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69.

E ines Abends, im Anfang des September – zwei Monate fast nach den letzten Ereignissen – saßen in dem Vorderzimmer des Hauses in der Ufergasse Tante Bella und Ottilie – Tante Bella in der Ecke des Sopha's, Ottilie vor ihr neben dem großen Tisch, auf dem die Lampe so gerückt war, daß die beiden Damen das möglichst helle Licht für ihre Arbeit hatten. Aber die Arbeit, – ein großer Fußteppich, auf welchem ein riesiger schwarzbrauner Keiler von hellbraunen und gelben Doggen mit klaffenden rothen Mäulern gestellt war, während ein dunkelgrüner Jäger, dem vorläufig noch der Kopf und die Arme fehlten, eben im Begriff stand, ihm einen noch nicht vorhandenen Spieß in den offenen Rachen zu stoßen, – die fast vollendete Arbeit ruhte in diesem Augenblick und es hatte auch nicht den Anschein, als ob dieselbe heute Abend noch wesentlich gefördert werden würde. Tante Bella hatte die Brille auf die Stirn gerückt und blickte über die Arbeit weg Ottilien an, die so nachdenklich träumerisch vor sich hinstarrte, daß der grüne Jäger, der auf ihrem Schooße ruhte, es offenbar nur seinem kopflosen Zustande zu verdanken hatte, wenn ihm das Herz nicht unruhig in der wollenen Brust schlug. Tante Bella schüttelte das Haupt, seufzte leise, ließ die Brille wieder auf die Nase fallen, machte ein paar Stiche, blickte wieder zu Ottilien hinüber, nahm dann mit einem energischen Entschluß die Brille ab, warf dieselbe in den Arbeitskorb und sagte ärgerlich:

»Es geht nicht; ich kann nicht; ich mache lauter dummes Zeug.«

»Was hast Du, liebe Tante?« fragte Ottilie, fast erschrocken aus ihrem Traum auffahrend.

»Ja, was hast Du! hat sich was zu haben!« erwiderte Tante Bella; »was hast Du! ich habe dieselbe Frage heute Abend schon dreimal an Dich gerichtet, ohne daß Du mich einer Antwort gewürdigt hättest.«

»Sei nicht bös, liebes Tantchen. Mir ist das Herz so voll!« sagte Ottilie, und wie sie es sagte, füllten sich ihre schönen blauen Augen, die sie bittend zur Tante aufschlug, mit Thränen.

»Ich bin nicht bös,« brummte Tante Bella, die dieser Anblick sofort wieder besänftigte; »ich dächte, Du wüßtest, daß ich Dir überhaupt gar nicht bös sein kann, oder fängst Du auch, wie gewisse andre Leute an, mir alles Herz abzusprechen? Ich habe wohl ein Herz; aber ich trag' es nicht in der Schürze, und das sollte Holm nun wohl auch nachgerade wissen.«

»Holm hat es wahrlich nicht bös gemeint; er war in so großer Aufregung.«

»Bös oder nicht – er durfte so etwas von einer alten Freundin – ich meine von einer Freundin, die er so lange kennt – nicht sagen. Und was die Aufregung betrifft – wir sind Alle in Aufregung – Gott sei's geklagt! – ich nicht minder, als andre Leute; aber das hindert mich nicht, den Kopf oben zu behalten, und darauf zu bestehen, daß Recht Recht und Unrecht Unrecht bleibt in alle Ewigkeit trotz alles Euren phantastischen Hokuspokus und Lirumlarum. Und wenn Ihr mich in Stücke reißt und mit glühenden Zangen zwickt, ich kann nicht anders sagen, als daß Münzer sein Schicksal verdient hat. Wer seine Frau und seine Kinder verlassen und in's Elend stürzen kann, der ist nicht werth, daß ihn die Sonne bescheint, und wenn er morgen zu seiner lebenslänglichen Festungsstrafe noch ein paar Jahre dazu bekommt, so sollte es mich freuen – na! freuen gerade nicht; aber recht wäre es doch. Politischer Märtyrer! schlimm genug, daß er über seinen politischen Grapsen seine heiligsten Pflichten vergessen konnte; aber siehst Du, Ottilie, ich schwöre es Dir: wäre es deshalb und nur deshalb geschehen, ich wollte nichts sagen; – ich verstehe nichts davon; ich bin zu dumm dazu; ich fasse das nicht – der eigentliche Grund aber, von dem Ihr immer nichts wissen wollt, den verstehe ich ganz gut, den verstehe ich besser, als Ihr Alle, und ich sage Dir: der eigentliche Grund ist und bleibt seine Leidenschaft zu dem Frauenzimmer, der Antonie – die ich nebenbei noch gar nicht einmal so schön finden kann. Diese Leidenschaft hat ihn toll gemacht, daß er nicht nach rechts, noch nach links sah, sondern geradewegs in sein Verderben hineinlief. Wenn ein Mensch sich seine Grube selbst gegraben hat, so ist es Münzer gewesen. Und weil meine Augen, Gott sei Dank! noch scharf genug sind, das Alles in dem rechten Lichte zu sehen, deshalb soll ich kein Herz haben? Ei, geht mir doch!«

