Heinrich Spiero
Detlev von Liliencron
Heinrich Spiero

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21.
Der Haidegänger.

»Sommertag und Winternacht« wollte Liliencron seinen dritten Gedichtband nennen, den er im Jahre 1890 Wilhelm Friedrich von München aus einsandte. Dann aber schlug er eine andere Aufschrift vor und nannte sein Buch »Der Haidegänger und andere Gedichte«. Im September ging das Manuskript nach Leipzig, und im Spätherbst erschien das Werk, Iven Kruse zugeeignet. Es enthält neben einer Prosaskizze sechsunddreißig Gedichte, von denen der kleinere Teil im Sommer und Herbst 1889 in Kellinghusen, der weitaus größere in und bei München in den Monaten vom Februar bis Juli 1890 entstanden ist. Zum erstenmal griff Liliencron nicht auf altes Gut zurück, das zum guten Teil immer noch unerschöpft in den ABC-Büchern des kleinen Detlev vorlag, sondern faßte das Ergebnis eines einzigen Jahres zusammen. Er war in Kellinghusen zuletzt sehr müde gewesen. So viel und so Schönes ihm die heimatliche Landschaft gab, in die er sich so rein wie noch nie versenken durfte, so dringend hatte er doch nach einem neuen Lebenskreise, nach anderm Gespräch, nach Menschen verlangt, die den Dichter der »Adjutantenritte« und der »Gedichte« kannten, und das war ihm in München geworden. Aber wie er, hellhörig für die eigne Innenstimme, empfand, daß er für die Dauer doch in den Norden gehöre, so gab ihm München auch dichterisch nicht voll das, was er zu empfangen hoffte. Die Abspannung des letzten Jahres machte sich noch fühlbar, und das für den Mann Mitte der Vierzig neue und ihm nicht mehr ganz gemäße Leben der jungen Münchener Schriftsteller, die Unruhe des literarischen Betriebes, die leicht gepflückten Liebesabenteuer brachten zwar glückliche Stunden, aber keine innere Einheit. Das merkt man dem Bande wohl an. Schon rein äußerlich fällt auf, daß Liliencron hier nicht mehr die Vielfältigkeit der Form meistert, die er in den »Gedichten« mit immer neuem Gelingen zur Höhe geführt hatte. Der etwas mühsam behandelte sechsfüßige Trochäus, der alte deutsche Vers mit vier Hebungen, der fünffüßige Jambus herrschen vor, und die reizvolle Schmiegung und Biegung verschiedener Maße, wie sie, jeder Stimmung und jedem Stoff gemäß, in den beiden ersten Gedichtbüchern gelebt hatten, setzten hier aus. Auch, und vor allem: die feine Feilung, die jeder Vers vordem erfahren hatte, ist hier nicht immer durchgeführt.

Und nun in den Wald.
Welch ein wundersamer der ist – 310

das hätte Liliencron früher nicht stehn lassen und manches andere auch nicht.

Wie zart und blaß war ihr Gesicht,
Die hat im Leben viel Freude nicht.

Sieghaft heben sich trotzdem einige Gedichte heraus. »An einen meines Namens nach meinem Tode« richtet Liliencron ergreifende Strophen – sie waren einem Vetter, dem Kammerherrn Karl von Liliencron auf Sproitz, auch einem Kämpfer des großen Krieges, zugedacht:

Ob meine Bücher dir bekannt,
Die einst ich schrieb?
Und wissen möcht ich dann, ob sie
Dir wert und lieb.

Die Sehnsucht geht in die Heimat zurück.

Vielleicht von deines Ahnherrn Nest
Am Nordseestrand
Bist weit du fern. Ich lebte noch
Im Holstenland.

Er sieht in dem Geschlechtsvetter vom Normannenblut der Vorfahren einen Nobelmann mit Speer und Sporn.

Und doch, du glättest deine Stirn?
Vergibst es gar,
Daß einer deines Namens einst
Ein Dichter war?

Ein hübsches Bild, auf einem nächtlichen Rückgang von Rosdorf aufgefangen, gibt die »Laterne«, wo der greise, taube Knecht mit dem Licht voraustappt und hinter ihm der Dichter und die junge Haustochter den Weg durch die Nacht suchen. Zwischen minder lebendig gewordenen stehen schöne Schilderungen in dem Gedicht »Auf dem Aldebaran«, Liliencrons Lieblingsstern; auf ihm empfängt der Dichter nun als Gebieter die samtgefesselte Königin, die er unten geliebt, aber nicht zu gewinnen gewagt hat, und die sich jetzt von ihm wendet, weil er einst das letzte Wort nicht gesprochen hat. Ein Erlebnis aus dem Kriege hält ein Gedicht an Klaus Groth fest: vor 311 Péronne liest der Offizier im Winterquartier einem französischen Kinde aus dem »Quickborn« vor; staunend lauscht die Kleine den wildfremden Worten, bis ein Donnerschlag die Stille durchbricht. In den Hof hat eine Granate eingeschlagen, und gerade auf das Wort »Daugenix« ist ein Stück grauen Deckenkalks abgefallen und bleibt fortan als Lesezeichen an der Stelle liegen.

