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35.

U nd so war auch das Leben jetzt für Münzer. Der unheimlich schöne Schein, in welchem ihm die Leidenschaft für Antonie die Welt gezeigt hatte, war so schnell erloschen, wie aufgeglüht. Daß diese Leidenschaft eine Verirrung sei – daran hatte er kaum einen Augenblick gezweifelt. Was sollte ihm, dem Arbeiter, dem Proletarier, ein Glück, das zu seiner stoischen Philosophie genau so trefflich stimmte, wie die glänzenden Bilder seiner Phantasie zu der Armseligkeit seines Lebens, zu der Einförmigkeit seines Werkeltagtreibens! Auch hatte er nie geglaubt, daß die Scene in Antonien's Teppichgemach sich je wiederholen, daß dieser Traum einer tollen Nacht sich je in die Wirklichkeit des wachen Tages hinüberspielen könne. Und jetzt war es doch geschehen – gegen seinen Willen freilich, aber darum nicht weniger geschehen. Die Scene hatte sich wiederholt – aber ohne die Naivetät jener ersten halb wunderbaren Begegnung. Zum zweiten Male hatte er Antonien's Lippen auf seinen Lippen gefühlt, aber dieser zweite Kuß glich jenem ersten wie der Tod dem Schlafe gleicht.

Und oft, sehr oft in dieser Zeit war es Münzer, als wäre seine Seele von ihm geschieden und er wandelte, ein Todter, unter den Lebenden. Es gab nur einen festen Punkt für ihn in diesem Irrsaal, und das war die Ueberzeugung, die er auf jede Weise in sich zu erhalten suchte, an die er sich klammerte, wie ein Ertrinkender sich an den rettenden Balken klammert – die Ueberzeugung, daß er unter allen Umständen seine Pflicht thun müsse. Antonien hatte er entsagt – zum zweiten Male – für immer, wie er glaubte; und mit Antonien jedem Anspruch auf die Verwirklichung irgend eines Wunsches, der über das thatsächliche Leben hinausging. Niemals hatte er es mit dem Axiom seiner Philosophie, daß das Individuum untergehen müsse in der Allgemeinheit, so ernst genommen, wie jetzt. Mit dem ganzen Rest der Kraft, die ihm noch geblieben war, warf er sich in die hochgehenden Wogen der politischen Strömung; noch nie hatte er so ohne allen persönlichen Ehrgeiz, so ohne alle Freudigkeit, ja auch eigentlich ohne Hoffnung auf ein günstiges Resultat für das Allgemeinwohl, und dennoch mit solcher Hingebung, mit solcher Energie gearbeitet und gewirkt, wie jetzt. Die Flucht vor sich selbst gelang ihm nur zu gut. In demselben Maße, wie er die öffentlichen Angelegenheiten zu seiner persönlichen Angelegenheit machte, verlor er das Interesse an Allem, was ihn als Individuum berührte. Er hatte nicht den geringsten Versuch gemacht, sich Antonien wieder zu nähern; mit stummer Resignation überließ er sie ihrem Schicksale; mochte sie sich mit demselben abfinden, wie er sich mit seinem Schicksale abfinden mußte. Und diese starre Gleichgültigkeit bemächtigte sich seiner auch in dem Verhältnisse zu seinem Weibe und zu den Kindern. Für den ersten Augenblick hatte der Umstand, daß sein Kind mit dem Tode gerungen hatte in dem Moment, wo er, verloren in der Anbetung eines schönen Weibes, nur sich selbst gelebt, einen furchtbaren Eindruck auf ihn gemacht; aber sein Skepticismus hatte bald gefunden, daß Alles doch schließlich auf den Zufall hinauslief, der, unbekümmert um unsre Haltung, gleichgiltig gegen unsre Tugenden, wie gegen unsre Schwächen, sein plumpes, blindes Spiel treibt. Dennoch hatte Clärchen Recht, wenn sie ihren Gatten in dieser letzten Zeit milder und theilnehmender als sonst wohl fand. Aber sie hatte auch Recht, wenn sie diese ungewöhnliche Milde mehr quälte, als die frühere Launenhaftigkeit. Sie kannte ihren Gatten zu gut, um nicht zu wissen, daß bei seiner Leidenschaftlichkeit Liebe und beständig gleichmäßige Güte sich sehr schlecht vereinigen ließen, und was für eine weniger feinfühlende und scharfsichtige Frau das Morgenroth einer neuen schöneren Zukunft gewesen wäre, das war ihr der letzte trübe Schein der für immer untergegangenen Sonne ihres Erdenglücks.

