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X.

Ungefähr um die Zeit, als die Freunde von dem Hôtel du Signal aufbrachen, fuhr auf dem kleinen, ein paar tausend Schritt vom Hotel entfernten Bahnhofe der Station Chexbres der Zug Bern-Lausanne-Genf vor. Ein Herr, welcher bereits seit einer Viertelstunde langen Schrittes den Perron auf und ab gewandelt war und oft nach den Bergen geschaut hatte, aus denen der Zug hervorkommen mußte, lief jetzt, noch bevor derselbe hielt, an der Wagenreihe hin, die mit Nr. II bezeichneten Waggons nicht beachtend, um desto eifriger in die erster Klasse zu blicken. Bei den Gepäckwagen hinter der Lokomotive blieb er einen Moment stehen, kam dann auf seinem Wege zurück, aber langsamer und einmal über das andere mit lauter Stimme »Mister Edward!« rufend. Aus den offenen oder schnell geöffneten Fenstern fuhr hier und da ein Kopf, um alsbald wieder zu verschwinden. Der Rufer hielt sich mit Entschuldigungen nicht auf, beantwortete höchstens, trotz seiner Eile, einen besonders zornigen Blick mit einem humoristischen Grinsen, bei dem nächsten Koupee nur noch lauter sein »Mister Edward!« schreiend. Und nun zeigte sich an dem letzten Fenster des letzten Wagens ein von dichtem rötlichen Barte umrahmtes verschlafenes, schönes Gesicht. Der Rufer gestikulierte mit beiden Armen, sprang dann das Treppchen hinauf in das Koupee hinein, bemächtigte sich der Handsachen des endlich Gefundenen und wechselte mit ihm ein paar schnelle Worte, worauf beide eilfertig das Koupee verließen.

Eine halbe Minute später rollte der Zug weiter, die Freunde standen auf dem Perron und schüttelten sich – zum erstenmale – die Hände.

Das war zur rechten Zeit! sagte der Rufer und zeigte dabei zwischen den zurückschnellenden, schmalen, bartlosen Lippen zwei Reihen blendend weißer Zähne. Mein lieber alter Junge!

Mein lieber Bob!

Noch ein kräftiger Druck, und die verschlungenen Hände ließen sich los. Bob winkte einen Mann herbei, den er bereits vorher auf alle Fälle gedungen hatte. Der Mann schulterte das Handgepäck und schritt vorauf den Weg nach dem Dorfe Chexbres; die Freunde folgten.

Lassen wir dem Burschen einen kleinen Vorsprung, sagte Bob, ich habe herausgefunden, daß auf dem Kontinente im Durchschnitt jeder zweite Mensch Englisch versteht, vielleicht ist das ein zweiter Mensch. Wohl, Edward, Sie haben mein Telegramm von heute Nacht in Bern nicht erhalten?

Nein.

Dachte es mir. Diese Schweizer Telegraphen-Bureaus werden noch mein Tod sein, zu viel Unterröcke drin, sehr human, aber arbeitet verteufelt schlecht, die Maschine. Mußte Sie also hier abfassen, damit Sie nicht unnötig nach Genf rasselten. Sie ist augenblicklich in Clarens und wird heute Mittag zwei Uhr fünfunddreißig Minuten mit dem Dampfer in Vevey eintreffen.

Das ist hier herum?

Bob lächelte.

Hier herum, ganz richtig. Zwei gute Stunden von hier zu Fuß, mit dem Dampfschiff von St. Saphorin nur eine und eine halbe. Ich verlange von Ihnen nicht, lieber Edward, daß Sie diese katholischen Namen kennen oder wissen, wo die betreffenden Nester liegen. Verlassen Sie sich in dieser Hinsicht auf mich.

In dieser Hinsicht? In jeder.

Sie sind sehr gütig, und ich werde mir erlauben müssen, von diesem Ihrem löblichen Vertrauen den ausgedehntesten Gebrauch zu machen. Doch davon später. Ich nehme an, daß Sie zuvörderst eine etwas ausführlichere Relation meiner Hedschra von Rom bis hierher hören möchten, als in meinen kurzen Telegrammen zu lesen möglich war, besonders in anbetracht des Verlustes von circa fünfzig Prozent derselben, wie ich kalkuliere.

Bitte, erzählen Sie.

Heute vor drei Wochen, am zweiundzwanzigsten September, Morgens zehn Uhr fünf Minuten, befand ich mich auf dem Bahnhof Rom-Florenz, um einem Freunde, der nach England zurückging, Lebewohl zu sagen. Der Freund war ein Kollege von mir, brauche ich zu erwähnen, daß er nicht kam? Das Wetter sei zu schön, er habe ein paar Tage zugelegt, sei heute nach Albano, um von Rosaura den, ich weiß nicht, wievielten Abschied zu nehmen. So berichtete ein zweiter Kollege, ein deutscher Maler, den ich auf dem Bahnhof traf, sehr ärgerlich, denn besagter zweiter Kollege lebte in der anmutigen Ueberzeugung, daß alle Mädchen in Rom und zehnmeiligem Umkreis in ihn verliebt seien. Er war auch augenblicklich wieder in seinem etwas anstrengenden Dienst, wie ich aus zwei Blumenbouketts, groß wie Wagenräder, sah, die er im linken Arm balancierte, während er sich mit der rechten Hand den Henriquatre strich. Ich ließ den Gecken stehen, der mir überdies eine Abomination ist, und wollte fort, als durch das Portal zwei Damen eintraten, eine ältere, ziemlich korpulente, und eine junge – ja, lieber Edward, nennen Sie's ein Wunder oder wie Sie wollen! Alles in allem, glaube ich, die Augen sind's gewesen. Sie hatten mir, noch bevor die Katastrophe in Ballycastle hereinbrach, gelegentlich geschrieben, Miß Angela habe die wundervollsten blauen Augen und – gleichviel: wie ein Blitz fuhr mir's durch die Seele: das könne, das müsse Ihre geliebte Verlorene sein. Während ich noch vor Schreck über meine Entdeckung ganz starr dastehe, kommt auch schon der Mann mit den beiden Bouketts herangestürzt, auf die Damen zu, jeder eins überreichend, das mit den weißen Rosen der alten, das mit den roten der jungen.

