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59.

A ls Wolfgang am nächsten Morgen aus dem Schlafe erwacht war und von seinem Lager aus, auf den Ellbogen gestützt, in dem Thurmgemache um sich blickte, wußte er im ersten Augenblick so gar nicht, wie er in diese wunderliche Lage gekommen, daß er sich an den Kopf faßte, um sich zu vergewissern: es sei kein Traum, sondern volle Wirklichkeit, was ihn hier umgab. Erst der Anblick des braven Rüchel, der an der entgegengesetzten Seite des Gemaches so fest schlief, als ob die harten Dielen, auf denen er lag, die bequemste Matratze und der große Foliant, den er sich unter den Kopf geschoben, das weichste Daunenkissen wäre, brachte seine Gedanken auf die rechte Bahn. Eines nach dem andern gingen die Ereignisse des vergangenen Tages an seinem wachen Geiste vorüber: die Unterredung mit Kettenberg, der Wortwechsel mit dem Obristen, seine Verhaftung, Gefangenschaft, Flucht, der nächtliche Marsch nach Rheinfelden, die Begegnung mit seinem Großonkel, mit Camilla und der Präsidentin, schließlich seine Rettung aus dräuendster Todesgefahr durch den treuen Balthasar. Wie anders erschien ihm heute in dieser stillen nüchternen Morgenstunde Alles, was er gestern in der fieberhaften Aufregung gedacht, gesagt, gethan hatte! Gestern war das Außerordentliche selbstverständlich, das Abenteuerlichste alltäglich gewesen; heute blickte er nicht ohne ein Gefühl staunender Verwunderung in den tiefen Abgrund, der sich zwischen seiner jüngsten Vergangenheit und seiner jetzigen Lage aufgethan hatte. Jetzt war der entscheidende, nicht wieder rückgängig zu machende Schritt geschehen aus dem alten Gleise des Herkömmlichen auf eine neue Bahn, deren Ende in einer mit Gefahren aller Art angefüllten, dunklen Zukunft lag.

Wolfgang gab sich nicht die vergebliche Mühe, dieses Dunkel mit prophetischen Blicken durchdringen zu wollen. Es genügte ihm, zu wissen, daß, wie die Zukunft auch beschaffen sein möge, sie ihm doch die Qualen, die Demüthigungen einer freigeborenen Seele, die sich in unwürdigen Verhältnissen wund und müde ringt, nun und nimmer wieder bringen könne; daß, wie sich auch sein Schicksal gestalten möge, er doch nicht länger wie ein Opferthier getrieben und gestoßen werde; daß, möge kommen, was da wolle, er doch endlich, endlich »der Thäter seiner Thaten« sei.

Dieses stolze Bewußtsein hob ihn, wie mit Adlerfittigen, empor über jede kleinliche Sorge um das eigne Wohl und Wehe; aber je sicherer er sich selbst im Gefühl der neu errungenen Freiheit fühlte, mit um so innigerer Theilnahme kehrten seine Gedanken zu denen zurück, die er hinter sich gelassen und die der Rückschlag des Sturmes, den seine Entweichung aus der Haft ohne Zweifel aufregen würde, zuerst treffen mußte. Wie würde vor allen sein Vater die Nachricht aufnehmen? welche Folgen konnten für den vereinsamten unglücklichen Mann aus einer That erwachsen, durch die der Sohn das letzte schwache Band, daß sie Beide mit der übrigen Familie verknüpfte, für immer zerrissen hatte? Nicht ohne ernste Bekümmerniß konnte Wolfgang daran denken, wenn er sich auch sagen mußte, daß, ihn und den Vater fallen zu lassen, von der Familie längst beschlossen war. Die Brutalität des Obristen, der Präsidentin und Camilla's Verweilen in Rheinfelden, das Benehmen derselben und die Reden des Alten bei der merkwürdigen Scene in der vergangenen Nacht – Alles bewies zur Genüge, daß Kettenberg auf das Genaueste unterrichtet gewesen war. Und dann! wie hätte er anders handeln sollen? handeln können? Der Vater selbst würde ihm nicht zugemuthet haben, wie ein stumpfer Sclav ohne Widerstand den Nacken unter die Füße der Uebermüthigen zu beugen. Er hatte ertragen, was ein Mensch ertragen kann, der nicht alles Selbstgefühls, aller Selbstachtung baar ist; ja, er hatte vielleicht des Demüthigenden schon zu viel ertragen. Es giebt eine Grenze, über die hinaus selbst die Pflicht der äußerlichen Dankbarkeit erlischt, die ein Sohn gegen den Vater hat. Wie das Weib die Eltern lassen soll, um an ihrem Manne zu hangen, so muß der Mann seiner Ueberzeugung folgen und wäre es auch um den Preis vorübergehender oder gänzlicher Entfremdung von denen, die ihm das Leben gaben. Denn über den ehrwürdigen Gesetzen der Natur steht ein höheres, heiligeres Gesetz, das von dem Geist dictirt wird, für dessen erhabene Zwecke die Familie und selbst der Staat nur Stoff und Mittel sind. Wohl ihm, dem ein gütiges Geschick erlaubt, in trauter Gemeinschaft mit den Blutsverwandten und Genossen nach dem Höchsten zu ringen; aber wehe dem, der, wenn die Stunde schlägt, wo er sich entscheiden muß, kein Verständniß hat für jenes große Wort, welches den Lebendigen befiehlt, die Todten ihre Todten begraben zu lassen.

