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XXXVI.

Herr Banse hatte zweimal an die Thür des Bureaus geklopft, ohne daß man: Entrez! sagte. Er öffnete auf gut Glück und sah Herrn Delajoux mit seinem jüngeren Bruder, der dem Rechnungswesen im Hause vorstand, am Fenster, über das Pult gelehnt, die brüderlichen Köpfe dicht zusammen, so eifrig in der Lektüre, wie es schien, eines Briefes vertieft, daß sie erst aufblickten, als er die Glasthür wieder hinter sich schloß. Der jüngere Bruder blieb, sich verbeugend, am Pult, während der ältere auf ihn zukam mit dem habituellen Lächeln des Hoteliers auf einem völlig verstörten Gesicht.

Sie kommen merkwürdig à propos, werter Herr Banse, ich wollte mir eben erlauben – wir wissen in der That nicht – mein Bruder und ich –

Thun Sie mir die einzige Liebe und sagen Sie es mir ohne Umschweife, unterbrach Herr Banse den Verstörten. Sie haben eine schlechte Nachricht – von Herrn Moor –

Nicht gerade von Monsieur, sagte Herr Delajoux achselzuckend, aber in der That über Monsieur. Er ist –

Tot! rief Herr Banse.

Sie sagen es, Monsieur!

Der alte Herr stand in sich gekehrt da. Er hatte es gesagt – ja! und hatte es gedacht – ja! Aber man denkt und sagt gar viel, ohne daß man gleich beim Worte genommen wird. Nun wollte er gewohnheitsgemäß seine Dose öffnen, die er in der Hand trug. Aber er ließ sie in die Tasche gleiten, atmete tief auf und sagte:

Ist recht, Herr Delajoux. Man muß den Dingen direkt auf den Leib rücken – das andere nützt nichts und hält nur auf. So, nun lassen Sie mich den Brief sehen.

Er war zum Pulte geschritten, wo ihm der jüngere Delajoux Platz machte, nachdem er noch einmal mit der Hand über den Brief gestrichen und diesen für den alten Herrn zurechtgerückt. Herr Banse hatte den Kneifer aufgesetzt und las, während die beiden Brüder rechts und links neben ihm standen und ihm in diskreter Weise über die Schultern sahen:

Les Plans. Hôtel des Diablerets.

Mein Herr! Der Unterzeichnete, Arzt in Aigle, hat die Ehre, Ihnen das Folgende mitzuteilen:

Gestern den 24., Nachmittags 2 Uhr, erhielt ich von Herrn Auguste Martin, dem mir wohlbekannten Besitzer des oben angeführten Hotels hierselbst, einen expressen Brief des Inhalts, mich schleunigst nach Les Plans begeben zu wollen, allwo ein erkrankter Gast seines Hotels meiner Hilfe dringend bedürftig sei. Meine anderen Berufsgeschäfte erlaubten mir nicht, dem Rufe alsbald Folge zu leisten, und Sie wissen, mein Herr, man braucht auf der steilen Fahrstraße von Aigle nach Les Plans zwei Stunden mindestens; so geschah es, daß ich erst um 5 Uhr 10 Minuten daselbst anlangte. Ich ließ mich sofort zu dem Patienten führen, an dem ich nach kurzer Diagnose ein so äußerst heftiges Hirnfieber konstatieren konnte, wie es mir in meiner dreißigjährigen Praxis noch nicht vorgekommen. Ich brauche, wohl nicht zu sagen, mein Herr, daß ich nichtsdestoweniger alles that, was die Wissenschaft für den Fall vorschreibt. Der Ausgang, mein Herr, ruht immer in Gottes Hand, und bei der überaus kräftigen Konstitution des Patienten war, wenngleich die Hoffnung, so doch nicht die Möglichkeit der Rettung ausgeschlossen. Ich darf und will Sie nicht, mein Herr, mit den Details der kurzen Krankengeschichte belästigen; nur das Eine muß ich, schon behufs der zu hoffenden Rekognition anführen, daß ich bei dem Patienten eine sieben Centimeter lange und verhältnismäßig breite und tiefe Kopfwunde fand, welche zehn bis vierzehn Tage alt sein mochte und, bereits in vollem Heilen begriffen, nicht wohl von selbst wieder aufgebrochen sein konnte, sondern entweder vom Patienten selbst im Delirium aufgerissen oder durch einen Schlag oder Stoß geöffnet war. Doch ist, wie gesagt, dieser Umstand nur als accessorisch zu betrachten und als irrelevant für den letalen Ausgang, den ich leider als bei meinem heutigen zweiten Besuche vor einer halben Stunde in meinem Beisein erfolgt konstatieren muß.