Alte Bekanntschaft, denke ich bei mir, während Mr. Benvenuto Vogel – das ist sein Name – Vogel ist bird auf Englisch, und ein bunter Vogel ist's, kann ich Ihnen sagen – gut also, während Mr. Vogel geht, den Damen die Billets zu besorgen. Ich, ihm nach, sehe ihm über die Schulter, während er das Geld aufzählt: Florenz – wußte also auf alle Fälle, wohin; aber freilich ein bißchen Sicherheit mehr konnte nicht schaden. Mr. Vogel hat seine Billets – zwei erster Klasse und eines zweiter für eine Kammerjungfer, welche die Damen begleitete – hat seine Billets bezahlt und wendet sich.

Einen Augenblick, Mr. Vogel!

Ich habe keinen Augenblick.

Dann einen halben; wer sind die Damen?

Die alte Dame ist die Baronin – irgend ein Name, den ich nicht verstand.

Und die junge?

Er stutzte. Weshalb?

Ich möchte doch wissen, wie das schönste Mädchen heißt, das ich in meinem Leben gesehen.

Er lachte selbstgefällig: Angela – und wieder ein Name, den ich nicht verstand. Aber der Vorname stimmte, das war die Hauptsache.

Mr. Vogel, der wirklich keinen Augenblick zu verlieren hatte, stürzte davon, ich drängte mich an den Schalter: Florenz, erste Klasse! Fünf Minuten später saß ich in einem Koupee, unmittelbar hinter den Damen, und der Zug ging ab.

Das war eine edle That, sagte Edward.

Edel? Wieso? Wußte ich doch, daß Edward Gordon seine rechte Hand darum gegeben haben würde, konnte er dadurch den Aufenthalt von Miß Angela erfahren; und mich Hals über Kopf in eine Angelegenheit zu stürzen, die nur halbwegs wie ein Abenteuer aussieht, kostet mich überdies, wie Sie wissen, gar nichts. Sie können nicht leugnen, daß dieses hier einen hübschen Anlauf zu einem Abenteuer nahm. Bedenken Sie, ich hatte nur noch fünf Lire in der Tasche, nichts bei mir, als was ich auf dem Leibe trug, und was das Schlimmste war, ich hatte noch nicht gefrühstückt. Aber ich vergaß das alles, ja, ich dachte nicht daran in der gloriosen Gewißheit, daß ich in diesem wüsten Ocean, Welt genannt, die kostbare Perle gefunden, an der meines Edwards Herz hing; und daß ich besagte Perle, komme was da wolle, nicht wieder aus den Augen verlieren dürfe und verlieren würde, ich müßte denn vorher meine Augen selbst verlieren und meine Sinne dazu. Lassen Sie meine Hand in Ruhe, Herr! Dies ist bis jetzt nichts als ein fabelhafter Zufall, kombiniert, wenn Sie durchaus wollen, mit einem genialen Einfall, wie ihn Gott Apollo manchmal seinen Söhnen schenkt. Auf das Folgende bilde ich mir allerdings etwas ein, nur schade, daß ich dabei eine böse Entdeckung machte: Ich habe meinen Beruf verfehlt; ich glaubte, ich sei zum Maler, und ich bin zum Detective geboren. Sie werden mir recht geben, wenn Sie den weiteren Verlauf hören. Gut! Ich hatte also fünf Lire in der Tasche; davon verwendete ich zwei auf der nächsten Station zu einem Frühstück – bestehend aus einem Hühnerflügel und einem Schluck Marsala – und zwanzig Cents auf der nächsten Station, wo der Zug länger hielt, zu einer Cartina, auf welcher ich an meinen Bankier schrieb, er solle mir auf demnächstige telegraphische Ordre nach Florenz oder wohin ich sonst bestimmen würde, tausend Lire anweisen; und zu einer zweiten an einen englischen Kollegen, er solle meine Wohnung zuschließen und den Schlüssel in die Tasche stecken, da ich plötzlich eingetretener Umstände halber auf unbestimmte Zeit verreisen müßte. Sie sehen, ich kalkulierte, daß die Damen sich in Florenz aufhalten würden. Doch das war zehn gegen eins. Sie hatten Billets nur bis Florenz, und einmal in Florenz in der Tribuna – kurz, ich machte mir darüber keine Sorge. Der Weg von Rom nach Florenz ist, wie Sie wissen, ziemlich lang; das fanden der Hühnerflügel und der Schluck Marsala auch; aber ich mußte meine zwei Lire und die paar Cents zu Rate halten, und beschwichtigte Hunger und Durst dadurch, daß ich von Zeit zu Zeit auf den Stationen einen Blick in das Nachbar-Koupee warf. Ich sage Ihnen, dem alten Harpagon, wenn er den Kasten öffnet und die wohlgezählten blanken Louisdor an Ort und Stelle findet, kann nicht wohliger zu Mute sein. Bei Jupiter, ein schönes Mädchen!

Bob war stehen geblieben, einer jungen Bauerndirne nachzublicken, die soeben mit einem schüchternen Gruß an ihnen vorübergeschritten war. Auch das Mädchen wendete sich, indem sie langsamer weiter ging, und blieb dann ebenfalls stehen.

Sie scheint etwas von uns zu wollen, sagte Bob, ich muß sie fragen, entschuldigen Sie.

Er hatte mit langen Schritten das Mädchen bald eingeholt. Edward sah, wie die Kleine aus einem Körbchen, das sie am Arme trug, etwas nahm und dem Freunde zeigte, wobei sie, immer eifrig sprechend, wiederholt in eine bestimmte Richtung deutete. Bob schüttelte den Kopf, nahm aber dann das Dargebotene und griff in die Tasche, dem Mädchen ein Geldstück aufzunötigen, worauf er höflich den Hut zog und nun, während jenes eilig seinen Weg fortsetzte, zurückkam.

