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*

VII.

Es war die Baronin selbst, welche ihre Korpulenz nicht abgehalten, die beiden Treppen hinaufzusteigen, um zu fragen, ob es Müdigkeit oder Unwohlsein sei, was Angela, ihrer Gewohnheit so völlig entgegen, noch um zehn Uhr im Bette halte?

Nun, nun, liebes Kind, ich bin froh, daß es nichts weiter ist. Ziehen Sie sich gemächlich an, ich lasse unterdessen das Frühstück für Sie zurechtmachen.

So hatte sie durch die Thür gerufen. Angela hörte noch den schwerfälligen Schritt auf der steilen Treppe, während sie bereits bei ihrem Anzuge war. Der köstlichste Herbstmorgen glänzte zum Fenster herein. Nur die höchsten Kuppen der Savoyer Alpen drüben umschwebte noch leichter Dunst, sonst prangten Himmel und Gebirge und See und Ufergelände in eitel Sonnenschein; durch die klare, balsamische Luft kam der Ton des Dampfers, der eben Clarens anlief, so hell, als ob es unter dem Fenster wäre. Die weißen Leiber der Schwäne, die hie und da auf der tiefblauen unbewegten Wasserfläche schwammen, leuchteten aus weitester Ferne.

Und nun verschwanden vor den starren, düsteren Blicken die Nähe und die Ferne, und aus der Seele Tiefen tauchten sie auf, die Erinnerungen der Nacht, und alles kam zurück mit unwiderstehlicher Gewalt in erschreckender Deutlichkeit; alles – nur nicht der Weg zu ihrem Ziele. Wie war doch jetzt so dunkel und verworren, was ihr heute Nacht so klar, so einfach erschienen! Oder hatte sie schon heute Nacht das Ziel mit dem Wege verwechselt? Es konnte nicht anders sein. Es gab ja keinen Weg oder doch einen nur, und den sie wieder nicht betreten konnte, ohne die volle Zustimmung, die thätige Hilfe der mütterlichen Freundin. Und diese Zustimmung, diese Hilfe – sie war nicht zu erlangen – wenn sie zu verlangen war, – als durch das volle, rückhaltlose Bekenntnis dessen, was sie sich geschworen, unberührt und unentweiht mit hinabzunehmen in das stumme Grab – das Preisgeben eines Geheimnisses, das ja nicht allein ihr Geheimnis war, und das sie nicht aufdecken konnte, ohne zugleich in dem Herzen der guten Frau eine Wunde zu berühren, die kaum zu heilen begann.

Der ungeduldige Ton der Dampferglocke, welche die säumigen Passagiere zur Eile antrieb, schreckte Angela aus ihrem dumpfen Brüten.

Sie strich sich über Stirn und Augen und schaute auf. Da blaute der Himmel, da glänzten die Berge, da leuchtete der See; aber dem kummervollen Auge erschien der Himmel wie ein eherner Schild und die ragende Ferne eine sich ihr entgegentürmende unübersteigliche Mauer, und die blitzenden Funken auf den Wassern waren die hohen Hoffnungssterne nicht, zu denen sie heute Nacht gebetet hatte.

Schweratmend trat sie vom Fenster zurück und schritt unsicher zögernd hin und her. Dann, mit einem plötzlichen Entschlusse, hatte sie sich nach der Thür gewandt und das Zimmerchen verlassen.

Endlich, rief die Baronin, die ihr entgegen gegangen war und sie nun zärtlich auf die Stirn küßte – endlich, Sie liebes, böses Kind! Wissen Sie, daß Sie mir ernstliche Sorge gemacht haben? Das dürfen Sie nicht wieder thun; ich habe von der Sorte gerade genug.

Angela blickte von der Tasse auf, welche ihr die alte Dame mit eigenen geschäftigen Händen bereitet und dargereicht: der Leidenszug in dem guten Gesicht, der in der letzten Zeit wirklich schon manchmal dem eigentlichen Ausdruck durch nichts völlig zu verwüstenden behaglich drolligen Humors Platz gemacht, war wieder tiefer eingefurcht. Die hellen blauen Augen hatten zweifellos frische Thränen vergossen; das Lächeln um den großen ehrlichen Mund war so voll Wehmut.

