Heinrich Spiero
Detlev von Liliencron
Heinrich Spiero

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28.
Dem Ende zu.

Der sechzigste Geburtstag war in Liliencrons Leben mehr als ein äußerer Einschnitt. Noch nie war auf dieser Lebenshöhe ein deutscher Dichter so herzlich gefeiert worden. Er empfand deutlich das Gefühl erhöhter Verantwortlichkeit gegenüber seinem Volke, und nichts war mir bezeichnender und bewegender als der Unterschied zwischen dem Liliencron, den ich am 1. Juni 1904 einsam im Saßschen Uhlenkruge antraf, und dem, der zwei Tage nach dem Geburtstage noch einmal zu einer stillen Nachfeier nach Alt-Rahlstedt lud. Damals ein nervös geplagter, vor dem herandrängenden Feierjubel ordentlich ängstlicher Mann, jetzt ein beruhigter, friedevoller und befriedeter Hausvater, der noch diese oder jene hübsche Gabe vorwies, dann aber bald zu einem Spaziergang durch die sonnige Landschaft aufforderte. Da gingen wir zu vieren über oft betretene Wege, jeder Bauer, jeder seine Ackergäule nach Hause führende Knecht zog die Mütze und sprach mit leuchtenden Augen den »B'ron« an, der mit allen in jenem Platt verkehrte, das ein Münchener Mädel einst in vollem Ernst abgewiesen hatte: »Redens net amerikanisch mit mir!« Von jedem ließ er sich etwas erzählen, und jeder bekam ein freundliches oder ein komisches Wort mit, bis wir dann am Fenster einer leeren Wirtsstube saßen und in die Abendpracht des goldenen Himmels hinausschauten. Wir tanzten sogar ein wenig; aber auch darüber lag nicht aufjauchzende Lebenslust, sondern eine friedliche Behaglichkeit, die gesonnen schien, die noch geschenkten Jahre zu genießen, wie wohl ein Feinschmecker einen lang erwarteten, im Schatten des Kellers edel gewordenen, purpurnen Wein langsam und mit Verständnis schlürft.

Liliencron in Alt-Rahlstedt, 1904

Vor allem war Liliencron jetzt auch von den letzten Schulden befreit. Die Summe, die sich wie ein vom Berge rollender Schneeball unheimlich aufgerundet und ihn einst fast erdrückt hatte, war abgetragen und aus jenen Ehrengaben ein bescheidenes Kapital für die Kinder, wenn sie dereinst erwachsen sein würden, festgelegt worden. Kam nun noch einmal Geldverlegenheit über das Haus, in das die Schriften immer wachsenden Ertrag brachten, so rührte sie von der Gutmütigkeit Liliencrons her, der sich, ungewarnt durch frühere Erfahrungen, hier und da für kleine Leute der Gegend verbürgte und von ihnen mit nicht immer kleinen Summen im Stich gelassen wurde. Es fand sich dann stets jemand, der aushalf. »Immer stiller fließt das Leben«, hatte mir Liliencron mit den Worten eines Hertzschen Gedichts schon 437 vordem einmal geschrieben, und das Gefühl, im Abendgold eines reichen Daseins zu stehn, verließ ihn in diesen Jahren nicht mehr. Man begehrte seiner überall, und immer wieder mußte er sich aus der Stille seines Hauses losreißen, um im Reich und draußen vorzutragen. So war er öfters am Rhein, im Stinnesschen Hause zu Mühlheim, im Schulz-Eulerschen zu Frankfurt und gewann in Dr. Albert Mummenhoff zu Bochum einen sich oft bewährenden Freund. Er las den Deutschen in Posen und Bromberg vor und kehrte mehrmals noch im Nietzsche-Archiv zu Weimar als ein geehrter Gast ein, zuletzt am 9. Mai 1908, als die Fürstin von Schwarzburg-Rudolstadt den Wunsch nach seiner Bekanntschaft geäußert hatte. Da war er mit Hans Hoffmann zusammen, der nicht lange danach, im selben Jahr mit ihm, abberufen ward, und zufällig fanden wir uns noch am späten Abend im »Elefanten«, wo auch ich abgestiegen war; Liliencron, Carl Bulcke und ich saßen lange beisammen und tauschten Erinnerungen an den gemeinsam beklagten Prinzen Emil Schoenaich-Carolath, der drei Monate vordem von einem qualvollen, mit vorbildlicher Standhaftigkeit getragenen Leiden hinweggerafft worden war. Liliencron sah damals prachtvoll aus, das Haar war völlig ergraut, der Schnurrbart immer noch herbstlaubfrisch, die Wangen gerötet, die Gestalt straff, die Bewegungen rasch und die feinen Hände, Zeugen seiner adeligen Herkunft, noch ohne jede Altersspur. Dazu stand ihm der Festanzug mit den so selten getragenen Orden gut zu Gesicht.

