Heinrich Spiero
Detlev von Liliencron
Heinrich Spiero

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16.
Novellendichtung.

Im August 1886 erschien bei Wilhelm Friedrich, mit der Jahreszahl 1887, Liliencrons erstes Prosabuch »Eine Sommerschlacht«, ein starker Band von dreihundertundfünfzig Seiten. Er enthielt aus dem Pellwormer Druck die Skizze »Josua von Qualen«, die damals als Bruchstück bezeichnet und nun in eine Folge von Aufzeichnungen »Auf meinem Gute« hineingearbeitet worden war. Der Band brachte ferner die drei Jagdstücke »Auf der Hühnerjagd«, »Auf der Austernfischerjagd« und »Auf der Seehundsjagd«, das nah verwandte »Märztage auf dem Lande«, die Erzählungen »H. W. Jantzen Witwe«, »Der Buchenwald«, »Die Könige von Norderoog und Süderoog«, »Ick hev di leev«, »Die dicke Liese«, »Der Dichter« und am Schluß die Novelle, die dem Buch den Namen gibt, »Eine Sommerschlacht«, »meinem Kriegskameraden Theobald Nöthig in Erinnerung« zugeschrieben. So fand sich in dem Werk der ganze Umkreis zusammen, den Liliencron auch in den »Adjutantenritten« umschritten hatte: Kriegserzählung, Heimaterzählung, Naturskizze, Phantasiegeschichte.

Es ist, als ob Liliencron sich noch nicht immer ein Freiwegerzählen zutraute. Denn wie sein österreichischer Kamerad Ferdinand von Saar, läßt auch er gern Dritte sprechen, einmal einen Freund, der auf der Insel Schmerhörn bei Pellworm aus alten Akten vergangene Geschichte abliest, einmal einen Regimentskameraden, der ein schweres Erlebnis aus einer entlegnen, einsamen Gegend berichtet, dann den Deichgrafen, der auf der Austernfischerjagd war, oder einen alten Pastor, bei dem auf der Seehundsjagd angelegt wird, einen ernsten Gutsbesitzer, der von Abenteuern seiner Jugend berichtet, oder einen verstorbenen lieben Freund, aus dessen Tagebuch Stimmung und Erlebnis neu emporwachsen. Ja, selbst die »Sommerschlacht« wird von einem befreundeten Offizier als dessen Feuertaufe beschrieben. In Wahrheit spricht aus allen Erlebnissen Liliencron selbst. Mit schärfsten Augen und Ohren belauscht er auf der geliebten Jagd die Natur. So einläßlich wie hier das Kleinleben in einem Knick auf der blühenden Haide geschildert wird, hatte es vordem nur Adalbert Stifter wiedergegeben, dem aber die Frische Liliencrons, sein rascher Blick abgingen. Für jedes Blatt und jede Frucht weiß Liliencron die besondere Färbung vorzuweisen, und sofort wird ihm der Mensch, den er von fern auf den Feldern arbeiten oder vorbeifahren sieht, zum festabgegrenzten Bild vor der Unendlichkeit des 254 Himmels, vor dem Dunkel des Waldes, vor der weiten Ebene. Stimmung ist in all diesen Jagdskizzen das Stärkste. Das vorsichtige Heranpirschen an das Hühnervolk mit dem Hund zur Seite, das Wandern über den weichen Grasweg, die Bewegung eines großen Raubvogels, der auf einer Eiche anhakt, das Lärmen zankender Schwarzdrosseln, das Lachen wilder Tauben werden beobachtet, belauscht, aufgezeichnet.