Wie heroisch diese und ähnliche Entschlüsse auch sein mochten, so waren sie doch nicht im Stande, Wolfgang's weiche, liebevolle Seele gänzlich zu beruhigen, und immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem Vater zurück. Hätte er den Vater in einer glücklichen, oder auch nur sicheren Lage gewußt, es würde ihm leichter geworden sein, ja, er würde es vielleicht für verdienstlich gehalten haben, sein, des Abenteurers, Schicksal von dem Schicksal Jenes zu trennen; aber er hatte einen Verlassenen verlassen, einen Unglücklichen vielleicht noch unglücklicher gemacht. Das brannte in seiner Seele, und was er auch an Trostgründen aufbringen mochte, wie oft er sich auch wiederholen mochte, daß er dem Vater durch sein Bleiben doch nicht hätte helfen können – sein Herz wollte von dem Allen nichts wissen.

Er mußte sich mit Gewalt aus einer Stimmung reißen, die seine Kraft zu bewältigen und den trotzigen Muth, dessen er so sehr bedurfte, gänzlich zu erschüttern drohte. Hatte er doch wahrlich Grund genug, sich mit den eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen! und konnte er doch, wie die Sachen nun einmal lagen, seinem Vater und Allen, die an ihm Theil nahmen, keinen besseren Dienst erweisen, als wenn er sich aus der drohenden Gefahr, als Deserteur ergriffen zu werden, rettete. Ein Zurück gab es für ihn unter keiner Bedingung mehr; also Vorwärts unter jeder Bedingung.

Er erhob sich von seinem Lager und brachte seinen Anzug, so gut es gehen wollte, in Ordnung. Balthasar, den er hinter einem Bretterverschlag in einer Ecke des Gemaches schlafend vermuthete, war nicht da; aber der gute Mann hatte, bevor er den Thurm verließ, für Alles gesorgt. An frischem Wasser fehlte es nicht, ebensowenig an einer Waschschaale, neben der ein sauberes Handtuch hing. Auf dem Tische war ein Frühstück bereitet, und an der vollen Weinflasche, die neben dem Brod und der Butter stand, hing ein Zettel, auf welchem in des Schulmeisters zierlicher Handschrift Folgendes geschrieben war:

»Ich bin zum Recognosciren ausgegangen und werde vielleicht erst gegen Abend zurückkommen. Sorgen Sie nicht, daß mir ein Unglück zustößt; ich werde alle mögliche Vorsicht brauchen. Sehen Sie sich unterdessen in dem Thurme um; aber vermeiden Sie jedes Geräusch, die Truppen sind noch ganz in der Nähe. Auf Wiedersehen, lieber junger Herr.«

Wolfgang hatte in der vergangenen Nacht vor dem Einschlafen dem Schulmeister das Nöthigste über die letzten Ereignisse mitgetheilt und zugleich seinen Entschluß, sich, selbst in dem wahrscheinlichen Falle, daß Münzer's Corps vollständig zersprengt sei, nach der insurgirten Stadt, oder weiter nach Süden zur Revolutionsarmee durchzuschlagen. Er erinnerte sich, daß Balthasar ihn gebeten hatte, wenigstens so lange in dem sichern Asyl des Hexenthurmes zu bleiben, bis er (Balthasar) nähere Erkundigungen über den Ausgang des Gefechts, sowie überhaupt über die Lage der Dinge draußen eingezogen hätte. Ohne Zweifel war die treue Seele noch in der Nacht zu diesem gefährlichen Unternehmen aufgebrochen. Wolfgang dachte nicht ohne Sorge an das Schicksal, das ihm und dem braven Rüchel bevorstand, im Falle der Schulmeister aufgefangen würde, und sie in diesem Thurm, aus dem kein Entrinnen möglich schien, eingeschlossen wären. Dann tröstete er sich aber mit der Hoffnung, daß der merkwürdige Mann, der in der Kunst, sich vor den Augen seiner Mitmenschen verborgen zu halten, einen so außerordentlichen Scharfsinn bewiesen habe, diesmal, wo es sich um Leben und Tod seiner Schützlinge handelte, sich gewiß keiner Unvorsichtigkeit schuldig machen werde. Jedenfalls blieb keine andere Wahl, als die Rückkehr Balthasars in Geduld abzuwarten.

