkerglück,
Hielt sie ein Weilchen an und sah talab zurück.
Und ob dem Wandern sängelte sie hin und wieder
Halblaute Sätzlein mutbeseelter Reiselieder.
Doch wo des Weges Schleifen in der Schluchtengasse
Über dem Bachgrund formten Vorsprung und Terrasse,
Da zahlte sie, von Glück und Schönheit übervoll,
Der Jugend und Gesundheitwollust willig Zoll
Und sang sich dieses sonnigen Morgens Freud und Schmerzen
Mit der erlösten Stimme höchstem Flug vom Herzen.
Und einmal angefangen, fuhr sie fort und sang
Hellauf ohn Unterbruch den ganzen Weg entlang,
So daß ihr Wanderzug ein tönend Perlenband
Von Jauchzerketten um die Felsenwände wand.
Und als schon lang ihr Angesicht und golden Haar
Im Wald verleuchtet und ihr Lied verklungen war,
So lauschte noch das Tal, und Andachtschleier hingen
Am Bord des Weges, den Pandoras Füße gingen.

II

«Drei volle Stunden reichlich ohne Unterbruch»,
Geschah des Königs Epimetheus gnädiger Spruch
Zu seinen Räten, «habt des Amtes ihr heut morgen
Gewaltet, und das Dringendste ist jetzt geborgen.
Ein Schlücklein Atemholen scheint mir recht und billig.
Die Sonne lacht; sie lockt ins Freie. Seid ihrs willig,
So lasset, ehe wir das Übrige versehn,
Ein Weilchen in den Wandelhallen uns ergehn.»
Dann zu den Schreibern: «Bis wir wiederkommen, rastet
Und lasset alles, wie es liegt, unangetastet.»

Und wie sie nun einschwenkten in die Wandelhallen –
O Atemlust, o Augenweid, o Wohlgefallen!
Ein Doppelstrom von kühlen und von warmen Wonnen,
Gespeist von abertausend blauen Ätherbronnen.
Vom Tal herauf die würzige Wald- und Wiesenluft,
Vom Schloßhof aus den Gärten Wolken Rosenduft.
Und durch des Wandelganges Zwischenlichtgeflüster
Sprühflammenblitze, zündend in das Hallendüster.

Halblaut hub an der älteste der Räte vier
Zu den Gefährten: «An die achtzig Jahre schier
Bin ich nun alt und hab in all den langen Jahren
Fürwahr der Schöpfungwunder herrliche erfahren.
Doch einen solchen fleckenlosen, silberreinen,
Glanzvollen Sommermorgen, so wie dieser, keinen.
Von seinem hehren Gottesodem weggeschwemmt,
Muß alles weichen, was das Menschenherz beklemmt.»

«Es ist beinah, als wäre heut die Gegenwart»,
Bestätigte sein Nachbar, «von besondrer Art.
Etwas Verheißungvolles webt darin, als wollte
Ein Glück heraufziehn, das sich heut ereignen sollte.»

«Was aber ist das, hört ihr, für ein Vogel doch,
Der sonderbare, den ich nie vernommen noch
Und der so überschwenglich selig jauchzt und singt,
Daß ihm vor Übereifer schier die Brust zerspringt?»

«Mir», widersprach der letzte, «klingt sein Singen kläglich.
Er schreit so bitterlich, so dringend herzbeweglich,
Als wüßt er einen welterstaunlichen Bericht
Und meint, er müß es sagen, aber kann es nicht.»

Mitunter kam, vom Glück des Augenblicks gepaart,
Lustwandelnd Edelvolk entgegen ihrer Fahrt.
Vor ihrem König räumten Platz und reihten sich
Zu beiden Seiten sämtliche bescheidentlich,
Mit stummer Ehrfurcht ihre Huldigung bezeugend,
Den Blick zu Boden und den stolzen Nacken beugend.
Huldvoll, je wies der Zufall der Begegnung schuf,
Vergönnt er allen, sei es ihren Namensruf
Oder ein kurzes Wörtlein, einen trauten Nick,
Jedwedem einen freundlichen besondern Blick.
Welch eine Frau er ansah, deren Wangenröte
Verriet der heimlichen Verwirrung süße Nöte;
Glückstrahlend aber richtete sich hoch empor
Der Mann, den er zu einem Zwiegespräch erkor.

Vorn, bei der Ulme, wo die Wandelhalle fast
Im Halbkreis ausbiegt, hielten sie ein wenig Rast,
Dem Tonspiel, das, aus einem fernen Fenster rauschend,
Vom Schloß herüberdrang, verträumten Sinnes lauschend
Und nach den Schwalben schauend, wie in flinken Bogen
Sie durch die Mauerluken aus- und einwärts flogen.
Derweil sie so hinhorchten nach den seligen Lauten,
Mit großen Augen, die nicht sahen, was sie schauten,
Erhoben sich der Töne gute Geister leise
Und übten Fingerzauberkunst verstohlner Weise.

Fürs erste, gaukelnd überm Ulmenkronendache,
Begehrten sie mit stummer Zeichenschrift: «Erwache!»
Aufatmend und den ernsten Wipfel wiegend, bäumte
Die Ulme langsam sich. Von ihrem Scheitel schäumte
Ein Schauer, rieselnd durch ihr bebendes Gefieder,
In schweren Schaukelschwüngen schwankend auf und nieder.
Jetzt reckte sie die Lockenstirn. Erwachen raunte.
Und um sich schauend, horchte sie und lauscht und staunte:
«Ein seltsam Brausen hör ich tönen, anders als
Der Regenbäche Rauschen und des Wasserfalls
Dumpfdonnerndes Getös und das entsetzte Blasen
Der Winde, wenn im Wolkensturm die Wetter rasen.
's ist keinem andern Laut im Erdenluftraum ähnlich.
Ob auch an Kraft des Atemzuges unansehnlich,
Und ob mir unverständlich ist der Rede Sinn –
Gesetz und Regel, Maß und Ordnung wirkt darin.
Vielstimmig streitets, doch Verträglichkeit vereints.
Nach einem Ziele steuerts, und ein Wille meints.
Ha, Einsicht! Ha, Erleuchtung! Preis der Offenbarung!
Welch einer unerhörten Neuigkeit Erwahrung:
Der Puls, der durch dies wundersame Singen flutet,
Versteht den Saftstrom, der in meinen Adern blutet.
Weil erdenfremd, so ist mirs heimatlich bekannt.
Es seufzt, so ist mirs wesensinnig anverwandt.
O wohl mir! Liebe flüstert, Herz und Seele grüßen.
Wacht auf! Enthebt auch alle! Kommt und sinkt zu Füßen!»