Und jetzt konnte sie an dem dumpfen Schlage ihres Herzens die Minuten zählen, bis auch dieser letzte Schimmer verschwinden mußte. Der Tag der Wahl war angebrochen; Mittag war längst vorüber, Bernhard konnte jeden Augenblick nach Hause kommen. Sie hatte nie seiner Rückkehr mit solchen Gefühlen entgegengesehen; und während sie sich in stillem traurigen Sinnen auf die letzte Zusammenkunft mit ihrem Gatten vorbereiten wollte, glitten ihre Gedanken fortwährend von der Gegenwart, die verworren und unbegreiflich wie Sterben und Tod sie angähnte, zurück in jene schönen Tage der ersten Liebe, wo das Herz in ihr aufjauchzte, wenn sie den Schritt des geliebten Mannes auf ihrer Schwelle vernahm.

Münzer hatte bis heute keine Ahnung von Clärchen's Seelenzustand und von dem Entschlusse, der langsam und stetig in ihr gereift war. Wie er die Erinnerung an Antonie in Vergessenheit zu begraben suchte, so glaubte er auch, daß zum wenigsten der eigentliche Kern dieses Verhältnisses ein tiefes Geheimniß für alle Anderen sei, denn die Andeutungen, welche Antonie über die Pläne des Präsidenten gemacht hatte, waren ihm von vornherein als das müßige Spiel eines frivolen Kopfes erschienen. Münzer hatte von jeher die Schwäche gehabt: die Macht verachteter Gegner zu unterschätzen. Er hatte das auch in diesem Falle gethan. Dennoch hatte der anonyme Verfasser des Briefes an Clärchen durchaus nicht gelogen, wenn er behauptete, daß Münzer's Verhältniß zu Antonie bereits zum Stadtgespräch geworden sei. In der That sprach man davon in den Salons der Vornehmen, und, was viel schlimmer für Münzer war und ihm leicht hätte gefährlich werden können: auch in den Kreisen der Bürger, sogar in den schmutzigen Kneipen, in welchen bei saurem Wein und schaalem Bier in tabaksraucherfüllter Atmosphäre von verdächtig aussehenden »Urwählern« die Vorzüge und Schwächen der verschiedenen Staatsformen im Allgemeinen und die Vorzüge und Schwächen der zukünftigen Volksvertreter im Besonderen mit großem Eifer und noch größerem Lärm erwogen wurden. Woher das Gerücht: daß Dr. Münzer ein schlechter Vater und treuloser Gatte sei, der in den Armen vornehmer Weiber über seine zur Schau getragenen demokratischen Grundsätze lache, eigentlich stammte – Niemand wußte es zu sagen. Nur soviel stand fest, daß von dem fanatischen Bewunderer Münzer's und der »rothen Republik,« dem Schlossergesellen Christoph Unkel, eines Abends ein blasser, hagerer Mensch, der in einer vielbesuchten Tabagie auf den Doctor geschimpft hatte, durchgeprügelt und zum größten Ergötzen der anwesenden Gesellschaft zur Thür hinausgeworfen worden war, und daß seit jenem Abend die Stimmung für Münzer, welche in diesen Kreisen bedeutend gesunken war, sich wieder zu der alten Höhe erhoben hatte.

