Heinrich Spiero
Detlev von Liliencron
Heinrich Spiero

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9.
Beamter.

Am 14. Juni 1879 wandte sich Liliencron in einer Eingabe unter Beilegung seines Zivilversorgungsscheins an den Oberpräsidenten der Provinz Schleswig-Holstein: »Als geborener Schleswig-Holsteiner wäre es mir von großem Werte, in meinem Heimatlande eine Anstellung im Zivildienst zu erlangen, und geht daher meine große Bitte dahin, hochgeneigtest mir eine Anstellung in der Euer Exzellenz unterstellten Provinz gewähren zu wollen.« Der Oberpräsident gab das Gesuch an den Regierungspräsidenten zu Schleswig weiter, und dieser schrieb Liliencron am 4. Juli, daß er gern darauf eingehen wolle, wenn Liliencron Hardesvogt oder Kirchspielsvogt zu werden beabsichtige; er solle sich an den Minister des Innern wenden. Das geschah. Der Kriegsminister von Kameke erteilte eine sehr gute Auskunft über den Bewerber, dieser habe ganz vorteilhafte Zeugnisse, sein Verhalten in den beiden Feldzügen sei so anerkennenswert gewesen, daß er dekoriert worden sei. Nach Auskunft des Generalkommandos beschäftige er sich literarisch, er nehme eine geachtete gesellschaftliche Stellung ein, seine Vermögenslage wäre nicht bekannt. Daraufhin erklärte der Minister des Innern, Graf Botho Eulenburg, sein Einverständnis. Liliencrons Wunsch, zunächst, wegen der sonst notwendigen Umzugskosten, bei dem Landratsamt in Wandsbeck eintreten zu dürfen, wurde aus amtlichen Gründen abgeschlagen; dafür ward er am 30. August vom Oberpräsidenten Heinrich von Boetticher dem Landratsamt zu Eckernförde überwiesen, wo er am 7. Oktober eintrat. Er nahm in dem kleinen Badeort Borby Wohnung. Mit großer Schaffenslust und Genauigkeit ging Liliencron an die ihm übertragenen Arbeiten. Die Einsamkeit in dem schön in waldiger Bucht an der Ostsee ganz nah der kleinen Stadt gelegenen Borby sagte ihm zu. Ein immer lebhafter werdender Briefwechsel mit dem schlesischen Dichter Konrad von Prittwitz und Gaffron auf Hennersdorf (1826–1906) setzte ein, den er von Görlitz aus besucht hatte und dessen Sonette er sehr bewunderte, insbesondere das »An einen guten Schützen«:

Du hasts erreicht, erreicht mit Windeseile!
Wie einst Odysseus meisterst du den Bogen,
Am Ziel ist kein Geschoß vorbeigeflogen,
Ein Held wie du verschießt nur Todespfeile.

Du trafst mich gut und tief – noch kurze Weile,
Dann sind verströmt des Herzbluts Purpurwogen; 96
Und um die karge Spanne Zeit betrogen,
Wird frühe mir das schwarze Los zu Teile.

Nicht an des Daseins Überschätzung leid ich,
Mir ist der Abschied wie ein Wiedersehen,
Und nur von wenigem – ich weiß es – scheid ich.

Fahr wohl, o Nacht! die Morgenlüfte wehen!
Doch dich, beim ewigen Gotte, nicht beneid ich,
Wenn wir uns dort einst gegenüberstehen!

Die Beziehungen zu dem Prinzen Emil zu Schoenaich-Carolath, dessen erste Dichtungen im Jahre 1878 erschienen waren, wurden brieflich fortgesetzt, Theodor Storm ward weiterhin zwischen Steuersachen und andern amtlichen Akten fleißig gelesen und auch mit Alberta von Puttkamer mancher von dichterischen Gedanken und Hoffnungen erfüllte Gruß getauscht. In den ersten Augusttagen des Jahres 1880 weilte Liliencron als Carolaths Gast auf dessen dänischer Besitzung Paalsgard bei Horsens.

Der Landrat Freiherr von der Reck war mit dem Gehilfen sehr zufrieden, fand ihn gut beanlagt und erkannte seine Bemühungen an, in die Verwaltungsgeschäfte einzudringen; jedoch fand er ihn nach den ersten sechs Monaten für eine selbständige Stellung noch nicht genügend vorgebildet und beantragte die Verlängerung der Probezeit um ein weiteres halbes Jahr, währenddessen Liliencron zugleich beim Hardesvogt Petersen arbeiten sollte. Auf wiederholten Bericht des Landrats wurde in der Tat die Dienstleistung bis zum 1. Oktober 1880 erstreckt.