Im Jahre 1907 machte er seine größte Vortragsreise – er fuhr durch ganz Österreich-Ungarn bis auf die Balkanhalbinsel hinunter. In Wien empfing ihn immer erneute Liebe, noch stärker aber jubelten ihm die deutschen Siebenbürger, die alten Sachsen, entgegen, die dort abgesprengt zwischen Magyaren wohnen. Ein Vorkämpfer des dortigen Deutschtums, Professor Adolf Meschendörfer, hatte Liliencron eingeladen. »Daß Siebenbürgen von uns deutschen Dichtern so stiefmütterlich behandelt ist bisher, hat wohl darin seinen Grund, daß Ihr herrliches Land so sehr, sehr entfernt liegt von Deutschland. Wer kommt dahin. Ich glaube, ich würde es sehr lieben, wär ich und wohnt ich in Ihrem Lande,« so hatte der Dichter vordem an Meschendörfer geschrieben. Am 17. Mai traf Liliencron in Kronstadt ein fuhr von dort durch alle größeren deutschen Städte, Hermannstadt, Schäßburg, Mediasch und dann wieder nach Kronstadt zurück, überall von der Herzensfreude der Deutschen empfangen, die einen solchen Gast noch nicht begrüßt hatten. Mit Meschendörfer und dem Siebenbürger Dichter Schullerus durchstreifte er die Städte mit ihrem 438 bunten Volksleben, das er mit ebenso rasch ergreifenden Augen ansah, wie einst im Jahre 1866 die Trachten und Sitten in Mähren und Ungarn. Er versuchte sich mit rumänischen Bauern zu unterhalten, er besuchte den Kapellenberg bei Kronstadt und schaute auf die im Blütenweiß liegende Stadt, über die sich der Ton der Pfingstglocken schwang. Am Pfingstsonntag ward eine Wagenfahrt durch eine Reihe sächsischer Dörfer gemacht, bevor die Fahrt nach Bukarest weiterging. Die weite Reise strengte den Dichter doch an, aber er freute sich auch dort der herzlichen Begrüßung durch die Deutschen, denen er vorlas, und war zweimal Gast der Königin Elisabeth von Rumänien; König Karl lernte er nicht kennen. Als er im Herbst wieder nach Österreich kam, las er in Wien und auch in Graz, wo Ernst Decsey ihn empfing, der Biograph Hugo Wolfs. Und wie Liliencron einst in Wien sofort Marie von Ebner-Eschenbach und Ferdinand von Saar aufgesucht hatte, leider ohne Saar anzutreffen, so ging er nun zu Peter Rosegger. Er, der Unfeierliche, stand während des Besuchs plötzlich auf und sagte: »Erlauben Sie, daß ich Ihnen im Namen Deutschlands dessen Huldigung darbringe. Deutschland grüßt hier durch mich Österreich.«

Auf einer andern Vortragsfahrt lernte Liliencron Wilhelm Raabe kennen, in der bekannten Ecke der Herbstschen Weinstube am Bahnhof zu Braunschweig. Liliencron war zur Vorlesung in einen großen Braunschweiger Saal eingeladen worden, und es war üblich, dann zu dem »Alten Herrn« hinzugehn, der selbst derartigen Veranstaltungen niemals beiwohnte. Da saß dann Liliencron auf dem Ehrenplatz, der stets dem fremden Besucher gebührte, neben Raabe, dem er einst ins Geburtstagsalbum geschrieben hatte: »Ich habe ihn lieb!« Raabe gefiel Liliencrons Wesen ganz außerordentlich, und beide nahmen voneinander einen unverlöschlichen Eindruck mit. Geradezu entzückt war Liliencron über einen Ausspruch Louis Engelbrechts, der ihm echt braunschweigisch sagte: »Herr Baron, ich habe Sie mir nach Ihren Bildern ganz anders vorgestellt; Sie sehn ja ganz niedlich aus!«