Was hat's gegeben? fragte Edward, als der leichtblütige Freund wieder an seiner Seite war; was ist das?

Ein Skizzenbuch, wie Sie sehen – beim Jupiter – das ist von einer Meisterhand!

Er schlug eifrig Blatt um Blatt des mit Bleistiftskizzen halbgefüllten Heftes um, in immer neue Ausrufe der Bewunderung ausbrechend. – Sehen Sie diese Felsen mit dem Wasserfall! und diese Hütte unter der mächtigen Linde! Da ein Stück vom Heidelberger Schloß! Da die Kühe auf der Weide! Da die Bauern in der Schenke! Bei meiner Ehre, der Bursche kann alles! Und wie! Mit ein paar Strichen, ein paar Schatten – und es steht und liegt, wie's Gott der Herr geschaffen hat. Das kann keine Dame gemacht haben; es ist unmöglich, jede Linie verrät den Mann, und jedes Blatt ist hundert Pfund unter Brüdern wert, solange der Mann lebt, und wenn er hundert Jahre tot ist, ist's unschätzbar.

Wie ist das Mädchen dazu gekommen? fragte Edward.

Wie es dazu gekommen? erwiderte Bob, der noch immer im Anblick der Skizzen schwelgte, ja, lieber Edward, da fragen Sie mich zu viel. Die Kleine schnatterte so schnell und in einer Sprache, die sie vermutlich für französisch hielt, und hatte so blendend weiße Zähne, wenn sie lachte, daß ich meine besten Fratzen schnitt, um sie nicht aus dem Lachen kommen zu lassen. Das beförderte das Verständnis auch eben nicht; was ich aber verstanden, ist: sie hat das Skizzenbuch und ein Damentaschentuch, das sie mir ebenfalls zeigte, gestern Abend gefunden auf der Chaussee von Clarens nach Vevey. Dann kam verschiedenes von einem Monsieur und une jeune dame und abermals une jeune dame und einem Monsieur, und ich vermute, dieser Monsieur sollte ich sein – möglicherweise hat sie mich gestern in Clarens gesehen, wo ich gegen Mittag angekommen im Gefolge unserer Damen, mit denen ich freilich nicht am Abend zwischen Clarens und Vevey auf der Chaussee promeniert bin. Mit dem Taschentuch, habe ich ihr gesagt, solle sie ihr eigenes Stumpfnäschen putzen – das Buch freilich –

Bob fing wieder an, in dem Buche zu blättern. Wem es nur gehören mag, kenne nicht drei Künstler, die das fertig brächten. Hätte doch wohl ein wenig genauer –

Er wendete sich; das Mädchen war bereits in dem Wäldchen, das sie vorhin passiert hatten, verschwunden.

Nun habe ich auch noch den Namen ihres Dorfes vergessen – wohl! Ich würde schließlich doch nicht mehr aus ihr herausgebracht haben – also zurück, lieber Edward, nach Florenz, wo wir eben angekommen sind, wenn ich nicht irre.

Er hatte das Buch in die Tasche gesteckt und wendete sich zum Freunde.

Wir waren noch auf dem Wege dahin –

Waren wir? So lassen Sie uns angekommen und einlogiert sein, in demselben Hotel selbstverständlich: d'Inghilterra, am Lungarno. Ich hatte mich nämlich in eine Ecke desselben Hotel-Omnibus gedrückt, in welchen die Damen gestiegen waren, und so betrat ich hinter ihnen her das Haus und forderte und erhielt mein Zimmer, bevor der Oberkellner inne wurde, daß von dem abgeladenen, glücklicherweise sehr beträchtlichen Gepäck mir auch nicht die kleinste Handtasche gehörte.

Ebenso speiste ich dann, mit meinen zwei Lire und achtzig Cents in der Tasche, sehr ausreichend und sehr vergnüglich zu Abend in demselben Speisezimmer, in welchem auch die Damen ihren Thee einnahmen. Und hier hatte ich denn nun eigentlich zum erstenmale Gelegenheit, Miß Angela in aller Muße zu betrachten. Nun, lieber Edward, jeder Mann, der liebt, wünscht zu wissen, wie sie, die er liebt, dem Auge des Freundes erscheint.

Ich kann nur sagen, schönere Mädchen habe ich wohl gesehen, aber keines, dem der Adel der Seele so deutlich sichtbar auf Stirn und Lippen gedrückt wäre, daß es Einen durchschauert, wie wenn man zum erstenmale in den St. Petersdom tritt und man gleich niederfallen und anbeten möchte und sich bloß vor den andren schämt, die dabei stehen und gaffen und in ihrem Murray blättern, ob es sich auch alles richtig so verhält. Das heißt: ich habe doch wenige gefunden, die gegen diesen Zauber unempfindlich gewesen wären. Ich bin ein paarmal auf der Straße hinter ihr her geschritten, bloß um mich zu überzeugen, daß unter hundert Begegnenden nicht einer war, der nicht verwundert zu ihr hingeblickt hätte. Ja, oft genug kam es vor, daß Leute im eifrigen Gespräche scheinbar achtlos vorübergegangen waren, und ich sie schon verloren geben wollte, bis sie plötzlich, wie von einer unsichtbaren Hand gepackt, stehen blieben und sich wendeten, um ihr nachzuschauen. Vergaß doch der alte Bettler seine Rolle, der in Verona am Fuße der Treppe zum großen Dome saß. Ich hätte darauf geschworen, daß der graue Schelm mit seinem kläglichen un povero cieco! wahr und wahrhaftig blind sei, und ganz Verona hätte darauf geschworen, und da geht sie vorüber und das Wort bleibt ihm im zahnlosen Munde stecken, und er ruft laut zum Ergötzen aller Marktweiber mit zum Himmel erhobenen Händen: » Dio mio! quanto è bella!«