Tante Bella fing in großer Aufregung an, den Teppich zusammenzurollen und sah dabei erschrecklich bös aus.

»Tantchen,« sagte Ottilie mit großer Bestimmtheit, »Du verkennst die Sachlage. Recht soll Recht bleiben – gewiß! aber das ist nicht recht, daß man Münzer, weil er sich für seine politische Ueberzeugung brav geschlagen hat, behandelt, als wäre er ein gemeiner Räuber. In dieser Beziehung hat er nicht mehr und nicht weniger gethan, als was Wolfgang und tausend brave Männer auch gethan haben; und was das Andere anbetrifft, so muß das Münzer mit seinem Gewissen, das schwer genug sein mag, ausmachen; die Richter haben sich nicht hineinzumischen.«

»Haben sich nicht hineinzumischen!« erwiderte Tante Bella mit großer Gereiztheit; – »bitte, ich kann den Teppich schon allein zusammenrollen, bemühe Dich nicht! – haben sich nicht hineinzumischen! Also es verdient keine Strafe, wenn Jemand sich an seiner Frau und seinen Kindern versündigt, als ob er kein Christenmensch, sondern der Großtürke, oder der Dei von Tunis wäre! Nun, meinetwegen! mir kann es recht sein; ich bin, Gott sei Dank! ledig und habe keine Kinder; aber wie Du solche Grundsätze aussprechen kannst, da Du Dich doch hoffentlich noch einmal verheirathen wirst, – das geht über meinen Horizont. Ich möchte wohl wissen, was Du thätest, wenn Du – was der Himmel in Gnade verhüten möge! – jemals in des armen Clärchen Lage kämest! – ich möchte es wohl wissen!«

Tante Bella schlug mit der flachen Hand auf den zusammengerollten Teppich, und lehnte sich in die Sophaecke zurück mit der Miene Jemandes, der überzeugt ist, eine schwierige Sache endgültig erledigt zu haben.

»Wenn ich in die Lage käme!« –

Ottilie blickte nachdenklich vor sich nieder: »Wenn ich in die Lage käme, ich würde hoffentlich so großherzig denken, fühlen und handeln, wie Clärchen. Wer hat das Recht, Münzer zu verdammen, wenn sie ihn nicht verdammt? Und thut sie es? kommt ein Wort der Anklage über ihre Lippen? könnte sie sich anders benehmen, wenn ihre Ehe niemals getrübt worden wäre? Nein, Tante, Clärchen selbst ist der beste Beweis, daß Du im Unrecht bist. Und dann, Tante, es handelt sich jetzt auch gar nicht um Recht und Unrecht; es handelt sich darum, Münzer zu befreien, von einem Schicksal zu befreien, das schlimmer ist als der Tod. Wie kannst Du nur einen Augenblick darüber im Unklaren sein, ob Du ihn frei sehen möchtest, oder nicht? Wenn man Dich, die sonst so Gute, Aufopfernde, so wunderliche Bedenken haben sieht, soll man da nicht in Erstaunen gerathen? und kannst Du es dem braven Holm wohl so übel nehmen, wenn er in seinem Aerger von Deiner Herzlosigkeit redet, an die er natürlich ebenso wenig, als irgend ein Anderer glaubt?«