Alte Sorgen, neue Sorgen, fuhr die Baronin, die jetzt ihr Strickzeug zur Hand genommen und in Ordnung gebracht hatte, kopfschüttelnd fort; funkelnagelneue, die ich mir in aller Eile selbst zuwege gebracht habe, und mit denen ich nur gleich anfangen will, denn die Geschichte kommt auch Ihnen zu Haus und Hof. Aber es ist Ihnen ganz recht, Sie schlechtes Gör! Warum lassen Sie mich den ganzen Morgen allein? Da bleibt mir ja gar nichts übrig, als ein paar handfeste Dummheiten zu machen. Also: ich habe hier gekündigt und in Vevey im Hôtel du Lac ein paar Zimmer für uns genommen – auf acht Tage.

Es war ein Glück für Angela, daß die Baronin gerade nach einer entfallenen Masche haschte und so nicht ihre starren, schreckensgroßen Augen sah und die Röte, die ihr bis in die Schläfen schoß. Das, eben das hatte sie von der Gütigen erbitten wollen, und wie mit einem Zauberschlage war's erfüllt, bevor sie die Lippen geöffnet! War's ein guter, war's ein böser Geist, der das zuwege gebracht?

Aber weshalb? Wie kommen Sie dazu? murmelte sie.

Lassen Sie sich erzählen, sagte die Baronin, ich habe es, offen gestanden, Ihrethalben gethan. Sie fanden schon gestern Nachmittag die Luft hier in Clarens so drückend; Sie meinten, da weiter hin, wo der See breiter wird, müsse es sich frischer und freier wohnen, und als Sie gestern Abend von Ihrem Spaziergange kamen und Ihnen von der schwülen Luft der kalte Angstschweiß auf der Stirn stand, war es schon eigentlich bei mir beschlossene Sache. Auch bin ich hier von Ihnen durch zwei entsetzliche Hühnersteigen von Treppen getrennt, das paßt mir alten schwerfälligen Person ganz und gar nicht, und mir wurde, als ich heute Morgen im Bureau fragte, der – nebenbei ziemlich unhöflich erteilte – Bescheid, daß vor einer Woche ein anderes Arrangement unmöglich sei. Ich war überdies schon ein bißchen verstimmt, daß ich heute meinen Spaziergang ohne Sie machen mußte; und so, doppelt verstimmt und ärgerlich, komme ich an dem Telegraphenamt vorbei. Und nun, denken Sie, ich alter Rappelkopf, gehe ohne weiteres, als ob sich die Sache von selbst verstände, wie's Amen in der Kirche – gehe hinein, sage ich, setzte mich an den Tisch, nehme ein Formular und – ja, nun aber fing's an zu hapern. Wo war meine Angela, die mir das Ding hätte aufsetzen können? Und wenn ich's auch zur Not – mit ein paar dicken Fehlern natürlich – zurechtgedoktert hätte – ich konnte mich absolut auf den Namen von dem Hotel nicht besinnen, das uns die Gräfin Schlieffen in Rom empfohlen hatte, im Fall wir nach Vevey gingen. Da sitze ich Unglückswurm nun und will's schon aufgeben, als mir auf einmal eine Stimme über die Schulter: Bon jour, Madame! sagt. Wer ist's? natürlich unser Reiseschatten. Na, um es kurz zu machen: er bringt mich gleich auf den vertrackten Namen: Monnet; rät mir aber davon ab und zu dem Hôtel du Lac, das ebenso gut und nicht so voll sei; setzt sich anstatt meiner hin und schreibt die Depesche, und ob ich nicht die Antwort abwarten wollte; der Mann am Schalter habe gesagt, es werde höchstens eine Viertelstunde dauern. Ich bin's zufrieden, und so gehen wir denn vor dem Telegraphenbureau auf und ab und plaudern – ja – machen Sie nur große Augen! – plaudern ganz herzhaft, ich mit meinen paar französischen Brocken und Master oder – Mister? na, meinetwegen, also Mister Augustus Temple mit seinen paar deutschen – es war eine kuriose Konversation, aber wir verständigten uns doch ganz gut, und es ist wahrhaftig jammer und schade, daß wir den liebenswürdigen jungen Menschen erst jetzt kennen gelernt haben. Ich hab's ihm gesagt, und er bedauerte es auch sehr, aber er habe immer nicht den Mut gehabt, sich uns vorzustellen; dabei wurde er über und über rot und lachte gleich wieder mit allen seinen weißen Zähnen. Denken Sie nur, Angela, er ist auch Maler und kennt unsern Freund Benvenuto von Rom aus ganz gut. Aber Sie werden ungeduldig, liebes Kind, und also die Hauptsache: die Depesche kam wirklich, wenn auch nicht nach einer Viertelstunde, und da liegt sie. Drei Zimmer, wie gesagt, und sogleich und Parterre – was mir die Hauptsache war. Ich bin, als ich zurückkam, gleich unten im Bureau gewesen, habe um die Rechnung gebeten, und wir würden heute Mittag abreisen. Und nun, da alles so weit in Ordnung ist – nun kommt das Dumme von der Geschichte. Nämlich, daß sie mir von Herzen leid ist, und ich viel darum geben würde, hätte ich sie mir nicht eingebrockt.