In Krieg und Frieden, viele Jahre schon,
Trag ich, wo immer auch mein Aufenthalt,
Am Herzen deinen Quickborn und im Herzen
Die goldne Fülle seiner Heimatlieder –

das ist derselbe Ton, der aus dem Widmungsgedicht an den toten großen Altersgenossen Groths, an den andern Landsmann, Theodor Storm, sprach. Allerlei Münchener Liebesgeschichten werden in unbesorgter Fassung vorgetragen, ein langer Ausflug nach Pasing, eine kleine Reise nach Schleißheim – aber auch das wirkt nicht so frisch wie die einst »in willkürlicher Betonung« erzählten Gänge über die Haide. Und als sich Liliencron nun auf die Haide zurückträumte und sein großes Gedicht vom Haidegänger am 23. Juli 1890 im Angesicht des Hochgebirges abschloß, schob sich auch hier zwischen die im Herzen wohlbewahrte Stimmung jener Gebreite allerhand nicht ganz zur Kunst gediehene Fracht. Er gab dem Gedicht ein Leitwort aus Friedrich Nietzsches Versen zur »fröhlichen Wissenschaft«:

Die Feder kritzelt: Hölle das!
Bin ich verdammt zum Kritzelnmüssen? –
So greif ich kühn zum Tintenfaß
Und schreib mit dicken Tintenflüssen.
Wie läuft das hin, so voll, so breit!
Wie glückt mir alles, wie ichs treibe!
Zwar fehlt der Schrift die Deutlichkeit –
Was tuts! Wer liest denn, was ich schreibe?

Liliencrons Dichtung, im »deutschen Vers« verfaßt, beginnt mit der Erinnerung an zehn Jahre mitten im Haideland, dort, wo die Erika blüht.

Aber die Haide, da wußt ich Bescheid,
Du Trost mir in meiner Traurigkeit,
Alle Schlupfwinkel kannt ich, kannte jeden Baum,
Lag oft im Krattbusch in Denken und Traum. 312
Da schrieb mit dem Stab in den Sand ich Gedichte,
Da hatt ich wunderbare Gesichte.
Nun bin ich weit von ihr entfernt,
Und den Zauberspruch hab ich verloren, verlernt,
Und stehe wieder in Wirken und Welt,
Und des Lebens Stürme zerren mein Zelt.
Doch abends, wenns ruhig wird, fällt es mir ein,
Ich möcht auf meiner Haide sein.

Da spricht echt und natürlich die Sehnsucht aller dieser nordischen Menschen nach Hause. Wie mit der Gewalt des Magnetsteins zieht es diese Künstler, so verschieden sie sind, die Kleist und Storm, Fontane, Raabe, immer wieder zurück zu dem eigentlichen Mittel, goethisch gesprochen, modisch gesagt: dem Milieu ihres Daseins. Diese im stärkeren Maße erdgebundenen Naturen finden sich schon im deutschen, geschweige im fremden Süden oder Westen, bald wie Fontane »für diese Herrlichkeiten vielleicht zu deutsch«, bald wie Storm in der Verbannung, wie Kleist nicht an ihrem Ort; keiner atmet der Heimat fern auf die Dauer das erhöhte Lebensgefühl Goethes, Platens, Heyses, der Isolde Kurz. Es ist die charakteristische Wiederkehr desselben Zuges, der Keller nach allen Umfahrten an den Züricher See, Gerhart Hauptmann aus Berlin, Italien und Griechenland ins schlesische Gebirge zurückführte.