Tante Bella hatte auf ihre letzte Frage eine so energische Entgegnung durchaus nicht erwartet. Es blieb ihr deshalb nichts Anderes übrig, als in Thränen auszubrechen, und die positive Behauptung aufzustellen, daß sie das unglücklichste, am schmählichsten verkannte Geschöpf auf Erden sei. »Aber ich werde Euch nicht lange mehr belästigen,« schluchzte sie: »ich werde eine Welt verlassen, auf der mich keine Seele mehr lieb hat; und wenn ich dann todt und gestorben und begraben bin, und der enge Sargdeckel und die schwarze Erde auf mir liegt, werdet Ihr ja wohl zur Besinnung kommen, und einsehen, daß die alte Tante nicht ganz so schlecht war, wie Ihr geglaubt habt; dann werdet Ihr begreifen, daß ich niemals an mich, sondern immer nur an Euch gedacht habe, bei Allem, was ich sagte und that, und daß Münzer meinetwegen so frei hätte sein können, wie ein Lämmergeier in der Luft, wenn ich nicht gesehen hätte, daß die mir die Liebsten auf Erden, ihr Leben dafür auf's Spiel setzen müssen, und seinethalben riskiren, daß sie gefangen und todtgeschossen und auf Lebenszeit in's Gefängniß gesperrt werden. O, es wird mich vor der Zeit wahnsinnig machen, dies ewige Die-Köpfe-zusammengestecke und Geconspirire und Gefängnißwärter-Bestechen, worauf die schwerste Strafe steht. Wenn ich eben eingeschlafen bin, fahre ich wieder auf, weil es mir gewesen ist, als ob sie an die Hausthür geschlagen und ›Oeffnet im Namen des Gesetzes‹ geschrieen hätten. Meine Nerven halten's nicht mehr aus, und wenn nun gar noch der Wolfgang kommt, mein lieber, lieber Wolfgang; mein Augapfel, den die dummen schlechten Menschen zum Tode verurtheilt haben, als ob Einer von ihnen werth wäre, ihm die Schuhriemen zu lösen, – das ist ja gerade, als ob Daniel aus freien Stücken in die Löwengrube gelaufen wäre, da muß ich ja vor Angst sterben, ich mag wollen oder nicht.«

Wer weiß, wie lange Tante Bella noch in diesem Tone fortgesprochen haben würde, wenn ihr Ottilie nicht plötzlich schluchzend um den Hals gefallen wäre und gerufen hätte: »Höre auf, Tantchen, ich kann Dich gar nicht so vom Wolfgang sprechen hören.«

Tante Bella's Thränen versiegten in dem Augenblick, als sie die Ottilien's fließen sah. Ihren Liebling zum Weinen gebracht zu haben, das hatte sie unmöglich gewollt, da mußte sie offenbar zu weit gegangen sein.

»Na, na!« sagte sie begütigend und die schönen Locken, die an ihrer Brust zitterten, streichelnd; »ich habe es ja nicht so bös gemeint. Sei doch nur ruhig, Du kleiner furchtsamer Hase; er wird ja nicht so toll sein und hierher kommen, wo ihn so viele Menschen kennen und wo er nicht vierundzwanzig Stunden unentdeckt bleiben könnte.«

Die Locken hörten plötzlich auf zu zittern und das liebe erregte Gesicht, das sie umgaben, richtete sich in die Höhe.

»Doch, Tante,« sagte sie mit großer Bestimmtheit; »er wird kommen.«

»Dummes Zeug,« sagte Tante Bella.

»So gewiß, als ich –«

»Na, was denn?« sagte Tante Bella, als Ottilie plötzlich stockte und roth wurde.

Ottilie brachte ihren Satz nicht zu Ende, sondern fing an, die Nähsachen zusammenzukramen.

»Natürlich,« sagte Tante Bella, »wenn man 'mal so weit ist, daß man sich über gewisse Dinge gegen die einzige Tante, die man hat, aussprechen könnte, dann schweigt man lieber und packt den Arbeitskorb voll, als ob dadurch das Herz leichter würde. Wenn man mit mir nicht von Wolfgang sprechen kann, möchte ich doch wahrhaftig wissen, mit wem man es könnte. Wer hat den Jungen so lieb, wie ich? wer hat ihm so viele Aepfel und Kuchen zugesteckt, wie ich? wer hat so viele Freudenthränen über ihn geweint, wenn er mit jedem Jahre größer und stattlicher wurde und in der Schule und auf dem Turnplatz und beim Schlittschuhe laufen immer der Erste war und dabei immer so gut und freundlich blieb wie zur Zeit, als er noch ein kleiner Junge war? und wer hat so mit ihm gelitten bei dem vielen Unglück, das nun doch zuletzt, als wenn es keine Gerechtigkeit im Himmel gäbe, über ihn gekommen ist? Nein, nein, liebe Ottilie, Wolfgang hat keine bessere Freundin, als mich.«

»Das weiß ich ja, Tantchen!« sagte Ottilie, durch ihre Thränen lächelnd.