Aus dem ersten »ABC-Buch«
1880

Au diesem Tage trat Liliencron zu einer sechswöchigen Dienstleistung als Adjutant beim Bezirkskommando in Hamburg an und hatte hier die Freude, den blutjungen Professor Stephan Waetzoldt kennen zu lernen, der als Reserveoffizier bei einem Liebesmahl sein Tischnachbar war; der hervorragende Schulmann war damals Oberlehrer an den Lehranstalten des Klosters St. Johannis zu Hamburg und ist zu Liliencron bis an seinen frühen Tod (er starb schon 1904) in freundlichen Beziehungen geblieben. Auch mit dem damaligen Leutnant und späteren Obersten im Infanterieregiment Nr. 76 von Dassel trat Liliencron in Verkehr und besuchte seine Base, die Jugendschriftstellerin Sophie von Wörishöffer in Altona.

Vor dem Antritt seines Kommandos hatte er darum gebeten, in Blankenese weiter arbeiten zu dürfen; das ward ihm aber nicht 97 gestattet. Von der Reck berichtete, daß Liliencron doch den Erwartungen der Vorgesetzten nicht vollständig entsprochen habe; »nicht aus Mangel an Fleiß und Ausdauer, sondern es fehlt ihm scheinbar die praktische Ader, die Sachen sogleich von der richtigen Seite anzusehen.« Er sei aber nun mit allen Vorschriften vertraut, habe guten Willen, und so werde vorgeschlagen, ihm versuchsweise die Verwaltung einer Distriktsbeamtenstelle in einfachen Verhältnissen anzuvertrauen. Fürs erste kehrte Liliencron nach Eckernförde zurück; aus Verlegenheiten durch die alten Schulden half gelegentlich der treue »Seckelshagen«, Freund Seckendorff, der sich inzwischen gleichfalls verheiratet hatte. Zu Anfang Juli 1881 ward Liliencron als stellvertretender Hardesvogt in Flensburg vereidigt und arbeitete dort ein Vierteljahr lang; einmal hatte er kräftig einem Haidebrand zu wehren. Trotz der Verwendung des Reichsgerichtsrats Hartmann, eines Oheims seiner Frau, beim Oberpräsidenten von Boetticher bekam er immer noch keine feste Anstellung. Ende September 1881 trat er wieder eine sechswöchige Übung an; solche Wochen waren ihm nach dem seinem Herzen ganz fremden amtlichen Tun Erholung und Erfrischung. Er konnte wieder den geliebten Degen tragen, mit Kameraden verkehren, sich in des Königs Rock fühlen.

Am 7. November 1881 ward er zum Landratsamt Plön versetzt. Er saß nun in einer der schönsten Städte Holsteins, zwischen dem großen und dem kleinen Plöner See, unterhalb des alten Schlosses mit seinem prachtvollen Park; er fand in der größeren Gesellschaft der Stadt zusagenden Verkehr, insbesondere auch unter den Offizieren der Kadettenanstalt. Damals erschien zuerst ein Gedicht von ihm, das allgemein gelesen wurde, es stand nämlich in den »Fliegenden Blättern«: »Die Musik kommt«.

Klingling, bumbum und tschingdada,
Zieht im Triumph der Perserschah?
Und um die Ecke brausend brichts,
Wie Tubaton des Weltgerichts,
Voran der Schellenträger.

Auch in Plön fiel das Gedicht natürlich auf und trug nicht dazu bei, die allgemeine Ansicht über die amtliche Brauchbarkeit seines Verfassers zu erhöhen. Eine Schmeichelei darüber von Charlotte Niese, die den vollen Wert auch dieser leichten Verse erkannt hatte, lehnte Liliencron in einer Gesellschaft ab. »›Die Musik kommt‹ ist längst nicht 98 mein bestes Gedicht; ich habe viel bessere gemacht, und ich werde noch viel viel besser dichten!«