Das Geräusch, das Wolfgang beim Ankleiden nicht vermeiden konnte, hatte Rüchel geweckt, der sich nun auf seinem harten Lager aufrecht setzte, die Augen rieb, mit einiger Verwunderung in dem Gemache umhersah, dann auf die Füße sprang, und Wolfgang mit einem fröhlichen: »Guten Morgen, Herr Lieutenant!« begrüßte.

Die muntern schwarzen Augen des braven Burschen waren für Wolfgang ein wahrer Trost und er erwiderte den freundlichen Gruß nicht minder freundlich. Rüchel war sehr schnell mit seiner Toilette fertig und folgte dann Wolfgang's Einladung, ihm bei dem Frühstück Gesellschaft zu leisten, mit einer gewissen treuherzigen Bescheidenheit, die deutlich bewies, daß er in seinem Schicksalsgenossen von heute noch immer den Vorgesetzten von gestern respectire. Wolfgang hatte manche Fragen an seinen Befreier zu richten, welche dieser mit seiner gewöhnlichen Offenherzigkeit beantwortete.

»Ich habe den Herrn Lieutenant von Anfang für einen sehr lieben Herrn gehalten,« sagte er; »und für viel besser, als alle die anderen Officiere im Regiment, den Major von Degenfeld nicht ausgenommen, der wohl auch recht gut gegen uns war, zu dem man aber doch nicht so ein rechtes Herz fassen konnte. Ja, ja, Herr Lieutenant, Sie mögen's mir nun glauben, oder nicht; aber Sie haben eine Liebe in der Compagnie gehabt, daß Sie Alles mit uns hätten machen können. Ich habe die Burschen mehr als einmal sagen hören: für den Herrn Lieutenant von Hohenstein lassen wir uns todtschlagen. Das habe ich dem Cajus auch gesagt und er hat gemeint: dazu könnte vielleicht auch noch Rath werden, denn Sie wären im Herzen ein rechter Demokrat und die Herren vom Demokratischen hielten Alle große Stücke auf Sie.«

Wolfgang fragte, ob Rüchel schon früher mit Cajus in Verbindung gestanden habe, und Rüchel erwiderte:

»Ich kenne ihn erst seit dem letzten Winter. Er kam manchmal des Abends in den ›Schwarzen Bären,‹ wo immer viele Soldaten verkehren, und da setzte er sich wohl zu uns und erzählte von Amerika, wo er viele Jahre gewesen ist, von den Indianern und Büffeljagden und von Californien. Und wenn wir Alle mit offenen Mäulern dasaßen, fing er an von der Amerikanischen Verfassung zu sprechen und wie sie drüben Alles hätten, wonach die Leute in Europa verlangten: Freiheit und Gleichheit und Republik, und daß Jeder, der als Freier in Amerika geboren sei, Präsident werden könne, wenn er nur sonst ein gescheidter Kerl sei. Das gefiel uns Allen über die Maßen, besonders mir; ich habe nämlich immer den Wunsch gehabt, ein recht freies und lustiges Leben zu führen, und Soldat war ich auch nur geworden, weil ich gedacht hatte, dabei müsse doch mehr herauskommen, als bei dem Bretterhobeln – ich bin nämlich ein gelernter Schreiner, Herr Lieutenant – aber der Cajus sagte: bei den militairischen Verhältnissen, wie sie bei uns zu Lande beständen, käme gar nichts heraus als lauter Noth und Elend. Na, Herr Lieutenant, das muß wahr sein: wenn man's so recht bedenkt, ist es ein Jammer so ein Soldaten- oder Unterofficierleben, besonders für einen Burschen, der etwas Grütze im Kopf hat und recht gut sieht, daß viele Herren Officiere vom Handwerk oft nicht so viel verstehen, als unser Einer. Das ging mir nun sehr im Kopfe herum und der Cajus hatte mit mir bald gewonnenes Spiel.«

Rüchel erzählte nun weiter, wie Cajus ihn nach und nach in's Vertrauen gezogen, und wie er (Rüchel) ihm wieder andere Kameraden zugeführt habe, so daß im ganzen Bataillon zuletzt nur noch etwa ein Dutzend Unterofficiere gewesen wäre, die mit Cajus nicht in Verbindung gestanden hätten. Bei allen diesen Verhandlungen sei Wolfgang's Namen immer zuerst genannt worden und habe in den meisten Fällen den Ausschlag gegeben, denn Cajus habe stets behauptet: er rede und handle gar nicht in seinem eigenen Interesse, sondern nur auf Befehl des Lieutenant von Hohenstein, der dem Herrn von Degenfeld und den andern Herren vom Demokratischen auf sein Ehrenwort versprochen habe, das zweite Bataillon der Neunundneunziger bis zum Frühjahr republikanisch zu machen.