»Warum sagst Du mir denn nicht, weshalb Du so bestimmt glaubst, daß er kommen wird?« fragte Tante Bella schnell.

»Ich habe so eine Ahnung, Tante.«

»So? hast auch einmal eine Ahnung? na, da braucht Ihr mich ja nicht immer wegen meiner Ahnungen auszulachen. Freilich, Peter sagt's auch; aber nun frage ich doch einen Menschen, ob er je so etwas Verrücktes gehört hat! Ich danke dem lieben Gott alle Abend, daß der Junge glücklich über alle Berge ist und da einen solchen Freund gefunden hat, wie den Herrn von Degenfeld, der ein charmanter Mann sein muß, und nun hat das Mädchen solche Ahnungen! Sag' mir, Mädchen, wirst Du mir je reinen Wein einschenken, oder nicht? wirst Du mir sagen, ob Du den Wolfgang liebst, oder nicht?«

Tante Bella hatte diese Frage im Laufe dieser letzten Monate schon mehr als einmal an Ottilien gerichtet, und war dann jedesmal zweimal vierundzwanzig Stunden sehr verstimmt gewesen, wenn Ottilie »noch immer kein Zutrauen zu ihrer einzigen Tante hatte,« und eine ausweichende, oder gar keine Antwort gab. Und Tante Bella hätte es doch gar zu gern gewußt! Waren doch »diese beiden Kinder« ihre Lieblinge, um die sich in erster Linie all' ihr Sinnen und Denken, Hoffen und Wünschen drehte. Die Beiden mir einander vereinigt zu sehen, war ihr stilles Gebet gewesen von dem Augenblicke an, daß Ottilie nach Rheinstadt kam; der Erfüllung dieses Wunsches hatte sie mit heißen Thränen entsagt, als Wolfgang sich mit Camilla verlobte; jetzt aber, seitdem Wolfgang gerettet in der Schweiz und von Herrn von Degenfeld, dem Zwillingsbruder seines edlen Freundes, nicht wie ein Fremder, sondern wie ein theurer Verwandter aufgenommen worden war, ja, nach den Mittheilungen, die ihm dieser machte, sich als den Erben von des Freundes nicht unbedeutendem Vermögen betrachten konnte, war für Tante Bella das heiß ersehnte, als unerreichbar aufgegebene Ziel wieder in nächste Nähe gerückt. Tante Bella hatte sich in den stillen Stunden, wo sie schlaflos in ihrem Bette lag, Alles, wie es kommen könnte, oder vielmehr kommen müßte, so genau wie möglich ausgemalt. Wolfgang, in einer glücklichen Situation – angesehen, wohlhabend – Gutsbesitzer, Fabrikherr oder so etwas in der Art – der Junge hatte ja zu Allem Geschick! – in einer paradisisch schönen Gegend, die Tante Bella schon ein paar Mal im Traum ganz deutlich gesehen hatte – verheirathet mit Ottilien; sie selbst (Tante Bella) alle Jahre ein paar Monate auf Besuch zu »ihren Kindern« kommend (wo möglich im Sommer, sollte eine besonders dringende Veranlassung es wünschenswerth machen, natürlich auch während des Winters, aber doch weniger gern); ihre Zeit und ihre Sorge theilend zwischen dem Hause in der Ufergasse und der schönen Villa in der bekannten paradiesischen Gegend, bis sie, zu schwach zum Reisen, sich in der Villa, oder im alten Hause (darüber konnte Tante Bella, trotzdem sie die Frage sehr häufig von den verschiedensten Seiten erwogen hatte, nicht in's Reine kommen) jedenfalls aber in einem der beiden Häuser zur Ruhe setzte; von Menschen, die sie liebten und ihr manche kleine Schwäche, die sich doch möglicherweise mit den Jahren einstellen könnte, willig nachsahen, bis an ihr seliges Ende – das Gott noch recht lange hinausschieben möge! – gepflegt und keineswegs, wie die alten Mädchen im Ursulinerspittel, von den Gassenbuben verspottet und verhöhnt – so hatte sich Tante Bella's allzeit geschäftige Phantasie das Bild der Zukunft für sie und für ihre Lieben entworfen. Und nun nicht einmal dahinter kommen können, zum wenigsten doch nicht ganz sicher, nicht, so zu sagen, schwarz auf Weiß es haben, ob dieses sonderbare, verschlossene Ding, die Ottilie, den armen Wolfgang nun auch wirklich liebe! Es war doch zum Verzweifeln! Tante Bella mußte es die Kleine wirklich einmal fühlen lassen, daß Alles in der Welt seine Grenzen habe, selbst die Geduld einer »einzigen Tante.« Sie erhob sich deshalb vom Sopha und erklärte, zu Bett gehen zu wollen, um, wenn Ottilie, wie gewöhnlich, gefragt haben würde: »kann ich Dir noch etwas helfen, Tantchen?« nicht, wie gewöhnlich, »wenn Du willst, mein Kind,« zu antworten, sondern: »Ich danke Dir, ich kann allein zu Bett' gehen.« – Aber, o Wunder, Ottilie that nicht die gewöhnliche Frage, sondern sagte, während Tante Bella sich das Licht anzündete: »Gute Nacht, liebes Tantchen, schlaf' wohl!« – Tante Bella traute ihren Ohren nicht. War ein solcher Trotz möglich? solche Verkennung ihrer besten Absichten? Gut! sie war es gewohnt, verkannt zu werden; sie konnte auch, wenn es sein mußte, ihre Nachtjacke allein anziehen (obgleich sie immer schwer in den rechten Aermel hineinkam);– und Tante Bella rauschte zur Thür hinaus, nachdem sie noch einen Blick auf Ottilien geworfen hatte, in welchen sie allen ihren Jammer, ihren Stolz und ihre Resignation zusammenfaßte.