Auch in die Räume des Hintergebäudes in Peter Schmitz's Hause war das schlimme Gerücht gedrungen und hatte dann natürlich aus dem Setzersaal und dem Maschinenraum seinen Weg in die Wohnzimmer des Vorderhauses gefunden. Peter Schmitz erklärte sofort mit großer Energie, daß »Alles eine ganz infame, von Münzer's Feinden ausgehende Verleumdung sei und daß man ihn mit dem Unsinn ungeschoren lassen solle«; aber Tante Bella war durchaus der entgegengesetzten Meinung. Tante Bella hatte sehr scharfe Augen und Ohren und ein prophetisches Gemüth. Tante Bella hatte schon lange, bevor das Publikum sich mit Bernhard Münzer's Angelegenheiten zu beschäftigen anfing, sehr viel gesehen und gehört, was »ihr gar nicht gefiel,« und gegen ihre vertrautesten Freunde mehr als ein Mal die Aeußerung fallen lassen: »Ihr sollt sehen, das nimmt mit den Beiden noch ein schlechtes Ende.« Es war daher natürlich, daß Tante Bella das Urtheil der Leute zu ihrem eigenen machte, und daß sie die Zeit gekommen hielt, wo »in dieser Sache etwas geschehen müsse.« Ihr erster Entschluß war, mit Münzer selbst »ein ernstes Wort zu sprechen.« Von diesem Gedanken kam sie aber, als von dem weniger zweckmäßigen – nicht gefährlicherem, denn Gefahren der Art existirten für die muthige Dame nicht – zurück, und sie nahm sich vor, Clärchen mit aller Behutsamkeit freilich, aber auch aller Offenheit über ihre Lage aufzuklären. Indessen auch dieser Plan hatte bei der von Tante Bella wiederholt erprobten Empfindlichkeit Clärchen's, sobald die Rede auf ihr eheliches Verhältniß kam, sein Bedenkliches, und zuletzt beschloß Tante Bella, den Vertrauten aller ihrer Geheimnisse, Dr. Holm, mit der zarten Mission zu beauftragen. Holm hatte die Commission zuerst auf das Entschiedenste abgelehnt, nicht, weil er an der Wahrheit des Gerüchtes, das auch ihm von verschiedenen Seiten zu Ohren gekommen war, in der Hauptsache wenigstens, gezweifelt hätte, sondern, weil er der Ansicht war, daß in allen Fällen der Art die »Mittler« eine sehr schiefe und meistens sogar schädliche Rollen spielen, und daß hier, wenn irgendwo »Jeder sehen müsse, wie er's treibe.« Es ist auch kein Zweifel, daß Holm seinem Vorsatze treu geblieben wäre, wenn der Zufall selbst ihn nicht gegen seinen Willen zum Vertrauten gemacht hätte.

Es war am Nachmittage des Wahltages. Holm arbeitete allein auf der Redaction. Münzer war in der Wahlversammlung und sandte von Zeit zu Zeit einen der Getreuen mit Nachrichten über den Stand des Skrutiniums. Holm war in einer melancholischen Stimmung, und so oft er auch die Champagnerarie aus dem Don Juan, oder »Reich' mir, o Knabe, den Becher!« zu summen begann – nie kam er über die ersten paar Tacte hinaus. Der Leitartikel, oder »Leitorum« war ihm noch nie so schwer geworden wie heute; dem braven Journalisten war durchaus nicht führerhaft zu Muth, und die Schlagwörter, an denen er es sonst nicht fehlen ließ, wollten heute gar nicht aus der Feder. Holm wußte selbst nicht, was ihn denn nun gerade heute so ganz besonders verstimmte. In der Situation war doch im Allgemeinen keine Veränderung vorgegangen. Daß »der Volksbote« mit dem ersten Juli zu erscheinen aufhören, oder in den Verlag von Herrn Kalkopf übergehen würde, wußte Holm schon längst, freilich ohne bis jetzt ausfindig gemacht zu haben: welches von den beiden Uebeln das kleinere sei. Denn Holm traute dem Herrn Kalkopf gar nicht, trotzdem er bei einer ersten, vorläufigen Conferenz, wie Holm sich ausdrückte, »das Blaue vom Himmel heruntergeschworen hatte,« um zu bekräftigen, daß er bei Uebernahme des Blattes eine Aenderung der bisherigen radicalen Tendenz in keiner Weise verlangen und auch der Redaction in jeder Hinsicht freie Hand lassen würde.

Ebensowenig wie diese Angelegenheit war das Verhältniß Münzer's zu seiner Frau, das dem guten Holm so viel Sorge gemacht hatte, in ein neues bedenklicheres Stadium getreten; und das Befinden des armen Cajus hatte sich in den letzten Tagen sogar bedeutend gebessert. Es war also Alles in Allem heute kein spezieller Grund, ausnahmsweise melancholisch zu sein, und doch war es Holm so sehr, daß er die Beendigung des »Leitorum« als ein hoffnungsloses Unternehmen aufgab und nach den eingelaufenen, noch unerbrochenen Briefen griff, um den ausgefallenen Raum durch einige interessante Correspondenzartikel zu füllen.

