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*

XVIII.

Die Baronin war sehr erschrocken gewesen, als sie, aus ihrem tiefen, traumlosen Nachmittagsschlafe erwachend, sich im Dunkel fand. Nur durch die Fenster fiel ein matter Schein. Aber auch dieser Schein kam nicht mehr vom Tage, sondern von den mittlerweile im Hotel angezündeten Lichtern. Wie lange hatte sie denn geschlafen? Sie raffte sich empor und tappte nach der Thür des Salons, die sie nach einigem Suchen denn auch glücklich fand und in dem bereits lampenhellen Salon zu ihrer Beruhigung das Kammermädchen, welches im Begriffe gewesen war, die gnädige Frau zu wecken. Es sei nicht so gar spät, eben sechs Uhr; auch sei Fräulein Angela noch nicht von ihrem Spaziergange zurück; ob die gnädige Frau sonst etwas zu befehlen habe?

Ich werde jetzt zu meiner Nichte hinaufgehen, sagte die Baronin, und bleibe möglicherweise etwas länger. Sag' das Fräulein Angela, wenn sie zurückkommt; hörst du, Gusting?

Gewiß, gnädige Frau.

Die Baronin war vor den Trümeau zwischen den Fenstern getreten und schien sich eifrig zu betrachten; das war für Gusting ein so seltener Anblick – sie blieb unwillkürlich an der Thür stehen und blickte verwundert nach der gnädigen Frau. Auch hatte die gnädige Frau hochdeutsch gesprochen, was sie doch sonst zu ihr niemals that.

Gusting! –

Gnädige Frau!

Du könntest mir eigentlich eine andere Schleife anstecken – die große schwarzsamtne, weißt Du; und mit meiner Haube ist das auch man schwach; Du könntest mir die neue holen, die Fräulein Angela mir in Rom gekauft hat, weißt Du.

Jawohl, gnädige Frau.

Gusting that, wie ihr geheißen, verstohlen den Kopf schüttelnd und in die Tiefe der Kommode, aus welcher sie die Sachen nahm, die nachdenkliche Frage murmelnd: was nun kommen werde? mit der tröstlichen Hinzufügung für sich selbst, daß sie sich über nichts mehr wundern würde. Seit sie um die gnädige Frau war – und das war seit ihrem zehnten Jahre – hatte sie noch keinen Menschen gekannt, der es fertig gebracht hätte, der gnädigen Frau ein Kleidungsstück anzuziehen, wenn es nicht mindestens zwei Jahre unberührt im Schranke gehangen oder gelegen – außer im letzten Jahre Fräulein Angela, die ja mit der gnädigen Frau machen konnte, was sie wollte – und hier verlangte sie aus heiler Haut nach Sachen, die noch nicht vier Wochen alt, und die sie ein einziges Mal in Rom getragen, als sie mit Fräulein Angela absolut die Visite bei dem Herrn Gesandten erwidern mußte, der ja ein Freund des seligen Herrn Barons und oft auf Granskewitz gewesen und den Damen zuerst seinen Besuch gemacht hatte. Und nun kam wirklich noch mehr, und Gusting wunderte sich bis zum völligen Verstummen, als sie auf Befehl der gnädigen Frau der neuen Samtschleife und der neuen Haube die neue Jett-Kette mit dem großen Kreuz (ebenfalls aus Rom und bei derselben Gelegenheit gekauft) herbeiholen und der gnädigen Frau um den Hals befestigen mußte.

Gusting hatte den Salon verlassen in dem melancholischen Gefühl, daß die gnädige Frau nicht lange mehr leben werde; die Baronin warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel:

Wie ein Pfingst-Ochs! sagte sie, und das alles für die hochmütige malle Person – du schämst dich wohl gar nicht?

Und schneller, als Gusting ihr die Herrlichkeiten angelegt, hatte sie dieselbe abgethan und wieder mit den einfachen Sachen, die sie vorhin getragen, vertauscht. Nun nahm sie das schwarze Wolltuch, welches sie mehr der Behaglichkeit als der Wärme wegen stets zu tragen pflegte, sobald sie aus dem Zimmer ging. und eine Minute später arbeitete sie sich schwerfälligen Schrittes die teppichbelegte Treppe zur ersten Etage hinauf.