Wolfgang war nicht wenig erstaunt, als er so nachträglich erfuhr, welche Rolle er in der republikanischen Bewegung von Rheinstadt, ohne es zu wissen, gespielt hatte. Er zweifelte keinen Augenblick, daß Cajus, ohne von Degenfeld oder Münzer dazu autorisirt zu sein, in der Weise des Fanatikers, dem jedes Mittel recht ist, diesen gefährlichen Mißbrauch mit seinem Namen getrieben habe. Es lag auf der Hand, daß seine Situation viel gefährlicher gewesen war, als er irgend gedacht hatte; und jetzt erklärte sich ihm auch die Handlungsweise des Obristen, der ohne Zweifel nicht gewagt haben würde, seinen Neffen auf ein bloßes unbedachtes Wort hin zu verhaften, wenn er seine species facti nicht mit Beweisen des Hochverrats, die mindestens in den Augen des Kriegsgerichts unumstößlich waren, hätte ausstatten können. Wolfgang sah jetzt, daß er sich aus einer vielleicht vieljährigen Festungshaft errettet hatte, während er dem stürmischen instinctiven Drange nach Freiheit gleichsam blindlings folgte, und diese Ueberzeugung beruhigte ihn in Beziehung auf den Vater. Einer kriegsrechtlichen Verurtheilung war am Ende eine Desertion noch immer vorzuziehen; zum wenigsten konnten den Vater die Folgen der letzteren Fatalität nicht schwerer treffen, als die der ersteren.

Es konnte nicht fehlen, daß die Gefährten im Laufe des Morgens wiederholt auf die näheren Umstände ihrer kühnen Flucht zu sprechen kamen, und hier konnte Wolfgang sich nicht genug darüber wundern, wie in dieser ganzen Sache Zufall und Absicht durcheinandergespielt hatten. Es stellte sich heraus, daß Rüchel anfänglich geglaubt hatte, Wolfgang habe sich absichtlich verhaften lassen, um hernach in dem von den Verschworenen überrumpelten Fort den Befehl zu übernehmen. Darauf hatte sich seine erste ironische Aeußerung: »daß Wolfgang nicht lange gefangen sitzen werde,« bezogen. Später war ihm in Folge einiger Worte, die er an der Thür der Officierwachtstube, in welcher sich einige Kameraden zur Besprechung des seltenen Falles zusammengefunden hatten, erlauschte, diese Annahme wieder bedenklich geworden, und er hatte es deshalb vorgezogen, Wolfgang's Burschen mit dem Zettel an Cajus abzusenden, in welchem dieser aufgefordert wurde, ihm und Wolfgang zur Flucht behülflich zu sein. Auf Wolfgang's Einwurf: wie er die Tollkühnheit hätte begehen können, den Erfolg des Planes so gleichsam auf eine einzige Karte zu setzen, antwortete er leichthin: »Ich wußte, daß Ihr Bursche ein guter, treuer Kerl war; und dann, Herr Lieutenant: wer nicht wagt, nicht gewinnt. Wenn ich in meinem Leben nicht immer darauf hingesteuert wäre, hätte mich der Teufel schon längst geholt.«

Nachdem Rüchel so Wolfgang's Neugierde befriedigt hatte, glaubte er seinerseits auch das Recht zu haben, Einiges über den »wunderlichen Kauz« zu erfahren, in dessen Behausung sie sich augenblicklich befanden. Wolfgang theilte ihm, so weit es anging, das Wenige mit, was er selber wußte, und Rüchel war mit dem Wenigen vollkommen zufrieden: daß ihr Wirth derselbe Schulmeister sei, den alle Welt seit zwei Monaten für todt gehalten hatte, setzte ihn nicht eben in Verwunderung. Je abenteuerlicher und seltsamer etwas war, um so bequemer paßte es in des Mannes phantastischen Kopf. Die seltsame Ausstattung des Gemaches: die großen Bücher in schweinsledernen Einbänden, die Mineralien, getrockneten Pflanzen, Büchsen und Schachteln, angefüllt mit ihm gänzlich unbekannten Dingen – das Alles musterte er mit dem größten Behagen, und dabei ließ er es nicht an Bemerkungen fehlen, die Wolfgang, so ernst auch seine Stimmung war, mehr als einmal zum Lachen brachten. Dann wurde es dem unruhigen Geiste in dem Gemache zu eng, und er bat Wolfgang um die Erlaubniß, sich etwas in den unterirdischen Gängen, durch die sie gestern Nacht gekommen seien, umsehen zu dürfen. Wolfgang mochte ihm diese Erlaubniß um so weniger versagen, als er selbst das Verlangen hatte, die Geheimnisse des Hexenthurms kennen zu lernen. So entzündeten sie denn die Laterne, die an einem Nagel an der Wand hing, und stiegen durch die Fallthür in die unteren Räume hinab. Es ergab sich, daß der ganze Hügel, auf welchem der Thurm stand, von mehreren Keller-Etagen unterminirt war. In der untersten Etage kamen sie auch an den Gang, den sie gestern heraufgestiegen waren; indessen wagten sie sich nicht allzuweit hinein, da die beklemmende Enge des Gewölbes und die Unebenheit des Bodens den Weg sehr erschwerten. Ueberdies führten aus diesem Gange noch andere Gänge seitwärts, so daß sie fürchten mußten, sich zu verirren, um so mehr, als auch die Laterne zu verlöschen drohte.