Ottilie war, den Kopf in die Hand gestützt, am Tische sitzen geblieben, und dachte gar nicht an Tante Bella's großes Herzeleid, sondern nur immer an den eigenthümlichen Ton, mit dem Onkel Peter heute Abend, als er mit Dr. Holm aus dem Hause ging, zu ihr gesagt hatte: »Sieh' zu, daß Du die Tante früh zu Bett schaffst und halte Dich munter; schick' auch die Salome zu Bett; wir werden wahrscheinlich spät zurückkommen und vielleicht bringen wir Jemand mit, der es wohl werth ist, daß man seinethalben eine Stunde länger aufbleibt.«

Wer konnte dieser geheimnißvolle Jemand sein? Hatte doch Onkel Peter schon ein paar Mal angedeutet, daß Wolfgang vielleicht kommen werde, um die Leitung der Maßregeln, die man zu Münzer's Befreiung treffen mußte, zu übernehmen? Wenn er sich nicht offener ausgesprochen hatte, war es vielleicht Tante Bella's wegen geschehen, die, so oft Wolfgang's Name mit dieser »heillosen Verschwörung« in Verbindung gebracht wurde, in eine Fluth von Thränen ausbrach? oder traute der Onkel auch ihr nicht die nöthige Opferfreudigkeit zu? glaubte er, sie würde nicht den Muth haben, ein Wiedersehen zu wünschen, weil es für Wolfgang mit Gefahren aller Art verknüpft war? – da kannte sie der Onkel aber doch noch nicht ganz! Wie hätte sie denn noch so stolz sein können auf ihren Wolfgang, wenn er sich aus Furcht vor möglichen schlimmen Folgen von einem Unternehmen ausschlösse, auf das der Onkel, Dr. Holm, und wahrscheinlich noch viele Andere sich unbedenklich eingelassen hatten? Freilich riskirten sie Alle nicht ihr Leben, und Wolfgang war von dem Kriegsgericht in contumaciam zum Tode verurtheilt und würde unzweifelhaft erschossen werden, wenn man ihn fangen könnte. Das hatte Onkel Peter mehr als einmal selbst gesagt, und Dr. Holm hatte hinzugefügt: es sei notorisch, daß man in den betreffenden Kreisen noch immer nicht wüßte, ob man sich über Degenfeld's Tod mehr freuen, oder darüber, daß Wolfgang entkommen sei, mehr ärgern sollte.

Ottilien's Herz begann schneller zu pochen, als sie sich das Alles in dieser stillen nächtigen Stunde vergegenwärtigte. Es war doch, wenn man es recht bedachte, ein furchtbares Wagestück, und angenommen auch, daß Wolfgang, wie es unzweifelhaft der Fall war, mehr Muth, Geistesgegenwart und Gewandtheit besaß, als alle die Anderen, so war doch auf der andern Seite nicht minder gewiß, daß er den schwierigsten und gefährlichsten Posten in der ganzen Affaire für sich beanspruchen würde; und wie leicht konnte ein Brief aufgefangen, ein Losungswort verrathen werden; wie leicht konnte ihn Jemand erkennen, und dann stand ja das Schlimmste zu erwarten!