Bob schwieg plötzlich. Es war das erste Mal, daß er den Eindruck, den Angela auf ihn gemacht, in Worte brachte, und jetzt fühlte er zu seinem Schrecken, wie so viel mächtiger dieser Eindruck war, als er selbst gewußt. Er warf einen scheuen Seitenblick auf den schweigsamen Freund; das schöne Gesicht war so ruhig wie immer, die blauen Augen schienen nur zu fragen, weshalb der andre denn nicht fortfahre. In Bobs warmblütigem Künstlerherzen wallte ein zorniger Aerger auf, und dann mußte er lachen –

Nun wahrhaftig! rief er; Sie freilich würden es selbstverständlich finden, wenn sich die Wunder des Evangeliums wiederholten und ihre Nähe Blinde sehend und Lahme gehend und Stumme redend machte. Ich bin der Letzte, Ihnen das übelzunehmen, obgleich ich Ihren Wunderglauben nicht teile oder doch nur so weit, als ich in anbetracht meiner Freundschaft dazu verpflichtet bin. Ich habe zum Beispiel etwas an Miß Angela auszusetzen, was in meinen Augen sehr schwer wiegt! sie lacht nicht, ich meine jenes breite offene Lachen, welches die Seele befreit und reinigt wie eine kräftige Tramontana die Sciroccoluft; ich habe sie nur lächeln sehen, und das Lächeln selbst war noch voll Schwermut, wie in den roten Lichtern gewisser Sonnenuntergänge bereits der Regen des nächsten Tages zittert. Sagen Sie, Edward, haben Sie sich wohl jemals gefragt, ob es geraten ist, seine Seele an ein Weib zu geben, das nicht lachen kann?

Nein, niemals.

Dachte ich mir – da, das ist der Leman.

Sie hatten die kurze öde Strecke auf dem Hochplateau zwischen Station und Dorf Chexbres und das Dorf selbst hinter sich und standen am steilen Rande der Uferhöhe. Aber das herrliche Panorama, das sich nun, von eitel Sonnenschein überstrahlt, vor ihnen ausbreitete, schien keinen Eindruck auf Edward zu machen. Zerstreut hörte er zu, während Bob ihm die Orte deutete: unmittelbar zu ihren Füßen Rivaz, wo hinab nur ein halsbrecherischer Fußpfad, weiter links St. Saphorin, zu welchem die Fahrstraße in jähen Zickzacklinien führte; noch weiter, in der Tiefe einer Bucht und jetzt eben mit den ersten Häusern hinter einer vorspringenden Höhe heraustretend, Vevey; dann –

Das ist alles sehr schön, sagte Edward, aber ich fürchte, wir versäumen den Dampfer, von dem Sie vorhin sprachen.

Sehen Sie den Punkt da rechts auf dem Wasser? rief Bob. Das ist er, steuert eben auf Ouchy zu, braucht eine volle Stunde bis St. Saphorin. Wir haben also Zeit genug, und ich bin, offen gestanden, müde wie ein Jagdhund. Wo war ich in meiner Relation stehen geblieben? Aber es kommt nicht darauf an; Sie hätten doch nur das Menu und nicht die süßen Speisen, von denen ich Glücklicher von Zeit zu Zeit mit der größten Vorsicht naschen durfte. Die Vorsicht war nötig, denn die Damen durften nicht merken, daß sie verfolgt wurden. Sie haben es nicht gemerkt; aber welche Welt von Mühe und Schlauheit hat es mich gekostet! Während ich ihnen von Stadt zu Stadt auf den Fersen folgte, immer in demselben Hotel logierte, mit demselben Zuge kam und ging, sie stets im Auge behielt und sozusagen immer am Faden hatte, war und blieb ich ihnen ein harmloser Reisender, der, wie es ja so häufig passiert, im ganzen dieselbe Route hat, nur daß er bald langsamer, bald schneller reist, auch ein paar Tage verschwindet, dann wieder auftaucht, um abermals zu verschwinden, und so weiter. Ich hatte das auf die Dauer für undurchführbar gehalten und mir nach vierzehn Tagen in Turin ein paar falsche Bärte gekauft, einen roten und einen schwarzen, mir auch in der Einsamkeit meines Zimmers die verschiedenen Rollen, die ich spielen wollte, bis auf die kleinsten Gesten einstudiert, aber ich ließ die Bärte mit den dazugehörigen Perücken im Koffer – es ging auch ohne sie.

Ich sollte meinen, sagte Edward, und da wollen Sie mir eine Frage erlauben, die mir schon lange auf den Lippen schwebt. Weshalb gaben Sie sich all diese Mühe, für die ich Ihnen gewiß sehr dankbar bin? Aber wäre es nicht einfacher und sicherer gewesen, wenn Sie sich den Damen zu nähern gesucht, sich ihnen vorgestellt, Ihre Dienste angeboten hätten und so weiter? Wie leicht konnte Ihnen bei aller Ihrer Vorsicht die Spur verloren gehen!