Sie waren eben wieder in dem Thurmgemache angelangt, als sie durch Trommelschall ganz in ihrer Nähe erschreckt wurden. Ihr erster Gedanke, daß ihr Versteck entdeckt sei, bestätigte sich glücklicherweise nicht. Sie konnten deutlich hören, wie Soldaten, welche in unmittelbarer Nähe des Thurmes auf der Dorfstraße stehen mußten, sich über die Ereignisse der verflossenen Nacht unterhielten. Auch Wolfgang's und Rüchel's Namen wurden genannt; es war kein Zweifel, daß man sie bei dem letzten Kampf mit der ihnen entgegenkommenden Patrouille erkannt hatte. Sie hörten, wie ein Mann sich rühmte, er habe den Lieutenant auf's Korn genommen gehabt und würde ihn auch sicher todt geschossen haben, wenn ihm sein Nebenmann im Augenblick, als er das Gewehr abdrückte, nicht an den Ellbogen gestoßen hätte. Ein Anderer erzählte: er sei den Beiden so nahe gewesen, daß er sie fast mit der Bayonnetspitze hätte erreichen können; da sei er über die verdammten Steine gestolpert und als er sich wieder aufgerafft, seien sie verschwunden gewesen. Wenn der Teufel sie nicht geholt habe, so wisse er nicht, wo sie geblieben seien. – Eine heisere Stimme, welche Rüchel als die eines Feldwebels vom ersten Bataillon erkannte, verwies dem Soldaten seine Aeußerung, da man den Teufel nicht an die Wand malen dürfe. Uebrigens seien die Flüchtlinge wohl jedenfalls durch das Dorf bis an das Ufer gelaufen, hätten sich dort, ebenso wie die Andern, die entkommen wären, in einen Kahn geworfen, und seien den Fluß hinabgeschwommen. Er (der Feldwebel) habe es ja genug gesagt, man müsse vor allen Dingen das Ufer besetzen; aber wer höre denn auf einen alten Soldaten, der die Befreiungskriege schon mitgemacht habe.

Rüchel wollte sich todtlachen. Es sei doch zu närrisch, hier, nur durch ein paar Fuß Mauerwerk von den Verfolgern getrennt, im sichern Versteck zu sitzen! Was die draußen wohl für Gesichter machen würden, wenn er ihnen durch die schmale Oeffnung oben in der Mauer hinabriefe: er sei der Teufel, den der Soldat an die Wand gemalt habe und wolle nun die ganze Gesellschaft holen. Wolfgang mußte seine ganze Autorität aufbieten, um den übermüthigen Gesellen von tollen Possen, die leicht einen schlimmen Ausgang nehmen konnten, abzuhalten. Er stellte Rüchel vor, daß ihre Lage durch die Nähe dieses Trupps, den man ohne Zweifel nach alter umständlicher Gewohnheit noch tagelang »zur Beobachtung« an dieser Stelle lassen werde, wieder höchst bedenklich werde. Wenn man vielleicht sogar einen Posten nach der Feldseite hinaus stelle, so werde es Balthasar beinahe unmöglich werden, zu ihnen zurückzukehren, zum wenigsten für mehrere Tage; und wie weit sie mit den Lebensmitteln in des Schulmeisters Speiseschrank und mit der einzigen noch übrigen Flasche Wein reichen würden, möge Rüchel sich selbst sagen. – Dies letztere Argument blieb nicht ohne Eindruck. Rüchel behauptete, von Allem, nur nicht von der Luft leben zu können.

Unter diesen und anderen Gesprächen verging ihnen der Tag schneller, als Wolfgang bei seiner Ungeduld, den Schulmeister wieder da zu haben, es für möglich gehalten hatte. Rüchel war unerschöpflich in lustigen Garnison-Geschichten; auch gab er Wolfgang, auf dessen Wunsch, einen Abriß seines Lebens – das seltsamste Gemisch von Leichtsinn und Gutmüthigkeit, das man sich nur denken konnte.