Vor der Thür Nummer 15 blieb sie zögernd stehen. Sie hatte Nanni gesagt, daß sie um sieben Uhr wieder kommen werde, und daß Nanni, während Herr Vogel bei ihrem Manne blieb, in dem Nebenzimmer, aus welchem Fräulein Pilz und die Kinder zwei Treppen höher ausquartiert waren, auf dem Sofa zu schlafen versuchen solle; jetzt war es wenig über Sechs. Indessen, es mochte nicht schaden, wenn sie sich überzeugte, ob das arme abgeängstigte Ding, das die Nacht über wachen wollte, ihrem Befehle nachgekommen war. So öffnete sie denn leise, ohne anzuklopfen, die Thür, nur gerade so weit, daß sie den Kopf hineinstecken konnte.

Fast in demselben Momente hatte sie den Kopf wieder zurückgezogen und die Thür geschlossen, von Kopf bis zu den Füßen zitternd, das ehrliche Gesicht von zorniger Scham purpurn übergossen. Es war ja ganz unmöglich; sie mußte sich geirrt haben, nur daß sie völlig deutlich mit diesen ihren Augen, die ihr noch nie ein X für ein U gemacht, Nanni gesehen hatte, die allerdings auf dem Sofa lag, aber halb aufgerichtet und ihren rechten Arm um den Nacken eines Mannes geschlungen, der vor ihr kniete und in welchem sie sofort, trotzdem er ihr fast den Rücken wendete, Herrn Vogel erkannte – alles in dem matten, aber doch hinreichend klaren Schein einer mit roter Papierglocke bedeckten Lampe, genau wie die, welche in ihrem eigenen Zimmer brannte.

Die Baronin wußte nicht, wie lange sie so gestanden; es konnte eine Minute, es mochte auch nur eine Sekunde gewesen sein. Sie vermutete, daß sie sich mit den gespreizten Fingern, die sie vor ihren Augen hin und her bewegte, überzeugen wolle, daß sie nicht träume, auch sonst nicht weiter toll sei.

Der Teufel, bin ich toll! sagte die Baronin halblaut, und dabei stampfte sie zornig auf den Gummiläufer des Korridors. Aber ihm hätte ich es nicht zugetraut. Na, küßt euch meinetwegen; mit euch bin ich fertig; unterdessen kann sich ja wohl der arme Mensch nebenan verbluten.

Sie hatte mit für sie ganz ungewöhnlicher Schnelle die paar Schritte bis zur Thür von Nummer 16 gethan und dieselbe geöffnet, des Kranken wegen ebenso leise und auch nicht weiter als die erste. Ihr Blick fiel hier auf das Bett, wie nebenan auf das Sofa, und das Licht der Lampe, die gerade so wie nebenan auf dem runden Tische in der Mitte des Zimmers stand, schien hier auf das Bett, wie dort auf das Sofa; aber, weil das Zimmer bedeutend größer war, viel schwächer, so schwach, daß die Baronin nun doch im ersten Moment bei dem, was sie sah oder zu sehen glaubte, ihren Augen nicht traute, um sich im zweiten schaudernd zu fragen, ob es wirklich in ihrem alten Kopfe nicht mehr ganz richtig sei. An dem Bette kniete Nanni, gerade so wie vorhin Herr Vogel an dem Sofa, fast von ihr abgewendet, so daß sie nur ihren schlanken Rücken sah, wie vorhin die breiten Schultern von Herrn Vogel; und um ihren Nacken hatte der Kranke seinen Arm geschlungen, wie vorhin der andere seinen Arm um den ihren; und den Kopf hatte sie an die Brust des Halbemporgerichteten geschmiegt, wie der andere seinen Kopf an ihren Busen.

Da soll doch Dieser und Jener dreinschlagen! sagte die Baronin und machte die Thür zu.

Sie wußte nicht, ob sie es laut gesprochen oder nur gedacht, und ob sie die Thür heftig oder sanft zugemacht. Es war ihr auch ganz gleich. Die abscheuliche Dirne! die durchtriebene Person! Sie hatte offenbar gehört, daß jemand an der Thür gewesen, und wenn der Jemand noch einmal hereinsah oder vollends hereinkam oder etwa gleich in das andere Zimmer ging; sollte er glauben, daß er sich geirrt; wollte sie beschwören, daß er sich geirrt. Jawohl! Da müßte sie es doch noch ein bißchen schlauer anfangen! Die Schliche kennt man – Gott sei's geklagt! – von andern Leuten her – und hat sich seine vermaledeite Weisheit mit blutigen Thränen erkauft; aber das ist ja nur zum Lachen; bloß daß einem die armen unschuldigen Kinder leid thun. Na, warte, dir will ich das beibringen! Dir werde ich morgen – ei, was geht es mich an! Was hat man davon als Schererei und Aerger! Um keinen Menschen sollte man sich bekümmern – um keinen!

Die Baronin, welche bis zur großen Treppe gelangt war, blieb stehen.