Bei all diesen Fahrten machte es sich Liliencron zum Gesetz, nicht eine Stunde länger zu verweilen, als es nötig war, und er eilte gewöhnlich schon mit einem späten Nachtzug wieder nach Hause, um möglichst viel von dem zugestandenen Entgelt heimzubringen. Er hatte allmählich rechnen gelernt, wie er denn überhaupt ohne diese Kunst und trotz allen gern gegebenen großen Trinkgeldern und Almosen durch die knappsten Jahre kaum durchgekommen wäre. Größere Summen vertraute er wohl Maximilian Fuhrmann an, der in diesen Jahren sein praktischer Berater war. 439

Auch in manchem andern Sinne schloß Liliencron jetzt ab. Er sammelte im Jahre 1906 seine Balladen zu einer (Kurt Piper gewidmeten) Balladenchronik, und nun konnte man den ganzen Reichtum dieses Zweiges seiner Kunst überblicken, von der »Kleinen Ballade« und dem »Zapfenstreich« bis zu den »Zwillingsgeschwistern«. Das letzte Gedicht des Bandes, von Maria Pospischil, der Ulvilda der Hamburger Knutaufführung, zuerst bei einem Wohltätigkeitsfest in Gegenwart des Kaisers und der Kaiserin zu Berlin vorgetragen, entsprang einem Eindruck aus südafrikanischen Kriegsberichten: »Der Kampf um die Wasserstelle«, nachgebildet einem ergreifenden Erlebnis des Majors Freiherrn von Nauendorf und des Sergeanten Wehinger, das Liliencron an eigne Erfahrungen von hingebender Mannschaftstreue zum Offizier und ihrer Erwiderung erinnerte. Wie ihn einst Nimphius, dem er wieder und wieder Grüße sandte, gerettet hatte, so bietet hier der zerschossene Sergeant dem todverwundeten Major den letzten Rest Rotwein, und der will ihn dem Treuen lassen. Beider Qual erlischt in dem Durst der furchtbaren Sandwüste, während sie ganz aus der Nähe die Wasserquelle rauschen hören.

Die Quelle ruft drüben ohn Unterlaß:
Kommt her zu mir, eilt an mein Uebermaß,
An die klare, frische Wasserstelle.

Und wie im »Abenteuer des Majors Glöckchen« verdurstete Infanteristen in der Posener Ebene sich schließlich lechzend das Wasser in den Mund rinnen lassen, so stürzt sich hier, an den Toten vorbei, nach dem letzten gelungenen Sturm, alles auf die von den Witboois umstellt gewesene Quelle.

Vorwärts! Der letzte Sturm gelingt,
Und alles wirft sich kopfüber hinein,
Die Pferde zittern, die Nüster klingt,
Der Durst ist besiegt, und aus ist die Pein.
    Um die Quelle verzieht sich der Pulverqualm;
    Von Leben und Lorbeer flutet ein Psalm
    Ob der klaren, frischen Wasserstelle.

Auch seine Sämtlichen Werke bot Liliencron, an jedem Vers immer wieder feilend, von neuem dar, diesmal in vierzehn Bänden mit »Poggfred«, dem Roman vom »Linken Ellbogen« und den der Tochter 440 Baroneß Abel gewidmeten Dramen. Den fünfzehnten Band bildet dann der Lebensroman, den er seit langen Jahren hatte schreiben wollen.

Einen letzten Dank darzubringen, trieb es Liliencron, den immer dankbaren, in diesen Spätjahren. Goethe hatte zeitlebens seine Liebe gehört, Shakespeare galt ihm immer als der größte Dramatiker. Anders hatte er zu Schiller gestanden. Der Schulbetrieb hatte ihm, wie so manchem, den Dichter fremd gemacht, und die Zeitstimmung des Naturalismus, so wenig sie Liliencrons Gerechtigkeitsgefühl und Kunstverstand sonst ankränkeln konnte, hatte doch vielleicht das ihre dazu getan, ihn dem Dichter des »Wallenstein« noch weiter zu entfremden. In jenem Gedicht an Goethe hatte er unwirsch geschrieben:

Die Deutschen lieben
Schiller;
Bilderbücher jeder Art,
– Mit Bildern, ohne Bilder –
Für die reifere Jugend,
Genannt Familien-»Journale« –

und hatte damit selbst Bleibtreus scharfen Tadel auf sich herabgezogen. Für die Dauer konnte Liliencron die einzige Hoheit und Heldenhaftigkeit Schillers nicht verschlossen bleiben; gewiß umfaßte er ihn nie mit der warmen Liebe, die er Goethe zuwandte, aber wie noch jeder fand er den Weg zu der freien Menschlichkeit und dem dramatischen Genius Schillers zurück, dessen Feier das Jahr 1905 brachte. Da schrieb Liliencron, der Schillers Totenmaske nun in sein Museum hängte, seine Schillerhuldigung. In einem Park voll alter Eichenbäume, der einen echten Le-Nôtre-Garten birgt, stellte er vor die Hecke eine haushohe Säule und darauf Schillers kolossale Büste.