In dem Thurm begann es bereits vor Sonnenuntergang zu dunkeln, und es dauerte nicht lange, so war es vollkommen Nacht. Ein heftiger Wind heulte um den alten Bau und pfiff durch die schmalen in der Höhe angebrachten Spalten, die statt der Fenster dienten. Ein starker Regen gesellte sich dazu; zum wenigsten hörten die Eingeschlossenen das Gurgeln des Wassers, das sich durch die Ritzen des alten Gemäuers einen Weg suchte. Von den Soldaten vernahm man nichts mehr; dennoch wagten sie kein Licht anzuzünden, da Wolfgang nicht wußte, ob der Schein desselben nicht doch draußen bemerkt werden könnte.

Rüchel hatte, sobald es anfing dunkel zu werden, für Wolfgang ein Lager zurecht gemacht. Man könne nicht wissen, ob der Alte so bald wieder komme, meinte er, und so auf dem kahlen Fußboden zu campiren, sei der Herr Lieutenant doch nicht gewohnt. Er selbst streckte sich, in einen alten Mantel des Schulmeisters gehüllt, auf die Dielen, legte sich wieder einen Folianten unter den Kopf und war nach wenigen Minuten fest eingeschlafen, nachdem Wolfgang ihm hatte versprechen müssen, ihn nach zwei Stunden zu wecken, wo er dann seinerseits die Wache übernehmen wolle. So saß denn nun Wolfgang, auf den Ellbogen gestützt, im Dunkeln und horchte durch den Sturm und den Regen auf jedes Geräusch, das sich sonst etwa vernehmen ließ. Unter den morschen Dielen fingen die Ratten an zu nagen und zu poltern; einige Mal war es ihm, als ob er pfeifen und rufen hörte; aber er überzeugte sich, daß es Käuzchen und andere Nachtvögel waren, die um das alte Gemäuer flatterten. Die Schauer einer solchen Wacht erfüllten seine Seele mit einem eigenthümlichen Lustgefühl, das er bis dahin nicht gekannt hatte. Er dachte wohl an die Gefahren seiner Lage, aber nur mit dem freudigen Bewußtsein, daß seine Kraft und sein Muth diesen Gefahren gewachsen seien. Hatte er doch gestern zur Genüge erfahren, daß das Glück dem Muthigen hilft! Was wäre aus ihm geworden, wenn er gestern Nacht gezaudert hätte, den tollkühnen Fluchtversuch zu wagen! Er säße jetzt noch gefangen, in der Gewalt ungerechter Menschen, in deren Augen er ein abscheulicher Verbrecher war, oder die es geradezu, wie sein Onkel und seine Vettern, auf sein Verderben abgesehen hatten; säße gefangen, ohne Hoffnung auf Befreiung; würde aller Wahrscheinlichkeit nach jahrelang gefangen sitzen, während draußen in der Welt auf blutigen Schlachtfeldern das Schicksal der Menschheit für dies Jahrhundert entschieden wurde. Jetzt durfte er hoffen, an diesem Kampfe Theil zu nehmen, so, wie es ihm das Herz gebot, und, mochte er nun fallen oder siegen, immer würde es auf der Seite des Rechtes und der Gerechtigkeit sein. Und warum sollte das gute Recht nicht siegen! warum sollte nicht in tausend und aber tausend Herzen die Begeisterungsflamme hell auflodern, wie in dem seinen? Hatte er sich doch auch durch so manche Zweifel und Bedenken durchkämpfen müssen, bis er zu der felsenfesten Ueberzeugung kam, daß im Vergleich zu dem Einen, was Noth thue, jede andere Rücksicht schwinden müsse.

Freilich konnte sich der junge Mann nicht verhehlen, daß nicht Alle, die sich unter das heilige Banner der Freiheit drängten, mit reinen Herzen und Händen kamen. Fanatische Schwärmer, wie Cajus, leichtsinnige Wagehälse, wie Rüchel, gemeines Gesindel, wie er es gestern Nacht in den wilden Scenen auf dem Schlosse kennen gelernt – waren das die rechten Bausteine zum glorreichen Tempel der Zukunft? Aber die geistgeborne Idee muß sich des gemeinen Materials der Wirklichkeit bedienen, um in die Erscheinung zu treten. Das hatte er ja in so vielen schlaflosen Nächten endlich in sich ausgemacht; er wollte sich diese Überzeugung durch Nichts wieder rauben lassen.