Ganz anders, wenn Liliencron auf den Vortrag knapper Geschehnisse ausgeht: dann läßt er sich selbst keine Zeit, sondern strebt mit großer Folgerichtigkeit, freilich nicht immer mit gleich fester Verknüpfung, dem Ziele zu. So erzählt er in »H. W. Jantzen Witwe« die Geschichte von einem verödeten Hamburger Senatorenhaus, von einer harten Mutter, die einen gesellschaftlich gesunkenen Sohn mit allen Mitteln fernhält, ihn so lange von sich weist, bis das heftige Wort einer entlassenen Dienstmagd lange verschlossene Muttergefühle weckt und die stolze Frau, weich geworden, am Sterbebette des Verkommenen landet. Oder er berichtet von dem Buchenwald eines stillen Naturfreundes, der mit der jungen Frau unter den alten Bäumen sein erstes Liebesglück kennen lernt; der Witwer muß dem hochbegabten, aber kalten und dem Spiele verfallenen Sohn zuliebe seinen Wald opfern – noch dazu vergeblich. Mehrmals werden rasch verflogene Liebesabenteuer vorgetragen: die Geschichte von dem Offizier, der eine junge Wirtswitwe liebt und den ein Arbeiter aus Eifersucht niedersticht; endlich genesen, findet der Soldat nach langer Zeit den damals erzeugten Sohn wieder und erkennt ihn an den braunen, wunderbaren Augen der Mutter. Oder ein junger Gutsbesitzer erlebt mit einem frühgefallenen, aber im Kern noch unverdorbenen Mädchen, der dicken Liese, ein rasches Sinnenglück und bricht mit einer unwahrscheinlichen Härte die kaum geschlossene Verbindung wieder ab.

Aus Liliencrons Einsamkeit heraus erklärt sich die Neigung zu tagebuchartigen Aufzeichnungen, die hier zuerst hervortritt. Da schreibt er sich sein glutvolles Gefühl für Wildenbruchs neues Drama durch das Tagebuch des toten Freundes vom Herzen und gibt einen knappen Umriß des »Neuen Gebots«: »Ohne jedes Bild, ohne jede Metapher, liegt Wildenbruchs Geheimnis im dramatischen Aufbau, im wilden Vorwärts und doch ruhigen Auslaufenlassen. Seine Sprache versteht jeder. Der Straßenjunge auf dem letzten Platz und der Zuschauer im Rang, alle folgen mit gleichem Interesse, mit gleicher Begeisterung den Vorgängen auf der Bühne.« Auf dem 255 gleichen Wege bringt Liliencron seine Abneigung für Wildenbruchs jagdfeindliche Novelle »Sommervergnügen auf dem Lande« zum Ausdruck, seine frühe Liebe zu Schillers Gedicht »Der Pilgrim«, seine stürmische Begeisterung für Kleists »Penthesilea«, aus der er bezeichnenderweise zuerst eine Stelle anführt, die sein Jägerherz erglühen läßt:

Denn wie die Dogg entkoppelt mit Geheul
In das Geweih des Hirsches fällt; der Jäger,
Erfüllt von Sorge, lockt und ruft sie ab.
Jedoch verbissen in des Prachttiers Nacken,
Tanzt sie durch Berge neben ihm und Ströme
Fern in des Waldes Nacht hinein.

Liliencron fand selten jemand, dem er die Gedichte vorlas, die ihn besonders entzückten, und wie er den Besuch Otto Ernsts sofort benutzte, um ihm Gottfried Kellers Verse zu sprechen, so schrieb er nun unbekümmert in seine Erzählungen das Meistersonett Konrads von Prittwitz oder das »herrliche ›Im Grase‹ der einzigen großen Dichterin Deutschlands, meiner lieben Annette Droste«. Er beschäftigt sich von neuem mit der Bibel und findet ein an Dürers geniale Darstellung gemahnendes Bild für die beiden Briefschreiber Paulus und Jacobus: »Den einen denke ich mir als einen großen, breitschultrigen, mutigen, ritterlichen Mann mit Felsenüberzeugung; den andern klein, schwächlich, gelehrt, noch nicht recht lassen könnend von seinem Tötetötegott des alten Testaments und doch voll hoher Begeisterung für die Lehre des Erbarmers.« Er vertieft sich in die Psalmen und nennt seine Lieblinge, die für ihn außerordentlich kennzeichnend sind; da ist der achtunddreißigste:

»Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm.

Denn deine Pfeile stecken in mir und deine Hand drücket mich.«

Da ist das große Gnadengebet des einundfünfzigsten Psalms und der große Lobgesang des hundertundvierten:

»Lobe den Herrn, meine Seele, Herr mein Gott, du bist sehr herrlich, du bist schön und prächtig geschmückt.

Licht ist dein Kleid, das du anhast; du breitest aus den Himmel wie einen Teppich;

Du wölbst es oben mit Wasser; du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und gehst auf dem Fittich des Windes; 256

Der du machst deine Engel zu Winden und deine Diener zu Feuerflammen;

Der du das Erdreich gegründet hast auf seinem Boden, daß es bleibt immer und ewiglich.«

Wie mußten diese Bilder Liliencron packen, und immer klang ihm noch die Verheißung des hundertundsechsundzwanzigsten:

»Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.

Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen; und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.«

An Turgenjews »Tagebuch eines Jägers« hatte sich Liliencron einst erfreut und geschult, und die freie Luft dieser Erzählerart lebt auch in den Naturbildern seiner eignen ersten Sammlung. Ganz zum eignen Stil kam er erst in dem letzten Stück des Bandes, eben in der »Sommerschlacht«.

Wir atmen die Luft der Entscheidungsstunden des Jahres 1866. In Erinnerung an die gute Unterkunft bei dem alten Fräulein von Franckenberg in Obergräditz läßt Liliencron die Erzählung mit einem Mittagessen im Saal des Schlosses beginnen, bei dem die greise Edeldame einen Trinkspruch auf den König ausbringt. Und kaum ist das Hoch verhallt, da übergibt ein Ulan dem General die Meldung, daß der Krieg erklärt ist. Es wird abmarschiert, der Grenze zu. Eine kleine Unterhaltung mit dem alten Sergeanten Cziczan, einem Kriegsmann, wie er sein soll, belebt die ernste Stunde. Nachts biwakiert die Truppe ohne Holz und Stroh, und am andern Morgen geht es bei furchtbarer Hitze durch sandiges Land. Im Dorf steht Wasser vor den Türen. »Wie sehr ist in uns Menschen der Selbsterhaltungstrieb rege, das habe ich bei befriedigt werdendem Durst oft beobachtet. Jeder stürzt sich auf das nächste Wasser, reißt das Glas, die Tasse, den Kübel an sich. Von den Lippen läuft, wie bei saufendem Vieh, wenn sie den Kopf aus dem Zuber heben, das Wasser herab auf Hals und Brust. Die Augen liegen stier, gierig, tierisch auf der kleinen Welle, das Gesicht ist verzerrt.

Ah, wie hatte uns das wohlgetan.«

Der eiserne Kommandierende General – »Old Steinmetz« ists – läßt die Regimenter an sich vorüberziehn. Ein zweites Biwak bei flammenden Holzstößen. Das Gespräch handelt von der bevorstehenden Schlacht. Postenrufe, Pferdewiehern, der leise Zornausbruch eines Hauptmanns, Rufe zum Antreten, Gesang in der Ferne, lautes Gelächter, leises Freundesgespräch, Abgehn der Patrouille, 257 Schnarchen, Klirren, Zischen, das alles fängt das geschärfte Ohr in der milden Nacht auf.

Ein Schuß stört die Ruhenden empor. An die Gewehre! Und nun geht es mit donnerndem Hurra über die Grenze, hinter der der erste Tote liegt, mitten ins reife Weizenfeld hinein. Der Brigadegeneral sprengt dem Fußvolk entgegen: »Linksum machen, die Österreicher sind da!« Die erste Granate zischt über die Köpfe, und alles macht eine tiefe Verbeugung. Die Kompagnie steht in einem Wäldchen, dicht neben dem Erzähler fällt der erste Füsilier: »Das Gewehr entfällt ihm, sein Mund öffnet sich – es ist wie ein krächzender Ton, die Augen werden ganz groß, dann bricht er, mit den Händen greifend, zusammen.« Die Kompagnie steht ganz in der Vorhut, der Hauptmann ist zufällig ein wenig weiter rechts gegangen, jetzt heißt es, gegenüber vorstürmenden Kolonnen selbständig handeln. Schnellfeuer wirft die Österreicher zurück. Nun mit »Marsch, Marsch« voran, eine Mauer wird genommen, ein junger österreichischer Jäger wird in dem Augenblick, da er den Leutnant töten will, von Cziczan erstochen. Handgemenge im Dorf, eine brennende Kirche, Kampf im Kirchenschiff, vor dem Altar und der Kanzel. Endlich ist der Kirchhof erobert. Und mit schlagender Trommel geht es weiter, mit heißen Gewehrläufen, Granaten treffen mitten hinein, es wird Karree formiert, und zwei feindliche Kürassierregimenter preschen auf das Häuflein Infanterie los. Dann aber fliegen ein Dragoner- und ein Ulanenregiment breit ausladend auf die Österreicher los, und in wütendem Aufeinanderprall werden diese zurückgeschlagen. Der Brigadegeneral ist verwundet und wird bewußtlos nach hinten gefahren. Eine letzte matte Kugel trifft den alten Cziczan ins Herz, und nun vereinigt sich die abgesandte Kompagnie mit dem Regiment zu siegesfreudigem und doch schmerzvollem Wiedersehn. Noch in den Traum, hinter sinkende Wimpern, tönt das Wort: Der König! Der König!

