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39.

D er kurze Wintertag ging zu Ende. Die Sonne, welche sich den Tag über nur dann und wann als matte röthliche Scheibe durch den Wolkendunst hatte sehen lassen, kam, bevor sie unter den Horizont sank, zum Vorschein, und goß ihr Licht über die graulichen Wasser des von den winterlichen Regengüssen angeschwollenen, hier und da mit Eisschollen treibenden Stromes, und über die schwarzen, von den Winterstürmen kahl gefegten Felder. Es war ein trübes, ahnungsvolles, melancholisches Licht, und so erschien es auch dem alten Mann und der jungen Dame, welche in dem Pfarrgarten des Dorfes Kirchheim, dem bescheidenen einstöckigen Hause gegenüber in dem Gange neben der hohen Tannenhecke auf und ab promenirten; aber die beiden Kinder, die zwischen den entlaubten Büschen und blumenlosen Beeten Haschens spielten, klatschten in die Hände und das kleine Mädchen rief: »O, das schöne Feuer!«

»Das ist kein Feuer, Ella,« sagte der Knabe.

»Doch,« erwiderte die Kleine lebhaft, »es ist rothes Feuer; nicht wahr, Mama?« und sie kam über die Beete herangestürmt.

»Nein, mein Kind, es ist Abendsonnenschein,« sagte Clärchen, dem Wildfang die krausen Locken aus der Stirn streichelnd; »übrigens sollst Du nicht über die Beete laufen, der Großonkel hat es Euch schon oft verboten.«

»Es steht ja nichts darauf,« sagte Ella.

»Das ist ganz gleich. Kinder müssen gehorchen, und es sind auch noch viele Pflanzen darauf, die liegen in der Erde und schlafen, und wenn Du darüber wegläufst, wachen sie auf, und dann, weil es jetzt kalt ist, frieren sie, und können vor Frost nicht wieder einschlafen.«

»Ach, die armen Blumen!« sagte Ella; »ich will sie auch gewiß nicht wieder treten.«

»Das ist recht,« sagte die Mutter; »und nun gieb mir einen Kuß und geht hinein; es wird zu kühl für Euch.«

Die Kleine stellte sich auf die Fußspitzen, und als die Mutter sich zu ihr niederneigte, umschlang sie ihren Hals mit beiden Armen und küßte sie leidenschaftlich zu wiederholten Malen. Dann sprang sie – diesmal nicht über die Beete – davon und riß den Bruder mit sich fort zum Hause hinein.

»Wie kannst Du dem Kinde nur solchen Unsinn vorreden?« sagte Herr Ambrosius Kandel, indem er seiner Nichte wieder den Arm bot, um die unterbrochene Promenade fortzusetzen. »Dergleichen hübsche Märchen sind Gift für ein Kind, das so schon eine entschiedene Anlage zur Phantasterei hat.«

»Aber ich bin sicher, auf diese Weise meinen Zweck zu erreichen. Ich bin überzeugt, sie wird sich jetzt im wildesten Jagen hüten, auf die Beete zu treten, um die schlafenden Blumen nicht zu wecken. Hätte ich gesagt: ›Du zertrittst die Blumen,‹ würde sie geantwortet haben: warum soll ich sie nicht zertreten?«

»Du nährst in dem Kinde einen Hang, der Dir bei dem Vater des Kindes so viel zu schaffen gemacht hat und an dem schließlich das Glück Deiner Ehe gescheitert ist.«

Clärchen antwortete nicht sogleich; ihre Blicke waren auf die Wipfel der hohen Linden gerichtet, an denen der rothe Schein mit jedem Augenblicke blasser und blasser wurde.

»Ich weiß nicht, Onkel,« sagte sie endlich, »ob ich nicht doch Unrecht gethan; ob ich nicht doch Bernhard's Charakter falsch beurtheilt habe. Seitdem in der früher so stillen Ella dieser phantastische Hang, wie Du es nennst, so mächtig erwacht ist, seitdem ich sehe, wie das Kind Alles und Jedes, selbst das Alltäglichste und Gewöhnlichste, in diesen ununterbrochen fließenden Strom ihrer Phantasie taucht, und wie all' unsre Ermahnungen und Reden dagegen fruchtlos sind – seitdem erscheint mir Vieles in Bernhard's Art und Weise in einem ganz anderen Licht.«