Ob dieser Botschaft scharten lautlos sich zum Kreise
Schulter an Schulter die Gebirge reihenweise.
Die Wälder, von den hohen Felsensitzen steigend,
Bezogen das Geländ und lagerten sich schweigend.
Die Federwölklein, reisend durch den Ozean
Des blauen Luftmeers, hielten Fuß und Atem an.
War Erd und Himmel, weltvergessen und vergafft,
Ein einzger Ring von gläubiger Zuhörerschaft.
Indessen Schwall auf Schwall, als wollts nicht enden wollen,
Des Tonquells weiche Wogen unausschöpflich quollen.

Zum zweiten an die Mauer pochten ihre Hände.
Darob versanken Haus und Hof und Hallenwände,
Und durch die harte Dingwelt, greifbar und genau,
Stieg ein großmächtiger, märchenhafter Tempelbau
Mit Kuppeln, Galerieengängen, schlanken Türmen
Verwegen himmelan in heftigen Schönheitstürmen.
Und immer höher, immer weiter, weltumfassend,
Und Tor und Tür geräumig offen, Eingang lassend.
Jetzt aus der Tempelhöhle, durch die Mittelpforte,
Trat eine Stimme auf und jauchzte diese Worte:
«Tritt ein! Hier ist der freundliche Altar des Schönen,
Wo Gram und Herzeleid im Wohllaut sich versöhnen.»
Ob diesem Wort geschah ein wolkig Geisterschweben
Im Menschenland und sehnend Himmelaufwärtsstreben.
Und alle Menschenseelen zogen ein, mit Singen
Das Tränenopfer ihrer Schluchzer darzubringen.
Und die der schnöde Leib auf Erden feindlich schied,
Hier oben sangen sämtliche dasselbe Lied.

Bis daß ein freundschafttobend Händeklatschen jach
All die geträumte Märchenherrlichkeit durchbrach:
Ein Häuflein Bauern, mähend unten in den Matten,
Die ihren Herrn und Liebling wahrgenommen hatten.
Und alsobald, wie auf ein abgeredet Zeichen,
Erscholl vom Dienstvolk, Schloßgesinde und dergleichen,
In stürmischem Drange jubeljauchzend ausgerufen,
Des Königs Namenslaut in allen Freudenstufen.
Unsichtbar kams, aus ehrerbietigen Verstecken,
Hinter den Pfeilern, aus den Winkeln, um die Ecken,
Vor ihm und hinter ihm, von hier zugleich und dort,
Und zündete im Schnellauf in die Ferne fort,
Gleich einem Kettenfeuer, angefacht vom Winde.
Leutselig dankend winkt er ringsumher ins Blinde.
Den Gärtner aber, welcher für den Ehrfurchtzoll
Mit einem Blumenbuschwald, beide Arme voll,
Anrückte, wies er huldvoll nach dem Hause hin:
«Nicht mir, mein Freund! Dein Strauß gebührt der Königin.»
So sprechend, zeigt er mit dem Finger nach der Richtung,
Wo aus dem Fenster sich ergoß des Tonspiels Dichtung.
Mit einmal stockte da der Töne Siegelauf.
Den Fuß erhob er, nahm den Fortschritt wieder auf.

Als sie hernach bei ihrem weitern Wandelfahren
In eine Spanne Einsamkeit gekommen waren,
Erkühnte sich und trat an seines Herren Seite
Der älteste der Räte vier aus dem Geleite.
«Lebt einer», sprach er, «dem das Wörtlein Glück kommt zu,
Erhabner Freund und Gönner, bist fürwahr es du.
Ist denn nicht alles, was das Menschenherz begehrt
Und königlicher Hochgeist anstrebt, dir beschert?
Oder so nenne mir ein Gut, das du nicht hast!
In Haus und Herd Eintracht und Lieblichkeit zu Gast,
In Feld und Flur, wie weit umher dein Auge schweift,
Blust und Gedeihen, Frucht, in deiner Hut gereift;
Im Menschenvolk, wohin ins Land dein Fuß dich trägt,
Lobpreisendes Gejauchz, das dir entgegenschlägt.
Und nicht umsonst; es ist die Antwort auf dein Walten,
Auf deine weise Führung, dein gerechtes Schalten.
Und ob dus auch nicht wahr hast, ob dus leugnest schon,
Die Liebe weiß es und der Dank erzählt davon.»

Den Mund verziehend und die Lippen rümpfend, gab
Ihm Epimetheus schließlich die Entgegnung ab:
«O wüßtest du, wie alles, was dein Lob mir nennt,
Mich stachelt und als Vorwurf mir im Busen brennt!
Begreifst du nicht? Des Schicksals übermäßige Huld
Ist Vorschußgunst. Und vorgeschossen Gut schafft Schuld.
‹Verdienst?› Ein kahl Verdienst, Gesetz und Sitte ehren,
Gedeihen stiften und des Reiches Wohlfahrt mehren.
‹Begeistertes Gejauchz des Volkes?› Billig feil!
Zum voraus wird dem Fürsten Liebessold zuteil.
Sei wer du magst, besteige irgend einen Thron:
Obacht! die Liebe kauert auf dem Polster schon.
Nach einem größern Ziel und Lebensinhalt geizt
Mein Tateneifer, den die Gunst des Schicksals reizt:
Nach einer Leistung, die mein Dasein überdaure,
Aus deren Schoße Segen auf die Nachwelt schaure.
Doch keine Sehnsucht hilft da, kein Gebet erschwingts,
Nicht Geist, nicht Müh und Fleiß, nicht Willenskraft erzwingts.
Ein Schemelein tut not, das bloß der Himmel leiht:
Der Großtat größre Hälfte, die Gelegenheit.
Versteh, ein Ausnahmglücksfall, der Ereignis sei,
So etwas wie ein tausendjährig Osterei,
Von einem Gott im Schlaf dir gnädig zugedacht
Und heimlich vor die Tür gelegt um Mitternacht.
Brauchst bloß die Hand zu strecken und es aufzuheben.
Doch das sind Wünsche, Städtebau aus Spinngeweben.
Gott wird es walten. Seine Weisheit ist nicht mein,
Und alles, was mir zusteht, ist, bereit zu sein.»