Aber weshalb das? murmelte Angela, die noch immer an den paar Zeilen des Telegrammes zu studieren schien.

Die Baronin seufzte; Angela warf einen scheuen Blick in das ehrliche Gesicht. Das gutmütig schalkhafte Lächeln, mit dem sie das kleine Abenteuer im Telegraphenbureau begleitet, war wieder dem kummervollen Ausdrucke gewichen, den Angela beim Eintreten bemerkt hatte.

Ich wollte es Ihnen eigentlich verschweigen, sagte sie, denn ich weiß, Sie werden mich schelten. Aber es würde mir doch keine Ruhe lassen; da ist es gescheiter, ich komme gleich damit heraus. Sehen Sie, liebe Angela, die drei Briefe – sie haben uns, wie man mir im Bureau sagte, schon seit acht Tagen gesucht; erst in Genf, dann hinter uns her auf unserer Chamouny-Tour, zuletzt in Villeneuve – und treffen uns nun endlich hier. Einer ist von Clotilde und einer von Natalie; Clotilde bittet mich um fünfhundert Thaler, Natalie braucht nur zweihundert, allerdings sofort, während Clotilde noch bis zum ersten November warten kann. Na, liebe Angela, das ist ja, wissen Sie, nichts Besonderes; umsonst kann man nicht doppelt Großmutter sein – und, offen gestanden, ich hatte es schon erwartet und Pasedag gebeten, er möge ein bißchen Geld vorrätig halten. Denke denn, der gute, alte Mann – der dritte Brief war von ihm und ich hatte ihn bis zuletzt gelassen – werde mir mit dem nötigen Brummen, ohne das es ja bei ihm nicht abgeht, schreiben, daß das Geld bereit sei. Und was schreibt er statt dessen? Da, liebe Angela, lesen Sie selbst, aber laut – der Anfang ist nicht nötig, von dem dritten Absatz …

Angela hatte das Schreiben des Advokaten zur Hand genommen und las von der bezeichneten Stelle an:

»Wenn ich Sie aber, gnädige Frau, dringend bitte, es bei den bisherigen Zuschüssen an Ihre Töchter wenigstens für dies Jahr bewenden zu lassen, so ist es, weil ich schlechterdings nicht weiß, woher ich die Mittel nehmen könnte, ohne Granskewitz noch mehr zu belasten, was doch wiederum, wie die gnädige Frau zugeben wird, in keiner Weise angeht. Denn im Uebrigen sind unsere Mittel erschöpft. Die lange Reise der gnädigen Frau hat das mühsam Aufgesparte nahezu konsumiert, und was noch vorhanden, wird eben noch die Kosten der angefangenen, so überaus wichtigen Ameliorations-Arbeiten decken. Was diese letzteren betrifft, so schreiten sie, wie ich mich selbst an Ort und Stelle überzeugt, nach Wunsch vorwärts, zum großen Aerger Ihres Herrn Bruders, der sich hoch und heilig verschwört, daß uns die Sache teuer zu stehen kommen solle. Er behauptet, daß durch die Drainierung der Granskewitzer Wiesen die oberhalb derselben gelegenen Faschwitzer zwei Schläge seines besten Weizenbodens total entwertet würden, und droht mit einer Entschädigungsklage. Ich darf Ihnen, gnädige Frau, nicht verhehlen, daß ich – bei der bekannten Sinnesart Ihres Herrn Bruders – diese Drohung keineswegs leicht nehme, im Gegenteil mich auf einen Prozeß gefaßt mache, den wir freilich zweifellos gewinnen werden, wie die fünf, die wir bereits mit ihm geführt haben, der aber doch wiederum Kosten, und zwar bei der Größe des Objekts sehr bedeutende Kosten verursachen wird – ein anderer Grund, weshalb ich die Frau Baronin zur Vermeidung aller nicht absolut notwendigen Ausgaben –«