Und das that sie denn auch, erwiderte Bob trocken, vor acht Tagen in Genf, gründlich. Die Damen hatten im Hotel gesagt, daß sie eine Woche bleiben würden, und ich hatte mich darauf eingerichtet und Ihnen so nach Christiania telegraphiert. Am nächsten Morgen waren sie verschwunden, niemand im Hotel konnte Auskunft geben; die Damen seien in einem Fiaker fortgefahren, man wisse nicht wohin. Aber wohin kann man von Genf nicht gehen? Paris, Lausanne, die Montblanc-Tour, die Seerunde. Ich mußte eine Entscheidung treffen; mein Stern hatte mich verlassen; ich traf die falsche. Ich machte die Runde um den See, lief jedes Nest an; Sie werden jetzt begreifen, weshalb ich hier nur einen Dampfer zu erblicken brauche, um zu wissen, woher er kommt und wohin er will und wieviel Uhr es ist auf die Minute. Und während ich hier die Dividende der Dampfschiffahrt-Aktien zu noch nie dagewesener Höhe hinauftreibe, thun die Damen, worauf ich zuletzt geraten hätte: sie machen in dieser späten Jahreszeit die Montblanc-Tour über Chamounix und so weiter, und so treffen wir uns vorgestern Abend, ich von Montreux, sie von Martigny kommend, in Villeneuve, dem Dingsda in der äußersten Ecke, wo sich das Thal der Rhone öffnet. Sie können sich meine Freude denken, es war eine Wiederholung der Scene auf dem Bahnhofe in Rom, nur daß Wiederfinden noch süßer ist als Finden. Diesmal hatte mich die unfreiwillige achttägige Trennung und die holde Gewißheit, daß Sie nun endlich heute eintreffen würden, kühn gemacht. Ich that, was Sie mir eben in Ihrer weit vorausschauenden Klugheit geraten: näherte mich den Damen, stellte mich ihnen vor – nota bene unter dem Namen, mit welchem ich mich auf der Reise in alle Fremdenbücher eingetragen: Augustus Temple – ein hübscher, solider Name, nicht wahr? – bot ihnen meine Dienste an und so weiter. Ich war groß, sage ich Ihnen, besonders mit meinem Deutsch, das ich so schlecht sprach, als wäre ich nicht zwei Jahre, sondern zwei Tage in München gewesen. Enfin, wir wurden gute Bekannte, und so durfte ich heute Morgen – wir waren gestern von Villeneuve nach Clarens übergesiedelt – die alte Dame, die nach dem Telegraphen-Bureau suchte, anreden, zurechtweisen und aus ihr herausbringen, daß es ihnen in Clarens nicht gefalle und sie beschlossen hätten, es auf ein paar Tage mit Vevey zu versuchen. Ich nannte das » Grand Hôtel du lac« als besonders empfehlenswert. Erstens hatte ich wirklich zwei Tage vorher eine Nacht dort sehr gut logiert, und dann wußte ich in besagtem Hotel eine gewisse Person wohnen, die, seitdem ich sie entdeckt, in meinen Kalkulationen eine große Rolle spielt. Können Sie ahnen, wer diese Person ist?

Bob war stehen geblieben und blickte mit seinen scharfen hellen Augen Edward gerade ins Gesicht.

Nein, ich ahne es nicht.

Lady Ballycastle.

Das ist unmöglich.

Auch Edward war stehen geblieben; in dem schönen Gesicht hatte es kaum merklich gezuckt; er schüttelte den Kopf und wiederholte, weiter schreitend, in völlig ruhigem Tone:

Das ist unmöglich! Lady Ballycastle wollte bis zum 1. November in Ballycastle bleiben und für den Winter nach Paris gehen; Sie irren sich entschieden.

Aber, lieber Edward! rief Bob ungeduldig, seit wann gehört es denn zu den Unmöglichkeiten, daß Lady Ballycastle ihre Entschlüsse über Nacht ändert? Und was den Irrtum betrifft: ich habe sie mit diesen meinen Augen gesehen, und ich kann Ihnen sagen, ich hatte keinen geringen Schrecken, als sie mir plötzlich mit Miß Flinch gegenüberstand. Ich erkannte sie auf den ersten Blick, obgleich sie sich sehr verändert hat seit den Tagen, wo ich Ihren pflichtschuldigen Besuchen in Ballycastle von Wicklow-Hall aus meine jugendliche Assistenz lieh. Glücklicherweise war die Erkennung nicht gegenseitig. Natürlich! wie konnte Lady Ballycastle ahnen, daß aus dem spindeldürren, langbeinigen Buben von damals ein so schöner stattlicher Kerl geworden sein solle.

Bob lachte; das Lachen kam ihm nicht von Herzen, und er brach kurz ab.

Die Freunde gingen ein paar Momente schweigend nebeneinander, dann fragte Edward:

Und warum machen Sie mir diese Mitteilung erst jetzt?

Bob brachte es nur noch zu einem flüchtigen Lächeln.

Ich wollte Ihnen die Freude nicht verderben, sagte er – und dann ...

Dann?

Ich wollte an die Mitteilung eine Bitte knüpfen, von der ich hoffe, daß Sie derselben ein willigeres Ohr leihen würden, wenn ich Ihnen zuvor durch die Erzählung meiner Odyssee den zwingenden Beweis meiner unvergleichlichen Schlauheit und Weisheit geführt.

Was ist es?

Bob war abermals stehen geblieben; aus seinen beweglichen Zügen war die letzte Spur von Lustigkeit verschwunden und aus seiner Stimme der fröhliche, helle Klang, als er jetzt langsam, jedes Wort gleichsam abwägend, sagte:

Daß Sie nicht sofort nach Vevey gehen, sondern da unten in St. Saphorin oder irgendwo in der Nähe bleiben und sich verborgen halten und nicht eher zum Vorschein kommen, als bis ich sage, daß es Zeit ist.

Was verstehen Sie darunter?

Ich kann Ihre Frage nur mit einer Gegenfrage beantworten, die Sie mir nicht übelnehmen dürfen, und in der zugleich die Erklärung des sonst allerdings völlig sinnlosen und verrückten Inkognito liegt, in welches ich mich auf der ganzen Reise gehüllt habe: Glauben Sie, daß Miß Angela Sie liebt?

Um das zu erfahren, bin ich vom Nordpol bis hierher vierzehn Tage und Nächte gereist.

Und warum müssen Sie das jetzt erst erfahren?

Weil ich nicht den Mut oder, wenn Ihnen das von mir etwas wunderlich klingt, weil ich nicht die Zeit hatte, mich zu erklären, solange sie in Ballycastle weilte; und sie aus Ballycastle verschwand, ohne daß es mir möglich war, das Versäumte nachzuholen. Aber das wissen Sie ja alles; warum kommen Sie jetzt noch einmal damit?

Werden Sie nicht ungeduldig; man kann in solchen Verhältnissen nicht positiv genug sein. Also: Sie werden jetzt ohne Zaudern Miß Angela die verhängnisvolle Frage vorlegen. Darauf gibt es bekanntlich zwei Antworten. Wir wollen mit dem unwahrscheinlicheren Falle anfangen – die Antwort lautet: Nein!