Die Haidehanne, das Mädel mit dem schwarzen Geflecht, hat am Runenstein, gewissermaßen ein Stück der Haide selbst, dem Haidegänger oft gehört – in der lieben Erinnerung daran stört den Wanderer ein Begegnender, Freund Spötter. Der bringt dieselben Gedanken, die Liliencron dem »gütigen Empfänger« der »Gedichte« in den Mund gelegt hat. Er tadelt das unaufhörliche Minnespiel der Verse, und aus unerschöpflichem Liebesdrang heraus erwidert ihm der Dichter trutzig, er werde auf dem alten Wege bleiben; er weigert sich, zum »heiligen Spiel der Nation«, zum Skat, mitzugehn, auf den Liliencron stets einen furchtbaren Haß hatte, wie er denn seit seiner Frankfurter Zeit überhaupt keine Karte mehr anrührte. Jetzt folgen einander der Literaturprofessor, der ganz blaß nach herkömmlicher Zeichnung als Verehrer klassischer Linien herauskommt, und der Moralist, der für ein Liebesgedicht nur Abstraktes, nichts Konkretes verlangt. Der Kritiker vollends kommt nur zu sechs Worten, und der Dichter entläuft ihm, da er sich nicht in Schule und Richtung einschachteln lassen will. So ist er denn mit der Haidehanne 313 allein, und im Liebesgespräch taucht, in altertümlicher Wendung, nach manchen papierenen Worten ein zartes Geständnis auf:

Du bist gesund, die Welt draußen ist krank,
Dessen lieb ich dich, hab Dank.

Ein neues Bild: blühende Sommerhaide an König Ringelhaars Grab. Kein Laut stört das sonnendurchglühte Gelände.

Mir zu Häupten ein junger Vogelbeerstrauch
Mit sich rötender Frucht.

Über den Schlafenden neigt sich, wie in jenem Gedicht »Nach der Jagd«, die Enaksschar des Märchenkönigs; aber plötzlich erscheint an ihrer Stelle ein Narr, wie er einst auf dem Tischchen am Bett des todwunden Kameraden tanzte. Er drückt dem Ruhenden die Brust zu und läßt ihn erst frei auf das Versprechen hin, keine Gedichte mehr zu machen. Dann muß der Quäler forteilen, und an seine Stelle tritt sein Gevattersmann,

Eine Erscheinung in der Nachmittagsglut,
In hechtgrauer Kutte mit dem Pilgerhut,
Und starrt unbeweglich geradeaus.
Ein Schnitter vielleicht, auf dem Wege nach Haus.

Man erkennt wieder den ganzen Liliencron an der Ausgestaltung dieses Kömmlings, dem er eine bezeichnende Mitgabe nicht vorenthält:

Doch ein Mäher trägt nicht solch Gewand.
Aber die Sense in seiner Hand,
Die er über die Schulter läßt fallen,
Um die fest, kräftig die kleinen Krallen
Ein Zaunkönig schlug, der wie verliebt
Mit dem Schwänzchen lustig seine Männchen gibt?

Darin glitzert, zumal wenn man die Verse, wie das alle Liliencronschen verlangen, laut liest, die ganze Bildkraft des Dichters für das Große und das Kleine. Dann des Rätsels Lösung: 314

Die Sense mit dem Vögelchen drauf,
Mit dem blitzenden, glitzernden Lichterlauf,
Die Sense, die so schrecklich droht –
Jetzt dreht er sich zu mir, es ist der Tod.

Der Tod fordert den Haidegänger auf, mit ihm zu gehn. Er malt ihm das Menschenpack, das vom Fürsten bis zum Schneider unvornehm und poesielos sei. Er erinnert an die Heuchelmaske, die jeder vorbinden, an die hundert Bücklinge, die jeder vor »Hennengehirnchen« machen muß, an ewige Qual von Liebe und Eifersucht, und er lädt ein, in die dargebotene Hand zu schlagen. Mit dem Letzten aber hat er vertan, denn gerade ewig-junge Liebe hält den Haidegänger noch auf Erden. Nochmals erinnert der Tod an den Abschied, der jeder Leidenschaft schließlich blüht. Er schlägt das Liebesverzeichnis auf von der blonden Komtesse bis zum einfachen Bauernkind, er führt ihm ein ergreifendes Erlebnis der letzten Nacht mit dem Kind des Volkes vor und erinnert an das nahende Alter.

Im Sattel reitet der Winter mit.

Aber keine Beschwörung nützt, und in seiner Angst schreit der Haidegänger nach Hanne; sie naht in oberbayrischer Tracht und mit oberbayrischen Worten und verjagt grobianisch den Tod – da erwacht der Haidegänger.

Rasch ein anderes Bild. Winter auf der Haide. Der Staatsanwalt begegnet dem Haidegänger. Alle Pein des einst so unwillkommenen Nebenamtes erwacht. Bei aller Achtung vor Fleiß und Menschlichkeit will doch das Schnüffeln nach Unsittlichkeit in der Kunst – hier spürt man deutlich den Einfluß der Münchener Tagesschlagworte – dem Haidegänger nicht gefallen, lieber will er den Staatsanwalt bei Pfordte in Hamburg treffen. Jener trollt sich, und mit der Haidehanne findet der Haidegänger nun im Schnee einen erfrierenden deutschen Dichter, der nach Dänemark auswandern will, das seine Poeten besser behandle als Deutschland.