Mit diesem hatten sie erreicht des Ganges Ende
Und kehrten um und nahmen nach dem Schloß die Wende.
Sieh da drei Barfußkinder, lieblich anzusehn,
Im Schatten eines Pfeilers sittsam wartestehn.
Ein munter blickend Büblein, selbstbewußt bereits,
An ihn sich schmiegend je ein Maidlein beiderseits.
Ob schüchtern ihr Gehaben, war die Haltung frei,
Und Hoffnung schimmert in den Augenpaaren drei.
Freundlich zum Büblein gab sein Gruß: «Was wollt ihr hier?
Komm her, sags herzhaft, Mund auf, was begehret ihr?»
Anstatt der Red und Antwort mit der Handlung zahlend,
Schob hurtig ihm das Büblein, glück- und freudestrahlend,
Ein glitzrig Unding in die Hand. «Was ist denn das?
Ein Apfel? Kaum. Ein Spielzeug? Eher so etwas.»
Und roch daran und wischte mit dem Ärmel drüber
Und prüft es mit dem Nagel, kehrt es um und über –
«Wo hast dus her?» «Wir habens heute in der Frühe
In einem Stein gefunden unterhalb der Flühe.»
Mit gütigem Lächeln ihre gläubige Einfalt lohnend,
Zog er das Büblein an sich, strich sein Haar, hob schonend
Sein Kinn und schaut ihm in die lautre Augenbläue,
Liebreich und tröstend, lächelnd immerfort aufs neue.
Doch halt! die Schreiber, die mit amtgeschäftigen Mienen
Und stummen Frageblicken strammsteif auferschienen.
Schnell einen Diener, kurzen Winks herbeibefohlen,
Nahm er beiseite, flüstert etwas ihm verstohlen
Ins Ohr, hierauf, die Räte mit dem Blick verständigt,
Dem Büblein seinen Findling wieder eingehändigt,
Gehorcht er seines Amtes Mahnung und entlief,
Den Schreibern auf dem Fuß, wohin die Pflicht ihn rief.
Der Diener aber, mit den Augen zwinkernd, tupfte
Das Knäblein mit dem Finger an und zog und schupfte,
Die Maidlein an der Hand, das Trüpplein, blinzelnd immer,
Ins Haus und durch den Hausgang in ein schattig Zimmer.
Dort angekommen, nötigt er heimtuerisch
Die ängstlich um sich Blickenden an einen Tisch.
Ha, Überraschung! Stöhnende Glückseufzer jetzt:
Ein Tischtuch, Teller, Speisen ihnen vorgesetzt.
Anfänglich waltete noch Scheu, weil überm Essen
Sie furchtsam schielten nach des Dieners goldnen Tressen,
Bald aber, als der mehr und mehr zufriedne Magen
Ihnen Vergnügtheit meldete und Wohlbehagen,
Fingen die Beine an zu pendeln und die Zehen
Zu gabeln oder übern Nachbarn sich zu drehen.
Mit einem Male übernahm sies mit Gewalt:
Sie mußten lachen, gleich warum, sie mußten halt.
Und also fort; sobald sie nur einander sahn,
Fiel sie von neuem fröhliches Gelächter an.

Bis eine schöne Frau hereinkam, welche sie
Ausfragte nach Woher und Wer und Wann und Wie,
Und ob man auch daheim von ihrem Feldzug wüßte.
Und schüttelte den Kopf, und für die Strafe küßte
Sie eins ums andre ins Gesicht der Reihe nach
Und kraut in ihren Haaren: «Seid ihr allgemach
Nun satt und selig?» Oder ob ein Nachsatz fehle?
Und was vielleicht noch wünsche ihre liebe Seele? …
«Halt! Wart! Wohin? Ein Wagen kommt und bringt euch heim.»
«Wir mögen laufen!» jubelte der protzige Reim.
Und selbstverständlich stapfte schon die Kumpanei
Dem Tor entgegen, herzhaft singend alle drei,
So daß – «Ach seht! nein, seht die knusprigen Geschöpfe!» –
Längs ihrem Sängerzug an allen Fenstern Köpfe
Erschienen, gierig, ihr verbrauchtes, schuttbeladen
Verschrumpftes Herz an ihrem Anblick jung zu baden.
«So laßt euch wenigstens vom Diener heimbegleiten!
So hört doch! Wartet doch! Ihr kommt noch heim bei Zeiten!»
Zu spät. Bereits gings hüpf und hopf, Galopp und Trab,
Durch Kraut und Gras den Schloßbergmattenstutz hinab.

«Halt!» schrie das Büblein plötzlich. Sein gestrenger Wille
Prellte mit vorgehaltnem Arm die Maidlein stille.
Den Atem abgestellt, die Augen aufgerissen,
Lauscht er begierig in die Tiefe horchbeflissen.
Schließlich in närrischem Tanz, mit einem Sprung hochauf:
«Ein Gaukler unten auf der Straße! Sputig! Lauf!»
Leibhaftig wahr! O Jahrmarktglück, o Märchenglanz:
Vor einem höckrigen Kamel ein Bärentanz!
Und sieh im roten Röcklein dort den kleinen Affen!
Versteinert standen sie, verstaunt in seligem Gaffen.
O Kurzweil! O die Lustbarkeiten unsagbar!
Von allem Köstlichen indes das Schönste war
Das Äfflein, wies mit seinen Sprüngen und Grimassen
Nicht müde ward, stets neues Possenspiel zu spaßen.
Und immer anders, als vermutete dein Witz:
Jetzt turnt es auf den Höcker des Kamels zum Sitz,
Jetzt stelzt es würdevoll, das Gangwerk schief verschroben,
Grunzend im Kreis herum, das Hinterste nach oben.
«Hilf, hilf! Er sitzt mir auf dem Kopfe!» «Laß das Krähen!
Nur still! Verrühr dich nicht, so wird dir nichts geschehen!»
Doch kaum gesagt, so stahl des Äffleins Schabernack
Geschwind dem Büblein seinen Findling aus dem Sack.
Und auf dem Buckel des Kameles, hupp, zu Hause,
Ergab es zähnebleckend sich dem leckern Schmause.

Dem schnöd Beraubten, der nicht wußte, welches eher,
Auflachen oder Greinen, doch dem Greinen näher,
Vergabte zur Beschwichtigung und zum Ersatz
Der Bärenvater einen märchenhaften Schatz,
Vor dessen Anblick ihnen ein verzücktes «Oh!»
Und «Ah!», geseufzt in süßer Atemnot, entfloh:
Etwas aus goldnem Schaum, das Licht und Strahlen flittert,
Und weich, so daß es, wenn mans anfaßt, rauscht und knittert.
Ists Wahrheit? Ists kein Traum? Mit offnem Mund umstanden
Sie sprachlos das Geschenk – Vernunft und Geist abhanden,
Nur Freudestöhnen mit Umarmung dann und wann –
Als unter Pfeifenjodeln, Trommelbaraban
Und Treiberruf die Karawane insgesamt
Hoiho! von dannen zog, geschnauft, gegrunzt, getrampt,
In einer Wolke Lärm und Staub; sie merktens kaum.
Fahr hin, gemeine Welt! Wir haben goldnen Schaum.

III

Wo unterm Wasserfall des Waldbachs Wellenflucht
Sich überwirft im Zwang der trotzigen Uferbucht,
Indessen furchtlos von den gischtumbrausten Felsen
Rotnelken schaukeln auf den windbewegten Hälsen,
Genoß des wollustschwülen Sommermittags Gnade
Der Engelgottes heut im schaumdurchspritzten Bade,
Kraftinnig, körpermutig, gegenwartbeglückt,
Allen Gedanken, aller Sorgenplag entrückt.