Im Februar 1882 erstattete der Plöner Landrat von Brackel einen von feinster Menschenkenntnis zeugenden Bericht, der ein volles Bild Liliencrons in jener Zeit gibt. »Der Premierlieutenant von Liliencron ist seinen Kenntnissen und Neigungen nach als ein Literat von Fach zu bezeichnen. Derselbe hat eine sehr anerkennenswerte Gewandtheit im Gebrauch der Feder und zur Behandlung allgemeiner literarischer Gegenstände, schreibt Novellen und huldigt der Dichtkunst. Eine besondere Neigung hat derselbe für das Studium der Geschichte, besonders der vaterländischen, und seine Kenntnisse sind in dieser Hinsicht recht schätzbar. Die älteren und neueren Verhältnisse von Schleswig-Holstein sind ihm geläufig, und ist er offenbar bemüht, seine Kenntnisse in dieser Richtung noch fortwährend zu vermehren. In der Behandlung der Verwaltungsgeschäfte besitzt derselbe dagegen bis jetzt nur eine geringe Übung. Seine Arbeiten sind oberflächlich, ungeschäftlich und wenig brauchbar, insbesondere fehlt ihm die Ausdauer, welche zu gründlicher Behandlung der Geschäfte unerläßlich ist, und ohne welche ein Fortschritt nur langsam möglich ist. Der Grund davon liegt teils in der ihm eigenen Unruhe und Hastigkeit, teils darin, daß er für die Verwaltungsgeschäfte nur wenig Neigung und Verständnis hat. Für eine wichtigere Verwaltungsstelle halte ich ihn daher noch nicht geeignet. Ob er unter eigener Verantwortung und im Zwange der Notwendigkeit mehr zu leisten imstande ist, vermag ich nicht zu beurteilen; es ist möglich, daß er alsdann sich zusammennimmt; immerhin aber möchte ich bei etwaiger Beförderung Vorsicht empfehlen, solange L. nicht in kleineren Verhältnissen seine praktische Brauchbarkeit bewiesen hat.

Was seine Persönlichkeit im übrigen anlangt, so ist er von guten Formen, bescheiden, höflich und zuvorkommend, ein angenehmer und wegen seiner literarischen und historischen Kenntnisse auch interessanter Gesellschafter, der gewiß niemals Anlaß zu persönlichen Differenzen geben wird.«

Am 1. März 1882 schlug endlich die erlösende Stunde: Liliencron erhielt eine selbständige Stellung, ihm wurden die Verwaltungsgeschäfte auf der Insel Pellworm übertragen, die bis dahin der Amtsrichter nebenamtlich geführt hatte. Es handelte sich um einen der allerkleinsten Geschäftsbezirke Preußens – auch das Amtsgericht hielt nur zwölf Sitzungen im Jahre – in einer Gegend, die Liliencron weit lieber und willkommener war, als die Ostseeküste und das holsteinische 99 Seengebiet. Pellworm liegt ganz am Südende der nordfriesischen Inseln, deren größte Sylt ist. Die nächste Stadt des Festlandes ist Husum – so war Liliencron der Heimat Theodor Storms nahegerückt, freilich nicht dem Dichter selbst, der im Jahre 1880 weiter landeinwärts nach Hademarschen gezogen war.

Aus dem sechsten »ABC-Heft«
»Pellworm, Atlantischer Ozen«
Dezember 1882

Husum enttäuscht den Betrachter zunächst, sobald er den schönen, alten Schloßgarten verläßt; es ist eine ziemlich charakterlose Kleinstadt, und selbst das Hafenbild kann sich mit dem anderer schleswig-holsteinischer Küstenstädte, selbst des kleinen Neustadt, nicht messen – man muß erst mit Storms alles verklärenden Dichteraugen sehen, um Husum, die »graue Stadt am Meer«, zu finden. Und Storms Heimatstimmung fühlt man denn freilich am besten vom Meere aus. Wenn der kleine Dampfer die Schleuse gekreuzt und die letzte Boje hinter sich gelassen hat, wenn man dann vom offnen Wasser her, von Möwen umflogen, auf die Stadt zurückblickt, geht der Hauch schwermütiger Schönheit dieses Marschlandes auch dem Neuling durchs Herz. Noch mehr als zwei Stunden – Nordstrand bleibt links liegen – braucht man bis zum Hafen von Pellworm. Die große Insel ist – im Gegensatz zu den nördlich gelegenen Halligen – eingedeicht und von Deichen durchzogen. Einzeln liegen die hohen Werften oder Wurten der Bewohner, friesischer Bauern. Schafzucht vor allem wird auf diesen Inseln getrieben, und wenn man auf dem festen Boden der Deichkrone den köstlichen Weg zwischen Land und Meer geht, springen langsam die Tiere den Hang hinab, von jungen, ungeschickten Lämmern umspielt. Immer hat man auf solcher Wanderung den Blick in die Kooge der Insel zur einen, den aufs Meer zur andern Seite, bei Ebbe weithin grauen Schlick vor sich, aus dem es fortwährend leise piept und gurgelt. Selten erblickt man auf dem Meer ein Segel oder eine Rauchfahne, auf dem Lande einen Menschen zu Fuß, mit dem Springstock für die Gräben, oder zu Wagen.