So, sagte die Baronin, Angela unterbrechend, ich wollte eigentlich nur die Geschichte mit den Wiesen noch einmal hören. Ist es nicht schrecklich, daß es ein Bruder und noch dazu der einzige Bruder ist, der Einem so viel gebranntes Herzeleid anthut. Und das alles, weil er sich in den harten Kopf gesetzt hatte, seine Nanni müsse meinen Malte freien und Baronin von Granskewitz werden. Ich habe nicht viel Freude davon gehabt, daß ich's geworden bin, das weiß der liebe Gott; aber bei ihm war's wie bei dem Butt: er war Schwager von einem Baron; nun mußte er auch Schwiegervater von einem Baron werden. Deshalb stand er immer hinter meinem unglücklichen Manne und hatte immer Geld bereit, als schon längst kein solider Mensch mehr leihen konnte und wollte. Und hernach, als mein Mann gestorben, ohne ihm den Willen zu thun, da mußte es mein Malte entgelten, daß er nun einmal kein Herz hatte für das hübsche spielige Ding, das dann aus purem Aerger, Gott verzeih mir die Sünde, ihren Maler heiratete. Mein armer, armer Malte, was hat er sich gesorgt und gequält, den alten Namen wieder ehrlich zu machen! wie hat er acht Jahre lang die Einkünfte des Majorats hingegeben, um Wechsel einzulösen und Schulden zu tilgen, für die er gar nicht verantwortlich war, und für die er, wenn er nicht wollte, keinen Pfennig zu bezahlen brauchte! Was willst du, Mama, sagte der gute Junge. Das alles sind Vorschüsse, die der Onkel dem Papa auf ein gewisses Geschäft hin gemacht hat; nun, da aus dem Geschäft nichts geworden, müssen wir ihm sein Geld doch wiedergeben! Sei froh, Mama, daß es noch so glücklich abgelaufen ist. Denn wenn Nanni meine Frau geworden wäre, so hätte ich dem Onkel, wie ich ihn kenne, doch bei Heller und Pfennig sein Anlage-Kapital mit Zinseszinsen zurückbezahlen müssen und eine sehr teure kleine Frau dazu gehabt. – Na, und in dem letzteren Punkte hat mein armer Junge sich nicht geirrt, wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was uns Herr Benvenuto Vogel davon erzählt hat. Er trägt die Farben immer ein bißchen stark auf, der wunderliche Mensch; das ist ja wohl so sein Geschäft. Ich kann nicht glauben, daß diese Herren Maler heutzutage leben sollten wie die Fürsten. Freilich, ich verstehe das nicht, und es geht mich auch nichts an. Kehre erst jeder vor seiner Thür! So, und vor der wären wir denn glücklich wieder, nachdem ich Sie, eine Meile um, über Stock und Stein gefahren und Ihnen die alte Litanei zum, ich weiß nicht, wievieltenmale herunter geleiert. Aber wovon das alte Herz voll ist, davon geht der alte dämliche Mund über, und die Briefe von meinen Gören haben es mir übervoll gemacht. Ja, wenn mein guter Malte noch lebte! Er hatte trotz alledem für die Schwäger immer offene Hände: nachdem wir einmal A gesagt, müssen wir auch B sagen, meinte er; und die besten Offiziere sind oft die schlechtesten Oekonomen – sie werden sich schon mit der Zeit rangieren. – Lieber Gott, jetzt, da der gute Junge die Augen zugemacht hat, müßte wohl endlich die Zeit für sie gekommen sein; aber sie scheinen das nicht begreifen zu können. Wie mache ich's ihnen nur begreiflich, Angela?

Das junge Mädchen hatte unter manchen Zeichen der Ungeduld zugehört, welche der Baronin entgangen waren. Kannte sie doch die Verhältnisse aus so manchen früheren Unterredungen, die sich immer um dasselbe Thema bewegten, bis in die kleinsten Einzelheiten und glaubte sie doch nur zu gut zu wissen, wohin die gute Frau diesmal zielte. So lag es denn wie eine Wolke auf ihrer Stirne, und ihre Stimme hatte etwas seltsam Herbes, als sie nach einer Pause, welche die Baronin ängstlich von ihrem Strickstrumpfe aufblicken machte, erwiderte:

Verzeihen Sie, Frau Baronin, aber ich kann beim besten Willen Ihre Frage nicht beantworten, ohne Ihnen – wie soll ich es ausdrücken – einen Vorwurf zu machen, den ich schon oft und oft auf den Lippen gehabt und immer wieder zurückgedrängt habe, weil er sich für mich nicht schickt und für Sie zu hören peinlich sein muß.

Von Ihnen ist mir nichts peinlich, sagte die Baronin, dem Mädchen treuherzig in das aufgeregte Gesicht sehend; also sprechen Sie.