Das junge Mädchen erhob sich von dem Stuhle. War es die eingeschlossene Luft des Zimmers, war es die Stille der Nacht, war es die Ahnung von etwas Wichtigem, Ungeheurem, das über ihr ganzes Lebensschicksal entscheiden mußte – ihr Busen war so beklommen; sie hätte weinen mögen und doch hätte sie auch wieder mit handeln mögen und Wolfgang den Weg bereiten, auf daß sein Fuß nicht strauchele! Ach! sie würde so scharf sehen; sie würde keine Vorsichtsmaßregeln unbeachtet lassen; – es war ja gar nicht möglich, daß Onkel Holm und nun gar Andere so an Alles denken könnten, wie sie es würde. Warum hatte ihr der Onkel nicht Alles gesagt? War es nicht grausam von ihm, sie hier so allein allen Qualen der Angst, der Ungewißheit zu überlassen? Und – kam da nicht Jemand mit schnellen Schritten die stille Gasse herauf und blieb vor dem Hause stehen? – Wurde der Schlüssel nicht in das Schloß gesteckt? – Niemand, außer Onkel und Dr. Holm, hatte einen Schlüssel zur Hausthür! – und nun kam der leichte schnelle Schritt die Treppe herauf! – Das Blut stockte ihr im Herzen – sie wagte nicht, sich zu rühren, zu athmen. Die Augen starr auf die Thür geheftet, gleich unfähig zu fliehen oder dem Kommenden entgegenzueilen, so stand sie da, das lieblichste Bild freudigen Schreckens. Eine Hand, die nicht lange nach dem Griff zu suchen brauchte, öffnete die Thür; eine hohe, schlanke Gestalt stand auf der Schwelle, – und kam dann mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie sah nur wie im Traum Wolfgang's geliebtes Antlitz; sie flog ihm entgegen, und lag an seiner Brust. Keines hatte ein Wort gesprochen; warum sollten sie sich sagen, daß dies der Augenblick sei, nach welchem sie sich alle diese Zeit hindurch immerdar gesehnt hatten, und von dem sie mit Sicherheit gewußt hatten, daß er einmal, so oder so, kommen müsse. Und, nun war der Augenblick da – der selige, selige Augenblick!

Ottilie kam zuerst wieder zur Besinnung. Sie entzog sich seinen Armen, eilte nach dem Erker, ließ das Rouleau herunter; lauschte an der Thür, die nach den innern Gemächern führte; kam dann zu Wolfgang zurück, um ihn an der Hand zu fassen und auf den Fußspitzen in die dunkelste Ecke des Zimmers, wo dicht neben der Kukuksuhr das »kleine Sopha« – ein Kindersopha aus den besseren Tagen der Schmitz'schen Familie – stand. Da mußte er sich niedersetzen und sie setzte sich neben ihn – sehr dicht, sonst ging es überhaupt nicht – und o des Glücks! nun seine Hände zu halten, sich von seiner Gegenwart wahr und wahrhaftig zu überzeugen, ihm in das braune Gesicht zu schauen, dessen schöne Züge so viel männlicher und energischer geworden sind, seinen warmen Athem zu fühlen, während er mit leiser Stimme erzählt: wie sehr er sich nach dieser Stunde gesehnt habe, und wie er ihr danke für den Ring, der ihm ein Talisman gewesen sei in aller Noth und Gefahr; und daß dieser Ring ihn auch jetzt beschirmen werde, wo es gelte, der schändlichsten Tyrannei ein edles Opfer zu entreißen.

»Sag' mir Alles, Wolfgang,« bat das Mädchen, indem sie seine Hände fester drückte und ihn groß in die Augen blickte; »ich bin stärker, als Du glaubst; ich kann Alles hören; aber die Ungewißheit ertrage ich nicht. Was habt Ihr vor? wann soll es geschehen? wie wollt' Ihr es ausführen?«