Da hielt die Sonne, reisend übers Wipfeldach,
Verwundert stille, sah ihn seltsam an und sprach:
«Was säumst du, Engelgottes, einsam hinterm Hause,
Des Bades pflegend in der schattigen Waldesklause,
Derweil auf Erden eine Osterneuigkeit
Mit trunknen Jubelzungen deinen Namen schreit?
Pandoras Stimme hört ich im Gebirge klingen,
Sah durch die Matten ihre jungen Füße springen.
Ihr Huldgeschenk, das sie auf eine Bank gebettet,
Wohl dir! von gläubigem Kinderblindverstand gerettet,
Ist aufgehoben in des Menschenkönigs Hut.
Nun bade weiter, bleibt dir Lust dazu und Mut!»

Ein Freudenruf. Frohlockend stürzt er aus dem Bade
Und warf sich hastig in die Kleider am Gestade.
Zu Hause holt er händeklatschend das Gesinde.
Schnellfüßig nahte die willfährige Schar geschwinde.
«Die Zimbeln rührt, die ehernen, die dröhnenden,
Draußen im Hofe, und die weithin tönenden
Schallbecken, ungesäumt vor meines Hauses Stufen
Des Himmelvolkes Engelschar zuhauf zu rufen!»
Also geschah; im Hof die Zimbeln und die Becken
Schlugen sie an, die Engelschar herbeizuwecken,
Derweil er unterdessen, ihrer Kunft gewärtig,
Zur frohen Erdenfahrt sich machte reisefertig,
Sich salbend und mit köstlichem Geschmeide schmückend
Und einen grünen Maienkranz ins Haar sich drückend.

Als mählich dann von unten, von der Straße her,
Vielstimmig Murmeln wurde lautbar mehr und mehr
Und dann und wann ein Scherzruf oder frohlgelaunt
Gelächter platzte, halb gekichert, halb geraunt,
Ihn mahnend, daß das Engelvolk gesamt zur Stelle,
Trat er hochragend und glückstrahlend vor die Schwelle:
«Laßt glänzen eure Augen! Offnen Mundes schlürft
Den Odem der Verkündung, den ihr schmecken dürft!
Pandora mit den holden gnadenreichen Händen,
Die Frühlingskönigin der immergrünen Spenden,
Aus deren Kern in wundersamer Fruchtbarkeit
Der Segen wuchernd sich verjüngt in alle Zeit,
Ist diesen seligen Tag auf Erden eingekehrt.
Wohl uns! der Schatz, den sie dem Gottesreich beschert,
Liegt treu bewahrt, auf immerdar der Welt gewonnen,
In meines Bruders Haus, und Heil und Segen sonnen.
Indem ich nun nach Erden lenke meinen Gang,
Dem Huldgeschenk zum Gruß und würdigen Empfang,
So schmücket unterdes des Himmels Stadt und Feste
Mit Augenweide aller Art zum Freudenfeste:
Mit Fahnen, Teppichen und Blumenkranzgewinden,
Und was ein jeder mag Erheiterndes erfinden.
Auch haltet Auslugwache, in geduldiger Dauer
Zur Erdentiefe spähend von der Himmelsmauer.
Seht ihr vom Menschenschloß die weiße Flagge winken
Und hört die Türmer blasen aus den Hörnerzinken,
Dann heißa! mit Posaunenstoß und Glockenklang
Stimmt an des Osterliedes Jubelchorgesang;
Herzhaft, daß mans vernimmt im fernsten Tal auf Erden
Und daß die Amseln hinterm Berge neidisch werden.
Abends, nach angebrochner Dunkelheit hinwieder,
Steigt ihr im Fackelreihenzug auf Erden nieder,
Um mit dem Menschenvolk in traulichem Gelage
Ein Freudenfest zu feiern, sieben Nächt und Tage,
Nebst jedem Übermut, wonach das Herz gelüstet.
Bewahre, daß ihr Scherz und Torheit meiden müßtet!
Viel Nöte hat das Gottesreich und Kummerzeit,
Am Tag Pandoras aber lacht die Fröhlichkeit!»
Mit diesem schied er schnellen Schrittes durch die Menge,
Umtanzt, umtaumelt von frohlockendem Gedränge.

Und nun erwacht in allen Gassen um und um
Geschäftige Emsigkeit mit Trällern und Gesumm
Beim Wimpelnähen, Teppichnageln, Blumenbinden,
Und welche Augenweide jeder mocht erfinden.
Und gingen ihre schönsten Festtagkleider holen
Und weißen Schuhe, tänzelnd, glitschend auf den Sohlen,
Und saßen, lagen, standen auf dem Mauerrand
Zuäußerst auf dem Sims der jähen Himmelswand,
Wetteifernd, wer die weiße Flagge möcht erschauen,
Die ihnen Lustzeit kündige und Herzerbauen.

Er selber aber reiste freudig aufgeregt
Die schöngebaute Straße, die nach Erden wegt,
Und trieb und reizt und spornte seiner Füße Flug.
Doch niemals taten seinem Eifer sie genug.
Die allzu ungebärdige Sehnsucht zu betrügen,
Vergönnt er sich ein schmeichelnd Zeitvertreibvergnügen,
Schuf um den unbekannten Schatz sich Sorgenpein,
Nur um im Geiste immerfort bei ihm zu sein:
Welch einen Wohnort wohl, in welcher Ausnahmstätte,
Er ihm bestimme und in welchem Ehrenbette?
Vielleicht im königlichen Schatzgewölbe? Kaum.
Man sperrt den Frühling nicht in einen Kellerraum!
Oder in einem sonnigen Schönhaus in der Matte,
Dort wo Pandoras Ankunft sich ereignet hatte?
Doch wie er nun fein säuberlich und ordentlich
Die zappelnden Gedanken, jeglichen für sich,
Verhören wollte vor dem prüfenden Verstand,
O Spott! entschlüpfen sie ihm sämtlich aus der Hand
Und tanzten weiten Fluges durch die Luft von dannen.
Hoff nicht, sie in das Leitseil der Vernunft zu spannen!
So die Gedanken. Bis auf einen Sonderling,
Der ruhig und gelassen seiner Wege ging.
«Du dort mit deinen klugen Augengläslein zwei,
Komm, streng dich an! mit einem Einfall steh mir bei!
Wo, meinst du, ist der würdigste, der beste Platz
Für der Pandora teuren wundertätigen Schatz?»
Zaudernd gehorchte dieser, ungern sich ergebend:
«'s ist schlecht nur meine Meinung», zagt er widerstrebend,
«Du bist der Herr. Doch weil mir dein Befehl geschah:
Beim Bettlein deines Kindes, seinem Atem nah.»
Ob diesem Spruche sprang ein steiler Flammenstoß
Ihm aus dem Herzen, Klarheit zündend schön und groß.
«Preis deiner Einsicht! Ja und ja! Gewißlich dort!
In meines Knäbleins Kammer einzig ist der Ort.
Nimm an in einer Kleinod-, besser: Blumenschale,
Auf jenem Dreifußtischlein aus dem Krönungssaale.»
Und siehe, was ihm der Gedanke sagte wahr,
Zeigt ihm ein leuchtend Traumgesicht im Bilde dar:

In seines Kindes Schlafgemach, dem dämmerdüstern,
Wo um ein heilig Bettlein Lieb und Hoffnung flüstern,
Sah er im ungewissen Dämmer-Ungefähr
Vom Dreifußtischlein mit der Blumenschale her
Eines geheimnisvollen Lichtes weiche Wellen
Beständig dampfend aus der Blumenschale quellen.
Ists eine Ampel, die den Wunderlichtschein sprüht?
Oder ein Edelkleinod, das im Dunkeln blüht?
Wo nimmts das Feuer her? Ein Sönnlein kreist inwendig,
Ein Puls ist drin geschäftig und ein Herz lebendig.
Vor seinem Hauche, flutend durch die Schlummergruft,
Verkriecht sich die gemeine Erdentagesluft.
Verstohlen aus den Winkeln rings die Wände lauschen
Mit Blinzelblicken, welche Einverständnis tauschen.
Wie von verhohlnen Augen ist der Raum belebt.
Und Geister schleichen hin und her, und Andacht schwebt.
Da regt sichs in des Kissens Pfühl. Ein Köpflein reckt,
Ein Rumpf dann sich empor, zum Sitze hochgestreckt.
Nicht mit den Augen, die des Schlafes Machtspruch bannt,
Mit seinen Ohren spürt es nach dem Licht gespannt,
Als ob ein leises feines Tönen es vernähme,
Das aus der Ampel auf dem Dreifußtischlein käme.
Aufmerksam horchend, ernsthaft lernend saß es da.
Aber ein Wunder, ein erstaunliches, geschah:
Zu innerst aus des rätselhaften Lichtes Schoß
Erhob sich einer klaren Stimme Zungenstoß,
Des Knäbleins Namen deutlich rufend. Und sofort
Entbot das Knäblein ihm des Grußes Gegenwort,
Einfach, wie jemand, der den trauten Stimmenton
Eines Verwandten hört, entbehrt seit langem schon.
Den Freundschaftgrüßen folgte Unterredung nach,
Wo Frag und Antwort traulich wechselnd sich entsprach.
Fremd lautete die Sprache. Solche wohllautweiche
Tonfälle kennt man nicht im irdischen Gottesreiche!
Die beiden aber – hör ich recht? – verstanden sich,
Denn eifrig sprachen sie und angelegentlich.
O daß sich mir erschlösse ihrer Worte Sinn!
Denn siehe, des Gespräches herrlicher Gewinn:
Je längre Zeit der beiden Wechselrede währte,
Desmehr vergeistigte, verinnigte, verklärte
Des Knäblein Antlitz sich; die Züge wurden feiner
An Formenriß, die Miene edler, ungemeiner,
Und eines Seelenstromes mächtige Gewalt
Wuchs siegreich durch die kindlich liebliche Gestalt,
Bis in die Hand, bis in den Nerv der Fingerspitzen,
Wo die Empfindung schläft und die Gefühle blitzen –
Da kränkelte das Traumgesicht. Des Lichtes Brunst
Erlosch, des Knäbleins Bild verblich im Nebeldunst.

Doch wohl mir! Sieh, ein zweites Wunder andrer Art,
Das an des Lichtes Stelle jetzt sich offenbart:
Gleich wie nach einem warmen Maienregenguß
Ein durstig Pflänzlein, von dem Tropfenrieselfluß
Gelabt und von des saftigen Bodens üppiger Mast,
Die Bodendecke sprengt, man sieht es wachsen fast,
Erhob sich dort im Dunkeln, wo Erinnrung wußte,
Daß auf dem Dreifußtisch die Schale liegen mußte,
Zögernd zuerst, dann mählich mutiger und schneller,
Ein Blätterpaar, ein Stengel aus dem Blumenteller.
Der Stengel, immer höher steigend Schub auf Schub,
Verdickte sich zu einer Knospe. Diese hub
Zu sprießen an. Und schwankend auf dem Stengelthrone
Erschloß sich einer Lilie blanke Blätterkrone,
Die ihre reinen, fleckenlosen Flügelspreiten
Zum Mantelkranz entfaltete nach allen Seiten.
Nun Blumenhochzeit und Geburt. Zuerst etwelche
Staubwölklein pufften, pulverstreuend, aus dem Kelche.
Mit einmal aber platzt ein Hagelschauerschuß
Von wolligem Flockenschaum und Samenüberfluß
Jach in die Höhe, dessen tausend Federspitzen
Durchs Fenster, durch die engsten Lücken, schmälsten Ritzen
Hinaus ins Blaue reisten, auf der luftigen Leiter
Sich schaukelnd, über Berg und Tal im Winde weiter.
Und wo der wolligen Wolke weicher Daunenschnee
Des Erdreichs Ackerboden kaum berührte je,
Da stiegen üppige Zaubergärten aus der Erde,
Behängt mit Blüten und der goldenen Beschwerde
Von Früchten, die an einen und denselben Zweigen
Wollüstig ihre duftumhauchten Häupter neigen.
Nicht Gärten einzig: siehe, durch die Gartenhallen
Daher geschritten kam ein Menschenvölkerwallen.
Doch neue Menschen, herrlicher an Leibgestaltung,
Edler von Wuchs und größer. Ihre hohe Haltung,
Ihr freier Auftritt, ihrer Schenkel Göttergang:
Ein mutbeschwingtes Schweben, schreitender Gesang.
Und aller Orten, wo die Neuen auferschienen,
Standen die Toten aus den Gräbern auf vor ihnen
Und trösteten einander: «Bruder! Fried und Ruh!
Nun weiß ich doch, für wen wir litten und wozu.»