Nun denn, sagte Angela, ich meine, es ist ein wenig Ihre – nein, es ist Ihre eigenste Schuld, wenn Ihre Töchter, wenn Ihre Herren Schwiegersöhne Ihre Lage noch immer nicht begreifen können. Haben Sie ihnen diese Lage nicht von Anfang an geflissentlich verschleiert? Haben Sie ihnen je gesagt: Das eigentliche Opfer des Kampfes, den ich und euer edler Bruder kämpften um den Namen eures Vaters – wie drückten Sie sich doch aus? – gleichviel – das bin ich, ich, die Schwächere, die ich nicht, wie euer Bruder, auf alle Fälle ein großes, unantastbares Majorat hinter mir habe, sondern nur meinen Witwensitz oder, genau gesprochen, die Revenuen aus meinem Witwensitz und den Kredit, den mir die Leute daraufhin gewähren. Das haben Sie nie gesagt, gnädige Frau; und Ihr edler Sohn hat es mit ins Grab genommen, denn Sie hatten ihm verboten, je ein Wort davon verlauten zu lassen. Jetzt aber müssen Sie es sagen, und daß Sie die Revenuen von Granskewitz auf Jahre hinaus verbraucht haben, und daß Ihr Kredit erschöpft ist. Bedenken Sie doch, gnädige Frau, es muß ja zum Austrag kommen. Ist es da nicht besser, es geschieht jetzt, auf der Stelle? Unendlich besser für Ihre Töchter selbst, für Ihre Herren Schwiegersöhne, von denen ich nach allem, was Sie mir von ihnen gesagt, eine viel zu gute Meinung habe, als daß ich annehmen könnte, sie würden sich bei jeder kleinen momentanen Verlegenheit an Sie wenden, wenn sie wüßten, in welcher großen Sie selber beständig sind, und nicht erst seit dem Tode Ihres Sohnes. Habe ich da nicht recht?

Freilich haben Sie recht, erwiderte die Baronin mit einem tiefen Seufzer; doppelt und dreifach haben Sie recht. Ich sehe das auch vollkommen ein, und ich verspreche Ihnen, es soll geschehen; ich werde ein ernstes Wort mit den Kindern sprechen, sobald – ich wieder zu Hause bin. Und eben deshalb –

Sie stockte und blickte mit einem gutmütigen Lächeln zu Angela auf. So helfen Sie mir doch über! Sie wissen ja, was ich sagen will.

Die Wolke auf Angelas Stirne war noch dunkler geworden, um den Mund zuckte ein bitteres Lächeln.

Allerdings weiß ich es, aber verlangen Sie nicht von mir, daß ich es deshalb berechtigt und logisch finde. Ich finde nicht, daß Sie deshalb verpflichtet sind, auf der Stelle wieder zurückzukehren, um – nun denn: um nicht das ernste Wort zu sprechen, sondern sich weiter abzumühen wie eine Pächtersfrau und in aller Heimlichkeit abzusorgen, wie Sie es immer gethan. Ich finde nicht, daß es ein unverantwortlicher Leichtsinn ist, wenn Sie sich noch acht Tage Erholung gönnen, nachdem Sie ein Jahr lang Tag und Nacht an dem Krankenbette, an dem Sterbelager Ihres einzigen Sohnes gewacht haben, bis das graue Haar, mit dem ich Sie in Brüssel traf, weiß geworden. Oder wenn –

Sie brach jäh ab und fuhr dann mit leiserer Stimme fort, während die Augen, die wie im Zorne aufgeflammt waren, niederwärts blickten.

Wenn Sie mich den Brief zu einem anderen Zwecke lesen ließen, wenn er mir sagen sollte, was Ihr gütiger Mund sich auszusprechen scheut – ich weiß, daß es ein weiteres Opfer für Sie ist, und ich bin eitel genug, mir einzubilden: kein leichtes Opfer; aber leicht oder schwer – Sie wollen es bringen. Sie glauben es bringen zu müssen, und so bringen Sie es ohne Furcht, mich zu kränken. Darf ich von mir sagen, daß ich fest zu denen stehe, die ich liebe, so weiß ich auch zu gehen in dem Augenblicke, wo ich fühle, daß man meiner nicht mehr bedarf.

Sie hatte sich schnell erhoben und war an das offene Fenster getreten, in welchem sie jetzt lehnte. Der Baronin war der Strickstrumpf in den Schoß gesunken: sie saß da erschrocken, sprachlos, die Augen starr auf die hohe Mädchengestalt gerichtet. Sie schüttelte mehrmals den Kopf und sagte endlich in ruhigem Tone:

Liebe Angela, das kann Ihr Ernst nicht sein. Setzen Sie sich wieder hierher zu mir und sagen Sie mir, daß es nicht Ihr Ernst ist.