Dies, mein Herr, das rein ärztliche Detail, welches für den augenblicklichen Zweck genügen wird, der kein anderer ist, als zu erfahren, ob eine allerdings auf einem schwachen Grunde basierte Vermutung sich bewahrheitet. Der Verstorbene hatte bei seiner Ankunft vorgestern Abend seinen Namen nicht genannt, wie sich denn auch keine Visitenkarte oder sonstige Legitimation bei späterer Nachsuchung vorgefunden. Er hatte aber in der ersten Unterredung, in welcher Herr Martin bereits die Spuren schwerer Krankheit oder geistiger Störung deutlich bemerkt haben will, geäußert, daß er sich am Sonntag in Glion von einer größeren Gesellschaft getrennt, um hier im Gebirge einige Tage in Ruhe zu verbringen. Nun hat der Zufall gewollt, daß ein junger Bursche aus Les Plans am Sonntag in Glion gewesen ist und jetzt, von dem Tode des Patienten und jener seiner Aeußerung, zugleich von unserer Verlegenheit, die Persönlichkeit des Verstorbenen festzustellen, hörend, kommt, um zu sagen, daß am Sonntag in der That eine größere Gesellschaft in Glion, » Hôtel Bellevue«, gewesen sei, und er glaube, vernommen zu haben, daß dieselbe von Vevey gekommen, und zwar aus dem » Hôtel du Lac«. Sie wissen jetzt, mein Herr, weshalb ich Sie mit diesem langen Briefe belästigen muß.

Erlauben Sie mir für den Fall, daß meine vage Supposition zutrifft, zu Ihrer größeren Sicherheit eine kurze Beschreibung der Persönlichkeit des Verstorbenen hinzu zu fügen. Er ist ein Mann von ungefähr 30 Jahren, etwas über Mittelgröße, von schlankem, kräftigem Gliederbau, mit hochgewölbter Brust und auffallend schönen, beinahe frauenhaft zarten, wohlgepflegten Händen. Wenn der letztere Umstand fast allein hinreichte, den Verstorbenen in die Kategorie der besten Klasse der Gesellschaft zu stellen, so würde jeder Zweifel nach dieser Seite vor der aristokratischen Feinheit der Züge eines Gesichtes schwinden, dessen Schönheit das qualvolle Leiden und der Tod wohl beeinträchtigt, aber nicht zerstört haben. Der bläulichen Schwärze des leichtgelockten Haares und Vollbartes entspricht das tiefe Dunkel der Augen, die ich allerdings nur noch im Fieberglanze gesehen habe, deren Ausdruck aber auch sonst von besonderer Kraft und Intensität gewesen sein muß. Mit diesem rekonstruierenden Bilde des Arztes korrespondiert wiederum die Schilderung des Herrn und der Frau Martin von dem Benehmen des Verstorbenen bei seinem ersten Auftreten, das sie als besonders verbindlich und liebenswürdig bezeichnen, trotzdem der Ankömmling ihnen, wie bereits oben bemerkt, schwer krank erschien und nicht ohne ihre Hilfe von dem Wägelchen (aus Ormont-Dessus, wo er es requiriert) in das Haus gelangen konnte. Der Fremde – ein Beweis, daß er sich seines Zustandes bewußt war, wenn er auch auffallenderweise selbst auf Andringen seinen Namen nicht nennen wollte und allerdings bereits wenige Stunden später nicht mehr nennen konnte – übergab Herrn Martin sofort bei der Ankunft sein Portemonnaie (in welchem 300 Francs in Noten und 65 Francs 86 Centimes in Gold und kleiner Münze) mit der Bitte, dasselbe aufzubewahren und auch sonst für ihn zu sorgen. Die Aufzählung und Beschreibung der sehr eleganten Kleidungsstücke, welche der Verstorbene trug und in einem kleinen Koffer sonst bei sich führte, erfolgt auf einem besonders beigelegten Zettel.

Ich glaube keine Fehlbitte zu thun, mein Herr, wenn ich Sie ersuche, diesen Brief, welchen ich hier in Les Plans schreibe und selbst nach Aigle hinabnehme und dort auf die Post geben werde, und welcher folglich heute Nachmittag in Ihren Händen sein wird, in jedem Falle, auch in dem leider sehr möglichen, daß ich Sie unnötigerweise belästigt, durch ein Telegramm an meine Adresse in Aigle zu beantworten.

Von dem Ausfalle dieses Telegramms wird das weitere abhängen, insonderheit, ob der Verstorbene in Les Plans beerdigt werden oder der Körper wo immer hingeführt werden soll. Ich habe für beide Fälle die nötigen Dispositionen getroffen, wie denn auch selbstverständlich die Behörde in Les Plans von dem Ereignisse unterrichtet ist und mir überdies ihre guten Dienste nach jeder Seite bereitwilligst angeboten hat.

Auch Sie, mein Herr, werden bei Ihrer bekannten Humanität gern dazu beitragen, uns in den eventuell notwendigen weiteren Recherchen zu unterstützen und den Schleier zu lüften, welcher jetzt noch über einem Ereignisse liegt, das die tiefste Sympathie aller erregt, die bis jetzt davon berührt wurden.