Dieweil er so mit vorvermutendem Erraten
Erwog des Schatzes zukunftferne Wundertaten,
Schlich unvermerkt sein sehnend Herz an ihm vorüber
Und reiste zu der schönen Spenderin hinüber:
«O einmal, einmal nur von deinem unnahbaren,
Holdseligen Angesicht den Widerglanz erfahren!
Nicht daß mein Auge zur erhabensten der Frauen,
Zur Tochter Gottes sich erkühnte aufzuschauen –
Nur um demütig und ergeben deiner Huld
Zu unterbreiten meine ewige Dankesschuld;
Zu hoffen, daß mit gnädigem Blicke dus vernimmst;
Zu sehen, daß dus nicht verachtest, sondern nimmst.
Und mit dem Finger würd ich zeigen: Dieses hier,
Das bringt der Lobgesang der Menschenkinder dir,
Weil du auf ihren Lebenspfad den Frohmut strahlst,
Auf ihre Fensterscheiben Hoffnungsköpflein malst.
Und dies, das ist der Dank des Gottesreiches – höre
Das schwere Wort, das ich in seinem Namen schwöre:
Wärst du nicht, wäre nicht das Leben lebenswert,
Nicht Tugend und Gerechtigkeit erstrebenswert!
Den Dank des Vaters aber, daß du meinem Kinde
In seinem Schlafe schenkst dein Segensangebinde,
Da du den Schlummernden veredelst und verschönst
Und deines Atems Puls ihm in die Seele tönst,
Den leg ich knieend dir zu deinen Füßen nieder,
Um deines Kleides Saum zu küssen immer wieder.»

 

Halt! Wart doch! Sieh! Wie ist das zugegangen? Nein!
Nicht möglich! Schon die Erdengrenze? Kann das sein?
Richtig: das Wärterhaus, der Schlagbaum auf der Brücke,
Die Opferbüchse und der Bettler mit der Krücke.
Da sprangen hoch empor und lüfteten die Schwingen
Die Lerchen seines Herzens, Tirili zu singen,
Und tanzende Erwartung lüpfte seinen Fuß.
«Nun laß uns sehen», jauchzt er, «welch ein erster Gruß,
Und wär es das geringste, lächerlichste Zeichen,
Vom Menschenland mir kommt, Gewißheit mir zu reichen!»
Und heiß vor Ungeduld verdoppelt er die Eile.
Verwundert aber hub er an nach einer Weile:
«Ei sagt doch, meine lieben, wahrheitstreuen Ohren,
Schlaft ihr und träumt ihr? Seid ihr matt und kraftverloren,
Daß von dem hundertfältigen, wuchtigen Glockenläuten
Unten im Reich auf Erden bei den Menschenleuten,
Das brausend über Berg und Tal den Jubel schwingt,
Ihr keine Meldung mir mit keinem Wörtlein bringt?»
Die Antwort kam: «Wir sind gesund und geisteswach.
Pflichtschuldig forschen wir im Rund der Wahrheit nach,
Und treulich wollen wir dir jeden Ton verzeigen;
Allein im Reich die Glocken läuten nicht, sie schweigen.»
«So gebt mir Nachricht von dem tollen Taumelrasen
Des Festes, wie mit Pauken und Trompetenblasen
Die trunknen glückberauschten Menschenwogenmengen
Durch Flur und Felder ziehn auf allen Straßenlängen.»
«Von Pauken und Trompeten darbt die Straßenspur.
Still liegen, einsam und verlassen Feld und Flur,
Außer den unbestimmten, schwierigsäglichen
Arbeitsgeräuschen, den gewohnten täglichen.»
«Das aber», schrie er zornig auf, «das ist nicht wahr!
So stumpf und schnöd, so jeglichen Gefühles bar
Ist niemand, daß er diesen Gnadentag verhöhnte
Und der gemeinen eigensüchtigen Arbeit fröhnte!»
«Ich melde, wie ichs weiß; kann sein, daß ich mich täusche:
Ich höre arbeitseifrige Geschäftgeräusche.»
Da zuckt er, wie von einem giftigen Nadelstich
Verletzt. Stillstehend horcht er angelegentlich
Waldabwärts, welch ein Schall ihm käme aus der Tiefe,
Der die verhaßte Lügenzeitung widerriefe.
Ein Talwind flatterte durchs Holz herauf daher.
Ein Vogel pfiff. Sonst keine Lebenszeichen mehr
Als von den Feldern Sensenklirren, Hammerschläge,
Ein Wagen polternd auf der Straße, plump und träge,
Und fernes Schnaufen einer Werkstatt, unablässig
In gleichen Stößen stampfend, geistlos regelmäßig.
Darob befleckte sich die Sonne und erlosch.
Das Blut in seinen Schläfen hämmerte und drosch.
Und jach, mit heftigem Anlauf, von Verdacht gehetzt,
Trieb angstvoll er den Weg hinab in Sprüngen jetzt.
Endlich! Entscheidung! Hei! Ein freier Ausblick hier!
«Jetzt ihr, ihr klugen, treffgewohnten Augen, ihr,
Haji! spannt eure schärfsten Kräfte, zielt und sichtet!
Dann ohne Schmeicheln ehrlichen Bescheid entrichtet:
Seht oder seht ihr nicht unbändige Menschenhaufen
Im Allmendfelde Tänze drehn und Reigen laufen?»
«Von Menschenhaufen ist die weite Allmend leer.
Verschlafne Wächter lungern einzeln drin umher.»
«Gewahrt ihr nirgends etwas an der Menschenstadt,
Das kein gewöhnlich, sondern festlich Ansehn hat?»
«Sie sieht nicht anders aus als jeden Werktagabend,
Mit Mägden um die Brunnen, am Geschwätz sich labend.»
«Aber das Schloß, das auf dem stolzen Berge thront,
Das Haus, worin mein königlicher Bruder wohnt,
Ists nicht, von unten bis zum Giebel angefangen,
Mit Blumenschmuck geziert, mit Fahnenflor umhangen?»
«Von Fahnen nichts. Hingegen hübsche Blümelein
Äugeln von manchem Fensterbrett und Simsenstein.»
Kein Ausweg mehr. Der Hoffnung letzte Flucht versperrt.
Den Maienkranz, mit hitzigem Griff vom Haar gezerrt,
Trat er mit Füßen. Alles Schmuckzeug und Geschmeide,
Und was er Festliches gewahrt an seinem Kleide,
Verschleudert er im Wurf, zerstückelt und zerfetzt.
«Fort! Weg mit euch! Für Späßlein ist kein Anlaß jetzt!»
Mit lautem Klagestöhnen dann, vor Schmerz von Sinnen,
Von grimmiger Empörung wild, stürzt er von hinnen
Den letzten Hang hinab, durchs Tal, durchs Menschenreich
In steifer Jagd dem Schlosse zu. Dem Pfeile gleich,
Der unverwandt, die mörderische Stachelspitze
Voraus, die Bahn durchfliegt in der Verfolgung Hitze;
Es sieht nicht links, nicht rechts sein flammend Augenspiel,
Nur eins vernimmt der todgeladne Blick: das Ziel.
So er. Und seine hochgehobne Rechte scheuchte
Herrisch aus Wege, was Lebendiges da kreuchte.