In einem Guß und mit einem Griff ist das geformt, aus dem Leben herausgenommen und durch die Feinheit der Beobachtung und die Fülle der Anschauung zum Kunstwerk geworden. Auf wenigen Seiten entfaltet sich das Dasein der Kompagnie und in ihm das des ganzen Heeres, das in eherner Bereitschaft dem Feind entgegenzieht, das nur ein Ziel kennt: Siegen! Nichts ist beschönigt, nichts ist verfärbt. Blut und Tod sprechen mit voller Gegenständlichkeit, aber auch die immer wieder durchbrechende Lebenslust der Jugend spricht, die sich auch im Kampf nie ganz verliert, der stürmische Vorwärtsdrang des Offiziers, 258 der den Feind aufsucht, wo er ihn findet, der den Lorbeer mit stürmender Hand auf die eignen Fahnen herabholen will. Die oft ungelenke Sprache dieses ersten Prosabandes, die besonders in dem Mißbrauch des doppelten Partizips noch stark nach Aktendeutsch schmeckt, gewinnt von Zug zu Zug stärker an Anschaulichkeit, Lebendigkeit. Aus Fetzen des Lebens, wie sie von Tag zu Tag, ohne jede andere Absicht als die der pflichtmäßigen Niederschrift, ins Kriegstagebuch eingetragen wurden, hatte die Phantasie des Dichters ein Kunstwerk geschaffen, und kräftig schlug der Hall der noch jungen Vergangenheit aus diesen Seiten in die friedliche Gegenwart hinein.

Über die »Sommerschlacht« schrieb ein Freund an Liliencron sehr fein, daß Bismarck das Buch mit Entzücken lesen würde. Und in der Tat entsprach es ja in seiner schlichten Sachlichkeit, in seiner bei allem Reichtum deutschen Einfachheit und in dem lebhaften Drang der Tatkraft neben stiller Versenkung in die Natur durchaus auch dem Wesen des Staatsmanns.

Kaum hatte Detlev von Liliencron das Buch erscheinen lassen, so regte sich der Drang zu neuer Prosadichtung. Mitten unter schwersten Hüftschmerzen schrieb er rasch seinen Roman »Breide Hummelsbüttel«, und das ganze Jahr 1887 und ein guter Teil des nächsten war erfüllt von der Arbeit an neuen Novellen, die er zu Weihnachten 1888 zu dem Bande »Unter flatternden Fahnen« zusammenfaßte. Das Buch entsprach mehr als der erste Novellenband der militärisch klingenden Aufschrift, denn es enthielt außer der Titelgeschichte noch den »Portepeefähnrich Schadius«, den vordem Rosenfelds »Berliner Feuilleton-Korrespondenz« erworben hatte, und den »Narren« und »Verloren«. Außerdem hatte Liliencron aufgenommen die Novellen »Greggert Meinstorff«, »Der letzte Gruß«, »Auf der Marschinsel«, »Das Muttermal«, »Sommermittagsspuk«, »Der Töpfer«, »Der zinnerne Krug« und eine Anzahl kleinerer »Übungsblätter«. Das Buch machte seinen Weg durch die Welt, gleich der »Sommerschlacht«, langsam genug und gerade in den Tagen besonders tief empfundenen Elends, das sich schließlich zu einer Vision verdichtete, die an Heiberg gesandt wurde:

»Ich lag heute Nacht in einem Riesensaal, der nur in den vier Ecken von je einer Fackel düster erhellt war. Ich lag in der Mitte auf einen großen Tisch geschnallt, ausgebreitet wie ein Gekreuzigter. Zwischen die Zehe und Finger waren mir Knebel gesteckt, die langsam von Zeit zu Zeit Finger und Zehe weiter auseinander schroben. – Es war eine Totenstille; nur ab und zu sagte eine unsichtbare 259 Stimme: »Anziehen!« Dann knackten die Schrauben, sonst Totenstille. – Mit einem Male wars Tag: Ich lag, auf demselben Tisch, in der selben Weise, in einem Amphitheater. 50 Millionen Deutsche auf den Bänken, und alle lachten brausend: Stirb, stirb, du Hund!