»Du sollst Alles hören, liebes Herz,« erwiderte Wolfgang; »ich hätte Dir längst Alles gesagt, wäre ich hier gewesen, und begreife Onkel Peter nicht, der gegen Dich aus unsrem Plane ein Geheimniß machen konnte. Münzer soll befreit werden, mit Gewalt, und zwar morgen schon. Wir wissen durch unsre Spione, daß man ihn morgen Abend nach dem Schluß der Verhandlungen in aller Eile und Stille zu Wagen in Begleitung von ein paar Gensd'armen den Strom entlang ein paar Meilen weit transportiren wird, um ihn nicht hier auf die Eisenbahn zu bringen. Sie fürchten einen Auflauf auf dem Bahnhof, wohl gar Erstürmung des Gefängnisses, die feigen Thoren! als ob wir zu Straßenrittern zu werden brauchten, wenn das Volk sich seiner Helden annähme! Morgen Abend also werden Cajus und Rüchel, die in Rheineck bei Antonien sind, von dort, und ich und Kettenberg zu Pferde von hier aus zu gleicher Zeit aufbrechen und uns eine halbe Stunde vor Rheinfelden an dem Birkenwäldchen treffen. Wenn uns das Glück hold ist – und es wird uns hold sein, schon um Deinetwillen, Du Holde! – ist Münzer noch vor Mitternacht ein freier Mann. Fürchte nicht, daß die Sache allzugefährlich wird! Die Gens'darmerie ist bereits durch die Tausende, die Antonie aufgewandt hat, so corrumpirt, daß nicht mehr Drei in dem ganzen Corps sind, auf die sich die Herren wirklich verlassen können; und gesetzt auch, ein böser Zufall stellte uns gerade die Drei entgegen, so ist es doch ganz unmöglich, daß sie einem Angriff, auf den sie gar nicht vorbereitet sind, und der von vier entschlossenen Männern ausgeführt wird, widerstehen können.«

»Aber wie kommt Ihr zu Kettenberg?« fragte Ottilie; »es ging hier allgemein das Gerücht, daß er ein verschmähter Liebhaber der Frau von Hohenstein und ein Feind Münzer's sei.«

»Bewundere den Scharfsinn und die Menschenkenntniß dieser Frau,« erwiderte Wolfgang lächelnd, »ich habe, als es sich darum handelte, einen vierten Mann zu finden, und Antonie Kettenberg vorschlug, zuerst geradeheraus gelacht. Aber Antonie sagte mit dem finstern Ernst, der sie jetzt nicht mehr verläßt: Ich werde an ihn schreiben; in acht Tagen spätestens ist er hier. Sie schrieb und es war noch keine Woche vorüber, als Kettenberg aus Italien bei uns in der Schweiz eintraf. Er hat sich um Antonien's schöner Augen willen der Sache mit einer Leidenschaft angenommen, als ob Münzer sein leiblicher Bruder wäre, und er ist uns durch seine Gewandtheit und Klugheit sehr nützlich geworden. Ueberdies ist er ein ausgezeichneter Reiter, weiß mit den Waffen umzugehen, als ob es sein Handwerk wäre, und ist bei all' seiner Tollheit im Augenblick der Gefahr so kaltblütig, wie Cajus.«

»Und Cajus?«

»Ist schon seit Münzer's erster Verurtheilung als Majordomus, Kammerdiener, oder was Du willst, in Antonien's Diensten, und ich kann Dich versichern, daß er keine Miene verzogen hat, als er gestern Herrn von Rudi, alias Rüchel, in Rheineck aus dem Wagen hob.«

»Und wie soll es nun weiter werden?« fragte Ottilie.

»Nun kommt der schwierigste Theil unsers Unternehmens,« fuhr Wolfgang fort: »das heißt: wie wir Münzer ungefährdet über die Grenze schaffen. Wir brauchen dazu unsern Freund Miller, den Kapitain des Schleppdampfers, denselben, der Münzer und Degenfeld bei ihrer ersten Flucht von Rheinfelden stromauf in Sicherheit gebracht hat. Leider aber kann er erst in drei Tagen wieder hier sein und wir haben beschlossen, bis dahin Münzer in Balthasar's Thurm zu bringen. Die Idee, die nebenbei von mir ausgeht, ist etwas kühn aber sehr praktisch. Es giebt auf der Welt kein sichereres Versteck, als den Thurm, zu dem nur Rüchel und ich den Eingang kennen; wir sind in unmittelbarster Nähe des Ufers; Kirchheim, wo der Dampfer anlegt, ist nur eine Viertelstunde entfernt. Antonien's Wagen bringt uns in sieben Minuten hin. Und sodann haben wir noch durch dies Arrangement den Vortheil, daß man Münzer überall an den Grenzen suchen wird, während er ganz ruhig im Hexenthurme sitzt; ja daß wir, wenn es sein muß, beliebig lange auf die beste Gelegenheit warten können.«