«Pfui Hohn! Fürwahr, er wagts! Er ists! Dort oben gleißt,
Der meinen Freund sich nennt und der Verräter heißt!»
Jetzt, eine finstre Wetterwolke, überladen
Mit Blitz und Donner und mit fahlem Hagelschaden,
Stieg er, die Rache in der Faust, den Haß voran,
Drohend, mit wuchtigem Richterschritt den Berg hinan.
Den freudig zum Empfang Herbeigeeilten stellte
Ein eisiger Feindesblick, der ihn nach hinten prellte.
«Wie kann», verhört er den Verblüfften, «wie vermag
Das deine Keckheit, daß du diesen Gnadentag
Nicht mit Posaunenschall und Glockenstürmen feierst,
Blöd nach den Mücken gaffst und deine Daumen leierst?»
«Von heute», lautete getrost der Widerspruch,
«Weiß Außerordentliches nichts mein Tagebuch.»
«Meine Geduld hat Eile. Zeit und Mund gespart!
Das Gnadenwunder, sprich, wo hast dus aufbewahrt?»
«Die Rätsel deiner Fragen sind mir unverständlich.»
«Genug! Hol den Pandoraschatz! Laß sehen endlich!»
«Pandoras Offenbarung ist mir nicht ergangen,
Noch irgendeinen Schatz hab heute ich empfangen.»
«Was ist denn dieser wundersame Farbenhauch,
Der deine Hand umschwebt und deine Finger auch?
Gesteh – kein Leugnen hilft, du siehst dich überführt –:
Mit Fingern hast du den Pandoraschatz berührt
Und hast ihn angefaßt und in der Hand gehalten.
Bekenn! berichte! Oder Strenge laß ich walten!»
Ahnung entsetzt ihn, seine Zuversicht erkrankte;
Die Zunge stammelte, und seine Stimme schwankte:
«Es waren Kinder wie die andern Kinder alle –
Ich ging mich zu erholen in der Wandelhalle –
Sie haben etwas feilzubieten mir versucht –
Ein Spielzeug, schien mir, ähnlich einer Apfelfrucht –»
«Fahr fort: aufjubelnd bist du auf die Knie gesunken,
Von Ehrfurchtschauern überwältigt, wonnetrunken.
Und Dankgebete singend, hast dus heimgetragen.
Warum erbleichst und schweigst du?» «Weh! Ich darfs nicht wagen!»
«Hast du die Tat gewagt, wag auch das Wort! Entstumm!
Mach Schluß! Stoß zu! Bring meine hässigen Zweifel um!»
Mit Zittern und mit Stottern kam: «Ich hab es eben –
Ich hab es halt» – erstarb sein Wort – «zurückgegeben –»
Ein rauher Schrei als wie von einem wunden Tier
Beleidigte die Luft – gefaucht, geröchelt schier.
Und eine Stimme schäumte: «Hör ich recht? Sag an:
Verschmäht? Sags noch einmal, damit ichs glauben kann:
Verschmäht? Pandoras Gabe? In die Hand bekommen
Vom gnädigen gütigen Schicksal und nicht angenommen?
Und wagts und streckt den Leichnam in die Luft und guckt
Und sinkt nicht in den Boden, klaftertief verschluckt?
Ein Rat, den ich dir gebe: Daß du dich nicht rührst,
Kein Wort, keine Bewegung, keinen Laut verführst,
Eh daß ich über dich, was Rechtens ist, verfügt.
Keine Entschuldigung! Die Missetat genügt.»

Und während nun der Schuldbewußte und Beschämte
Mit abgekehrtem krummem Rücken das vergrämte,
Verstörte Antlitz ängstlich in die Achseln duckte,
Kein Wörtlein munkelte, mit keiner Miene zuckte,
Des Rächers Atem spürend hinter dem Genick
Und im Gesicht vom Schloß herab den spöttischen Blick
Der Königin erduldend, die am Fenster saß
Und seine Schande mit den stolzen Augen maß,
Befahl ein grimmer Ruf das Hausgesind zuhauf:
«Schnell Roß und Wagen ins Geschirr! Marsch marsch! lauf lauf!
Ob ihr die Kinder mögt erjagen, welche heute
Im Schloßgang angeboten eines Fundes Beute!»
Und Wagen klirrten, Rosse schnoben, Hufe scharrten;
Indes er selber, ihre Rückkehr abzuwarten,
Auf einer Steinbank sitzend, mit gespielter Ruh
Dem Wolkenzug am Abendhimmel schaute zu.
«Geduld!» befahl dem Fiebernden sein mächtiger Wille.
Und Schonung gönnt ihm des geräumigen Platzes Stille.
Jenseits des Platzes aber in der Ferne stand
Von scheuem Volke eine steife Menschenwand,
Gierig beschäftigt, immerfort mit stummem Grauen
Das Bild des regungslosen Rächers anzuschauen.
So schaudert eine schauspielsüchtige Weiberrotte
Wollüstern vor dem Henkerschwert auf dem Schafotte.
O tückische Friedlichkeit, darin die Falschheit sitzt!
Denn sehts dort, welchen grausigen Hieb es nächstens blitzt!
Da horch! Ein greinendes Gewimmer, das je näher
Es kam, des bittrer schluchzt und ängstlicher und weher.
Und siehe da die Ankunft dreier kleiner Sünder,
Einer begangnen Untat reuige Verkünder!
Der Fragen braucht es kaum. Der Anblick sprach genug:
Er sah des hingewürgten Glücktags Leichenzug.
Vertändelt und vertan! Dahin auf nimmernie!
Und wenig war er nachrichtwißbegierig, wie.
Doch als er nun aus ihrem stammelnden Berichte
Die arme, kindlichgläubige Wanderfahrtgeschichte
Erfuhr, und wie es ihnen je und je ergangen
Und welchen schnöden Undank sie dafür empfangen,
Und hörte, welch ein schmählich und empörend Ende
Der gnadenvollen Göttin holde Osterspende
Erlitt, so daß der große frohe Feiertag
Verkohlt zu Aschenstaub vor seinen Augen lag,
Ein Wölklein Rauch, ein Wahn, der Wirklichkeit beraubt,
Sank er zusammen und verhüllte sich das Haupt.
Sein Stöhnen bloß und seiner Schultern Zuck gab Kunde
Von eines Helden Not im Kampf mit einer Wunde.
Dann, als er sich emporzwang, wars von neuem Er,
Der Fürst, der starke Engelgottes, hoch und hehr.
Und Ehrfurcht zischelte herum: «Der Richter hier».