Dorfstraße auf Pellworm
Bleistiftzeichnung von Hauschteck

Alte Erinnerungen an einst gelesene Chroniken über die Friesen tauchten hier in Liliencron auf, die weiten Deichwanderungen schärften den Blick für das große Leben des Meeres, jeder Vogelruf aus den Watten ward eifrig beobachtet und jedem der gefiederten Bewohner sein eigener Laut, etwa dem Avosettsäbler sein Puith puith, abgelauscht. Mit dem Springstock überquerte Liliencron auf Dienstgängen die Gräben. Bald rief ihn die Vielfältigkeit seiner Pflichten hierhin, bald dorthin, und oft genug hatte er als Deich- und Strandvogt sehr seltsames Strandgut zu besichtigen. Fleißig ging er auf die Vogel-, zumal die Austernfischerjagd. Endloser Himmel und endloses Wasser 100 breiteten sich um ihn. Wundervoll, wie der Kämpfer für Deutschlands Einheit, der alte Soldat, hier den 22. März beging; da des Kaisers Geburtstag auf Pellworm nicht öffentlich gefeiert ward, zog Liliencron die Uniform an und ging auf den Winterdeich im Westen der Insel. Hier stellte er sich stramm auf, zog den Säbel »in der grandiosen Nordseeeinsamkeit« und schwenkte ihn dreimal über seinem Helm: »Es lebe der Kaiser!«

Am Deich auf Pellworm
Bleistiftzeichnung von Hauschteck

Wenn, nicht selten, das Wintereis die Zufahrt zur Insel vollständig versperrte, saß er wochenlang ohne jede Nachricht vom Lande, wie er etwa Richard Wagners Tod erst nach elf Tagen erfuhr. Diese Verhältnisse brachten es mit sich, daß Liliencron freier schalten konnte als jeder andere Verwaltungsbeamte, war er doch auch oberster Brandbeamter und seit dem 8. März daneben Kurator der Steuerkasse, gewissermaßen alles in allem. Seine amtliche Bezeichnung war Hardesvogt – Harder heißen in Schleswig die Amtsbezirke, die in Holstein Kirchspiele genannt werden. Von seiner einsamen Machtvollkommenheit machte Liliencron nicht immer den rechten Gebrauch, so, als er die Gensdarmen von der Insel verbannen wollte, auf der er sie nicht nötig fand, und allen Gastwirten unbeschränkte Tanzerlaubnis gab, während vordem die Konzession umgegangen, ja der Tanz zeitweilig infolge einer Messerstecherei ganz verboten gewesen war.

Von solchen kleinen Fehlschüssen abgesehn, führte Liliencron die Geschäfte zur Zufriedenheit der Behörden, insbesondere seines nächsten Vorgesetzten, des Landrats Grafen Reventlow in Husum. Nur die traurigen Wohnungsverhältnisse verstimmten ihn. Im August bewarb sich der anläßlich der Geburt des jetzigen Kronprinzen, am 6. Mai 1822, zum charakterisierten Hauptmann Beförderte um die Kirchspielsvogtei Meldorf. Er rühmte die angenehme und lehrreiche Tätigkeit auf Pellworm, beklagte aber eben den Mißstand des Wohnungswesens. »Zuerst habe ich mich in einem der hiesigen, rein auf bäuerliche Verhältnisse berechneten Wirtshäuser halbwegs im Keller etabliert, sodann in einem Privathaus Unterkommen gefunden, jedoch nur bis zum 15. dieses Monats, so daß ich mich glücklich schätzen kann, wenn ich bis zu dem gedachten Tage überhaupt ein Schutzdach erobere. Dies ist um so peinlicher für mich, da ich trotz aller Bemühungen ein Bureaulokal gar nicht ausfindig machen kann, vielmehr mein sehr beschränktes Wohnzimmer als Bureau der Königlichen Hardesvogtei benutzen muß. Außerdem bin ich verheiratet, und bin nicht in der Lage, auf die Dauer einen doppelten Haushalt zu führen (die Gattin war in Hamburg), während es mir bei den hiesigen Lokalverhältnissen 101 völlig unmöglich ist, eine auch nur den gemäßigtsten Ansprüchen genügende Familienwohnung zu finden.«