»Und weiß Clärchen Münzer von diesem Plan?«

»Sie weiß, daß wir entschlossen sind, Münzer zu befreien; den speciellen Plan kennt sie bis jetzt noch nicht, denn wir haben denselben eben erst beim Dr. Brand, wo auch der Onkel, Holm und die Andern noch beisammen sind, entworfen: Ich bin dafür, daß man ihr Alles sagt, was meinst Du?«

»Ohne Frage! Weiß ich doch von mir selbst, wie qualvoll diese Ungewißheit ist. Wie denkt Frau von Hohenstein darüber?«

»Ich glaube, daß sie unsrer Meinung sein wird. Sie spricht stets in den Ausdrücken innigster Bewunderung von Clärchen Münzer; es sind ein paar merkwürdige Frauen. Onkel sagte mir, daß Clärchen während dieser Tage bei Antonien gewohnt hat. Ist das möglich?«

»Ja gewiß. Tante ist außer sich darüber; aber Clärchen sagte in meiner Gegenwart: Ich muß den albernen Gerüchten, die über meinen Mann und Frau von Hohenstein im Umlauf sind, ein Ende machen. Das kann auf keine bessere Weise geschehen. Aber, Wolfgang, was wird Tante Bella sagen, wenn sie erfährt, daß Du im Hause gewesen bist, ohne sie gesehen zu haben. Oder willst Du bei uns bleiben? ach, gewiß! Du bleibst bei uns. Gelt?«

Und sie legte ihre beiden Arme auf seine Schultern, um seinen Hals, als wollte sie ihn nie wieder von sich lassen.

»Ich kann nicht bei Euch bleiben, liebes Herz; Tante Bella darf nichts erfahren, wenigstens nicht, bis Alles vorbei ist. Und jetzt muß ich zu den Andren zurück, die bei Dr. Brand die Rückkehr eines unsrer Leute und meine Rückkehr erwarten. Ich hatte nur eine halbe Stunde Urlaub.«

»Wo bist Du denn? bist Du auch sicher, ganz sicher?«

»So sicher, wie nur möglich. In dem Gartenhause des alten Köbes in Gesellschaft einer allerliebsten Strickleiter, auf der ich, beim ersten Anzeichen einer Gefahr, die Stadtmauer hinab in's Freie und zwanzig Schritte weiter zu einem Pferde gelangen kann, das in einer Köbes gehörigen Scheune Tag und Nacht für mich gesattelt steht. Der alte Mann war immer starrer Republikaner, aber seit dem Tode der Mutter ist er es mehr als je. Nach ihm kommt alles Unglück der Welt von den Aristokraten, respective von den Hohenstein's her, die ihm der Inbegriff alles Hassenswerthen auf Erden sind. Mich aber liebt er, weil ich der Sohn meiner Mutter bin. Hat er doch unsre Ursel in aller Eile geheirathet, blos um Jemand zu haben, mit dem er von der Mutter sprechen könne! – Und nun leb wohl, Du süße, einzige, liebe – ich kann nicht länger bleiben!«

»Ich will Dich hinunter begleiten;« sagte Ottilie.

Sie nahm die Lampe, und ging, das Licht derselben mit der Hand verdeckend, voraus, die Gallerie entlang, die Treppe hinab, bis sie unten auf dem Hausflur ankamen. Sie stellte die Lampe auf die unterste Stufe, und führte Wolfgang an der Hand bis zur Thür. Sie hielten sich innig umschlungen. »Wolfgang, ich frage nicht, wann ich Dich wiedersehe; aber ich sterbe, wenn ich Dich nicht wiedersehe.«

»Und ich, Geliebte, werde nicht sterben, sondern leben, leben mit Dir, mein einziges Leben.«

Er zog die Weinende noch einmal an sein Herz, küßte ihre Locken, ihre Augen, ihren Mund und riß sich los. Ottilie eilte in das Zimmer hinauf, in den Erker, um wo möglich die geliebte Gestalt noch einmal zu sehen. Aber die Nacht war sehr dunkel; sie hörte nur den verhallenden Schritt des Enteilenden in der stillen Gasse.

Sie lauschte, bis der letzte Ton verschwunden war. Dann ging sie leise, ganz leise in ihr Schlafgemach, und als sie die Lampe ausgelöscht hatte, faltete sie die Hände, wie sie es als Kind gethan hatte, und betete leise, leise: »Leben! Leben mit Dir, mein einziges Leben!«



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