»Was willst Du ihm antworten?« fragte Herr Ambrosius.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Clärchen; »ich fürchte, der Augenblick, den ich erwarte, ist noch nicht da. Er kommt in seinem Briefe wiederholt darauf zurück, daß er mehr als je von der Aufgabe, die er sich gestellt, erfüllt sei, daß all' sein Sinnen und Trachten sich auf den einen Punkt concentrire, seinem Volk zur Freiheit zu verhelfen. Ja, einmal sagt er geradezu: ich könnte Dir noch immer nicht mehr als jene Liebe bieten, die Dir damals nicht genügt hat, und die heute, wo Du weißt, daß Du auch fern von mir leben und vielleicht glücklicher leben kannst, noch viel weniger genügen würde.«

»Leben, ja wohl!« sagte Ambrosius; »aber wie? glücklicher leben! thätest Du es doch nur! aber Du sehnst Dich Tag und Nacht nach ihm, und hast keinen andern Gedanken, keinen andern Wunsch, als wieder mit ihm vereinigt zu sein. Warum sprichst Du das nicht frank und frei aus? Die Wahrheit ist die beste Weisheit, und gerade auf sein Ziel los gehn, die feinste Diplomatie.«

»In diesem Falle würde ich auf dem geraden Wege mein Ziel nur verfehlen,« erwiderte Clärchen; »mein Ziel ist: Münzer glücklich zu sehen, wenn es möglich ist: in Gemeinschaft mit mir; wenn das nicht möglich ist, ohne mich. Es muß sich erst ganz klar für ihn und für mich herausstellen, daß nicht ich es war, die ihn am Glücklichsein gehindert hat. Und wenn er zu der Erkenntniß gekommen ist, und er mich dann bittet, wieder zu ihm zu kommen, und ich dann noch mehr, als jetzt, in mir die Kraft fühle, die Gefährtin dieses stolzen Geistes zu sein, – dann wird der Wunsch in Erfüllung gehen können, der, ich leugne es nicht, der einzige, heiße, verzehrende Wunsch in jedem Augenblick meines Lebens ist.«

Der alte Herr begann eine Melodie zu summen, – für Alle, die ihn näher kannten, ein Zeichen, daß er unzufrieden und verstimmt war. Er hatte denn auch richtig kaum ein paar Tacte gebrummt, als er mit einer gewissen verhaltenen Heftigkeit wieder anfing:

»Ich verstehe nun freilich ein für alle Mal von diesen hyperromantischen Verhältnissen nichts; aber, was ich am wenigsten von Allem verstehe, ist, weshalb Ihr, gerade Ihr, nicht mit einander habt fertig werden können. Ich habe allerdings von jeher die Ehe für ein sehr dunkles und räthselhaftes Buch gehalten und mich glücklich gepriesen, daß mich mein Stand von jeder Versuchung, auch nur ein Kapitel dieses Buches lesen zu wollen, abgehalten hat; aber ich meinte immer – und meine Erfahrung hat es bestätigt – daß die Hauptschwierigkeit einer glücklichen Ehe – zumal in den sogenannten gebildeten Ständen – in der Verschiedenheit der Denkungsart der Menschen liegt, von denen Jeder dem Irrlicht seiner Vernunft über Stock und Stein folgen zu müssen glaubt. Da ist denn natürlich, daß die beiden Gatten sich über die gewöhnlichsten Dinge des Lebens nicht verständigen können, geschweige denn über die höchsten, und daß sie in Folge dessen, anstatt Hand in Hand durch das Leben zu wallen, einen wirren, wahnsinnigen Hexentanz mit einander aufführen. Ihr folgt nun freilich auch einem Irrlicht, zum wenigsten nach meiner innigsten Ueberzeugung, aber es ist ein und dasselbe Irrlicht; es sind dieselben schwärmerischen, überspannten demokratischen Ideen, die Münzer vertheidigt und zu denen Du Dich bekennst. Ich bin oft erstaunt gewesen über die Congruenz Eurer Ansichten; Münzer hat in der Kammer Dinge gesagt, die Du so, und genau so, Tage lang vorher, wenn wir über die politische Lage sprachen, behauptet hattest; und ich wiederhole, weshalb Ihr nicht mit einander auskommen könnt, die Ihr nur mit einem Kopfe zu denken und mit einer Zunge zu sprechen scheint – das ist mir das Räthsel der Räthsel.«