So, sagte sie, wie bisher ein und das andere Wort halblaut vor sich hinsprechend – und die Guten sollen dafür leiden, daß es schlechte Menschen in der Welt gibt! Das paßte dir wohl gerade jetzt! Nun erst recht!

Dabei war ihr Blick auf eine Flügelthür in der Nähe gerichtet, über welcher in einer Kristallschale eine große Gasflamme brannte, die Zimmernummer taghell beleuchtend: Nummer 22. Ihr Herz begann heftig zu klopfen: unwillkürlich schweifte ihr Blick von der Thür die Treppe hinab, und zum erstenmal in ihrem Leben kam ihr der Gedanke, daß Treppen hinabsteigen eine höchst angenehme Motion sein dürfte. Und dann war sie – sie wußte nicht, wie sie dahin gekommen – vor der Thür Nummer 22 und klopfte – in ihrer Aufregung so derb, daß es laut durch den stillen Korridor schallte.

Eine rauhe Stimme drinnen antwortete; es klang nicht wie: Herein, sollte es aber wohl bedeuten. Auf jeden Fall nahm es die Baronin dafür, holte noch einmal tief Atem, öffnete und trat ein.

Lady Ballycastle hatte sich, in ihrem Salon auf und nieder schreitend, gerade in der Mitte des großen Raumes unter dem Kronleuchter befunden, als sie das Klopfen hörte und beantwortete. Und da stand sie nun, die Hände auf dem Rücken, mit der Spitze ihrer Haube den Kronleuchter fast berührend, von dem grellen Lichte überflossen, mit den harten runden Augen unter den finster zusammengezogenen schwarzen Brauen verwundert zornig dem unerwarteten, unerbetenen Besuche entgegenstarrend, der, ohne sich durch ihre finstere Miene einschüchtern zu lassen, auf sie zukam und jetzt mit einem Lächeln, das in der That nur verlegen war, der Lady aber nur unverschämt deuchte, sich verneigend, ein paar Schritte von ihr entfernt stehen blieb.

Was wünschen Sie?

Sie hatte es, ohne die Hände von dem Rücken zu nehmen, aus ihrer Höhe herab in möglichst unverbindlichem Tone herausgestoßen und auf englisch, trotzdem sie bereits seit heute Mittag von der ersten Begegnung im Zimmer des Kranken her wußte, daß die Dame kein Wort von ihrer Sprache verstand.

Ich vermute, daß Sie mich fragen, was mich zu Ihnen führt, erwiderte die Baronin. Da möchte ich Sie zuerst freundlich bitten, deutsch mit mir zu sprechen, was Sie ja ganz gut können, wie ich selbst schon gehört habe; ich weiß es auch von Angela. Und dann erlauben Sie, daß ich mich setze. Ich habe von meiner letzten Entbindung her böse Krampfadern in beiden Beinen, und das Stehen wird mir sehr sauer. Ich bin überdies ein bißchen aufgeregt, wie Sie sehen.

Lady Ballycastle sah es in der That; die roten fleischigen Hände, auf welche die Baronin einen unwillkürlichen Blick geworfen, zitterten; auch war das Lächeln, über das sie sich so geärgert, von dem runden Gesichte verschwunden und einer ernsten, bekümmerten Miene gewichen.

Bitte, nehmen Sie einen Sitz, sagte Lady Ballycastle auf deutsch in einem strengen, aber doch nicht mehr absichtlich unhöflichen Tone.

Danke, sagte die Baronin, indem sie sich zugleich nach den Fauteuils bewegte, die um den großen runden Tisch vor dem Sofa standen, und auf einem derselben schwerfällig Platz nahm. – So, und nun kommen Sie auch her und setzen sich zu mir, damit wir recht in aller Ruhe vernünftig miteinander sprechen können.

Die Baronin war durchaus nicht sicher gewesen, ob die Lady ihrer Bitte Folge leisten würde, und sehr zufrieden, als diese nun wirklich – einer großen Dreschmaschine gleich, die in Bewegung gesetzt wird, dachte die Baronin – langsam die Arme vom Rücken nahm und, mit langsam großen Schritten auf sie zukommend, sich ihr gegenüber in einen Fauteuil sinken ließ, sie dabei fortwährend anstarrend – als hätte sie mich noch nie gesehen, dachte die Baronin.