Und dann wieder der einsame große Saal. Eine herrlich-blaue Decke hatte ich bis zu den Achseln über meine tischgekreuzigte Nacktheit. Aber ein großer Engel, mit rabenschwarzen Flügeln (wundervoll), stand mir zu Füßen, und er kam zu mir und küßte meine Stirn, und ich legte mein Gesicht in seine lieben unter mein Haupt gelegten Hände. Und ich starb endlich, endlich sanft, und ein letztes Wort, das Wort des Engels: ›Ich küßte dir im Tode von der Stirn deinen Fluch, den Fluch des – deutschen Dichters‹.«

Überall wuchs das zweite Buch über das erste hinaus. Man merkt das am deutlichsten da, wo Liliencron eine früher angeschlagene Weise noch einmal gestaltet. »Die dicke Liese« war noch eine schließlich ziemlich ins Leere verflatternde Skizze – der »Letzte Gruß« hier ward ein rundes Erlebnis. Wieder hat sich der Erzähler, ein Sohn aus gutem Hause, als junger Mensch an ein Mädchen aus zweifelhafter Umgebung verloren; aber es bleibt nicht bei dem Rausch einer Nacht, es verstrickt sich alles zum Verhängnis, denn dies Mädchen ist eine leidenschaftliche, von der neuen Liebe tief aufgewühlte Natur; und als er, der zwar in sie verliebt ist, sie aber nicht liebt, von ihr geht, da nimmt sie sich das Leben, und während draußen Kinder spielen, die Alsterdampfer pfeifen, die Straßenbahnglocken klingen, die Stare schwatzen, steht er neben ihrer Leiche. Alles ist tiefer herausgeholt, runder gesehn und sehr viel persönlicher geworden.

Und auch die Ansätze zur geschichtlichen Novelle, die seit dem »Josua Qualen« in Liliencron nach Gestaltung rang, werden in »Greggert Meinstorff« zum erstenmal vollendet; freilich tritt das Geschichtliche nun stark zurück hinter den rein menschlichen Gehalt. Greggert Meinstorff, der Staller der friesischen Inseln, lebt, wie der Landvogt der »Sturmflut«, neben einer äußerlich kalten, ihn innerlich leidenschaftlich liebenden, adelsstolzen Frau, und wie jener lernt er ein anderes, einfacheres, hingebendes Mädchen lieben, die stille Silk Frerksen. Unbekümmert um Gerede und Geraune geht er zu ihr, wird sie die Seine. Und als schließlich der Geistliche von der Kanzel deutlich auf den offenkundigen Ehebruch hinweist, nimmt der Staller Abschied. Er findet die Gelegenheit zu einem ehrlich-männlichen Tode. Auf der Nachbarinsel brennt es, und allein fährt er, während kein anderer es wagt, über das stürmische Meer; das Boot kentert, und er 260 ertrinkt. An seinem Sarg betet noch einmal Frau von Meinstorff, an seinem Sarg gebiert Silk ein totes Kind und stirbt bei der Geburt. Neben der Ohnmächtigen und den Toten singt der alte Küster in seinem namenlosen Schreck den ersten besten Vers aus dem Gesangbuch.

Die Sprache ist hier reiner, feiner und bezeichnender als in irgendeiner Geschichte vordem, es wird mit den Worten gegeizt und so Spannung und Wirkung erreicht – vielleicht hat Liliencron später nichts so vorzüglich vorgelesen wie diese knappe Novelle.

Noch straffer faßte Liliencron in anderen, kürzeren Stücken seine Bilder zusammen, so in der Geschichte vom zinnernen Krug, der eine rührend unbeholfene Erinnerung an eine nie voll zum Ausdruck und nie zur Beglückung gediehenen Liebe festhält.