Die Glut, welche Clärchen's Gesicht, während der alte Mann in mürrischem Ton diese Worte sprach, verklärte, konnte nicht von der Abendsonne herrühren, deren letzter Schimmer jetzt auf dem spitzen Thurm der Kirche und in den Wipfeln der Linden verblichen war. Ihre sanften klaren Augen leuchteten und ihre weiche Stimme bebte, als sie jetzt, unwillkührlich ihre Schritte beschleunigend, erwiderte:

»Das ist das stolzeste Wort, Onkel, das noch über mich gesprochen ist, und wenn ich je geglaubt habe, daß einst die Schranken fallen werden, die mich jetzt noch von meinem Gatten trennen, so ist es in diesem Augenblick. Dann werde ich ihm sein, was ich ihm hätte sein sollen und nicht gewesen bin – seine Gefährtin, seine Freundin, sein guter Kamerad, wie er mich wohl früher manchmal im Scherz genannt hat, – und dann wird uns Nichts wieder trennen, Nichts, Nichts – nur der Tod.«

»Um Himmelswillen, Kind!« rief der alte Herr, »verschone mich mit diesen neumodischen Ueberspanntheiten! Mann und Weib sind nicht dazu da, um platonische Dialoge mit einander zu führen, sondern – doch, was streite ich mit Dir um Dinge, über die wir uns nie mit einander verständigen werden. Du kennst meinen Pessimismus in Hinsicht auf Alles, was die geschlechtlichen Verhältnisse betrifft. Aber Du hast mir das Räthsel immer noch nicht gelöst: weshalb kennt Dich Münzer nicht so, wie Du Dich mir zeigst, oder, wenn er Dich so kennt, wie konnte er Dich jemals von sich lassen, da er sich doch sagen mußte, daß er eine eifrigere Gesinnungsgenossin, eine treuere Freundin, eine bessere Kameradin, – um mich dieses Ausdrucks zu bedienen – niemals finden würde?«

»Nein,« sagte Clärchen, »Münzer kennt mich nicht, und daß er mich nicht kennt, ist freilich seine, wie meine Schuld. Im Anfang war ich zu schwach und hülflos, als daß er sich auf mich hätte stützen können, und als ich an seinem Beispiel, in dem Verkehr mit ihm und seinen Freunden durch eifriges Studium und durch Nachdenken erstarkt war, da schämte ich mich einestheils der Kraft, die ich mir so heimlich erworben hatte; anderntheils mißtraute ich ihr auch, weil Münzer so gar nichts daraus zu machen schien. Als er von mir erwartete, ich werde ihm Alles sein, konnte ich ihm nichts sein, als ein treues, liebendes Weib, und als ich ihm wirklich etwas mehr sein konnte, als nur das, erwartete er nichts mehr von mir. So sind wir, wie im Dunkeln, an einander vorbeigegangen, ohne uns mit den ängstlich suchenden Händen zu berühren; aber, wenn die Binde von unsern Augen genommen ist – und schon fühle ich mit Entzücken das rettende, Licht – dann werden wir uns in die Arme stürzen und ich werde in Wahrheit sein Weib sein.«

Der alte Herr fing wieder an zu summen und zu brummen, und das so laut und ärgerlich, daß Clärchen seine Hand nahm und scherzend sagte:

»Nicht so bös, Onkelchen! Du bist ja ein grundgelehrter Mann und ein großer Philosoph, aber auf die Liebe, Onkelchen, verstehst Du Dich nun einmal nicht. Wenn Du eine Frau hättest, da würdest Du doch auch wünschen, daß sie Dir nicht blos das Haus in Ordnung hielte, und Deinen Tisch wohl versorgte, sondern, daß Du mit ihr über die Dinge sprechen könntest, die Dir zumeist am Herzen liegen, über Deine Lieblingsschriftsteller: Kant, Spinoza und wie sie alle heißen.«

»Mit einem Frauenzimmer über Philosophie sprechen – das verlohnte sich auch wahrlich der Mühe!« brummte der alte Herr.