Liliencrons Wohnhaus in Pellworm
Bleistiftzeichnung von Hauschteck

Das Gesuch wurde abgelehnt, da Liliencron auf der gegenwärtigen Stellung unentbehrlich sei; nach einer sechswöchigen militärischen Übung im April und Mai 1883 bewarb er sich zu Anfang Juni um die Kirchspielsvogtei Gravenstein, wiederum ohne Erfolg. Sein Einkommen betrug auf Pellworm, »gegenüber England, Nordkap rechts«, neben dem Offiziersruhegehalt und der Verwundetenzulage, sechs Mark an Tagegeldern und siebenhundertundfünfzig Mark für den Dienstaufwand. Auf Muhls Werft hatte er schließlich eine angenehmere Wohnung gefunden.

Ende August schlug der Regierungspräsident nach dem günstigen Zeugnis Reventlows Liliencron beim Minister für die Kirchspielsvogtei Kellinghusen vor. Er rühmte den anerkennenswerten Ernst und Eifer des Beamten und seine guten Erfolge. Alles, was über die unerledigte Aktenmenge, die zahlreichen Rüffel und so weiter jahrelang berichtet worden ist, gehört in das Bereich der Fabel und des Klatsches, und Liliencron hat es stets zornig dahin verwiesen – wie überhaupt der Sagenkranz um seine Amtstätigkeit im wesentlichen aus künstlichen Blättern besteht. Der Präsident lobte die Persönlichkeit des Bewerbers, seine gewandten Formen, sein liebenswürdiges Wesen, das ihm ein gutes Verhältnis zu den Eingesessenen seines Verwaltungsbezirks um so mehr sichern würde, als er der Provinz durch Geburt angehöre und die Eigentümlichkeiten der Bevölkerung kenne. Zwei Tage später bewarb sich Liliencron auf die höhere Anregung hin selbst um das neue Amt, er fuhr persönlich zum Minister Robert von Puttkamer nach Berlin und ward am 9. September 1883 zum Kirchspielsvogt in Kellinghusen ernannt. Sein Gehalt sollte 2400 Mark betragen, wovon 86 Mark für die Witwenkasse abgingen; dazu kamen noch die gleiche Dienstaufwandentschädigung, wie auf Pellworm und ein Wohnungsgeld von 420 Mark jährlich. Für die Nebenämter des Amtsanwalts und des Standesbeamten standen etwa 440 Mark jährlich zur Verfügung. Die Vogtei umfaßte sieben Gemeinden mit rund fünfzehnhundert Einwohnern. Liliencron kehrte, nachdem er sich am 12. in Schleswig gemeldet hatte und dort für sein neues Amt verpflichtet worden war, noch im September in das ihm aus dem Jahre 1872 so wohlbekannte Kellinghusen zurück. Aus früherer Zeit fand er hier den Arzt Dr. Martens. Dem hatte vor zehn Jahren der junge Offizier einen bedeutenden, unauslöschlichen Eindruck gemacht; noch nach Jahrzehnten, auf dem Sterbebette in Berlin, 102 sprach Martens in seinen letzten erregten Worten von Liliencron und bat seine Frau, sich Liliencrons anzunehmen.

Der Bürgermeister Jargstorff war Liliencron eine erfreuliche amtliche Bekanntschaft.

Am unbequemsten war Liliencron das Amt des Amtsanwalts, und er bat im Dezember 1884 um seine Enthebung von dieser Tätigkeit. Er sei überlastet, und es fehle ihm jede Schreibhilfe. Der Landrat von Harbou in Itzehoe, nunmehr sein Vorgesetzter, befürwortete das Gesuch nicht. Allerdings hat er Liliencron um Einlegung der Berufung gegen freisprechende Urteile ersuchen müssen, die auf Liliencrons eignen Antrag ergangen waren.

Liliencron in Hauptmanns-Uniform
Kellinghusen, 1883

Im Juni 1885 erhielt der Kirchspielsvogt den einzigen Verweis seiner ganzen Amtszeit, wegen eines Formfehlers im Schankkonzessionsverfahren.