In der That glaubte Lady Ballycastle ihre Besucherin jetzt zum erstenmale zu sehen. Heute Nachmittag, als sie dieselbe bei der Rückkehr von der Spazierfahrt an dem Bette des Verwundeten traf, wohin sie Nanni begleitet hatte, war sie ihr, trotzdem ihr Nanni »meine Tante, die Frau Baronin«, vorstellte, wie eine alte und nebenbei recht impertinente Kammerfrau erschienen, und sie hatte sie demgemäß behandelt. Nun war allerdings die äußere Erscheinung: das einfache bereits etwas abgetragene schwarze Wollkleid, die bescheidene, ein wenig verknitterte weiße Haube mit den schwarzen Bändern, völlig unverändert; auch die plumpen Züge des runden roten Gesichtes hatten sich so wenig verfeinert, wie die Hände mit den kurzen, breiten Fingern, die, wie sie jetzt bei sich ausgemacht, nicht ihr zum Affront unbekleidet waren, sondern noch nie einen Handschuh getragen hatten, und doch – es ist sehr merkwürdig, sprach Lady Ballycastle bei sich – sehr merkwürdig!

Das ist hübsch von Ihnen, sagte die Baronin, Und nun will ich Sie zuerst aufrichtig um Verzeihung bitten. Ich war ein bißchen erregt, und der Doktor und ich dankten Gott, daß wir den armen Menschen erst einmal im Bette hatten, und der Doktor hatte noch eben gesagt: Nun aber vor allen Dingen Ruhe! Und justement in demselben Augenblicke mußten Sie mit meiner Nichte in das Zimmer kommen und alles auf den Kopf stellen wollen; und sehen Sie –

Sie haben vollkommen recht, unterbrach sie Lady Ballycastle; ich hatte da nichts zu suchen, und es thut mir sehr leid, daß ich mich hineingemischt.

So meine ich das nicht, sagte die Baronin, im Gegenteil, ich –

Aber ich meine es, rief Lady Ballycastle; ich kann Ihnen noch mehr sagen: Sie mögen ganz sicher sein, daß ich es nicht wieder thue. Ich nehme nicht das mindeste Interesse mehr an Ihrer Nichte – nicht das mindeste; ich hasse dumme Menschen, und Ihre Nichte hat in ihrem Kopfe nicht mehr Verstand wie eine Porzellanpuppe.

Wollte Gott, ich hätte ihr nichts Schlimmeres vorzuwerfen, sagte die Baronin seufzend, und vielleicht ist das noch ihre einzige Entschuldigung – na, sprechen wir also nicht mehr von der armen, dummen Dirn; ich war eigentlich auch in einer anderen Angelegenheit gekommen. Sie wissen, was ich meine – wegen meiner guten, lieben –

Nennen Sie den verhaßten Namen nicht in meiner Gegenwart! rief Lady Ballycastle, indem sie von ihrem Fauteuil emporschnellte und zu ihrer ganzen riesigen Länge aufgerichtet dastand; oder eine von uns beiden muß das Zimmer verlassen.

Das würde ich dann wohl sein müssen, sagte die Baronin, die ruhig sitzen geblieben war; und das würde ich aus Herzensgrund bedauern, nicht bloß um derer willen, die ich nicht nennen soll, sondern um Ihres Sohnes willen, der nach allem, was ich von ihr über ihn gehört, ein sehr braver junger Mann ist, und – um Ihrer selbst willen – ja, ja! – um Ihrer selbst willen, wenn Sie dazu auch noch so höhnisch lachen.

Das heisere Lachen, in welches Lady Ballycastle bei den letzten Worten der Baronin ausgebrochen war, verstummte plötzlich. Sie machte noch ein paar weitere Schritte in das Zimmer hinein, wobei sie ihren Fächer, den sie beim Aufstehen aus ihrem Stuhle vom Tische an sich gerissen hatte, heftig hin und her bewegte. Dann blieb sie, den Fächer zusammenklappend, ein paar Sekunden von der Baronin abgewendet stehen, wendete sich um, ging zu ihrem Fauteuil zurück, setzte sich wieder und sagte:

Wohl! Ich sehe, ich werde von der Sache verfolgt werden, und ich will sie los sein – ein- für allemal. Also sprechen wir davon. Sie sind natürlich von ihr geschickt?

Sie hat keine Ahnung davon, daß ich hier bei Ihnen bin, und sie wird sehr böse sein, wenn sie es erfährt.

In der That, sehr schmeichelhaft für mich! Sie kommen also für Ihre eigene – ich weiß nicht, wie man sagt auf deutsch?

Vielleicht Rechnung? half die Baronin ein.

Gut, Rechnung; und bitte, darf ich fragen, was für eine Art Rechnung das ist?

Ich vermute, erwiderte die Baronin, Sie wollen wissen, was ich davon habe, daß ich mich auf meine alten Tage ungerufen in die Sache mische und für das Mädchen eintrete, als ob sie meine Tochter wäre?