»Aber Du philosophirst ja doch so oft mit mir, Onkelchen.«

»Du bist auch eine exceptio, eine Ausnahme, eine rara avis, eine weiße Krähe.«

»Warum nicht gar,« lachte Clärchen. »Ich bin mir bewußt, ein ganz gewöhnliches Menschenkind zu sein, nicht klüger und nicht dümmer als die große Schaar meiner Mitschwestern; nur daß ich vielleicht, durch die Verhältnisse darauf geführt, früher als Andre zur Einsicht kam, was mir Alles fehlte, und mich redlich bemüht habe, das in der Jugend Versäumte nachzuholen. Ich habe einige Erfahrung darin, was auch ein gewöhnlicher Frauenkopf leisten kann, wenn die Liebe zu einem bedeutenden Manne und das Verlangen, ihm zu genügen, die Lehrmeister sind. Als ich vor sechs Jahren ungefähr anfing, ernstlich französisch und englisch zu treiben, habe ich manchmal eine Woche gebraucht, um eine Seite zu verstehen, heute habe ich einen ganzen Druckbogen übersetzt, ohne ein einziges Mal das Lexicon aufzuschlagen. Balthasar wird seine liebe Noth haben, das Alles in seiner saubern Weise zu mundiren, und die Druckerei soll nicht wieder klagen, daß ich sie im Stich lasse.«

Ambrosius hatte nicht aufgehört, zu summen und zu brummen.

»Das ist Alles recht schön und gut,« rief er; »oder vielmehr, das Alles ist viel zu schön und zu gut, zum wenigsten für Münzer, der ohne Zweifel keine Ahnung von Deinem Werth hat. Höre, Clärchen, ich habe Respect vor Dir, ja, ich kann sagen: Du bist das einzige Exemplar der Bipedes femini generis, vor dem ich in meinem langen Leben je Achtung gehabt habe; aber eben deshalb halte ich Dich auch für zu vernünftig, als daß Du in dieser thörichten und unvernünftigen Illusion einer absoluten Liebesleidenschaft stecken bleiben könntest. Du mußt darüber hinauskommen, und Du wirst darüber hinauskommen, wenn Du einsiehst, daß Dein Gatte die Liebe keineswegs von einem mystisch-supernaturalistischen Standpunkte, sondern im Gegentheil von einem sehr realistischen nimmt, daß er, wie Millionen Andre, in dem Weibe nur das Geschlecht liebt, und – um die Sache kurz zu machen – nach Allem, was ich höre, Dir keineswegs die Treue bewahrt, auf die Du, wenn irgend ein Weib auf Erden, gegründete Ansprüche hast.«

Clärchen war sehr blaß geworden, als der cholerische alte Herr diese Worte, die ihm schon lange auf der Seele gelegen hatten, hervorsprudelte; und der Ton ihrer Stimme zitterte etwas, als sie so ruhig, wie sie vermochte, erwiderte:

»Also auch zu Dir ist dies Märchen gedrungen?«

»Dies Märchen? Woher weißt Du, daß es ein Märchen ist?«

»Weil Münzer es mir selbst gesagt hat.«

»Was hat er Dir gesagt?«

»Daß er eine schöne Frau schön gefunden hat, wie er das auch wohl kaum anders konnte, und daß er ein Verhältniß, das er nicht gesucht, in dem Augenblick abgebrochen hat, als er fühlte: es könne ihm über den Kopf wachsen und ihn von seiner Pflicht abwendig machen.«