Das junge Mädchen wendete sich langsam vom Fenster um und erwiderte mit einem trüben Lächeln:

Sehe ich aus, als ob ich scherzte?

Nein, wahrhaftig nicht, entgegnete die Baronin; es ist auch kein Gegenstand dazu, aber dann erklären Sie mir, was in Ihnen vorgeht. Es muß da etwas sein; etwas anderes, als wovon wir eben sprachen. Sie wissen recht gut, daß ich blindlings thue, was Sie mir raten. Und wenn Sie sagen, daß wir noch acht Tage hier oder, da ich das einmal eingebrockt, in Vevey bleiben, – so bleiben wir eben. Und damit Punktum. Also das ist es nicht. Was ist es? Ich finde Sie heute so ganz anders – ich sah es Ihnen an, als Sie vorhin zur Thür hereintraten, gestern Abend schon, als Sie von Ihrem Spaziergange zurückkamen. Aber so reden Sie doch, Sie wunderliches Kind!

Sie war nun auch aufgestanden und zu Angela gegangen, sie mit beiden Armen um die Hüfte fassend und liebevoll an sich drückend. Das Haupt des Mädchens sank auf ihre Schulter und blieb da liegen, während der Atem schwerer ging und der schlanke Leib bebte.

Sie sind wahrhaftig krank, sagte die Baronin, sie noch inniger in ihre Arme fassend und voll ernstlicher Sorge ihr in das bleiche Gesicht und die umflorten Augen spähend. Wir wollen nach dem Arzt schicken; auf jeden Fall bleiben wir hier.

Nein, nein! rief Angela; ich bin nicht krank; die Veränderung wird mir wohlthun; ich freue mich darauf – ich – ich wollte sogar selbst –

Der Moment war da, wo sie der gütigen Frau das Geheimnis ihres Lebens enthüllen, sie um Beistand, Rat, Trost anflehen sollte in den entscheidenden Stunden, die für sie kommen würden. Und nun fühlte sie abermals zu ihrem Entsetzen, wie furchtbar schwer dieser erste Schritt war; wie die Worte nicht über die Lippen wollten, wie auf der Schwelle ihres Geheimnisses dräuend und finster der Stolz Wache hielt und jedem Dritten den Eintritt wehrte, es sei auch, wer es sei. Und doch, es mußte geschehen. Sie durfte nicht keck als ein Geschenk des Zufalls hinnehmen, was sie noch eben erst von der Güte der alten Freundin zagenden Herzens hatte erbitten wollen; durfte die Treffliche nicht zum blinden Werkzeug in der Ausführung eines Planes herabwürdigen, zu welcher jene, wie ihr jetzt die Angst zuraunte, freiwillig nie die Hand bieten würde. War es nicht eine Warnung gewesen, daß gerade jetzt auf den Vater von Arnolds Gattin die Rede hatte kommen müssen, den Mann, welcher der guten Frau so viel gebranntes Herzeleid angethan! Der eben wieder im Begriff stand, das Werk seines alten, halb verrückten Hasses fortzusetzen, mit dem er die Unschuldige verfolgte um der Tochter willen, derselben Tochter, in deren Nähe, in deren Gesellschaft sie die Ahnungslose bringen wollte, ohne sie um Erlaubnis gefragt zu haben, und ob die Begegnung ihr nicht jetzt doppelt und dreifach peinlich sei. Und das war ja noch das Geringste; es handelte sich noch um ganz anderes: hier, diese deine Nichte, die du nicht ansehen kannst, ohne kummervoll deines edlen Sohnes zu gedenken, den sie mit ihrer thörichten Liebe gequält, ist die Gattin des Mannes, den ich geliebt habe, und der mich verraten hat, und den ich noch immer liebe, ich, die das brechende Auge deines Sohnes noch durch den Schleier des Todes suchte – es war unmöglich!

Für die Baronin war der Kampf, der in der Seele des jungen Mädchens tobte und sich in ihren angstdurchzuckten Mienen nur allzu deutlich malte, völlig unbemerkt geblieben. Der Kellner war nach flüchtigem Pochen eingetreten, die Frühstücksachen abzuräumen. Die Baronin hatte Angela schnell aus ihren Armen gelassen und war dabei so rot geworden, wie ein junges Mädchen, das bei ihrem Liebhaber ertappt wird. In ihrer Verlegenheit war sie bis zum Sofa an dem anderen Ende des Zimmers gegangen und hatte sich dort gesetzt, ärgerlich über ihre Schwäche, und daß der Mensch so lange an den paar Sachen kramte. Endlich war er zur Thür hinaus, und in demselben Momente fast lag Angela zu ihren Füßen, das thränenüberströmte Gesicht in ihrem Schoß verbergend, mit halberstickter Stimme murmelnd: Lassen Sie uns abreisen – nach Granskewitz – in dieser Stunde noch!