Genau so, sagte Lady Ballycastle.

Na, dann hören Sie mal genau zu, sagte die Baronin, lieber das breite Gesicht zog es wie ein trüber Schatten; in den gesenkten Lidern, die plötzlich rot geworden waren, zuckte es; sie strich ein paarmal langsam mit beiden Händen über die Kniee, hob dann mit einem treuherzigen Blicke die Augen zu der Lady auf und sagte leise und innig:

Weil ich sie liebe, als ob sie meine Tochter wäre; weil ich den halben Rest meines Lebens dafür gegeben hätte, wäre sie es wirklich geworden: meine Schwiegertochter nämlich, und mein Sohn wäre am Leben geblieben, und er und sie wären nun Mann und Frau, und ich hätte die andere Hälfte da oben auf meinem lieben Rügen mit ihnen zusammen verleben können. Es hat nicht sein sollen. Das ist eine lange, traurige Geschichte, und ich erzähle sie Ihnen wohl ein anderes Mal, wenn wir, wie ich hoffe, erst gute Freundinnen sind. Die Geschichte fängt aber an am fünfzehnten September vorigen Jahres, als sie von England kam und mich mit meinem Sohne, den sie bei Sedan durch die Brust geschossen hatten, in Brüssel traf. Mein armer Junge ist vor vier Wochen, auch am fünfzehnten September, in Palermo gestorben. An den Folgen seiner Wunden, sagten die Aerzte – ich weiß es besser. Ich weiß, wen seine lieben Augen suchten, als sich die Todesnebel schon darüber deckten, und was er mir mit dem letzten Drucke seiner kalten Finger sagen wollte. Ja, wir hatten uns immer gut verstanden, mein Junge und ich; und ich hab's heilig gehalten, was ich ihm da versprochen habe in meinem Herzen, und will's halten, solange ich lebe. Und, sehen Sie, daß ich jetzt hier bei Ihnen bin, das gehört auch dazu, obgleich es mir nicht leicht geworden ist, zu kommen – das mögen Sie mir auf mein Wort glauben. Aber, habe ich bei mir gesagt: schwer oder nicht schwer, thun mußt du's, wenn es zu ihrem Glücke ist. Ich hoffe zu Gott, es wird zu ihrem Glücke sein, obgleich ich auch manchmal schon gedacht habe: sie ist zu gut zum Heiraten, wie andere zu schlecht dazu sind. Aber am Ende ist es doch unsere Bestimmung, und es ist immer besser, man bringt ein bißchen zu viel als zu wenig mit in die Ehe.

Und, bitte, was bringt diese Dame mit in die Ehe? fragte Lady Ballycastle, die Augenbrauen hoch auf die Stirne ziehend.

Sie wollen mich nicht verstehen, erwiderte die Baronin, traurig den Kopf schüttelnd. Und doch sollten Sie so gut wissen wie ich und wissen so gut wie ich, daß Geld und Gut eine Ehe nicht glücklich macht. Und von der Sorte haben Sie ja auch nicht allzuviel mit in Ihre Ehe gebracht, denke ich.

Ich war eine Glenville, sagte Lady Ballycastle, sich in dem Fauteuil aufrichtend.

Ja, ja, sagte die Baronin; das mag wohl ganz was Großes bei euch sein, so was bei uns, wenn man aus einem gräflichen oder meinetwegen fürstlichen Hause kommt. Aber für Sie wäre es vielleicht besser gewesen, Sie wären aus einem Bauernhause gekommen wie ich; Sie hätten sich dann vielleicht eher in die fremden Verhältnisse geschickt und Ihren Mann zu nehmen gewußt, der am Ende gar nicht so bös war, wie die Leute nachher gesagt haben. Die schnacken gar viel; sie haben's mit meinem seligen Mann auch so gemacht. Und wenn Sie denn schon darauf so viel Wert legen: die Familie von Angela – ja, sehen Sie, ich muß nun doch den Namen nennen, trotzdem Sie's verboten haben; und mir, deucht, es ist ein lieber Name, und mir thut's im Herzen wohl, wenn ich ihn nur ausspreche – also Angelas Familie ist so alt und hat so viel Vorfahren aufzuweisen, daß das Ende nicht abzusehen ist; und ist einmal sehr reich und mächtig gewesen, ganz fürstlich, und einer ist Großmeister gewesen von den deutschen Ordensrittern – glaube ich, haben sie geheißen – und haben viel Land besessen – viele, viele Quadratmeilen – und über Tausende von Leuten kommandiert und große Schlachten geliefert, wie Könige. Aber das ist ja alles nicht hin, nicht her. Die Hauptsache ist und bleibt, daß die Leute, die sich heiraten wollen, brav sind und sich einander rechtschaffen lieb haben; alles andre ist Quark und dummes Zeug. So, ich hab' meinen Spruch angebracht; überlegen Sie sich die Sache, und möge der liebe Gott geben, daß dabei etwas Vernünftiges herauskommt. Zeit genug haben Sie; wir bleiben acht Tage hier, und wenn Sie wollen, länger. Da wird ja denn wohl Ihr Zorn gegen das arme Mädchen mittlerweile verdampfen, und Sie werden sie wieder lieb gewinnen, wie ehemals, und lieber, jetzt nachdem Sie erfahren haben, was für einen Schatz Sie an ihr verloren hatten. Wie ich's tragen soll – na, hübsch ist es gerade nicht von dem lieben Gott, daß er mir auf meine alten Tage die Last schwerer macht, anstatt leichter.