Friedlich und still verflossen Liliencron die ersten Monate in der neuen Tätigkeit. Sein Briefwechsel breitete sich immer weiter aus. Schon vordem hatte er Klaus Groth seinen tiefen Dank, insbesondere für den »Quickborn«, ausgesprochen, den er auf allen Feldzügen, Manövern und Reisen bis nach Frankreich, über die russische Grenze und nach Amerika mit sich getragen hatte; jetzt schrieb er neuerdings an den großen Landsmann und suchte den Verkehr mit ihm zu halten. Mit Fräulein Margarethe Stolterfoth in Königsberg trat er durch einen Zufall in Beziehung und tauschte mit ihr brieflich Gedanken über Carolath, Alberta von Puttkamer, den in der ostpreußischen Hauptstadt lebenden Felix Dahn. Der Rechtsanwalt Timm Kröger aus Elmshorn, der damals den Dichter in sich noch nicht entdeckt hatte, stand dem Amtsanwalt von Liliencron gelegentlich als Verteidiger vor dem Schöffengericht gegenüber und war dann sein Tischgenosse an der Wirtstafel des Gasthofs zur Stadt Hamburg.

Liliencron als Kirchspielvogt
in Kellinghusen, 1885

Seine Tätigkeit war Liliencron, zumal bei dem guten Gehalt, immer noch unter allen im Zivilleben möglichen die liebste, kam doch, wie er sich ausdrückte, »das ganze menschliche Leben darin vor«. Neben dem Kleinsten und Kleinlichsten lagen oft die schwersten menschlichen Verwirrungen und Verbrechen innerhalb seines Amtsbereichs. So lange er konnte, übte er Nachsicht, insbesondere gegen die umherziehenden Zigeuner, für die er von jeher eine kleine Vorliebe hatte, und von denen er sich, zum Entsetzen seiner Gensdarmen, gelegentlich etwas vortanzen und vorgeigen ließ. 103

Aus meinem Fenster seh ich
Eine Mühle, die stille steht,
Einige Werften mit Kathen
Ohne Baum und Garten,
Dahinter die feine Linie des Deichs,
Und dann graue Wolken des Himmelreichs.

Um mich liegen Akten und Schwarten,
Im Vorzimmer die Bauern warten,
Hans Paulsen und Paul Hansen.
Paul Hansen hat seine Nachtmütze
Auf die Hecke von Hans Paulsen gehängt.
Unerhört.

Und der Amtsbote kommt mit
Einem italienischen Drehorgelmann,
Der keinen Gewerbeschein hat.
Der arme Teufel verdiente
einen Orden, daß er so hoch hier
in den Norden sich hineinwagt.
Der Sekretär kommt mit den
Unterschriftssachen. Langweilig,
ach, und nun knisterts wieder im Ofen.
Und immer seh ich die öde Land-
schaft vor mir, die im Winterschlaf liegt.

Den Stoßseufzer hat Liliencron in Pellworm, ganz für sich, einmal laut werden lassen. Und auch in Kellinghusen schrieb er wohl: »Ach! der Pflichtpflug!« Aber er setzte doch hinzu: »Aber auch er hat ja seine guten Seiten.« Er hatte auch seine heiteren, so, wenn der Kirchspielsvogt bei der pflichtmäßigen Durchsicht der Volksbücherei Kellinghusens plötzlich Claurens »Mimili« entdeckte, die hier seit Jahrzehnten unangefochten ausgeliehen wurde.

Dennoch sollte die anfängliche Behaglichkeit des Lebens mit der immer wachsenden dichterischen Arbeit dabei nicht lange währen; in schwere Seelenkämpfe geriet Liliencron vor allem durch das Verhältnis zu seiner Frau. Den Edelmut und die Opferfreudigkeit der Geliebten konnte er nicht genug rühmen, aber die Temperamente vertrugen sich auf die Dauer nicht miteinander. So ward die Ehe im April des Jahres 1885 gerichtlich geschieden. 104