Ein Schauer der Begeisterung durchbebte seine bis zum tiefsten Grunde erschütterte Seele. Wie mit überirdischer Gewalt ergriff es ihn, so daß er sich von seinem Lager erhob und, beide Hände nach oben streckend, sich gelobte: durch alle Noth und Gefahr der großen und guten Sache, der er sich geweiht, treu zu bleiben bis in den Tod. Und wie er dies mit stummen bebenden Lippen schwur, sah er vor sich in der Höhe, von Licht durchflössen, Ottilien's vielgeliebtes Antlitz, das sich mit mildem Lächeln zu ihm neigte.

Er hatte das Licht nicht geträumt; es war ein Strahl des Mondes gewesen, der durch die Spalte ihm gegenüber auf die Mauer gefallen war. Er mußte lächeln, als er sich davon überzeugte; aber es war ein glückliches Lächeln. »Ich habe Dich doch geschaut, Du liebes Bild,« sprach er bei sich, »und es ist ja auch weiter kein Wunder, daß das leibliche Auge zu sehen glaubt, wovon unsere Seele so ganz erfüllt ist.«

Er streckte sich wieder auf sein Lager und horchte wieder auf die seltsamen Stimmen der Nacht. Der Sturm und der Regen, die in der letzten halben Stunde nachgelassen hatten, fingen bald mit noch größerer Heftigkeit zu wüthen an. Wolfgang hörte das gern, denn das Unwetter mußte Balthasar zu gute kommen, dessen langes Ausbleiben ihn doch nach gerade zu beunruhigen anfing.

Da glaubte er unter sich ein Geräusch zu vernehmen, wie wenn Jemand die Treppe, welche durch die Mauer führte, heraufkam. Er sprang auf die Füße; in demselben Augenblick fiel ein schwacher Lichtschein durch die Spalten der Fallthür; die Fallthür wurde von unten aufgedrückt, und Balthasar, der eine kleine Laterne in der Hand trug, erschien in der Oeffnung. Wolfgang begrüßte den treuen Mann mit größter Freude; Balthasar stellte die Laterne auf den Tisch, faßte beide Hände Wolfgang's und sagte: »da bin ich wieder, lieber, junger Herr; die Zeit ist Ihnen wohl recht lang geworden, aber ich mußte den dunkeln Abend benutzen, und der Weg von der Stadt bis hier ist lang.«

»Sind Sie denn in der Stadt gewesen?« rief Wolfgang voll Verwunderung.

»Gewiß,« erwiderte Balthasar, eine Reisetasche, die er über der Schulter getragen hatte, abhängend und auf' den Tisch legend; »ich dachte, es würde Ihnen lieb sein, da Sie so über Hals und Kopf fort gemußt, wenn die Ihrigen erführen, daß Sie in Sicherheit sind, und so bin ich denn, sobald das Thor geöffnet war, in die Stadt geschlichen und zu meinem Freunde Köbes gegangen.«

»Kennen Sie denn den auch?

»Schon seit fünfundzwanzig Jahren, wo er Kutscher bei der alten Excellenz gewesen ist.«

»Erzählen Sie; erzählen Sie!« sagte Wolfgang; »da haben Sie auch gewiß von meinem Vater gehört? ihn vielleicht selbst gesprochen?«

Balthasar hatte sich nach dem Tisch gewandt, so daß Wolfgang sein Gesicht nicht sehen konnte, als er erwiderte:

»Gesprochen habe ich ihn nicht; aber es geht ihm gut, so viel ich weiß. Der Köbes ist in der Stadt herum gewesen und hat Mancherlei in Erfahrung gebracht, das ich Ihnen mittheilen will, wenn Sie mir vorerst erlauben wollen, mich etwas umzuziehen, denn ich bin arg durchnäßt.«

Balthasar trat hinter den Verschlag, kam bald wieder dahinter hervor, setzte sich zu Wolfgang an den Tisch und sagte flüsternd: »Lassen Sie uns, während Ihr Begleiter schläft, das Nöthige in Ueberlegung ziehen. Zuerst muß ich Ihnen aber den Inhalt dieser Tasche überliefern; sie kommt von Ihren Verwandten in der Ufergasse.«

Wolfgang blickte den wunderbaren Mann erstaunt fragend an, Balthasar lächelte.

»Ja, ja,« sagte er: »auch dort bin ich gewesen, denn ich wußte von dem Köbes, daß Sie dort wie Kind im Hause sind. Herr Schmitz wollte anfänglich selbst mitkommen, um Ihnen Lebewohl zu sagen; aber ich überzeugte ihn, daß das nicht wohl angehe; so schickt er Ihnen denn Gruß und diesen Brief und dieses Päckchen mit Geld. Das Letztere sollte ich Ihnen erst unterwegs zustellen, aber ich denke: Sie sind zu vernünftig, als daß Sie verschmähen sollten, was Ihnen ein Freund in der Noth reicht.«

Wolfgang erröthete. Das Wort des Tempelherrn im Nathan fiel ihm ein: »Ihr wißt, wie gute Menschen denken sollten,« aber er sagte nichts und öffnete das unversiegelte Briefchen, das nur diese wenigen Worte enthielt:

 

»Lieber Wolfgang!