Ihre Stimme bebte; zwei große Thränen, welche ihr während der letzten Worte trotz ihres Lächelns in den Augen gestanden, rollten langsam über die dicken Wangen. Aber sie kämpfte ihren Jammer mutig nieder.

Ei was! Ich habe einen breiten Buckel, da werde ich's schon lasten. Und nun danke ich Ihnen noch viele Male, daß Sie mich so ruhig und geduldig angehört haben. Ich hab's mir schlimmer gedacht; aber wenn man nur vernünftig mit den Leuten redet, da nehmen sie auch Vernunft an. Sie sollen sehen, wir beide werden noch die besten Freundinnen, wenn ich Sie erst in Granskewitz zur Hochzeit habe; denn die Hochzeit wird bei mir gemacht, das lasse ich mir nun partout nicht nehmen. Darauf müssen Sie mir die Hand geben.

Nimmer und nimmer! rief Lady Ballycastle.

Sie war wieder von ihrem Stuhl emporgefahren und schrie noch einmal, heftiger, lauter:

Nimmer und nimmer! – Wenn Ihre Gäste bei der Hochzeit von Edward Ballycastle und dem – dem Mädchen tanzen wollen, mögen sie es thun auf dem Grabe von Lady Ballycastle!

Gott soll mich bewahren! sagte die Baronin, die sich auch erhoben hatte, unwillkürlich aus dem Bereich des Armes zurückprallend, den die Zornige mit dem vorgestreckten Fächer fast über ihrem Kopfe hielt.

Sie war um so tiefer erschrocken, als sie in ihrer Gutmütigkeit alles Ernstes geglaubt, sie habe die wunderliche Person, von deren unberechenbarer Launenhaftigkeit Angela ihr so seltsame Dinge erzählt, und die ihr jetzt so ruhig zuhörte, ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen, völlig von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt, und es gelte nur noch, ihr dies Zugeständnis auf gute Art abzugewinnen, zu welchem Zweck sich ein paar harmlose Scherze besonders eignen würden. Und nun rannte das schwarze Ungetüm wie toll in dem Zimmer auf und ab, mit den langen Armen fechtend, rauhe Töne ausstoßend, die vermutlich englische Worte waren; und blieb jetzt wieder vor ihr stehen, mit den rollenden Augen auf sie herabdrohend, und immer wieder: Nimmer! Nimmer! kreischend, wie ein großer Papagei, der verrückt geworden ist, dachte die Baronin.

Na, sagte sie laut, dann hilft das nicht; aber passen Sie Achtung: Sie werden doch am Ende klein beigeben müssen; auf deutsch: Ja und Amen sagen müssen, wenn Sie das vielleicht besser verstehen.

Nimmer, nimmer! kreischte Lady Ballycastle.

Dann thun Sie, was Sie nicht lassen können! rief die Baronin, sich so kurz umdrehend, als ihre Korpulenz und Schwerfälligkeit nur irgend gestatteten, und sich auf die Thür zu bewegend.

Aber sie hatte kaum ein paar Schritte gemacht, als sie ihre Heftigkeit bereute. Sie hatte es ihrem Jungen versprochen, Angela eine Mutter zu sein. Würde eine Mutter, wenn es sich um das Lebensglück ihres Kindes handelte, auch nicht mehr Geduld und Nachsicht üben gegen eine Person, von der selbst die kluge Angela nach sechs Jahren nicht zu sagen wußte, ob sie toll sei oder nicht? Sie wendete um, kam zu ihrem Stuhle zurück, auf dem sie wieder Platz nahm zum maßlosen Erstaunen der Lady Ballycastle, die mitten in ihrem rasenden Hin- und Herlaufen durch das große Gemach stehen blieb und die unverschämte Person mit zornglühenden Augen anstarrte.