Genehmigen Sie, mein Herr, die Versicherung meiner Dankbarkeit im voraus und der besonderen Hochachtung, mit welcher ich die Ehre habe zu zeichnen

Les Plans, 25. Oktober 1871.

Frédéric Ancermet. D. m. «

Herr Banse hatte die Lektüre beendet und starrte schweigend auf das verhängnisvolle Blatt.

Hier ist wohl jeder Zweifel ausgeschlossen, murmelte Herr Delajoux.

Ich sollte meinen, sagte der alte Herr mit demselben starren Blicke.

Und was wäre wohl zu thun? murmelte Herr Delajoux; ich sollte denken, wir müssen zuerst der Frau Baronin –

Herr Banse machte eine abwehrende Bewegung.

Nein, nein; es ist unmöglich – es ist zu viel – die arme Frau –

Er dachte ein paar Augenblicke nach und sagte energisch:

Er soll in Les Plans begraben werden – ihm kann's gleich sein – und wir ersparen den Kindern den Jammer – ich übernehme die Verantwortung. Telegraphieren Sie – der letzte Zug geht?

Sieben Uhr zwanzig, sagte Herr Delajoux.

Gut also: telegraphieren Sie, daß ich kommen werde – ich –

Der alte Herr nahm sein Lorgnon und, wischte es ab; seine runzligen Hände zitterten; die Brüder Delajoux warfen sich hinter seinem Rücken bezeichnende Blicke zu.

Pardon, Monsieur, sagte der Aeltere, wenn ich mir erlaube – es ist für heute dort eigentlich nicht mehr viel zu thun und das wenige – die nötige Besprechung mit Herrn Ancermet – mein Bruder Charles wird sich der kleinen Mühe –

Aber sehr gern, sagte Charles Delajoux.

Er kann jetzt sehr gut abkommen, selbst auf mehrere Tage –

Gewiß, gewiß! sagte Charles Delajoux.

Monsieur kann ja dann noch immer morgen hinüberfahren, nachdem Monsieur inzwischen die Frau Baronin vorbereitet hat, was doch nötig sein dürfte, während im Gegenteil, wenn Monsieur so unerwartet verreist, wo er hier von jedem in Anspruch genommen –

Und völlig unentbehrlich ist, ergänzte Charles Delajoux –

– das traurige Geheimnis –

– schwerlich bewahrt werden könnte, schloß Charles Delajoux.

Der alte Herr blickte von einem zum andern, indem er sich zugleich mit dem Zeigefinger eine Thräne abtrocknete, die ihm an der langen Nase herablief.

Ihr seid gute Menschen – Ihr beide, sagte er, und Ihr habt recht. Reisen Sie, Charles, in Gottes Namen! Aber bei, der Beerdigung oben in Les Plans –

Bleibt es, verlassen Sie sich ganz auf mich, ich werde mich genau an Ihre Instruktionen halten.

Der alte Herr hatte das Bureau verlassen, die Brüder in den Vorbereitungen nicht zu stören, welche die plötzliche Abreise notwendig machte. Er schlürfte durch den bereits dunklen Korridor mit einem Schritt, dessen Schwerfälligkeit ihm als etwas Ungewohntes peinlich auffiel.

Das soll nun eine Erholungsreise sein, murmelte er vor sich hin, man wird darüber wahrhaftig zum alten Manne, und eigentlich geht einen die Sache gar nichts an. – Die verfluchte Gutmütigkeit! – Armer, armer Kerl! – Hatte so schöne feurige Augen – und zu denken, daß die nun starr und verglast – und so zu sterben – da oben – zwischen den Eisbergen – allein – unter fremden Menschen – daß er's sich so zu Herzen nehmen würde – die Rackerhexe von Frau – und die Kinder – guter Gott, die Kinder! – Hätte so gern welche gehabt – Jahre meines Lebens freudig d'rum gegeben – und wenn man so sieht, was den armen Würmern, die doch nichts für ihr Leben können, im Leben passieren kann – die gute Lise – sie wird sie alle haben wollen – wer weiß – die Baronin beim besten Willen – sie ist arm wie eine Kirchenmaus und verschuldet überdies, mehr als sie denkt – die brave, prächtige Frau – wo will sie denn da hin?

Der alte Mann hatte schon eine Minute oder so an der Glasthür im Quervestibüle gestanden und in den grauen verlassenen Garten geblickt, dessen halbkahle Büsche der Wind zerzauste. Jetzt hatte er die Baronin aus den Bosketts kommen und sich auf die Pforte nach dem Quai zu bewegen sehen. Er überlegte, ob er ihr folgen solle. Aber sie erfuhr es noch immer zu früh. Und die gute Lise saß oben schon seit zwei Stunden allein. Sie war ja geduldig – aber am Ende – er wollte es doch einmal erst seiner Alten sagen.


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