Aber Kind, Kind!

Die tief erschrockene Frau hatte mit beiden Händen den schönen Kopf in ihrem Schoße erfaßt und emporgerichtet, strich jetzt das wirre Haar aus der heißen Stirn und blickte voll tiefer Sorge in die angstvoll zu ihr erhobenen Augen!

Aber, Kind, was ist das nur mit Ihnen? So habe ich Sie noch nie gesehen, nie geglaubt, daß ich meine gute, kluge, tapfere Angela – aber stehen Sie doch nur erst auf –

Nein, nein, lassen Sie mich so! murmelte Angela, aufs neue ihr Gesicht auf die Kniee der alten Frau drückend: Klug und tapfer, großer Gott! Und gut! Ich bin es nicht – ich –

Bin schlecht, grundschlecht, freilich! Und das sind Sie auch, wenn Sie mich alte Frau so ängstigen und mir nicht sagen wollen, was Ihnen das Herz so bedrückt. Oder soll ich es Ihnen sagen? Soll ich?

Sie?

Angela hatte den Kopf schnell erhoben; die eben noch so bleichen Wangen waren mit dunkler Röte übergossen, die sonst so festen Augen mühten sich vergebens, dem prüfenden Blicke standzuhalten.

Ein gutmütig trauriges Lächeln umspielte den Mund der alten Dame.

Ich will es wenigstens versuchen, sagte sie; aber dazu müssen Sie aufstehen und mir mein Strickzeug holen. Sie haben mich ganz nervös gemacht – da auf den Tisch hat's der Mensch hingelegt.

Angela that mechanisch wie ihr geheißen. Es war unmöglich, die Baronin konnte es nicht wissen. Oder sollte ein zweites Wunder geschehen: ihr die grausame Beichte erspart werden, wie vorhin die peinliche Bitte?

Sie war zum Sofa zurückgekommen.

Setzen Sie sich zu mir, in die andere Ecke, sagte die Baronin, ihr Strickzeug in Ordnung bringend. So, und nun lassen Sie uns ein vernünftiges Wort zusammen sprechen, und denken Sie, ich bin Ihre liebe selige Mutter; oder nehmen Sie mich einfach für das, was ich bin: eine alte Frau, die in ihrem Leben viel erfahren und erlitten hat und dabei, Gott sei Dank, noch immer mit anderen weinen und lachen kann, wie's gerade kommt, und die – was die Hauptsache ist – Ihnen herzlich gut ist, ja von ganzem Herzen, liebes Kind. Sehen Sie, liebes Kind, daß Sie ein Geheimnis haben – ein trauriges Herzensgeheimnis – das weiß ich längst; und warum Sie es auch vor mir verbergen, wie vor aller Welt, das weiß ich auch. Nein, nein, sagen Sie nichts! Sie sehen, ich bin ganz ruhig – ganz ruhig –

Die Nadeln klapperten in den zitternden Händen, die thränenerfüllten Augen suchten vergeblich nach der Masche; das Strickzeug sank auf den Schoß. Sie faltete die Hände darüber und sagte mit leiser Stimme:

Es wäre zu schön gewesen; es hat nicht sein sollen.

Angela hatte, sich zu ihr beugend, ihre Hände ergriffen, die sie mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte; die Baronin drückte sie sanft von sich.

Sie müssen nun auch ruhig sein, sagte sie, indem sie zu lächeln versuchte. Sie dürfen es sein. Gott soll mich bewahren, daß ich Ihnen je auch nur den leisesten Vorwurf mache! Sie konnten eben nicht anders, Sie armes Kind, und sind gegen ihn gut und zart gewesen von Anfang bis zu Ende. Sie dachten, es würde dem armen Jungen das Sterben nicht erleichtern, wenn – wenn Sie ihm sagten: ich hätte dich ja doch nicht lieben können, wäre alles auch anders gewesen, wie es ist, weil ich schon längst einen andern liebe. Na, Angela, nun ist es heraus. Und jetzt, wo das Mitleid mit meinem armen Jungen und die Sorge für ihn nicht mehr zwischen Ihnen und Ihrer Liebe steht, ist sie Ihnen mit Macht zurückgekommen. Ich hab's schon auf der ganzen Reise wohl gesehen, daß Sie immer trauriger wurden; und jetzt hat sich etwas ereignet – ich weiß nicht was – es wird aber wohl ein Brief sein, den Sie vor mir verheimlicht haben, und der etwas Schlimmes enthält, was ganz Schlimmes, sonst würde meine tapfere Dirn nicht so verzweifelt dreinschauen. Nicht wahr, er hat geschrieben, und die hochmütige Frau Mama will's nach wie vor nicht – aber so machen Sie doch endlich den Mund auf, Sie verstocktes Gör!