Zu wirklicher Höhe erhebt sich erst das letzte Bild. Wieder wandert der Haidegänger durch die Flur, in einem Föhrenkreis unter dünnen Bäumchen bleibt er stehn, lagert sich, da hat er wieder eine Erscheinung. Ein Weib in langem Gewand mit braungoldenem Gürtel steht, auf ein nacktes Schwert gestützt, vor einem Opferherd – sie kündet ihm das Ende noch vor dem Aufgehn der Sterne. Sie will 315 seinen Trotz, der noch den Leichtsinn entschuldigen möchte, brechen; er aber sagt ihr, wie oft er bei scheinbarer Leichtigkeit habe entsagen müssen, wie er sich immer auf sich selbst besonnen habe. Er will nicht bereuen. Da sie ihm nur die Wahl läßt, wie er sterben soll, wählt er den Tod in der Schlacht. Die Erscheinung verschwindet. Und nun tönen Kriegsgesänge aus der Ferne. Der Bursche Heinrich Senske aus dem Kolberger Regiment erscheint, der Haidegänger ruft nach Helm und Schärpe und Degen. Schon sitzt er auf »Rouge et noir«

Das ist mein altes Regiment.
Ich presche, um mich zu melden, vor,
Will mit einziehn durch das Siegestor.
Der Oberst reicht mir freundlich die Hand,
Mir sind die Tränen niedergerannt.

Querfeldein geht's über die blutende Haide nach einem Tempelchen auf dem Hügel, über Leichen, Pferdeleiber, Verwundete hinweg, während Granaten den Nachbar von der Seite reißen, durch Bach und Graben, durch Dorn und Dickicht, immer auf den Richtungspunkt zu. Das Pferd bricht getroffen zusammen, und im mörderischen Handgemenge wird endlich der Hügel mit dem Tempelchen erobert. Ein leiser Schlag gegen die Brust – die letzte Kugel wirft den Kämpfer in Ohnmacht.

Wie auf der »Insel« erwacht er in tiefer Stille, »in des Tempels heiligem Ort«. Nichts erinnert beim ersten Blick an die Schlacht, dann aber findet das Auge den toten Burschen, den toten Hornisten, und die Hände fühlen das eigne, sickernde Blut. Hanne ist wieder da, sie erhält das letzte Geld, sie soll nicht weinen. Noch eine Angst taucht auf: die vor den Gesichtern verlassener geliebter Frauen. Dann aber verzuckt, verzittert die Erdenlust. Im Haidekraut will der Haidegänger ruhn, und mit einem heißen Abschiedsgruß ans »große, schöne, heißgeliebte deutsche Vaterland« nimmt er Abschied. Wieder wie am Ende der »Adjutantenritte« machen die Takte eines Marsches den Beschluß.

Dieser letzte Zusammenklang von Haidenatur, Liebesgestammel und Soldatenernst geben dem Buch nicht nur den äußern Abschluß – sie stellen unter all diesen Versen am stärksten die Verbindung mit Liliencrons früherer Kunst her. Sie sind eine Art Bekenntnis zur Rückkehr. Wie es in jenem »Rückblick« der »Gedichte« hieß: 316

Schwamm ich viele Jahre lang
Steuerlos im Leben,
Hat mir heut der scharfe Gang
Wink und Ziel gegeben,

so deutete Liliencron selbst am Ende dieses nicht immer von reifen und ganz durchfühlten Kunstwerken erfüllten Bandes in die Heimat seiner Dichtung zurück. Er vertauschte im gewissen Gefühl seiner Berufung den Münchener Malerhut und die Sammetjacke wieder mit dem Filz und der Lodenjoppe Kellinghusens, mit dem Helm und dem Rock des Soldaten. Indem er selbst seiner Kunst, die ihm erst in den Jahren des Mannestums gereift war, eine äußere Grenze setzte, gab er ihr von neuem die Möglichkeit, sich innerhalb dieses Rahmens innerlich grenzenlos auszuwirken. Und der Blick auf die Prosadichtung dieser Jahre erweist dasselbe: die volle Stärke dichterischer Erfüllung dann, wenn der einmal genommene Flug sicher zur Höhe geht, ein leises Abschwenken, wenn äußerlich neu und rasch Aufgenommenes nicht mit dem Herzpunkt der ganzen Persönlichkeit zusammentrifft. 317

 


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