Holm hatte schon drei umfangreiche Briefe mit gerunzelter Stirn und in die Höhe gezogenen Brauen gelesen, ohne von Allem, was er gelesen, auch nur ein Wort behalten zu haben, und er war schon tief in einen vierten Brief hineingerathen, als er plötzlich wie aus einem Traum erwachte, noch einen Blick in den Brief und besonders auf die Unterschrift warf, dann den Brief sorgfältig zusammenfaltete und nun erst that, was er vorher in seiner Zerstreuung versäumt hatte, nämlich: die Adresse las, welche denn allerdings nicht: »An die Redaction des Volksboten,« sondern an den »Herrn Dr. Bernhard Münzer, privatim,« lautete, auch offenbar von keiner Zeitungs-Correspondentenhand geschrieben war.

Die Stirn des Dr. Holm hatte sich, während er diese sonderbaren Entdeckungen machte, noch tiefer gefurcht, und die Augenbrauen waren noch bedeutend höher auf die hohe kahle Stirn gerückt, daß sie anzuschauen waren wie zwei dunkle Wetterwolken an einem rothglühenden Abendhimmel.

»Also doch!« murmelte er vor sich hin, »Liebe, Entsagung und sonstiges Brimborium – Alles, wie es nur in einem Roman verlangt werden kann, und dem lieben wirklichen Leben kann darüber das Herz brechen! Da sollte doch gleich –«

Und Dr. Holm schlug mit der Faust auf den Tisch, daß der Obersetzer Wenzel Müller zum Guckfensterchen hereinschaute und fragte, ob der Herr Doctor gerufen habe?

»Nein!« schrie Dr. Holm; und dann murmelte er: »dabei soll der Teufel arbeiten; man müßte ja kein Herz in der Brust haben, wenn Einen so etwas gleichgiltig lassen sollte. Aber ich werde mit dem Knaben sprechen; ich werde ihm seinen Standpunkt klar machen; ich werde – vorerst einmal den Leitorum schreiben; ich bin jetzt in der rechten Stimmung.«

Und Dr. Holm tauchte die Feder ein und schrieb in den verzwicktesten Hieroglyphen, die je den Scharfsinn eines Setzers herausgefordert haben, einen durch den edelsten Zorn sittlicher Entrüstung und durch machtvollen Styl ausgezeichneten Artikel gegen »die schlimmsten Feinde der Freiheit,« als welche er diejenigen bezeichnete, welche herrschen wollten, ohne sich selbst beherrschen zu können, und nicht bedächten, daß in einem wahrhaft freien Gemeinwesen sittliche Größe ein nothwendiges Correlat der politischen Größe sei; gegen die Fiesko's, mit denen man wohl Tyrannen niederwerfen, aber keine Republik zu errichten vermöge; gegen die Alcibiades, die man vor Alters mit Fug und Recht ostrakisirt habe, da ihre glänzenden Talente nur gefahrvolle Danaergeschenke für die Mitbürger seien.

Dr. Holm hatte sich eben an das Fenster gestellt, um den Aufsatz noch einmal durchzulesen, als er den Schritt Münzer's auf der Gallerie vernahm.

Gleich darauf trat Münzer in das Gemach.

Er schleuderte seinen Kalabreser auf den Tisch und warf sich in seinen Stuhl. Seine Haltung und Miene war die eines zum Tod Erschöpften. Er goß sich aus der auf dem Tisch stehenden Karaffe ein Glas voll Wasser und trank es aus. Dann wandte er sich zu Holm und sagte:

»Nun, Holm! Das Vorspiel wäre zu Ende; die Acteurs stehen bereit; die Komödie kann ihren Anfang nehmen. Ich hoffe, meine Rolle ohne Anstoß herzusagen.«

»Ich wollte, Münzer, Sie hätten ein anderes Bild gebraucht, um mir Ihre Erwählung, zu der ich übrigens von Herzen gratulire, anzukündigen;« sagte Holm mit großem Ernst. »Sie wissen, ich mag nicht, daß man das Leben wie ein Theaterstück behandelt.«