Schwerer noch legte sich auf Liliencron nach einer kurzen Zeit der Abmilderung der Druck seiner Schulden. All die Jahre hindurch hatte er leidlich wirtschaften können, und insbesondere nach außen hin nichts über seine Vermögensverhältnisse dringen lassen. Nun aber meldeten sich alte Gläubiger. Am 3. Juni 1885, gerade an Liliencrons 42. Geburtstage, erwirkte der Gemeindevorsteher Clausen auf Pellworm wegen dreihundert Mark eine Zwangsvollstreckung auf die Dienstbezüge Liliencrons bei der Regierung in Schleswig, und wenige Tage danach folgte bei der gleichen Behörde eine Anfrage eines Altonaer Lichtbildners wegen anderer Schulden. Die Regierung wandte sich an den Landrat des Kreises Steinburg von Harbou und dieser von Itzehoe her an den Kirchspielsvogt. Liliencron hatte Harbou schon im April mitgeteilt, daß er seit zehn Jahren gegen den Konkurs oder eine zwangsweise Versteigerung seiner Habe kämpfe, jetzt aber den Kampf aufgeben müsse. »Es würde ja außerordentlich Euer Hochwohlgeboren langweilen, hier irgend Aufklärung in bezug auf meine zeitigen finanziellen Unbequemlichkeiten zu erhalten; nur möchte ich mir die gehorsamste Bemerkung erlauben, daß die eben erwähnten Ungelegenheiten vor vielen Jahren entstanden sind; daß namentlich mein Aufenthalt in Kellinghusen – wo ich tiefspießbürgerlich mit den guten Bürgern gelebt habe, also durchaus in jenem geistig verkommenen Zustande, wie es einmal in den Verhältnissen jedes Ackerbürgerstädtchens liegt – ohne Depensen gewesen ist. Etwa in vierzehn Tagen oder drei Wochen wird die öffentliche Versteigerung meiner Sachen stattfinden, mit der bekannten grenzenlosen Grausamkeit für den Betreffenden. Wenn es schon allein alle Furchtbarkeiten des menschlichen Lebens übertrifft, in Geldverlegenheit zu sein, so steigern sich diese Scheußlichkeiten, wenn, wie in diesem Falle, ein Beamter in einer kleinen Stadt Solches über sich ergehen lassen muß.

Ich bitte daher gehorsamst um meine Entlassung aus dem Staatsdienst.

Ich weiß es wohl – und spreche und denke in ungeheuchelter Gerührtheit darüber – daß die Königliche Regierung sich in ähnlichen, sich nicht selten wiederholenden Fällen in einer großen Güte und Milde auch gegen den geringsten Beamten zeigt, indem sie den Letztgenannten versetzt. Sollten Euer Hochwohlgeboren dies glauben der hohen Regierung zu hochgeneigter Erwägung anheimzugeben, so wäre mir dann ein grauenhafter Gedanke, wenn Letztere eine etwaige Versetzung als Strafversetzung ansehen und einrichten würde. 105 Dann lieber – um ein übertriebenes Bild zu gebrauchen – der Hungertod auf der Winterhaide.«

Liliencron rühmt dann den Bürgermeister Jargstorff als einen »herrlichen Menschen«, der ihn gut vertreten würde. Zehn Tage später teilte der Kirchspielsvogt einen inzwischen gefundenen Ausweg mit: Ein Bekannter kaufe die Sachen ohne öffentliche Versteigerung und ließe sie in der Wohnung; sie seien nunmehr unpfändbar. Auch hoffe er auf bald springende Quellen. In einem letzten Schreiben endlich betont Liliencron, daß der Gemeindevorsteher Clausen nicht etwa ein ehemaliger Untergebener, sondern ein reicher Hofbesitzer sei. Das Vorgehen des Mannes ist ihm schrecklich; »von Hause aus nichts anderes vom Leben erwartend als Grauenhaftigkeiten, von furchtbarem Mißtrauen gegen alles erfüllt, übersteigt das heute Geschehene fast die ertragbaren Grenzen. Wenn ich auch mit aller Macht mit dem Leben ringe, aber ich bin doch nicht ein Ehrloser, wie es nach dem Inhalt des hohen Erlasses von jedem Lesenden angenommen werden muß und mußte.«

Harbou legte die Briefe einem kurzen Sachbericht an die Regierung bei, und diese antwortete mit der Aufforderung, Liliencron möchte seine Schulden offen darlegen. Er erwiderte, daß sie aus den Jahren 1868 bis 1869 stammten und etwa achttausend Mark betrügen, von denen er jährlich zweitausend abbezahlen wolle. Im übrigen hebt er hervor, daß die Schuld bei dem Lichtbildner eine Mieteschuld sei; er wolle nicht in den Verdacht kommen, daß er sich »wie ein eitles Dienstmädchen« für zweihundertundfünfzig Mark habe photographieren lassen.

Die Regierung, die Liliencron gern halten wollte, forderte aufs neue eine Darlegung der Schulden im einzelnen und gewährte einen Aufschub bis zum 1. September.