Du bist in den Strudel hineingetrieben; ich habe es vorausgesehen, aber Du bist einer von den Menschen, die ihren eigenen Weg gehen müssen und bei denen man sicher sein darf, daß sie über kurz oder lang den rechten Weg finden werden. Halte Dich brav, muthiger Schwimmer! Wie sehr mir Dein Schicksal am Herzen liegt, weißt Du; in dieser ernsten Stunde darf ich Dir ja wohl sagen: daß ich den Sohn meiner Margarethe liebe, wie ein Vater seinen Sohn, mit dem er schelten würde, wenn er nicht zu stolz auf ihn wäre. –

Peter Schmitz.«

 

Wolfgang's Augen waren feucht, als er den Brief langsam zusammenfaltete und in seine Brusttasche steckte.

»Und hier,« sagte Balthasar, »ist ein Ring. Die ihn mir gab, sagte: Sie würden schon wissen, von wem er komme; und hier,« fuhr er schnell fort, als wolle er Wolfgang Gelegenheit geben, das unschätzbare Kleinod unbemerkt in Sicherheit zu bringen, »was noch sonst in der Tasche ist: Wäsche und Anderes, dessen ein Wanderer bedarf, das hat die gute Dame, die sie Tante Bella nannten, unter vielen Thränen und tausend Wünschen für Ihr Wohl mit aller Sorgfalt zusammengepackt. – Im Uebrigen weiß ich nicht viel Gutes zu berichten. Die Expedition ist, wie Sie selbst schon fürchteten, vollständig verunglückt; das ganze Corps ist zersprengt; Viele sind gefangen eingebracht worden; Mehrere sind getödtet und verwundet; nur Wenige haben sich gerettet, wahrscheinlich weil sie den Muth hatten, sich durchzuschlagen. Zu diesen Letzteren müssen Dr. Münzer und Herr von Degenfeld gehören; jedenfalls hat man von ihnen nichts wieder vernommen. Die insurgirte Stadt hat sich den Truppen ergeben; der Aufstand in jener Gegend ist so gut wie erloschen. Es wird uns nichts übrig bleiben, als Ihren Plan auszuführen, den Süden zu gewinnen und uns der Revolutionsarmee anzuschließen.«

»Uns?« sagte Wolfgang, seine Hand auf die Hand des Schulmeisters legend; »Sie wollen sich in einen verzweifelten Krieg stürzen? Sie, die Sie das blutige Handwerk der Waffen aus Herzensgrunde verabscheuen?«

»Ich will Sie nur begleiten,« erwiederte Balthasar, die sanften, blauen Augen liebevoll auf Wolfgang richtend; »wenn Sie nichts dawider haben, und Sie einen Menschen, dem Tag und Nacht gleich sind, und der sich wenig aus Wind und Wetter macht, auf Ihrer Wanderung brauchen zu können glauben. Wenn ich auch nicht kämpfen kann und mag, so giebt es ja im Kriege so Manches zu thun, woran der Kämpfer nicht denken kann; das soll dann mein Theil sein. Und dann treibt mich noch etwas aus meinem Asyl.«

Balthasar beugte den Kopf noch näher zu Wolfgang und flüsterte noch leiser: »Die fürchterliche Frau, vor der ich in dieses Mauerloch geflohen bin, ist heute aus dem Gefängnisse entlassen und wird hierher in das Dorf kommen. Ich kann den Gedanken, sie so in meiner unmittelbaren Nähe zu wissen, nicht ertragen. Ich muß fort, nehmen Sie mich mit!«

»Von Herzen gern,« sagte Wolfgang, die dargebotene Hand ergreifend; »wir wollen zusammenhalten als wackere Gesellen in Freud und Leid und Noth und Gefahr.«

»Da vergessen Sie mich aber auch nicht, Herr Lieutenant,« sagte Rüchel, der mittlerweile aufgewacht war und die letzten Worte, die Wolfgang mit lauterer Stimme gesprochen, vernommen hatte.

»Gewiß nicht,« erwiderte Wolfgang, dem guten Burschen die andere Hand entgegenstreckend; »ich bin stolz darauf, in meinem Unglück so treue und muthige Herzen zu finden, die ihr Schicksal mit dem meinigen verketten wollen.«

»Wir müssen aber sogleich aufbrechen,« sagte Balthasar; »der Mond ist untergegangen; wir müssen vor Sonnenaufgang weit von hier sein.«

»Ich bin bereit,« sagte Wolfgang.

»Ist mir recht,« sagte Rüchel.



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