Lassen Sie uns vernünftig sein, sagte die Baronin, nun wieder ganz in ihrem gutmütig herzlichen Tone sprechend; alt genug, dächte ich, wären wir dazu, und durchgemacht haben wir beide auch genug und wissen, daß die Mauer härter ist, wie der Kopf. Und was die Hauptsache ist, ob wir wollen oder nicht, wir kommen ja doch nicht gegen die jungen Leute an; sie sind uns über, glauben Sie mir! Ich habe es erfahren – heute. Ich hatte mir schon immer so gedacht, daß da zwischen Angela und Ihrem Sohne nicht alles richtig wäre, trotzdem sie mir heute Morgen noch einreden wollte, sie denke gar nicht an den Herrn Kapitän, und mich armes, gutes Schaf hierher nach Vevey bringt, ohne mit einem Sterbenswort zu sagen, daß Sie hier sind. Da gingen mir dann freilich die dämlichen Augen auf, und daß die jungen Leute es unter sich abgekartet haben, wenn ich auch nicht begreifen konnte, wie in aller Welt sie das fertig gebracht, bis – lieber Himmel, man könnte sich wirklich ärgern, wenn man nicht drüber lachen müßte. Ich glaube, es ist besser, daß ich es Ihnen erzähle, schon damit Sie sehen, was die jungen Leute für Kniffe in dem Kopfe haben, und wie weit die Sache schon gediehen ist. Da ist auf der ganzen langen Reise von Rom bis hier ein junger Landsmann von Ihnen immer hinter uns her und um uns herum, wo wir gehen und stehen; und ich denke so in meinem Sinne erst gar nichts, und dann: es ist ein Zufall; und als das so beibleibt und mit rechten Dingen nicht mehr zugehen konnte: der arme Mensch ist bis über die Ohren in Angela verliebt; sage aber nichts und thue auch nicht desgleichen, weil ich weiß, daß sie so was gar nicht gerne hat und den jungen Menschen auch durchaus nicht zu bemerken scheint. Der hat's aber dick hinter den Ohren, faustdick, sage ich Ihnen. Und es kann gar nicht anders sein, und ich möchte darauf schwören: er ist es, der den Postillon d'amour – heißt es ja wohl? – zwischen Ihrem Sohne und Angela gemacht hat, und durch den sie alles weiß: daß Sie hier sind, und wo in diesem Augenblicke der Herzliebste ist, und was sie sonst noch zu wissen braucht. Sehen Sie, dagegen kommen Sie nicht an. Zwischen den beiden ist alles abgemacht und im reinen, und wenn Ihr Herr Sohn so ist, wie ihn Angela schildert – aus weichem Holze ist er denn gerade auch nicht, und Angela, na, Sie kennen sie: herzensgut wie sie ist, aber wenn sie einmal sagt: Das will ich, und so soll es sein! da können Sie zehn Pferde dagegen spannen, Sie kriegen sie nicht vom Fleck.

Die Baronin gratulierte sich im stillen zu ihrem Erfolge. Lady Ballycastles Zorn schien so schnell verraucht, wie er aufgeflammt war; sie saß wieder ordentlich wie ein vernünftiger Mensch in ihrem Stuhl, vornübergebeugt, mit der gespannten Aufmerksamkeit, wie es schien, jedes ihrer Worte verfolgend, die sie sich denn alle Mühe gab, möglichst klar und verständlich zu sprechen.

Wie ist sein Name? fragte Lady Ballycastle, und die rauhe Stimme klang ganz freundlich.

Das ist denn wieder zum Lachen, erwiderte die Baronin, zutraulich näher rückend; schreibt er sich in alle Fremdenbücher Mister – heißt es ja wohl? – Augustus Temple und stellt sich mir endlich gestern selbst so vor, und dabei heißt der Sausewind in Wirklichkeit Swift – Robert Swift –

Ah! sagte Lady Ballycastle, woher wissen Sie das?

Der Herr Vogel – der nebenbei ein sauberer Vogel – hm, das gehört hier nicht her; der junge Mann, der zu meinem Neveu kam – er begegnete Ihnen in der Thür – in dem Samtrock, wissen Sie – er kennt den Herrn Swift von Rom her ganz genau und sagt, von einem Irrtum sei gar keine Rede, alle Welt in Rom kenne ihn und sein großes Atelier da oben dicht am – wie heißt es nur gleich, wohin die Leute immer des Abends spazieren fahren – Monte – Monte –

Ein Maler also, wie es scheint? unterbrach sie Lady Ballycastle ein wenig ungeduldig, aber womöglich noch freundlicher wie zuvor.