Die vier Kriegsnovellen von »Unter flatternden Fahnen« gingen auch weit über das in der »Sommerschlacht« Gestaltete hinaus. Am ehesten erinnert noch die Geschichte, die dem Werk den Namen gab, an das Schwesterbild des ersten Bandes. Die Kompagnie geht zunächst allein, dann in einer Linie mit fremden Truppen vor, auf ein Dorf zu, Artillerie feuert über sie fort, und mit stürmender Hand wird das Dorf genommen, hoch flattert die Fahne mit zerschossenem Schaft über dem Blut und Rauch, über dem Wirbel der Trommeln, über dem Schrei der Hörner. Dazwischen schiebt sich das Bild des Leutnants, der immer noch ein Gläschen Wein und ein vortrefflich belegtes Brötchen irgendwo herholt, um es den Kameraden anzubieten. Nachts aber ruht die Kompagnie auf einer »Insel«, in einem kleinen Erlenbruch mitten in der Sandwüste; unter dem Licht des abnehmenden Mondes liegt Liliencron mit dem Kopf auf einer gefällten Birke, neben ihm ein fremder General und andere Offiziere. Einen jungen Leutnant stört das Schnarchen des Generals, er weckt ihn und redet sich dann heraus. Der Erzähler aber kann nicht schlafen, er hört ein Stöhnen, er findet einen jungen Jägeroffizier, dem er über die letzten Augenblicke hinweghilft. Er findet einen »unendlich jungen Toten«, dem sein Hündchen das linke Ohr leckt. Und morgens geht es mit geschwungener Fahne, die an einem Erlenast befestigt ist, weiter.

Etwas Visionäres brachte Liliencron erst mit dem »Narren« in diese immer wieder aus seinen größten Erlebnissen emporquellenden Erzählungen hinein. Sorglich wird hier die Stimmung durch die Ausführung eines besonderen Befehls vorbereitet: der Leutnant soll mit dreiunddreißig Mann einen vor der Linie liegenden französischen Hof anstecken, um diesen immer wieder umkämpften Platz dem Erdboden gleichzumachen. Leise, leise, bei Nacht, wird vorgerückt und 261 unter Vermeidung jedes Geräusches die aufgehäufte Barrikade überstiegen. Der Hof scheint leer, aber aus der Ferne fliegen plötzlich Brandraketen hoch. In tiefem Schweigen, wie bei Roques' nächtlicher Fouragierung, wird der Auftrag erfüllt, und noch ganz unter dem Eindruck der nächtlichen Fahrt kehrt der Führer zurück. Da hört er, daß ein naher Freund schwer verwundet ist, und darf zu ihm reiten. Er findet ihn im Bett, eben verbunden, bei ihm die Krankenschwester – »Deutschland, küsse ihnen den Saum ihrer Gewänder! Sie sind in den Kriegen deine Engel!« Er übernimmt die Wache bei dem Freunde, und wie er selbst einen Augenblick eindämmert, sieht er auf dem Nachttischchen einen Narren in der Schellenkappe sich vom Lampenschirm loslösen und vor ihm hin und her tanzen:

»Und vor mir tanzt und springt der Narr, ho und heidi. Wie ausgelassen dieser dumme Kerl ist. Wie er sein breites Maul grinsend verzerrt. Und ich tanze ihm nach; ich muß alle seine Bewegungen mitmachen.

Aber ich will nicht und ich muß.

Das Scheusal hält an, steht still. Auch ich bin wie gebannt. Der Narr beugt seinen Kopf. Was will er? Einen Erde aufwerfenden Maulwurf beobachten? Eine Blume wachsen sehn? Den Eilweg eines Käfers verfolgen? . . . Er winkt mich heran. Ich folge; ich schaue mit ihm in ein tiefes, großes Grab. Und viele tausend nackte Arme, in hechtgrauer Farbe, mit ineinandergekrampften Fingern streckten sich mir entgegen. Solche Arme sah ich oft auf den Schlachtfeldern.

Und der Narr lacht und lacht und schlägt Purzelbäume wie ein Clown, und lacht und zeigt hinunter.

Ich will ihn schlagen . . . Ich . . . kann . . . nicht . . . von . . . der . . . Stell . . . e . . . Hund, verfluchter . . . Deck zu, deck zu!«

Er erwacht nach kaum fünf Minuten; er fühlt die Hand des Kameraden noch in der seinen – es ist eine Totenhand. Und an der Brust der eintretenden Barmherzigen Schwester schluchzt er wie ein zehnjähriger Knabe.