So ist die Sache vorbei, und ich kann wieder nach Norwegen gehen und Bären schießen.

Gut. Oder die Antwort lautet: Ja.

Es ist mein herzlicher Wunsch.

Auch der meine; soviel ich weiß, ist es nicht der von Lady Ballycastle?

Ganz gewiß nicht.

Sie drohte Ihnen mit Enterbung, falls Sie Miß Angela heirateten, ja, falls Sie nur wagten, sich Miß Angela jemals wieder zu nähern. Es ist nicht Ihre Schuld, daß Ihnen das unmöglich gewesen ist und Sie also beim besten Willen nicht gegen Lady Ballycastle ungehorsam sein konnten. Gleichviel. Sie sind überzeugt, daß Lady Ballycastle ihre Drohung wahr macht?

Ich muß wenigstens darauf gefaßt sein.

Gefaßt sein ist alles, sagt Hamlet; ich sage: Es reicht noch nicht ganz. Wieviel haben Sie wohl so ungefähr während dieses letzten Jahres verbraucht? Oder was hat Ihnen nur der Jagdausflug nach Norwegen gekostet?

Ich werde mit meiner Frau keine Jagdausflüge nach Norwegen machen.

Gewiß nicht, wenn es Ihnen am Nötigen fehlt, aber Sie werden doch mit ihr leben wollen; und wovon, wenn ich fragen darf?

Ich kann jederzeit in mein Regiment wieder eintreten.

Um zwei oder drei Jahre später dem Klima zu unterliegen und eine junge Frau mit einem oder zwei Kindern in Armut zurückzulassen. Die Perspektive hat für niemanden viel Anziehendes; für Sie, wie ich Sie kenne, muß sie in ihrem letzten Teil einfach unerträglich sein.

Ich habe noch eine andere Aussicht, die mir das Testament meines Großvaters eröffnet; aber lassen wir das, und, bitte, sagen Sie mir ohne weitere Umschweife, wo Sie hinaus wollen?

Einfach darauf: Sie sollen die Chance mitnehmen, welche Ihnen ein unerhört glücklicher Zufall in die Hände spielt. Sie sollen das Wiedersehen zwischen Lady Ballycastle und Miß Angela vor sich gehen lassen und die Wirkung abwarten, von der ich das Allerbeste hoffe. Sie haben mir geschrieben, daß Miß Angela, bis die Katastrophe kam, trotz alledem einen ungeheuren rätselhaften Einfluß auf Ihre Mutter ausgeübt; daß Sie und auch Mr. Wicklow das Gefühl haben, als ob Ihre Mutter bereue, was sie damals in der ersten Raserei des Zornes gethan und gesagt, daß sie wenigstens seitdem von womöglich noch tolleren Launen heimgesucht würde wie früher, und alles in allem, bei doch nun auch zunehmenden Jahren, mit Miß Flinch als beständiger Begleiterin, ein überaus trostloses Leben führe. Nun lassen Sie plötzlich in dies trostlose Leben hinein das verbannte, vielleicht mit heimlichen Seufzern zurückgewünschte, halb verhaßte, halb angebetete wunderbare Mädchen treten, nicht freiwillig, sondern ganz offenbar zufällig, absichtslos – ich bin überzeugt, Ihre Mutter wird erschüttert, hingerissen sein, und eine vollständige Aussöhnung ist das Werk, wenn nicht des ersten Augenblicks, so doch sicher der nächsten Tage. Erscheinen Sie aber zugleich mit Miß Angela in Vevey und vor Ihrer Mutter, so wird sie – so muß sie alles für ein abgekartetes Spiel halten, für einen gewaltsamen Versuch, sie zu überrumpeln; sie wird sich dagegen mit Händen und Füßen wehren, und Ihr Spiel, lieber Freund, steht schlechter als je: ja, Sie haben es für immer verloren, einfach deshalb, weil Sie zu stolz sein würden, es nach diesem einen verfehlten Versuch jemals wieder zu erneuern.

Gut, aber einmal muß ich doch aus der Verborgenheit hervortreten.

Gewiß; aber – merken Sie wohl – von mir herbeigerufen: von Ihrem Freunde, der Ihre Liebe zu Miß Angela kennt, der sich meinetwegen zu illusorischen Hoffnungen hat hinreißen lassen durch die entente cordiale, welche er zwischen Lady Ballycastle und Miß Angela etablirt sieht und Ihnen telegraphiert, aber nicht nach Norwegen, sondern nach London, wohin Sie mittlerweile zurückgekehrt sind. Nun sagen Sie: habe ich recht?

Für Sie ja, für mich nicht –

Dann habe ich eben nicht recht.

Seien Sie mir nicht böse, lieber Bob, es ist nicht anders. Ich gehe Schleichwege ungern selbst auf der Jagd; und eine Rolle zu spielen, ein anderer zu scheinen, als ich bin, das habe ich niemals im Leben versucht, und thäte ich's, würde es mir verteufelt schlecht zu Gesicht stehen. Ich bin Ihnen unendlich dankbar für die Welt von Arbeit, die Sie meinethalben gethan haben. Aber diese Arbeit ist gethan –

Das bestreite ich eben: noch nicht zur Hälfte ist sie gethan; Sie sind im Begriff, wieder einzureißen, was ich so mühsam aufgebaut, als wär's ein Kartenhaus. Und das nennen Sie, mir für meine Mühe dankbar sein? Eine eigentümliche Sorte von Dankbarkeit fürwahr!

Es thut mir sehr leid, Bob Swift, daß Sie an meiner Dankbarkeit zweifeln; in der That sehr leid.