Der Märchengarten ruht im Abendschein,
Ich nenn ihn unsres Schillers heiligen Hain.

Den herrlichen Dichter schirmen, eine Wand,
Hochüberragend himmelanstrebende Linden.
Und Kinder kommen. Leicht streut ihre Hand
Viel Julirosen unter Kranzgewinden.
Und reife Menschen nahn. Aus Griechenland?
Ein Chorgesang erschallt und will verschwinden.
Ich singe selig mit den Menschen mit,
Wie Geister wandeln wir im Feierschritt: 441

Da ihr noch die schöne Welt regiertet,
An der Freude leichtem Gängelband
Glücklichere Menschenalter führtet,
Schöne Wesen aus dem Fabelland.
Ach, da euer Wonnedienst noch glänzte,
Wie ganz anders, anders war es da!
Da man deine Tempel noch bekränzte,
Venus Amathusia!

Mit den Deutschen von fernster Küste neigt sich Liliencron vor Schiller und spricht dann das Lied, das ihm immer vor allen lieb gewesen war: den Pilgrim:

Noch in meines Lebens Lenze
War ich, und ich wandert aus,
Und der Jugend frohe Tänze
Ließ ich in des Vaters Haus.

Und am 9. Mai fuhr Liliencron nach Hamburg hinüber, wo alle Kirchenglocken zu Schillers Ehren tönten, und ging in Schillers Todesstunde unter dem Geläut abends zwischen fünf und sechs mit tiefster innerer Bewegung um die Petri- und die Jakobikirche. »Und immer mußte ich denken, wie vor hundert Jahren der große, herrliche, heilige Dichter, der Genius, auslosch.« Gewiß unbewußt brauchte hier Liliencron denselben Ausdruck für Schiller, den sein Landsmann Friedrich Hebbel einst, auch überwunden von dieser unendliches Licht gebenden Größe, geprägt hatte: heilig.

Liliencron und Dehmel, 1908

Gesellschaften besuchte Liliencron nicht mehr. Mit Richard Dehmel traf er sich wieder und wieder und mit diesem oder jenem der andern Freunde. In der neugegründeten Hamburger Kunstgesellschaft weilte er, wenn es galt, einen noch unbekannten Dichter zu begrüßen, wie Carl Busse, der einst blutjung begeistert für Liliencron eingetreten war, um den damals noch wenige wußten, oder Georg Reicke und Carl Spitteler. Er fehlte nicht, als Gertrud Prellwitz weihevolle Worte zu Kleists Gedächtnis sprach und Bruno Türschmann das Guiscard-Bruchstück mit sicherer Kunst vortrug.

Alljährlich einmal, am ersten Sonntag im Januar, gab er ein »Diner«. Ein rundes Jahr ruhten hundert Mark hierfür zinsentragend auf der Sparkasse. Dann strahlte das Haus im Lichterglanz, und vom Morgen an wanderte Liliencron zwischen Arbeitszimmer und Küche hin und her, dem angenommenen Koch seine Weisungen zu 442 erteilen. Vier Gäste waren jedesmal geladen: meine Frau und ich und mit uns Adolph Tormin und seine Gattin, später, nach deren Fortzug von Wandsbeck, Gustav und Annie Falke. Es gab einen weit hergeholten Fisch, Sterlet oder Forelle, und Schnepfen und zum Schluß eine Schaumtorte, die Liliencron leidenschaftlich gern aß. Er saß am Kopf der Tafel zwischen den beiden geladenen Damen und machte in seiner unnachahmlich anmutigen Art den Wirt, schenkte von dem guten, billigen Rotwein ein, legte auch wohl selbst den Spargel vor und war entzückt und gästefroh, als ob er uns in Wahrheit im Schloß und nicht in dem bescheidenen Alt-Rahlstedter Hause bewirtet hätte. Nach dem Kaffee ward geplaudert und vorgelesen, ein neuer Poggfred-Gesang oder sonst etwas jüngst Entstandenes, und beim Abschied erfolgte unweigerlich die Einladung für das nächste Jahr, die dann in monatlichen Abständen immer wiederholt ward: »Du denkst doch an den sechsten Januar!«