Die künstlerische Höhe der wirklichen Kriegsnovelle erreichte Liliencron jetzt mit dem »Portepeefähnrich Schadius«. Im Winter 1870/71 ist eine größere preußische Abteilung zur Bekämpfung der Freischärler Faidherbes in einem Schloß einquartiert, das einen zurückhaltenden Besitzer und dessen eigenartig schöne Tochter beherbergt. Der General, ein hervorragender, draufgängerischer Offizier, verliebt sich in das junge Mädchen, und sie scheint sein Gefühl 262 zu erwidern. Der General ist mit einem Trompeter und einem Mann in eine uneinnehmbare Festung hineingeritten und berichtet von den seltsamen Erlebnissen, die er dort unter den die Feste hütenden Greisen gehabt hat, berichtet von dem eigenen Grauen, das sie alle überfallen hat, als sie auf schwanker Brücke über eine unergründlich tiefe Schlucht, über wallende Dämpfe hingeritten sind. Und wenn diese Erzählung schon unser Gefühl ahnungsvoll beengt, wenn uns dieser Bericht schon heraushebt aus dem regelmäßigen Gang des Krieges in eine besondere Luft, so werden wir von der andern Seite vorbereitet durch einen Marsch zur Einholung von Liebesgaben für die abgeordnete Abteilung. Auf dem Hinweg geht alles gut, auf dem Rückweg führt den einen Zug der blutjunge, eben eingetroffene Fähnrich Schadius, ein schmaler, noch knabenhafter, dunkeläugiger Jüngling. Die Kompagnie wird überfallen und würde sich den Freischärlern, die ihr aufgelauert haben, nicht gewachsen zeigen, wenn nicht im rechten Augenblick der General, der schon eine Ahnung gehabt hat, mit seinen Husaren herzuraste und die Franzosen zersprengte.

Auch Schadius empfindet heiß für die seltsame Schönheit der Schloßtochter – seine Liebe ist doppelt hoffnungslos, da er den General mit dem Mädchen beobachtet hat. Der Hausherr aber ist ein Verräter, und in einer Nacht werden die Insassen überfallen. Der Erzähler kann nicht schlafen, er hört Eulen schreien, ganz fern einen Schuß, und während eben noch alles still war, heulen plötzlich zehntausend Teufel, es donnert heran wie ein reißender Bergstrom, die längst vorbereitete Stellung hinter der Wagenburg wird eingenommen, das ganze Schloß steht in Flammen, und während draußen noch kaum die ersten Angriffe abgeschlagen sind, steht Fanchette am Fenster, rettungslos verloren. Der General will ihr zu Hilfe eilen, im Torweg trifft ihn die tödliche Kugel. Da stürzt sich Schadius hinein, man sieht ihn das ohnmächtig werdende Mädchen umfassen. Er schleppt sie nicht weg, er küßt sie wütend – prasselnd schießt das Dach über beide herunter.

Hier hat Liliencron ohne Rest die wahrhaftig erlebten Eindrücke des Krieges mit dem lyrischen Grundstoff eines geahnten Schauens und mit der festen Knüpfung einer Liebesgeschichte zu einem untrennbaren Ganzen vereint, in dem alles sich gegenseitig stützt und hält: das von allem Gewohnten abweichende Leben im Felde, das hier noch durch den besonderen Auftrag der Abteilung weithin gesteigert wird, die Seltsamkeit der Erlebnisse des kühnen und das Leben leicht 263 nehmenden Generals, das Schicksal des blutjungen Fähnrichs, der in rasch errafftem Liebessold, in einer ersten Heldentat zugleich, den Tod findet.

Liliencron sandte das Buch an Conrad Ferdinand Meyer und war überglücklich, als ihm der Dichter schrieb:

»Nehmen Sie meinen Dank für Unter flatternden Fahnen, das Buch hat mir ein paar gute und höchst vergnügte Stunden gemacht. Und ich denke, die geist- und phantasievollen Striche werden überall erfreuen, einiges, z. B. der Zinnerne Krug, ist in seiner Schlichtheit sehr schön, wenn ich nicht durch den männlichen Ton voreingenommen bin.«

Bezeichnenderweise empfand also auch hier Meyer wie immer gerade das Männliche von vornherein als bestrickend, wie er vor den Werken von Louise von François seine »schweizerische Freude am Substantiellen« befriedigt sah. »Diese norddeutsche Romantik hat mich wieder berückt. Doch ich mag nicht loben, es tönt wie Zeitungsartikel, sondern gebe Ihnen einfach die Hand und sage: Fortfahren.«

Solcher Zuruf machte Liliencron so stolz wie ein Brief Klaus Groths, der ihm ein Jahr später mitteilte, daß Johannes Brahms die Dichtung »Auf dem Kirchhof« vertont hätte, – »das ist mir die höchste Auszeichnung.« 264

 


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