Versteht sich! Und Vogel sagt, die Engländer und Amerikaner wären wie närrisch hinter seinen Bildern her, obgleich nicht viel dazu sei. Das mag er nun so aus Neid sagen, ich traue ihm jetzt alles zu –

Und wo ist Kapitän Gordon – ich meine, wo ist mein Sohn Edward in diesem Augenblicke? sagte Lady Ballycastle.

Auch sie war mit ihrem Fauteuil der Baronin näher gerückt, und ihre Stimme war, als sie den Namen ihres Sohnes aussprach, ganz weich geworden.

Ich weiß es nicht, erwiderte die Baronin.

Sie wissen es, sagte Lady Ballycastle, abermals näher rückend; bitte, bitte, sagen Sie es mir!

Sie hatte die Hand auf der Baronin Knie gelegt mit einer Vertraulichkeit, welche jene noch vor fünf Minuten nicht für möglich gehalten haben würde. So legte sie denn mit freundlichem Drucke ihre eigene fette plumpe Hand auf die große schlanke Hand und erwiderte:

Ich würde es Ihnen gewiß sagen, wenn ich es wüßte; aber ich ahne es nicht einmal.

Lügnerin! donnerte Lady Ballycastle.

Sie hatte ihre Hand weggerissen und, aufspringend, den schweren Fauteuil zurückgestoßen, daß er durch den halben Raum rollte und zuletzt polternd umstürzte. Miß Flinch! Miß Flinch!

Alsbald bewegte sich die rote Damastportiere, welche die Thür zum Zimmer links deckte, rasselnd in ihren Ringen; aus den Falten heraus kam die Gerufene und stand kerzengerade und ohne eine Miene des blassen Gesichtes zu verziehen vor der Lady, die auf sie einsprach oder vielmehr einschrie – wütende, sich einander überstürzende, für die Baronin unverständliche Worte. Daß diese Worte sich auf sie beziehen und gerade nichts Schmeichelhaftes enthalten würden, konnte sie sich wohl denken; aber aus dem Herzen kochte es ihr heiß, und die Zornesröte stieg ihr in die Stirn, als jetzt die dürre blasse Person, nachdem sie sich tief vor der Lady verbeugt und dann an ihr, ohne sie anzusehen, vorüber nach der Thür geschritten war, diese halb öffnete und, sich zu ihr umwendend, ein häßliches, schadenfrohes Lächeln auf den dünnen Lippen, mit den Klapperarmen eine eckige nicht mißzuverstehende Gebärde machte, während Lady Ballycastle sich umdrehte und nun mit dem Rücken nach ihr und der halboffenen Thür, wieder mitten im Saal dicht neben dem umgestürzten Stuhle unter dem Kronleuchter stand.

So ist es gemeint! sagte die Baronin; – und das will eine vornehme Dame sein! – Schämen Sie sich! – Und Sie, altes Gereff, wenn ich bis zur Thür komme, und Sie stehen noch da und grinsen mich an, so haue ich Ihnen eine hinter die Fuchsohren, daß Sie Zeit Ihres Lebens an die alte Granske denken sollen.

Bebend vor tiefster Erregung und doch mit so kräftigen Schritten, wie sie nur je vor dreißig Jahren über den Granskewitzer Sturzacker gegangen war, die rechte Hand mit den gespreizten Fingern nach unten ein wenig hinter sich zum Schlage bereit haltend, bewegte sie sich auf die Thür zu, als diese von draußen vollends aufgemacht wurde und die Gestalt eines hochgewachsenen, breitschultrigen jungen Mannes mit breitem, rötlichem Vollbart hereintrat. Die Flinch taumelte zurück, als hätte sie den Schlag, den ihr die Baronin zugedacht, wirklich empfangen, und that einen dünnen, angstvollen Schrei. In demselben Moment brach Lady Ballycastle in ein gellendes Lachen aus.

Ein Lachen, das der Baronin um so gräßlicher deuchte, als die große Gestalt noch immer mit dem Rücken nach der Thür stand; sie mußte den Eingetretenen in einem der hohen Trumeau an den Fensterpfeilern gesehen haben. Das Lachen galt auch ihr – die Baronin wußte es wohl; es kümmerte sie nicht; sie, dachte nur schaudernd daran, daß diese beiden Mutter und Sohn seien.

Aber da ließ sich nichts thun; die beiden mußten es unter sich ausmachen.

So ging sie denn nach der Thür, welche der Kapitän eben zugezogen hatte und jetzt wieder für sie mit tiefer Verbeugung öffnete und hinter ihr schloß.


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