»Wann hat er Dir das gesagt?«

»Am Abend vor seiner Abreise.«

»Und Du weißt, wer diese Frau ist?«

»Antonie von Hohenstein.«

»Kennst Du sie?«

»Von Ansehen. Sie ist sehr schön.«

»Und Du glaubst das Märchen?«

»Das die Leute sich erzählen?«

»Nein, das Märchen, das Dir Dein Gatte erzählt hat.«

»Onkel! – was hat er denn Dir gethan, daß Du so unversöhnlich bist?«

»Mir? mir hat er nichts gethan, wenigstens nicht direct; aber Dir, armes Kind, Dir hat er desto mehr gethan. – Ich habe lange bei mir überlegt, ob ich Dir mittheilen sollte, was mir von den verschiedensten Seiten zugetragen ist. Ich habe immer gezaudert, weil ich hoffte, daß Du über diese unselige Liebe doch endlich einmal wegkommen würdest; aber anstatt dessen sehe ich, daß Du Dich tiefer und immer tiefer darin verstrickst. So muß ich denn schließlich doch sprechen. Die Wahrheit ist alle Wege ein gutes Ding und eine süße Frucht, ob ihre Schaale auch noch so bitter ist. Münzer hat jenes Verhältniß nicht aufgegeben; im Gegentheil, er hat es in der offenkundigsten Weise fortgesetzt, ja, setzt es noch fort, so viel ich erfahren habe. Und meine Quellen sind ziemlich sicher. Ich habe in der Stadt sonst sehr warme Verehrer Deines Mannes bitter über seinen Leichtsinn Klage führen hören, durch den er sich und der Partei den empfindlichsten Schaden zufüge; ich habe den General auf Rheinfelden neulich in seiner plumpen Weise die Sache erwähnen hören; er hatte sie von dem Präsidenten von Hohenstein, der in der Residenz gewesen war und Münzer in Begleitung der Frau von Hohenstein in einer Gesellschaft getroffen hatte; heute aber hat mir der Verwalter von Rheineck gesagt, daß die gnädige Frau Befehl gegeben habe, so schnell wie möglich das ganze Schloß in Stand zu setzen, da sie in den nächsten acht Tagen eintreffen werde, um längere Zeit zu bleiben; auch die Besuchszimmer seien nicht zu vergessen, sie werde viel Gesellschaft bei sich sehen, – Herrengesellschaft natürlich, – denn eine andere kennt Antonie von Hohenstein nicht. Nun muß ich denn aber doch sagen: das ist mehr als verdächtig. Acht Tage, nachdem Münzer Rheinstadt verlassen, siedelt Frau von Hohenstein nach der Residenz über; – sie verkehrt dort nur in ultra-liberalen Kreisen – sie wird mit Münzer Arm in Arm in einer Gesellschaft getroffen – kaum ist die Versammlung aufgelöst, und Münzer schreibt Dir und seinen Wählern, daß er in Rheinstadt wieder eintreffen wird, so kommt auch Frau von Hohenstein zurück, zieht mitten im Winter auf das Land – sie, die sich Jahre lang nicht unter uns hat sehen lassen – richtet ihr Haus auf Besuch ein, und angenommen auch, daß unter diesem Besuch Münzer nicht ausschließlich gemeint ist, so steht doch so viel für mich unzweifelhaft fest, daß Münzer unter diesen Besuchern nicht fehlen wird. –

Aber Du bist blaß geworden, Clärchen, und Deine Augen stehen voll Thränen. Armes Kind! ich würde viel darum gegeben haben, hätte ich Dir diesen Schmerz ersparen können; aber das Auge, das uns ärgert, sollen wir ausreißen, und ich will nicht, daß die Tochter meines Bruders an der Liebe zu einem Manne, der ihrer nicht würdig ist, wie an einem schleichenden Gift, elend zu Grunde geht. Geh' hinein, mein Mädchen! es ist sehr kühl geworden und Du bist schmerzlich aufgeregt. Ich muß zu dem alten General, hoffentlich zum letzten Mal heute, denn ich werde ihm sagen, daß, wenn er keine Vernunft annehmen will, ich nichts mehr mit ihm zu schaffen haben mag. Für seine freiherrlichen Launen bin ich zu gut. Adieu, mein Kind!«

Er küßte Clärchen auf die Stirn und wandte sich zu gehen. Clärchen blieb auf derselben Stelle stehen. In ihren lieben bleichen Zügen zuckte es schmerzlich. Ein Entschluß, der ihr sehr schwer werden mußte, arbeitete sich aus der Tiefe ihrer Seele herauf.

»Onkel!« rief sie leise, die Hand nach dem langsam Davonschreitenden ausstreckend.

Der alte Herr, der etwas der Art erwartet haben mochte, wandte sich um, trat wieder an die junge Frau heran und sagte in einem viel sanfteren Ton, als in welchem er bisher gesprochen:

»Was willst Du, mein Kind?«

»Du hast doch das Packet für Balthasar, Onkel?«

»Gewiß!«

»Willst Du es mir einen Augenblick geben? ich möchte etwas herausnehmen, das ich noch einmal durchsehen muß.«

Der alte Herr nahm aus der inneren Brusttasche seines langen schwarzen Ueberrocks ein versiegeltes Packet. Clärchen löste das Siegel und nahm von den Blättern, die es enthielt, einige, die von einem andern Format waren. Sie rollte diese Blätter mit einer gewissen ängstlichen Hast zusammen und barg sie in der Tasche ihres Kleides. Dann versuchte sie, den alten Mann, der sie mit einer ernsten und bekümmerten Miene betrachtete, anzulächeln, wandte sich dann schnell, um die hervorbrechenden Thränen nicht sehen zu lassen und eilte dem Hause zu.

Herr Ambrosius schüttelte den Kopf, summte und brummte in höchst bedenklicher Weise, trat summend und brummend aus dem Pförtchen seines Gartens auf die Dorfstraße, und schlug die Richtung nach dem benachbarten Rheinfelden ein.



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