»Und was ist es denn Anderes?« fragte Münzer mit klangloser Stimme; »ein Humorist, wie Sie, sollte das doch wissen.«

»Der Humor,« erwiderte Holm, »hat seine volle Berechtigung im Leben, und ich bin am wenigsten dazu geneigt, ihm sein gutes Recht streitig zu machen; aber dies Recht hat seine Grenzen, wie jedes andere auch, und wo im Lear die Schicksalsgewalten ihre blutige Arbeit beginnen, schleicht sich der Narr davon und kommt nicht wieder.«

»Sie sind heute ausnahmsweise Moralprediger, wie es scheint,« antwortete Münzer; »ich hoffe, daß Sie davon nichts in Ihrem Leitartikel haben merken lassen.«

»Vielleicht doch!« sagte Holm; »wenn es Ihnen recht ist, will ich Ihnen denselben vorlesen.«

»Wenn Sie es für nöthig halten;« sagte Münzer, sich in seinen Stuhl zurücklehnend.

»Ich halte es für nöthig, dringend nöthig,« sagte Holm, und las mit halblauter, hier und da vor innerer Erregung zitternder Stimme, was er soeben geschrieben.

Münzer hatte während der Lectüre schon mehrere Zeichen von Ungeduld blicken lassen; als Holm kaum das letzte Wort gesprochen, rief er: »Und das nennen Sie einen Leitartikel, lieber Holm, in diesem Augenblicke, wo der Ausfall der Wahlen der einzig natürliche und nothwendige Stoff ist? Und was sollen wir mit dieser Apologie der guten Menschen und schlechten Musikanten, wir, die wir die paar Stimmen, auf welche wir mit Sicherheit rechnen dürfen, an den Fingern herzählen können, und daher jeden guten Musikanten hochwillkommen heißen müssen, ohne darnach zu fragen, ob seine Moral hier oder da ein wenig anbrüchig ist?«

»So dachten Sie früher nicht.«

»Mag sein! Vermuthlich, daß der künftige große Staatsmann sich in mir zu regen beginnt. Im Ernst, Holm: ich habe mich in der letzten Zeit immer mehr davon überzeugt, daß die politischen Fragen wesentlich Machtfragen sind, die wir mit unsrer bisherigen Gefühlspolitik niemals lösen werden. Ich bin entschlossen, mit allen, auch den äußersten Mitteln, unsre Ideen durchzusetzen, nicht, weil ich die Gefahren, die auf diesem Wege liegen, leugnete, oder zu gering anschlüge, sondern weil ich erkannt habe, daß die Gefahren, in die wir bei der Rosenwasserpolitik hineintreiben, hundert und tausendmal größer sind, und wir schließlich, nachdem wir alle Mittel der Güte zu unsrem und der Unsrigen Schaden und Verderben erschöpft haben, doch zu den Mitteln werden greifen müssen, vor denen wir jetzt einen so hochmoralischen Abscheu haben, oder zu haben vorgeben.«

»Bei dieser Art zu denken werden Sie schwerlich meinen Artikel, der allerdings das genaue Gegentheil von Ihrem jetzigen Programm ist, in unsrer Zeitung sehen wollen.«

»Aufrichtig, Holm: nein!«

»Nun, so mag er wegbleiben,« sagte Holm, die Blätter, die er noch immer in der Hand hielt, zusammenfaltend; »wenn ich Sie, auf den es hauptsächlich abgesehen war, nicht überzeugen kann – so verliert der Artikel in meinen Augen seinen besten Werth.«

»Auf mich war es hauptsächlich abgesehen?« sagte Münzer mit ironischem Lächeln. »Nun das ist nicht übel! Bin ich ein Fiesko? bin ich ein Alcibiades? Verzeihen Sie mir, lieber Holm, das Geständniß, daß ich aufhöre, Sie zu begreifen.«