«Und nun, du bittrer Bruder Jämmerlich, zu dir!
Du, den zu meinem Stellvertreter ich gesetzt,
Mit jeder leckern Erdensüßigkeit geletzt
Und über alles Volk erhoben auf den Thron –
Ist das nun deine Dankbarkeit? ist das mein Lohn?»
Hier stockte seine Stimme, die kein Wort mehr mochte.
Empörung überwältigt ihn und Rache kochte.
Pfui, welch ein gleißend schönes Mannsbild! Wär ers minder,
Ich glaub, sein ekler Anblick kränkte mich gelinder.
Und hundert haßgeladene Gedankenfetzen
Umzischten ihm die Ohren, seinen Groll zu hetzen:
«Zum Kerker sei der Tropf, wenn nicht zum Tod, verdammt!»
«Zu hart. Hingegen stoß ihn schimpflich aus dem Amt!»
Da schlendert ein Gedanke von der Seite her
Und pflanzte sich vor seinen Zorn gelassen quer,
Sah ihn bedenklich an und schüttelte die Stirn;
Dann mit gekrümmtem Finger zeigend zum Gehirn,
Verzog er jenseits in die Dunkelheit hinüber.
Der Engelgottes blickt ihm nach, erstaunt darüber:
Ist das nicht der Gedanke, welcher so erfreulich
Mit einem klugen Rat mir ausgeholfen neulich?
Und ihn zurückberufend, heischt er: «Mund auf! Sprich!
Was meint dein Zeichenrätselspiel? Erkläre dich!»
«Mich fürchtet. Darf ich dirs auf einem Umweg deuten?
Es war ein Mann – vielleicht daß dir die Ohren läuten –
Der hatte einen tüchtigen, erprobten Hund.
Zu keinem Tadel, keiner Klage gab er Grund.
Als er jedoch einmal ein Perlenhalsband fand,
Zerbiß er das in seinem Hundeunverstand.
‹Für solche Untat›, schrie der Herr, ‹tut Strafe not!›
Ergriff den Stock und schlug den Übeltäter tot.
Beifällig rief der Wolf: ‹Das nenn ich richtig strafen!›
Und fraß ihm nächste Nacht die Kinder mit den Schafen.»
Mit diesen Worten schloß der Redner und verstrich.
Der Engelgottes aber büßt erschrocken sich.
«Hab Dank! Welch eine unheilträchtige Torentat
Beging ich ohne deiner Warnung weisen Rat!»
Die Augen zu, daß vor dem widerlichen Wichte
Die neugeborne Weisheit werde nicht zunichte,
Stieß er den glimpflichen Bescheid aus heisrer Kehle:
«Vernimm mein Richterurteil, merk, was ich befehle:
Was du mir angetan, hat Unvernunft verbrochen,
Nicht schlimmer Sinn. Darum: von Strafe freigesprochen.
Zu ändern, was geschehen, bleibt nun nimmer Frist.
Laß sehen, ob, wenns glückt, ein Rest zu retten ist.
Eilboten schleunig vor dein Angesicht versammle!
Errötend, mit beschämtem Blick den Auftrag stammle:
‹Auf! Tummelt euch! Hinaus! Der Botschaft seid beflissen:
Der Menschenkönig gibt dem Menschenvolk zu wissen:
Wer von Pandoras wundertätigem Apfel, den
Die Huld der gnädigen Göttin uns zum Heil ersehn,
Eines geringsten Überbleibsels Nachlaßspur,
Und wärs ein Blättlein oder Stengelhäutchen nur,
Mir bringt, den will ich mit den höchsten Ehren preisen:
An meiner königlichen Tafel soll er speisen,
Im Purpurkleid mit goldnem Zierrat soll er schreiten;
Und wo er geht und steht, soll Ehrfurcht ihn begleiten.›
Nun aber, laß dich warnen: heb die Zehen, zieh!
Schon reut mich halb mein Freispruch, der nicht leicht gedieh.»
Hierauf zum Kindergrüpplein steuerte sein Fuß.
Ihr gellend Jammern mäßigte sein gütiger Gruß:
«Zeigt eure Händlein, die ein göttlich Heiligtum
Lobsingend trugen in der schnöden Welt herum.
Nein, zieht sie nicht zurück! Den Kuß der Andacht duldet,
Den Dankesdemut jedem eurer Finger schuldet.
Jetzt eure Augen weist mir, die das Wunder schauten,
Die Gottheit spürten und der Schönheitsprache trauten.
Hei, Erbschaft! In den Augengläslein eingeschrieben
Ist von dem heiligen Glanz das Spiegelbild geblieben.
Getrost! Erinnert euch, was immer euch begegnet:
Pandoras keuscher Odem hat euch eingesegnet.
Und wenn euch jemand fragt, wer euer Vormund ist,
Ruft laut und keck: ‹Der Engelgottes! daß ihrs wißt!›»

Dann ein Verwandelter, den Richter hinter sich,
schritt er, ein Hohepriester, ernst und feierlich
Zu einem Wiesenvorsprung überm Hügelrand,
Der übers Leere schaut zur fernen Bergeswand.
Daselbst, das Antlitz kehrend nach der Berge Richtung,
Vollzog er eines Büßergottesdiensts Verrichtung:
Streut Erde auf den Scheitel, schlug sich an die Brust,
Berührte mit der Stirn den Boden schuldbewußt:
«Zu dir, der Hoheitvollen, schwer und tief Gekränkten,
Mit Undank für den Reichtum deiner Gunst Beschenkten,
Naht ein Beschämter, Grambeladner im Gebet,
Das demutvoll zu deiner Gnade reuig fleht:
Sieh nicht die Unbill, die sie schnöd dir angetan!
Sieh ihren Jammer, sieh ihr kläglich Schicksal an,
Wie sie, die Not zum Führer und den Schmerz zum Treiber,
Zu Tode schleifen ihre blutigen Menschenleiber.
Schöpf in den Tiefen deines Mitleids! Kehre wieder!
Steig abermals zu Tal auf jungen Füßen nieder
Und deine segenspendenden Geschenke reich!
Tu das aus freier Gnade! Tus fürs Gottesreich!
Tus für der künftigen Geschlechter Trost und Heil,
Die an dem heutigen Frevel haben keinen Teil.
Wo nicht, tus deinethalb! Weil du Pandora bist.
Weil Huld und Güte deines Herzens Pulsschlag ist.»

Das Bußgebet vollzogen, warf er einen Stein
Über die Schultern rückwärts ins Gebüsch hinein
Und richtete sich auf und rief: «Vergangenheit!»
Hernach, die Sehnen straffend, sagt er: «Festigkeit!»
Also mit Willenskraft und mutiger Gebärde
Gestärkt, hofft er des trauervollen Heimwegs Fährde
Zu überstehn. Und schon des Talwegs ersten Rank
Hatt er gewonnen, mannhaft schreitend ohne Wank,
Da sieh: am Horizont das Purpurfarbenblühen
Der Himmelsberge, wie im Dämmersonnenglühen
Sie auferstanden, und, vom Feuerschein erhellt,
Die Engelreihe, auf der Mauer aufgestellt,
Wo nach dem angelobten Flaggenzeichen immer
Sie eifrig spähten, das nun folgte nie und nimmer –
Jetzt taumelte sein Schritt, die willensstark gestrafften
Gelenke zauderten, versagten und erschlafften.
Und Tränen rannen, angesammelt und gespart,
Dem Lautaufschluchzenden auf Wangen und auf Bart.


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