Liliencron in Tangstedt, 1908

Auch im Jahre 1909 war das stille Fest gefeiert und die Einladung für das folgende eingeprägt worden. Nun nahte der fünfundsechzigste Geburtstag. Liliencron hatte es ganz Vertrauten gegenüber gelegentlich ausgesprochen, daß er eine Auszeichnung ersehnte, die allein ihm eine große Freude sein würde: den Doktortitel einer deutschen Universität. Am sechzigsten Geburtstag war er ausgeblieben, der 3. Juni 1909 brachte ihn. Die Universität seiner Heimatstadt erfüllte den nie laut geäußerten Wunsch (während gleichzeitig Albert Köster für das Jubiläum der Universität Leipzig den Antrag auf die gleiche Auszeichnung gestellt hatte). Es war einer der wenigen wundervoll warmen Sommertage dieses unfreundlichen Jahres. Zu einer frühen Nachmittagsstunde langten wir in Alt-Rahlstedt an, nur wenige Freunde, weil die meisten noch während der Pfingstferien auf Reisen waren. Liliencron harrte, erwartungsvoll, aber ohne die nahe Überraschung zu ahnen, auf dem Balkon. Ich war vorausgegangen und bat ihn, uns in seinem Arbeitszimmer zu empfangen. Da stand er denn vor dem Schreibtisch, die Linke leicht auf die Platte gestützt, hinter ihm im Halbkreis Frau Anna und die Kinder, Theodor Lembke, der Jugendfreund, und die andern Gäste. Nun trat Professor Ferdinand Holthausen, der Dekan der philosophischen Fakultät zu Kiel, und mit ihm der Kunstgeschichtsschreiber Carl Neumann, der den Antrag gestellt hatte, ein; nach wenigen begrüßenden Worten überreichte der Dekan die Urkunde. Sie pries den Sohn Schleswig-Holsteins, der, im Schatten von Sankt Nicolai geboren, den vaterländischen Geschicken mit heißer Seele und pietätvoller Zueignung nachging, den Soldaten, 443 der, in zwei Kriegen im Dienste des Königs verwundet, aus den kriegerischen Erlebnissen die Erfindung für Dichtungen einsog, der inmitten der Gefahr mit schärfstem Auge die nächste Notwendigkeit zu raschem Handeln erspähte und dieselbe Tugend dann auf dem Felde der Dichtung bewährte. Dem Dichter ward gehuldigt, der die äußeren Dinge mit Blitzesschnelle auffaßte und mit der Flamme seiner Phantasie verwandelte und umformte, der die »Sancta Trinitas« der Terzine und die Ottaverime für sich geschmeidigt und das Epos mit Hineinzeichnung seines eignen Bildes zu einer neuen Höhe geführt habe, dem lyrischen Seher, der die höchsten und tiefsten Geheimnisse der menschlichen Brust ergründet und verkündet habe. Und allerliebst nimmt sich innerhalb der lateinischen Laudatio das Wort Solitarius Poggfredensis aus, mit dem Liliencron, der Mehrer deutschen Sprachguts, denn auch mittelbar ein Mehrer des lateinischen geworden ist.

Liliencron in den letzten Lebensjahren

Liliencron war tief erschüttert und von Dank bewegt. Er sagte, seiner ganzen Art gemäß, nur: »Meine Herren, Sie erweisen mir da eine große Ehre«, aber dem Zittern seiner Stimme, dem Leuchten seiner Augen, der Weichheit seiner Bewegung merkte man die große, tiefe Freude an. Wir saßen dann auf der Gartenveranda und im Zimmer bei manchem guten Wort, und zwei Tage danach hielt er seinen Doktorschmaus – zu zweien. Er und ich saßen in dem neuen Pfordtischen Haus an der Außenalster mit dem Blick auf die übersonnte Fläche und tranken unser Glas. An dem weißgedeckten Tisch – wir hatten das Zimmer für uns allein – entwarf er die Antwort an die Fakultät, und dann brachte ich ihn zum Hauptbahnhof. Auf der Brücke nahmen wir Abschied, und langsamen Schritts ging er den Steig entlang zum Bahnhof hinunter. Er winkte noch einmal, und mir flog eine unerklärliche Wehmut übers Herz. Ich habe ihn als einen Lebenden nicht wiedergesehn. 444

 


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