Aber auch diesem neuen Ansuchen vermochte Liliencron nicht nachzukommen. Er bat, ihm die Aufstellung zu erlassen, da er mit Rücksicht auf zu erwartende bedeutende Einnahmen aus schriftstellerischer Tätigkeit bis zum April viel werde tilgen können; dann wolle er jede gewünschte Zergliederung abgeben. Die Regierung erklärte, so lange nicht warten zu können, gewährte aber noch zwei Aufschübe, schließlich bis zum 1. Dezember. Drei Tage vor diesem Zeitpunkt schrieb Liliencron endgültig:

»Die Königliche Regierung bitte ich ehrerbietigst, hochgeneigtest mir bis zum 1. künftigen Monats den Abschied zu geben. Nicht Trotz 106 und Eigensinn, nicht kindisches und kleinliches Denken haben mich zu dem oben genannten untertänigsten Antrag veranlaßt.

Hätte ich große Schulden und diese in zwei oder drei Posten, würde ich nicht eine Minute gezögert haben, das zergliederte Verzeichnis einzureichen. Aber der Gedanke, eine Liste kleiner Verbindlichkeiten der hohen Behörde zu unterbreiten, ist mir ein schrecklicher. Es liegt in der Natur der Sache und ist nicht unehrerbietig oder unrichtig gedacht, wenn ich sage, daß eine solche Liste, auf welcher Hinz und Kunz verzeichnet stehn, die entschiedenste Heiterkeit vom höchsten Herrn Präsidenten bis zum jüngsten Schreiber erregen muß. Ich bin zu alt, zu ernst und stehe in diesem Augenblick in zu schwerem Lebenskampf, um das ertragen zu können, und um von mir die Meinung aufkommen zu lassen, ich sei ein leichtsinniger junger Mensch und Schuldenmacher. . . . Nicht unterlassen kann ich es, der Königlichen Regierung, ohne zu heucheln, meinen tiefgefühltesten Dank auszusprechen für manche Güte und Nachsicht und oft gezeigtes Wohlwollen.«

Der Landrat, dem Liliencrons Wesen, wie es sich in diesen Briefen äußerte, nicht angenehm war, – insbesondere fand er die Äußerung über die Heiterkeit der Beamten frivol – hatte nichts einzuwenden. Er betonte, daß Liliencron keinen Verkehr hätte und selten ins Wirtshaus ginge, und erwähnte Liliencrons Theaterstücke, über deren Ertrag er freilich nichts sagen könne. Der »Kellinghusener Störbote«, die Ortszeitung, habe berichtet, daß ein Drama »Knut der Herr« am Hoftheater in Altenburg glänzend seine Feuerprobe bestanden habe und im Januar im Leipziger Stadttheater in Szene gehen werde.

Am 23. Dezember 1885 ward Liliencron durch Ministerialerlaß, gezeichnet vom Unterstaatssekretär Herrfurth, die nachgesuchte Entlassung aus dem Staatsdienst gewährt.

Die sechs Jahre amtlicher Tätigkeit hatten Liliencron mit den Menschen seines engeren Heimatlandes, und zwar mit allen Klassen und Ständen, in nahe Berührung gebracht; er, der durch ganz Deutschland, auf die Schlachtfelder Österreich-Ungarns und Frankreichs, bis hinüber nach Amerika verschlagen worden war, war wieder festgewachsen auf der Scholle, die sein väterliches Geschlecht so lange getragen hatte und die Stätte seiner Kindheit gewesen war. Freilich: er hatte in der Heimat keinen Freund gefunden, er war ohne engeren äußeren Anschluß und in innerlicher Einsamkeit, getrennt schließlich auch von dem Weibe seiner Wahl, seinen Weg gegangen – aber er 107 hatte auf diesem nun endlich das Ziel gefunden, das seit dem französischen Krieg so oft lockend vor ihm auftauchte. Er hatte immer wieder ein Schriftsteller werden wollen, nun war er ein Dichter geworden: als er sein Amt niederlegte, war »Knut der Herr« gedruckt, und am 1. Oktober 1883 war ein Buch in die Welt gegangen, das freilich auf seinem Deckel nicht mehr den Namen eines Freiherrn Friedrich von Liliencron zeigte, sondern den Namen, den er nun trug, wie er ihn sich selbst beigelegt hatte:

Detlev von Liliencron. 108

 


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