Ich zweifle nicht an Ihrer Dankbarkeit, Edward Gordon; aber –

An meinem Verstande, mag sein; mir wurde das Lernen immer schwer – Sie wissen es besser als irgend jemand – verzeihen Sie, wenn ich auch diesmal die Lektion nicht begreife. Aber wohl begreife ich, daß Sie ein Opfer von mir fordern dürfen, welches ich jedem andern verweigern würde. Es sei also, wie Sie wünschen. Ich werde Sie allein nach Vevey gehen lassen –

Das wird nicht einmal nötig sein, unterbrach ihn Bob; vor der Stadt, eine ganze Strecke von ihr entfernt und auf der Seite, von welcher wir kommen, liegt ein neues großes Hotel; in dem können Sie bleiben; Sie sind da eben so sicher wie in St. Saphorin, und ich habe Sie auf alle Fälle in der Nähe.

Sehr gut, und auf einen dieser Fälle möchte ich Ihre Aufmerksamkeit lenken. Es wäre doch möglich, daß Ihre Hoffnungen nicht in Erfüllung gingen und das Wiedersehen meiner Mutter und Miß Angelas in einer Weise geschehe, die jede Möglichkeit einer Versöhnung ausschließt. Wollen Sie dann, ohne eine kostbare Zeit verstreichen zu lassen, die vielleicht nie wieder einzubringen ist, ja, ohne einen Augenblick zu warten, mich davon benachrichtigen und mir die Freiheit meines Handelns wiedergeben? Wollen Sie?

Er hatte die Hand ausgestreckt, in welche Bob zögernd die seine legte.

Ich verspreche es, sagte er; aber ich gestehe, ich thue es ungern. Es scheint mir nicht die Handlungsweise eines klugen Mannes, das Beil deshalb wegzuwerfen, weil der Baum nicht auf einen Streich gefallen ist. Indessen, ich muß bedenken, es ist schließlich Ihre Angelegenheit, um die es sich handelt, und das Maß der Verantwortung, die ich auf mich genommen, ist so schon übervoll. Noch einmal, ich verspreche es.

Und ich danke Ihnen. – Was ist das?

Von dem steilen Fußpfade, welchen sie, rechts von der Fahrstraße abbiegend, immer dem vorausschreitenden Führer nach, eben hinabzusteigen begonnen hatten, erscholl unter ihnen lautes Rufen. Dann kam auch die Gestalt des Führers hinter einem Felsenblocke, um den sich der Steg bog, wieder hervor. Der Mann fuhr fort, zu rufen, und nun, da er der Herren ansichtig wurde, zu winken. Die Freunde eilten bergabwärts und hatten bald die Stelle erreicht; der Führer deutete schreckenbleich auf die Gestalt eines Mannes, die in dem schmalen Schatten des Felsens lag. Der Kopf war von dem Steine, an dem er gelehnt haben mochte, herabgesunken, und dabei das zusammengeknotete, blutgetränkte Taschentuch von der Stirn geglitten, auf der nun das blauschwarze Haar in wirren, blutigen Zotteln klebte; aus dem feingeschnittenen Gesicht war jede Spur von Farbe verschwunden, ebenso wie aus den zierlichen kalten Händen, die Bob gefaßt hatte, während Edward den Oberkörper des Dahingestreckten aufrichtete und vorsichtig das Haar von der Stirne hob.

Er ist tot, sagte Bob.

Nein, sagte Edward, die Wunde ist nicht tief, es scheint eine Ohnmacht infolge des Blutverlustes, sonst kann ich nichts finden. Sie sprechen besser französisch als ich, Bob; sagen Sie dem Burschen, er soll aus dem Quell da drüben Wasser holen in meinem Reisebecher; schließen Sie die Tasche auf, in der rechten Abteilung steckt noch allerlei: Brandy, Eau de Cologne – hier ist der Schlüssel.

Man sieht, es ist nicht der erste Fall in Ihrer Praxis, sagte Bob, Edward zur Hand gehend, der mit der ruhigen Sicherheit eines Arztes die Wunde wusch und mit einem Tuche, das er sich ebenfalls aus der Reisetasche hatte geben lassen, neu verband. – Wie mag der Gentleman in diese Lage gekommen sein?

Die wichtigere Frage ist, wie wir ihn aus der Lage bringen, erwiderte Edward. Er kann hier nicht liegen bleiben, auch wenn einer von uns bei ihm Wache hält. In fünf Minuten ist die Sonne um den Felsen herum, und dann wäre allerdings ernstliche Gefahr für ihn.

Tragen wir ihn da nach St. Saphorin hinab!

Das ist leichter gesagt als gethan. Wir müssen ihn nach der Chaussee oben tragen. Auch kein Kinderspiel, aber möglich. Es ist da noch Schatten. Dann muß einer nach Chexbres oder wie das Nest heißt, zurück, einen Wagen zu requirieren. Halloh! Bob! Da kommt einer die Chaussee herab! Schnell, Mann! Schlagen Sie den Kerl nieder, wenn er nicht halten will, und dann wieder hierher!

Bob eilte, was er konnte, die glücklicherweise nur kurze Strecke bergauf. Unterdessen kam der Führer mit dem Becher, aus dem er freilich das aufgefangene Wasser im Klettern über die Blöcke halb verschüttet hatte. In demselben Momente regte sich der Verwundete; langsam hoben sich die Lider; ein Paar große, dunkle, von der Ohnmacht noch halb umflorte Augen flimmerten zu Edward empor, schlossen sich wieder und öffneten sich abermals zu einem Blick, aus welchem die rückkehrende Besinnung bereits deutlicher sprach. Edward hielt ihm den Becher an die Lippen, indem er mit dem andern Arm den Kopf des Kranken stützte, der das kühle Naß mit Mühe, aber gierig trank.

Wie befinden Sie sich, Herr? fragte Edward englisch. Der Verwundete schien die Frage nicht gehört oder verstanden zu haben. Edward wiederholte sie französisch.

Benvenuto? murmelte der Verwundete.

Hätte es mir denken können, dachte Edward, sich vergeblich auf die passenden italienischen Worte besinnend. Zum Glück konnte ja nun Bob nicht mehr lange ausbleiben.