Auf Angelas Zügen hatte während der letzten Worte der Baronin Rote mit Blässe jäh gewechselt; der unsichere Blick der großen Augen war geisterhaft starr geworden.

Die Mama? sagte sie; aber wovon, von wem sprechen Sie?

Nun wird es aber immer schöner, rief die Baronin, ärgerlich lachend; nun soll ich ihr zu alledem auch noch den Namen sagen, den ich gar nicht einmal kenne – den Vornamen meine ich, denn der andere wird ja wohl Lord, oder Baron, oder ich weiß nicht wie man da sagt: Ballycastle sein.

Angela saß da, unfähig zu sprechen, ja zu denken, wie befangen in einem schweren Traum, in welchem die Gestalten durcheinander wirren, eine sich plötzlich in die andere verwandelt; aus bekannt geheimnisvollem Munde seltsame Reden erschallen, die dem erschrockenen Träumer seine innersten Geheimnisse enthüllen, während er über den hineingemischten Aberwitz lachen muß.

Ja, lachen Sie nur, sagte die Baronin, wenn's Ihnen auch nicht von Herzen kommt. Sie schämen sich nun doch ein bißchen, daß die alte, einfältige Granske schließlich klüger ist als Sie kluge Person. Aber sehen Sie, so groß war das Kunststück eben auch nicht. Sie haben mir mittlerweile doch schon so manches von Ihrer Kindheit erzählt und von Ihren lieben Eltern und von Ihren Brüdern und überhaupt von Ihrem Leben, solange Sie noch in Berlin waren; aber von dem Augenblick, wo Sie nach England gingen, da hat's noch immer so gut wie aufgehört; oder ich kann mir doch keinen Vers d'raus machen, wie Sie so lange bei der alten Lady – heißt es ja wohl? – ausgehalten haben, wenn Sie nicht – ei was, ich habe die Wenn und Aber satt und will mir meinen dummen Kopf nicht weiter zerbrechen. Also heraus damit und ausführlich und nach der Schnur erzählt! Sie können das ja besser als irgend ein Mensch. Und Zeit haben wir die schwere Menge. Vor Mittag brauchen wir nicht fort, und die paar Sachen sind hernach in fünf Minuten gepackt.

Aus Angelas Gehirn war die Betäubung noch nicht ganz gewichen, wie bei einem Erwachenden, dem die Gebilde des Traumes und die wirklichen Dinge kaum unterscheidbar durcheinander schweben. Ihre Zunge war wie gelähmt, und es war ihr, als ob jetzt eine fremde Stimme sagte:

Nein, nein – es ist nicht – es ist etwas anderes –

Natürlich, rief die Baronin, gutmütig lachend; so sagt ihr jungen Leute immer. Zu dem bewußten Loche will der Fuchs nun partout nicht heraus; das kennt man. Also warum gingen Sie gerade nach England? Sie hatten einen Verwandten da, einen Bruder Ihrer Mama? War auch ein Musiker, wie die Mama und Sie selbst? und sollte Ihnen Stunden verschaffen? und damit ging's nicht? kann mir's denken; kann mir's denken!

Sie hatte ihr Strickzeug in Ordnung gebracht und begann, indem sie sich bequem in ihrer Ecke zurechtsetzte, zu stricken, mit einer Miene, die deutlich sagte, daß sie sich diesmal unter keinen Umständen abweisen lassen würde; aber ohne die Augen zu erheben, als wollte sie dem jungen Mädchen Zeit lassen, sich zu sammeln, und sozusagen die Arbeit, die sie ihr aufgegeben, ordentlich anzulegen und zurechtzumachen, damit es nachher »nach der Schnur« ginge.

Sie wollen es also, murmelte Angela.

Und für sich setzte sie hinzu: Es ist auch besser; das kann ich sagen, ohne sie zu betrüben, und dann finde ich vielleicht Mut zu dem andern –

Sie strich sich das Haar aus der Stirne, raffte sich mit einer gewaltsamen Anstrengung vollends auf und begann zu erzählen mit einer verschleierten, apathischen Stimme, die erst allmählich die sonstige Klarheit und Festigkeit gewann.


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