»Vielleicht werden Sie mich begreifen,« erwiderte Holm, »wenn ich nicht als Politiker, sondern als Freund mit Ihnen spreche; wenn ich Ihnen, selbst auf die Gefahr hin, Ihre Freundschaft für immer zu verscherzen, sage, daß es mich mit tiefem Schmerz erfüllt hat, Tag für Tag Zeuge von dem Vernichtungskampf zu sein, mit dem Sie, besonders in jüngster Zeit, gegen sich selber wüthen; Tag für Tag zu sehen, wie Sie Ihren Leidenschaften eine immer größere Herrschaft über sich einräumen, und so auf dem besten Wege sind, sich selbst und das Glück der Ihrigen zu Grunde zu richten. Sie sind seit einigen Wochen wie umgewandelt; Sie würden erschrecken, wenn Sie sich nur ein einziges Mal mit den Augen eines Andern sehen könnten. Solche äußeren Metamorphosen müssen ihre entsprechenden inneren Ursache haben. Daß die Politik diese Ursache nicht ist, glaube ich, der ich Sie seit so vielen Jahren kenne und weiß, daß Sie in dieser Beziehung niemals Optimist gewesen sind, beschwören zu können. So wird es denn also etwas Anderes sein; und was dieses Andere ist, das haben Sie freilich mit sich selber auszumachen, aber trotzdem können Sie nicht verhindern, wenn Ihre Freunde und Ihre Feinde, allerdings von sehr verschiedenen Seiten und mit sehr verschiedenen Empfindungen, in Ihr Geheimniß dringen. Leider muß ich Ihnen sagen, daß dies Geheimniß bereits anfängt, zur Kategorie der öffentlichen zu gehören. Ich bin – die Anerkennung werden Sie mir nicht versagen – kein Geschichtenträger und kein Gebehrdenspäher – nichtsdestoweniger habe ich über ein Verhältniß, in welchem Sie zu einer gewissen vornehmen Dame stehen sollen, mehr gehört, als mir lieb ist – ja, und auch gesehen. Unter den heute eingelaufenen Briefen, die ich in der festen Ueberzeugung, es seien sämmtlich Geschäftsbriefe, sämmtlich geöffnet habe, befindet sich auch einer von der Dame, mit deren Namen die Fama Ihren Namen in jüngster Zeit so oft zusammen genannt hat.«

Münzer war, während Holm also sprach, sehr still und blaß geworden, so blaß, daß den guten Holm Mitleid mit dem Kranken überkam, den zu heilen er sich vorgenommen hatte. Er beeilte sich deshalb, hinzuzufügen:

»Nehmen Sie die Sache nicht tragischer, als sie ist, lieber Münzer. Es giebt wenig schlimme Dinge auf Erden, die sich nicht wieder gut machen ließen, wenn man den ernsten Willen hat.«

Münzer machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

»Wo ist der Brief?« sagte er.

»Hier; ich habe, wie Sie sich denken können, nur wenige Zeilen gelesen, und auch die so zerstreut, daß ich schlechterdings nicht weiß, was denn nun eigentlich in dem Briefe steht.«

»Es ist gut, Holm.«

Münzer steckte den Brief, ohne einen Blick darauf zu werfen, in die Brusttasche, erhob sich und griff nach seinem Hut.

»Sie können die Zeitung allein fertig machen? nicht wahr?«

»Gewiß; aber gehen Sie nicht fort, nicht in dieser Aufregung fort.«

»Ich bin nicht aufgeregt; ich bin so ruhig, wie ein Todter.«

»Um so mehr müssen Sie bleiben.«

»Ich kann nicht. Leben sie wohl!«

»Münzer, um Gotteswillen.« rief Holm aufspringend und sich dem Freunde in den Weg stellend; »was haben Sie vor? Ich lasse Sie nicht fort, bevor Sie mir die Hand drauf geben, daß Sie nichts Gewaltsames beschließen.«

»Glauben Sie. daß ich ein Kind bin?« erwiderte Münzer mit bitterem Lächeln; »hier haben Sie meine Hand!«

»Münzer,« sagte Holm mit bewegter Stimme, »denken Sie an Ihre Frau, an Ihre Kinder.«

»An die eben denke ich,« erwiderte Münzer; »leben Sie wohl!«

Er ging. Holm setzte sich wieder an den Schreibtisch, und griff mit einem tiefen Seufzer zu seinen Correspondenzen. »Man sollte sagen, wie es möglich wäre! Der Teufel hole alle Phantasterei!« murmelte er, und tauchte mit großer Entschlossenheit seine Feder in das Tintenfaß.



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