Er hörte, wie der Wagen oben auf der Chaussee anhielt und wie der Freund mit dem Fuhrmanne sprach.

Der Verwundete hatte eine lebhaftere Bewegung gemacht und versuchte, sich wenigstens mit dem Oberkörper aufzurichten, wobei ihn Edward unterstützte.

Ich danke Ihnen, murmelte der Verwundete zu Edwards großer Freude auf englisch.

Keine Ursache, Herr, erwiderte er. Sie haben einen bösen Fall gethan; hoffe, es hat nichts weiter zu bedeuten. Ein Freund von mir ist in der Nähe und wird gleich wieder hier sein; requiriert einen Wagen oben auf der Chaussee. Wohin sollen wir Sie bringen? ich meine, wo wohnen Sie?

Vevey, Hôtel du Lac.

Ihr Name?

Die dunklen Augen umflorten sich wieder, der Kopf sank auf die Seite. Da war auch Bob zurück, atemlos.

Ich habe den Wagen, ohne daß ich den Mann vorher niederzuschlagen brauchte; er will durchaus nach Vevey, er könne nicht anders.

Das ist sehr glücklich; der Gentleman ist aus Vevey. Haben Sie Ihren Atem wieder? Gut; nehmen Sie ihn an den Beinen mit dem Führer, ich trage den Oberkörper schon allein.

Er umfaßte Arnold, hob ihn empor und trug ihn bergauf mit einer Kraft, die dem Führer Ausrufe des Erstaunens entlockte. Dennoch war seine Riesenstärke nahezu erschöpft, als sie oben ankamen, wo der Wagen hielt, der freilich nur ein mit einer Plane bedeckter und zwei tüchtigen Gäulen bespannter Karren war. Glücklicherweise zeigte sich der Bauer dienstwillig und verständig: in einer Stunde könne man Vevey erreichen, auch sei die Chaussee ununterbrochen vortrefflich; als man aber daran ging, den Verwundeten auf den Wagen zu heben, stellte es sich heraus, daß neben ihm zwischen den vollen übereinandergetürmten Frucht- und Gemüsekörben allerhöchstens noch für einen Begleiter Platz geschafft werden konnte; der Bauer selbst mußte sich mit einem kümmerlich halbschwebenden Sitz auf dem äußersten Rande begnügen.

Nun, Edward, sagte Bob, Sie sehen, unsere Trennung soll schon hier stattfinden. Ich werde den Mann, so wie er ist, an Ort und Stelle richtig abliefern; und wenn er unterwegs durchaus sterben will, was ich allerdings nicht glaube, können Sie's auch nicht hindern. Daß der Mann, falls er wieder zu sich kommt, sich wundern wird, mich statt Ihrer vorzufinden, glaube ich nicht, er wird schon nicht so genau hingesehen haben; jedenfalls wünsche ich dringend, Sie bleiben aus der Affaire weg und verschwinden in Ihrem Hotel, wo ich Sie aussuche, sobald ich wieder frei bin. Also: » Grand Hôtel de Vevey« an der Chaussee rechts, vor dem Eingang in die Stadt. Der Führer wird Sie sicher hinbringen, und nun, mit Gott!

Bob hatte Edwards Antwort nicht abgewartet, sondern sich eilig an dem Bauer vorüber in den Karren geschwungen, der sich auf seinen Zuruf alsbald in Bewegung setzte.

Auf der bergab führenden Straße war das leicht dahinrollende Gefährt bereits in weiter Ferne, auch Edward mit seinem Führer längst zwischen den Weinbergsmauern verschwunden, als von St. Saphorin herauf, auf dem Platze, wo Arnold gelegen, Benvenuto anlangte, atemlos, das Gesicht kirschbraun von der Anstrengung des Steigens und vor Aufregung. Er glaubte sich anfangs in der Stelle geirrt zu haben, aber dieselbe war nicht wohl mit einer andern zu verwechseln; die reichlichen Blutspuren schlossen überdies jeden Zweifel aus. Wohin denn aber war Arnold geraten? Die kleinen Ginsterbüsche waren zertreten, zerdrückt – war er, im Todeskampfe sich herumwälzend, von dem schmalen Absatz herabgestürzt? Aber zwanzig Fuß unter dem schmalen Absatz war ein breiterer, wo der Leichnam jedenfalls hätte liegen bleiben müssen. Es war unerklärlich. Die Männer meinten, es werde nicht so schlimm mit dem Herrn gewesen sein, und er habe sich mittlerweile selbst auf den Weg gemacht. Benvenuto geriet in großen Zorn: ob man ihn für ein Kind halte, das zwischen Tod und Leben nicht zu unterscheiden wisse? Sein Freund sei, wenn nicht tot, so gut wie tot gewesen in Folge des Sturzes, den er die Felsentreppe hinab gethan; ebensowohl könne er – Benvenuto – von diesem Punkte aus über den See auf den Gipfel der Dent d'Oche springen, als sein Freund sich ohne Hilfe von hier fortbewegen.

Die Männer zuckten die Achseln; Benvenuto hatte sich bereits ausgemalt, wie er den Verwundeten auf dem Dampfer nach Vevey bringen, wie er selbst die hübsche Frau klüglich vorbereiten und dadurch doch nicht verhindern werde, daß sie beim Anblicke Arnolds ohnmächtig in seine Arme sinke. Und dann die tête-à-têtes mit dem reizenden Weibchen an dem Krankenbette in dem Vorzimmer, wo das Flüstern obligatorisch war!

Aber wo war er, ohne den alle diese entzückenden Bilder im Mittagssonnendunste verschwebten? Benvenuto gebärdete sich ganz verzweifelt. Er schalt auf die Leute, die zu langsam, auf sich selbst, daß er zu schnell gewesen; zwischendurch schrie er mit vorgehaltenen Händen Arnolds Namen und »Ho! Halloh!« auf den See hinaus, oder übertönte mit den schrillen Tönen seines silbernen Pfeifchens das Schwirren der Cicaden in den Ginsterbüschen zwischen den Felsen.


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